Das Gesicht des Drachen - Jeffery Deaver - E-Book

Das Gesicht des Drachen E-Book

Jeffery Deaver

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Beschreibung

Der 4. Fall für Lincoln Rhyme und Amelia Sachs.

Ein skrupelloser chinesischer Menschenschmuggler, der nur unter dem Decknamen »der Geist« bekannt ist, versucht an Bord der Fuzhou Dragon in die USA zu gelangen. Das FBI plant, ihn gleich bei seiner Ankunft im New Yorker Hafen zu verhaften. Doch kurz vor der Küste zündet der Geist einen gewaltigen Sprengsatz und verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen. Als das Schiff sinkt, reißt es beinahe die gesamte Besatzung mit sich in die Tiefe. Fieberhaft machen sich Lincoln Rhyme und Amelia Sachs daran, den eiskalten Killer aufzuspüren, bevor er auch noch die letzten Zeugen seines grausamen Verbrechens ausschalten kann ...

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Jeffery Deaver

Das Gesicht des Drachen

Roman

Ins Deutsche übersetzt von Thomas Haufschild

Blanvalet

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CopyrightDie Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Stone Monkey« bei Simon & Schuster, Inc., New York.
PeP eBooks erscheinen in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHCopyright © der Originalausgabe 2002 by Jeffery DeaverCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagmotiv: Jayne Szekely/Arcangel ImagesISBN 978-3-894-80786-3V005
www.blanvalet.dewww.penguinrandomhouse.de

Anmerkung des AutorsERSTER TEIL...Eins...Zwei...Drei...Vier...Fünf...Sechs...Sieben...AchtZWEITER TEIL...Neun...Zehn...Elf...Zwölf...Dreizehn...Vierzehn...Fünfzehn...Sechzehn...Siebzehn...Achtzehn...Neunzehn...Zwanzig...Einundzwanzig...ZweiundzwanzigDRITTER TEIL...Dreiundzwanzig...Vierundzwanzig...Fünfundzwanzig...Sechsundzwanzig...Siebenundzwanzig...Achtundzwanzig...NeunundzwanzigVIERTER TEIL...Dreißig...Einunddreißig...Zweiunddreißig...Dreiunddreißig...Vierunddreißig...Fünfunddreißig...Sechsunddreißig...Siebenunddreißig...Achtunddreißig...Neununddreißig...VierzigFüNFTER TEIL...Einundvierzig...Zweiundvierzig...Dreiundvierzig...Vierundvierzig...Fünfundvierzig...Sechsundvierzig...Siebenundvierzig...Achtundvierzig...Neunundvierzig...FünfzigDanksagungÜber das BuchÜber den AutorCopyright

Anmerkung des Autors

Für den folgenden Roman sind gewisse Aspekte der chinesischen Kultur von Bedeutung, die nicht jedem Leser geläufig sein dürften. Daher erlaube ich mir, an dieser Stelle einige Erläuterungen einzufügen.

GEOGRAPHIE. Die meisten Chinesen, die als illegale Einwanderer in die Vereinigten Staaten gelangen, kommen aus der südöstlichen Küstenregion ihrer Heimat, und zwar überwiegend aus zwei Provinzen: Guangdong, gelegen im äußersten Süden bei Hongkong, und Fujian, unmittelbar nördlich davon. Die Hauptstadt Fujians ist das große Seefahrtzentrum Fuzhou, dessen Hafen vermutlich der Mehrzahl der unerlaubten Immigranten als Ausgangspunkt ihrer Reisen in andere Länder dient.

SPRACHE. Die Schriftform des Chinesischen ist überall im Land gleich, doch gesprochen zeigen sich von Region zu Region beträchtliche Unterschiede. Im Süden herrscht der kantonesische Dialekt vor, in Fujian und Taiwan das Minnanhua und in Peking sowie im gesamten Norden das Mandarin oder Putonghua. Die wenigen chinesischen Begriffe, die ich in diesem Buch verwende, entstammen dem Putonghua, der Amtssprache Chinas.

NAMEN. Im Gegensatz zu amerikanischen oder europäischen Gepflogenheiten werden chinesische Namen in umgekehrter Reihenfolge genannt. Heißt jemand beispielsweise Li Kangmei, so ist Li der Familienname und Kangmei der Vorname. Manche Bürger aus den städtischen Regionen des Landes sowie Chinesen, die sich den Vereinigten Staaten oder anderen westlichen Kulturen eng verbunden fühlen, nehmen mitunter einen westlichen Rufnamen an, den sie dann zusätzlich zu oder anstelle ihres chinesischen Vornamens benutzen. In einem solchen Fall steht der anglisierte Name vor dem Familiennamen (zum Beispiel Jerry Tang).

J. D.

ERSTER TEIL

Der Schlangenkopf

Dienstag,

von der Stunde des Tigers, 4.30 Uhr,

bis zur Stunde des Drachen, 8.00 Uhr.

Das Wort Wei-Chi besteht aus zwei chinesischen Begriffen – Wei, was »einkreisen« bedeutet, und Chi, das sich mit »Spielfigur«übersetzen lässt. Da das Spiel einen symbolischen Überlebenskampf darstellt, kann man es auch das »Kriegsspiel« nennen.

Danielle Pecorini und Tong Shu,

The Game of Wei-Chi

...Eins

Sie waren die Verschwundenen, die vom Unglück Verfolgten.

Für die Menschenschmuggler – die »Schlangenköpfe« -, die sie wie Paletten verdorbener Ware um die halbe Welt beförderten, waren sie ju-jia: Ferkel.

Für die Beamten der amerikanischen Einwanderungsbehörde, die ihre Schiffe aufbrachten, sie verhafteten und abschoben, waren sie Illegale.

Sie waren die Hoffnungsvollen, die Heimat, Familie und eine tausendjährige Ahnenreihe gegen die illusionslose Gewissheit eintauschten, dass ihnen gefährliche und arbeitsreiche Jahre bevorstanden.

Die nur eine winzige Chance hatten, in einem Land sesshaft zu werden, das ihren Familien Wohlstand versprach, weil dort, so hieß es, Freiheit, Geld und Zufriedenheit so alltäglich wie Sonnenschein und Regen seien.

Sie waren seine kostbare Fracht.

Und nun musste Kapitän Sen Zi-jun, die Beine gegen die tosenden, fünf Meter hohen Wogen fest auf den Boden gestemmt, sich von der Brücke zwei Decks nach unten in den düsteren Laderaum vorkämpfen, um ihnen die schlimme Nachricht zu überbringen, dass die wochenlange beschwerliche Reise womöglich ganz umsonst gewesen war.

Es war kurz vor Tagesanbruch an einem Dienstag im August. Der stämmige Seemann, der seinen Kopf kahl geschoren hatte und stolz einen kunstvoll gezwirbelten, buschigen Schnurrbart zur Schau trug, schob sich an den leeren Containern vorbei, die zur Tarnung auf dem Deck der zweiundsiebzig Meter langen Fuzhou Dragon verzurrt waren, und öffnete die schwere Stahlluke zum Frachtraum. In dem spartanischen, fensterlosen Raum kauerten zwei Dutzend Menschen. Unter den billigen Feldbetten trieben Abfälle und Kinderbauklötze aus Plastik im flachen Bilgenwasser.

Trotz des starken Seegangs stieg Kapitän Sen, der dreißig Jahre Erfahrung auf den Weltmeeren besaß, die steile Metalltreppe hinunter, ohne die Handläufe zu benutzen, und trat in die Mitte des Laderaums. Ein Blick auf die Kohlendioxidanzeige verriet keine besorgniserregende Konzentration, obwohl die Luft nach Dieselkraftstoff und nach Menschen stank, die zwei Wochen auf engstem Raum ausgeharrt hatten.

Im Gegensatz zu den Kapitänen und Mannschaften vieler anderer »Eimer« – wie die Schlepperschiffe im Allgemeinen genannt wurden -, die ihre Passagiere bestenfalls ignorierten, sie manchmal jedoch sogar schlugen oder vergewaltigten, fügte Sen den Leuten keinen Schaden zu, sondern war fest davon überzeugt, ein gutes Werk zu tun: Er half diesen Familien aus einer schwierigen Lage, an deren Ende zwar kein sicherer Reichtum, aber immerhin die Aussicht auf ein glückliches Leben in Amerika stand, das auf Chinesisch Mei Guo hieß: »Schönes Land«.

Auf dieser Überfahrt allerdings schienen die meisten der Emigranten ihm nicht zu trauen. Das war verständlich, denn sie nahmen an, er mache gemeinsame Sache mit dem Schlangenkopf, der die Dragon gechartert hatte: Kwan Ang, eher bekannt unter seinem Spitznamen Gui, der Geist. Da Kwan als überaus gewalttätig galt, hatten die Passagiere fast jedes Gesprächsangebot des Kapitäns ausgeschlagen. Nur mit einem der Männer hatte Sen sich ein wenig anfreunden können. Chang Jingerzi – der den westlichen Namen Sam Chang vorzog – war fünfundvierzig Jahre alt und hatte früher als Universitätsprofessor in einem Vorort der großen südostchinesischen Hafenstadt Fuzhou gelebt. Er nahm seine gesamte Familie nach Amerika mit: seine Frau, zwei Söhne und seinen verwitweten Vater.

Unterwegs hatten Chang und Sen ein halbes Dutzend Mal im Frachtraum gesessen, den starken mao-tai getrunken, den der Kapitän stets in ausreichender Menge an Bord mitführte, und sich über das Leben in China und den Vereinigten Staaten unterhalten.

Sen entdeckte Chang auf einer Pritsche in der vorderen Ecke des Laderaums. Der hoch gewachsene, gelassene Mann runzelte die Stirn, als er den Kapitän sah. Er reichte seinem halbwüchsigen Sohn das Buch, aus dem er den anderen vorgelesen hatte, und stand auf.

Alle Anwesenden verstummten.

»Unser Radar zeigt ein schnelles Schiff auf Abfangkurs.«

Bestürzung machte sich breit.

»Die Amerikaner?«, fragte Chang. »Die Küstenwache?«

»So muss es wohl sein«, antwortete der Kapitän. »Wir befinden uns in amerikanischen Hoheitsgewässern.«

Er ließ den Blick über die verängstigten Gesichter der Emigranten schweifen. Wie bei nahezu jeder Ladung Illegaler, die Sen transportiert hatte, waren auch diese ehemals Fremden innerhalb kurzer Zeit zu Freunden geworden. Nun fassten sie einander bei den Händen oder raunten sich leise etwas zu, manche verunsichert, andere beruhigend. Die Augen des Kapitäns richteten sich auf eine Frau, die ihre anderthalbjährige Tochter im Arm hielt. Die Mutter, deren Gesicht von den Schlägen in einem Umerziehungslager gezeichnet war, senkte den Kopf und brach in Tränen aus.

»Was können wir tun?«, fragte Chang besorgt.

Kapitän Sen wusste, dass der Professor offene Kritik am chinesischen Regime geäußert hatte und daraufhin fliehen musste. Falls die amerikanische Einwanderungsbehörde ihn zurück in die Heimat schickte, würde er wahrscheinlich als politischer Gefangener in einem der berüchtigten Gefängnisse im Westen Chinas landen.

»Es ist nicht mehr weit bis zum Absetzpunkt, und wir sind mit voller Kraft unterwegs. Mit etwas Glück kommen wir nahe genug an die Küste heran, um Sie mit Schlauchbooten übersetzen zu können.«

»Nein, nein«, wandte Chang ein. »Bei diesen Wellen? Wir würden alle sterben!«

»Ich steuere einen natürlichen Hafen an. Dort dürfte es ruhig genug sein, dass Sie auf die Boote umsteigen können. Am Ufer warten bereits Lastwagen, um Sie nach New York zu bringen.«

»Und was ist mit Ihnen?«, fragte Chang.

»Ich fahre wieder hinaus in den Sturm. Bis die Beamten gefahrlos an Bord kommen können, befinden Sie sich längst auf den goldenen Pfaden, die direkt in die Stadt der Diamanten führen ... Und jetzt sollten alle ihre Sachen zusammenpacken. Nehmen Sie nur das Notwendigste mit, das Geld, die Fotos. Alles andere lassen Sie zurück, denn Sie müssen so schnell wie möglich an Land gelangen. Bleiben Sie unter Deck, bis entweder der Geist oder ich Sie nach oben rufen.«

Kapitän Sen eilte die steile Treppe wieder hinauf und richtete ein Stoßgebet an Tian Hou, die Göttin der Seeleute, sie möge ihrer aller Leben beschützen. Dann wich er der grauen Wasserwand aus, die neben dem Schiff aufragte.

Als er die Brücke erreichte, stand dort der Geist vor dem Radarschirm und starrte auf die schimmernde Anzeige. Der Mann verharrte völlig reglos und hielt sich mit beiden Händen fest, um auf dem schlingernden Schiff nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Manche der Schlangenköpfe kleideten sich wie die reichen kantonesischen Gangster aus einem Film von John Woo, doch der Geist sah stets wie ein ganz gewöhnlicher Chinese aus, mit schlichter Stoffhose und einem kurzärmeligen Hemd. Er war muskulös, ziemlich klein, glatt rasiert, trug das Haar etwas länger als ein typischer Geschäftsmann, benutzte aber weder Gel noch Spray.

»In fünfzehn Minuten haben sie uns erreicht«, sagte der Schlangenkopf. Sogar jetzt, angesichts einer drohenden Enterung und Festnahme, wirkte er so lethargisch wie der Fahrkartenverkäufer eines ländlichen Busbahnhofs.

»Fünfzehn?«, entgegnete der Kapitän. »Unmöglich. Mit wie vielen Knoten sind die denn unterwegs?«

Sen ging zum Kartentisch, dem Kernstück aller hochseetüchtigen Schiffe. Darauf ausgebreitet lag eine Seekarte des Gebiets, hergestellt von der amerikanischen Defense Mapping Agency. Zur Ermittlung der relativen Position beider Schiffe standen ihm nur diese Karte und das Radar zur Verfügung, denn um nicht angepeilt werden zu können, hatten sie die Satellitennavigation der Dragon, das EPIRB-Funkfeuer und das Global Maritime Distress and Safety System abgeschaltet.

»Ich schätze, es wird noch mindestens vierzig Minuten dauern«, sagte der Kapitän.

»Nein, ich habe genau verfolgt, welche Strecke sie seit der ersten Sichtung zurückgelegt haben.«

Kapitän Sen sah kurz zu dem Matrosen am Ruder der Fuzhou Dragon, der sich schwitzend abmühte, die mit einem Stück Schnur markierte Speiche des Rads immer genau senkrecht zu halten, was bedeutete, dass das Steuer exakt parallel zum Rumpf ausgerichtet war. Die Gashebel standen auf volle Kraft voraus. Falls der Geist mit seiner Einschätzung Recht behielt, blieb ihnen nicht mehr genug Zeit, den geschützten Hafen zu erreichen. Sie würden sich der felsigen Küste allenfalls bis auf einen knappen Kilometer nähern können – was dicht genug war, um die Schlauchboote zu Wasser zu lassen, die dann jedoch der erbarmungslosen See ausgesetzt wären.

»Womit werden die Amerikaner bewaffnet sein?«, fragte der Geist.

»Wissen Sie das denn nicht?«

»Man hat mich noch nie abgefangen«, erwiderte der Geist. »Reden Sie schon.«

Bisher hatte Sen es zweimal erlebt, dass Schiffe unter seinem Kommando angehalten und geentert wurden – zum Glück auf völlig legalen Reisen und nicht während seiner Emigrantentransporte für die Schlangenköpfe. Doch die Erfahrung war trotzdem alles andere als angenehm gewesen. Ein Dutzend bewaffnete Beamten der Küstenwache hatten sich an Bord verteilt, derweil Sen und die Mannschaft von Deck des anderen Boots aus mit einem zweiläufigen Maschinengewehr in Schach gehalten worden waren. Außerdem hatte es dort ein kleines Geschütz gegeben.

Er verriet dem Geist, womit sie rechnen mussten.

Der Mann nickte. »Wir sollten die verschiedenen Alternativen überdenken.«

»Was für Alternativen?«, fragte der Kapitän. »Sie denken doch nicht etwa daran, einen Kampf zu riskieren, oder? Nein, das werde ich nicht zulassen.«

Aber der Schlangenkopf reagierte nicht. Er blieb am Radar stehen und starrte auf den Schirm.

Der Mann wirkte absolut ruhig, wenngleich der Kapitän vermutete, dass er innerlich vor Wut kochte. Keiner der Schlangenköpfe, mit denen Sen bislang zusammengearbeitet hatte, hatte so viele Vorkehrungen getroffen, um eine mögliche Entdeckung und Gefangennahme zu vermeiden, wie der Geist auf dieser Fahrt. Die zwei Dutzend Emigranten hatten sich in einem leeren Lagerhaus am Rande Fuzhous einfinden und dort zwei Tage unter der Aufsicht eines Handlangers des Geists – eines »kleinen Schlangenkopfs« – ausharren müssen. Dann hatte der Mann die Chinesen in eine gecharterte Tupolev 154 verfrachtet, die zu einem verlassenen Militärflugplatz in der Nähe des russischen Sankt Petersburg geflogen war. Dort mussten die Leute in einen Schiffscontainer umsteigen, wurden 120 Kilometer nach Wyborg gefahren und an Bord der Fuzhou Dragon gebracht, die erst tags zuvor in den russischen Hafen eingelaufen war. Die Zolldokumente und das Ladungsverzeichnis hatte Sen höchstpersönlich und peinlich genau ausgefüllt – alles streng nach Vorschrift, um keinen Verdacht zu erregen. Der Geist war erst in letzter Minute zu ihnen gestoßen, und das Schiff hatte planmäßig abgelegt. Nach Ostsee, Nordsee und dem englischen Kanal hatte die Dragon dann in der Keltischen See bei 49° nördlicher Breite und 7° westlicher Länge den Ausgangspunkt der berühmten Transatlantikrouten erreicht und südwestlichen Kurs nach Long Island, New York, eingeschlagen.

Genau genommen hätte nichts an dieser Fahrt das Misstrauen der amerikanischen Behörden wecken dürfen. »Wie hat die Küstenwache das angestellt?«, fragte der Kapitän.

»Was denn?«, entgegnete der Geist zerstreut.

»Uns gefunden. Wie haben sie das geschafft? Es ist völlig unmöglich.«

Der Geist richtete sich auf und trat hinaus in den tobenden Sturm. »Wer weiß?«, rief er über die Schulter zurück. »Vielleicht war es Zauberei.«

...Zwei

»Wir sind ihnen dicht auf den Fersen, Lincoln. Das Boot hält auf die Küste zu, aber wird es sie auch erreichen? O nein, Sir, auf gar keinen Fall. Moment, müsste ich es nicht eigentlich ein ›Schiff‹ nennen? Doch, müsste ich. Es ist zu groß für ein Boot.«

»Keine Ahnung«, sagte Lincoln Rhyme geistesabwesend zu Fred Dellray. »Ich bin weiß Gott nicht oft auf dem Wasser unterwegs.«

Bei der Jagd auf den Geist fungierte der hoch aufgeschossene, schlaksige FBI-Agent Dellray als leitender Vertreter der Bundesbehörden. Weder sein kanariengelbes Hemd noch der schwarze Anzug, dessen Farbe der schimmernden Haut des Mannes entsprach, waren in letzter Zeit gebügelt worden – allerdings sah keiner der Anwesenden besonders ausgeruht aus. Das halbe Dutzend Leute, das sich um Rhyme drängte, hatte während der letzten vierundzwanzig Stunden praktisch in dieser außergewöhnlichen Kommandostelle kampiert – dem Wohnzimmer von Rhymes Haus am Central Park West, das einst ein viktorianischer Salon gewesen war, inzwischen jedoch eher einem forensischen Labor ähnelte, zum Bersten vollgestopft mit Tischen, technischen Geräten, Computern, Chemikalien, Leitungen und Hunderten von Fachbüchern und -zeitschriften.

Dem Team gehörten sowohl Bundesbeamte als auch Angehörige der lokalen Dienststellen an. Zu Letzteren zählte Lieutenant Lon Sellitto vom Morddezernat der New Yorker Polizei, der noch zerknitterter als Dellray und zudem wesentlich stämmiger war. (Er war erst kürzlich zu seiner Freundin nach Brooklyn gezogen – einer begnadeten Köchin, wie der Cop mit wehmütigem Stolz verkündete.) Begleitet wurde er von Eddie Deng, einem jungen sino-amerikanischen Detective aus dem Fünften Revier des New York Police Department, zu dessen Bezirk auch Chinatown gehörte. Deng war von athletischer Statur und auffallend elegant, einschließlich einer Armani-Brille und einer schwarzen Igelfrisur. Man hatte ihn Sellitto vorübergehend als Mitarbeiter zugewiesen; Roland Bell, der eigentliche Partner des massigen Lieutenants, war vor einer Woche mit seinen beiden Söhnen zu einem Familientreffen ins heimatliche North Carolina gefahren. Wie es der Zufall wollte, hatte er sich dort mit einer ortsansässigen Polizistin namens Lucy Kerr angefreundet und seinen Urlaub daraufhin um ein paar Tage verlängert.

Zu den Bundesvertretern der Gruppe gehörte der Mittfünfziger Harold Peabody, ein mittlerer Beamter von birnenförmiger Gestalt und wachem Verstand, der in der New Yorker Zweigstelle des Immigration and Naturalization Service eine leitende Funktion innehatte. Wie alle Bürokraten, die sich dem Pensionsalter nähern, erzählte Peabody kaum etwas von sich, aber seine weitreichenden Kenntnisse über alle denkbaren Einwanderungsfragen zeugten von einer langjährigen und erfolgreichen Arbeit im Dienst der Behörde.

Im Zuge der aktuellen Ermittlungen war er mehrfach mit Dellray aneinander geraten. Nach dem Zwischenfall mit der Golden Venture – bei dem zehn illegale Einwanderer ertranken, als das Schlepperschiff dieses Namens vor Brooklyn auf Grund lief – hatte der Präsident der Vereinigten Staaten angeordnet, dass für größere Fälle von Menschenschmuggel ab sofort nicht mehr der INS, sondern das FBI zuständig sein würde, unterstützt durch die CIA. Die Einwanderungsbehörde kannte sich auf dem Gebiet der Schlangenköpfe und ihrer Schlepperaktivitäten sehr viel besser aus als das FBI und war nicht im Geringsten erfreut darüber, die Zuständigkeit an andere Behörden abzutreten – vor allem nicht an eine, die darauf bestand, Schulter an Schulter mit dem NYPD und, nun ja, alternativen Beratern wie Lincoln Rhyme zusammenzuarbeiten.

Als Assistenten hatte Peabody einen jungen INS-Beamten namens Alan Coe mitgebracht, einen Mann Anfang dreißig mit kurz geschorenem, dunkelrotem Haar. Auch Coe gab sich verschlossen, war einerseits tatkräftig, andererseits aber mürrisch und launenhaft. Zu seinem Privatleben äußerte er sich überhaupt nicht, zu seinem Werdegang – abgesehen von dem vorliegenden Fall – nur einsilbig. Rhyme hatte bemerkt, dass Coe Anzüge von der Stange – sie waren zwar halbwegs modisch, aber mit deutlichen Nähten gearbeitet – und staubige schwarze Schuhe mit dicken Gummisohlen trug, als wäre er ein Kaufhausdetektiv, der ständig Ladendieben hinterherhetzen musste. Coe wurde nur dann gesprächig, wenn er zu einem seiner spontanen – und langweiligen – Vorträge über das Übel der illegalen Einwanderung ansetzte. Wie dem auch sei, er arbeitete unermüdlich und war eifrig darauf bedacht, dem Geist das Handwerk zu legen.

Darüber hinaus waren im Verlauf der letzten Woche noch diverse andere Untergebene beider Parteien ein und aus gegangen, um die unterschiedlichsten Botengänge zu erledigen.

Ich komme mir vor wie in der verfluchten Grand Central Station, hatte Lincoln Rhyme in den vergangenen Tagen immer wieder gedacht – und gelegentlich auch laut ausgesprochen.

Jetzt, um Viertel vor fünf an diesem stürmischen Morgen, fuhr er mit seinem batteriebetriebenen Rollstuhl, Modell Storm Arrow, durch den voll gestopften Raum zu der Wandtafel, auf der sie den aktuellen Status des Falls festhielten. Gegenwärtig hing dort eines der wenigen existierenden Fotos des Geists, aufgenommen bei einer Überwachungsaktion und von sehr schlechter Qualität, ein Bild von Sen Zi-jun, dem Kapitän der Fuzhou Dragon, und eine Karte des östlichen Long Island sowie der umliegenden Gewässer.

Vor einigen Jahren hatte Rhyme bei der Untersuchung eines Tatorts einen Unfall erlitten, durch den sein vierter Halswirbel verletzt worden war. Infolge der daraus resultierenden Querschnittslähmung hatte er sich zunächst vollständig von allen Aktivitäten zurückgezogen und sein Bett nicht mehr verlassen. Mittlerweile verbrachte er die Hälfte des Tages in seinem kirschroten Storm Arrow, der sich seit neuestem über ein hochmodernes MKIV-Touchpad lenken ließ, das Lincolns Betreuer Thom im Sortiment von Invacare entdeckt hatte. Rhyme bediente es mit seinem einen noch funktionsfähigen Finger und erhielt dadurch bei der Steuerung des Rollstuhls eine weitaus größere Flexibilität als mit dem alten Strohhalmsystem.

»Wie weit noch bis zur Küste?«, rief er, ohne den Blick von der Karte abzuwenden.

Lon Sellitto, der am Telefon saß, hob den Kopf. »Ich werde mal nachfragen.«

Rhyme arbeitete häufig als Berater für das NYPD, aber meistens ging es dabei um klassische forensische Spurenauswertung – um Kriminalistik, wie es im Jargon der Strafverfolgungsbehörden heutzutage bevorzugt hieß. Dieser neue Auftrag war ungewöhnlich. Vor vier Tagen hatten Sellitto, Dellray, Peabody und der wortkarge Alan Coe ihn in seinem Haus aufgesucht. Rhyme war mit den Gedanken anfangs nicht ganz bei der Sache gewesen – ihn beschäftigte zurzeit vor allem eine nahe bevorstehende Operation -, aber Dellrays eindringliche Bitte hatte schließlich seine Neugier geweckt: »Sie sind unsere letzte Hoffnung, Linc. Wir stecken in großen Schwierigkeiten und haben nicht die leiseste Ahnung, an wen wir uns sonst wenden könnten.«

»Fahren Sie fort.«

Interpol – die Zentralstelle zur internationalen Koordination der Ermittlungsarbeit in der Verbrechensbekämpfung – hatte eines ihrer berüchtigten Roten Bulletins in Umlauf gebracht. Es ging um den Geist. Nach Aussage mehrerer Informanten war der weltweit gesuchte Schlangenkopf im chinesischen Fuzhou aufgetaucht, von dort erst nach Südfrankreich und dann weiter in irgendeine russische Hafenstadt geflogen, um eine Schiffsladung illegaler chinesischer Auswanderer zu übernehmen, zu denen auch der bangshou, der Assistent des Geists zählte – ein Spion, der sich als einer der Emigranten ausgab. Als Zielort vermutete man New York, aber dann war der Mann von der Bildfläche verschwunden, und weder die taiwanesische noch die französische oder russische Polizei konnten ihn aufspüren, desgleichen FBI und INS.

Das einzige Material, das ihnen zur Verfügung stand, hatte Dellray gleich mitgebracht – einen Aktenkoffer mit ein paar persönlichen Habseligkeiten des Geists, die man in seinem französischen Unterschlupf sichergestellt hatte. Der FBI-Agent hoffte, Rhyme würde daraus vielleicht ablesen können, wohin die Spur des Mannes führte.

»Warum dieses allgemeine Interesse?«, hatte Rhyme mit Blick auf die Neuankömmlinge gefragt, die immerhin drei bedeutende Strafverfolgungsbehörden repräsentierten.

»Er ist ein verdammter Soziopath«, antwortete Coe.

Peabodys Antwort fiel etwas maßvoller aus. »Bei dem Geist handelt es sich wahrscheinlich um den gefährlichsten Menschenschmuggler der Welt. Er wird im Zusammenhang mit elf Morden gesucht – zu den Opfern zählen sowohl Emigranten als auch Polizisten und verdeckte Ermittler. Aber wir wissen, dass er noch weitere Menschen umgebracht hat. Die Illegalen werden oft auch als ›Verschwundene‹ bezeichnet – falls sie versuchen, einen der Schlangenköpfe zu hintergehen, beseitigt man sie. Sobald sie sich über irgendetwas beklagen, räumt man sie aus dem Weg. Sie lösen sich einfach für immer in Luft auf.«

»Und er hat mindestens fünfzehn Flüchtlingsfrauen vergewaltigt«, fügte Coe hinzu. »Das jedenfalls sind die Fälle, von denen wir wissen. Ich bin überzeugt, es gibt noch mehr.«

»Hochrangige Schlangenköpfe wie er nehmen normalerweise nicht persönlich an den Überfahrten teil«, erklärte Dellray. »Seine Anwesenheit hat vermutlich einen ganz bestimmten Grund: Er will seinen hiesigen Einflussbereich ausdehnen.«

»Falls ihm die Einreise gelingt, werden Menschen sterben«, sagte Coe. »Viele Menschen.«

»Tja, und wieso ich?«, fragte Rhyme. »Ich kenne mich mit Menschenschmuggel doch überhaupt nicht aus.«

»Wir haben schon alles ausprobiert, Lincoln, aber leider ohne Erfolg«, sagte der FBI-Agent. »Uns liegen keinerlei persönliche Informationen über den Mann vor, keine guten Fotos, keine Fingerabdrücke. Rein gar nichts. Abgesehen davon.« Er nickte in Richtung des Aktenkoffers.

Rhyme warf einen skeptischen Blick darauf. »Und wohin in Russland ist er geflogen? Können Sie mir eine Stadt nennen? Einen Staat, eine Provinz oder wie auch immer die da drüben organisiert sind? Soweit ich weiß, ist das ein ziemlich großes Land.«

Sellitto hob als Antwort lediglich eine Augenbraue, was zu besagen schien: Wir haben nicht die geringste Ahnung.

»Ich werde sehen, was ich tun kann, aber erwarten Sie bitte keine Wunder.«

Zwei Tage später hatte Rhyme sie alle wieder zu sich gebeten. Thom reichte Agent Coe den Aktenkoffer.

»War etwas Hilfreiches dabei?«, fragte der junge Mann.

»Nein«, entgegnete Rhyme vergnügt.

»Mist«, murmelte Dellray. »Da haben wir wohl Pech gehabt.«

Das reichte Lincoln Rhyme als Stichwort. Er lehnte den Kopf auf das bequeme Kissen zurück, das Thom an dem Rollstuhl befestigt hatte, und begann sogleich mit seinen Ausführungen.

»Der Geist und zirka zwanzig bis dreißig illegale chinesische Auswanderer halten sich an Bord eines Schiffs namens Fuzhou Dragon auf, Heimathafen Fuzhou, Provinz Fujian, China. Es handelt sich um ein zweiundsiebzig Meter langes Frachtschiff mit Laderaum und Containerdeck, angetrieben durch zwei Dieselmotoren. Der sechsundfünfzigjährige Kapitän heißt Sen Zi-jun – Sen ist dabei der Nachname – und verfügt über eine siebenköpfige Besatzung. Die Dragon ist vor vierzehn Tagen um acht Uhr fünfundvierzig morgens aus dem russischen Hafen von Wyborg ausgelaufen und befindet sich gegenwärtig – das ist jetzt eine Schätzung – knapp fünfhundert Kilometer vor der Küste von New York. Ihr Ziel ist der Hafen von Brooklyn.«

»Wie, zum Teufel, haben Sie das denn herausgefunden?«, rief Coe verblüfft. Sogar Sellitto, der an Rhymes deduktive Fähigkeiten gewöhnt war, lachte unwillkürlich auf.

»Ganz einfach. Zuerst mal bin ich davon ausgegangen, dass diese Leute von Osten nach Westen fahren würden – andernfalls hätten sie auch direkt von China aus aufbrechen können. Ein Freund von mir arbeitet bei der Moskauer Polizei – ein Kriminaltechniker, ich habe mit ihm zusammen einige Aufsätze verfasst. Der weltweit beste Experte für Bodenproben, nebenbei bemerkt. Ich habe ihn gebeten, sich mit den Hafenmeistereien der westrussischen Seehäfen in Verbindung zu setzen. Er hat seine Beziehungen spielen lassen und die Ladungsverzeichnisse sämtlicher chinesischer Schiffe besorgt, die in den letzten drei Wochen dort ausgelaufen sind. Es hat ein paar Stunden gedauert, die Unterlagen mit ihm durchzugehen. Ach, übrigens, Sie können sich schon mal darauf einstellen, die immense Telefonrechnung zu begleichen. Und ich habe ihm gesagt, er soll Ihnen auch die Übersetzung berechnen. Ich an seiner Stelle würde das tun. Wie auch immer, wir haben festgestellt, dass nur ein einziges Schiff genügend Treibstoff für eine dreizehntausend Kilometer lange Reise an Bord genommen hat, obwohl die Strecke laut der Dokumente nur sechseinhalbtausend Kilometer betragen sollte. Dreizehntausend Kilometer entsprechen einer Fahrt von Wyborg nach New York und zurück ins englische Southampton, um dort erneut zu tanken. In Brooklyn wurde kein Anlegeplatz reserviert. Man hat vor, den Geist und die Emigranten abzusetzen und sofort wieder nach Europa zurückzufahren.«

»Vielleicht ist denen nur der Treibstoff in New York zu teuer«, warf Dellray ein.

Rhyme zuckte die Achseln – eine der wenigen beiläufigen Gesten, die sein Körper ihm noch gestattete. »Alles in New York ist zu teuer«, lautete sein mürrischer Kommentar. »Aber da ist noch etwas: Das Ladeverzeichnis der Dragon besagt, dass sie Industriemaschinen nach Amerika transportiert. In den Papieren muss der aktuelle Tiefgang des Schiffs vermerkt werden, um sicherzustellen, dass der Rumpf in einem zu flachen Hafenbecken nicht auf Grund läuft. Der Tiefgang der Dragon wurde mit drei Metern angegeben, wohingegen ein voll beladenes Schiff dieser Größe auf wenigstens siebeneinhalb Meter kommen dürfte. Demnach hatte sie überhaupt keine Ladung an Bord, abgesehen von dem Geist und den Emigranten. Ich gehe von zwanzig bis dreißig Leuten aus, weil die Dragon entsprechend viel Trinkwasser und Proviant aufgenommen hat, obwohl die eigentliche Besatzung – wie schon erläutert – aus nur sieben Männern und dem Kapitän besteht.«

»Da hol mich doch der Teufel«, sagte der ansonsten so spröde Harold Peabody mit bewunderndem Grinsen.

Wenig später an jenem Tag machten Beobachtungssatelliten die Dragon ungefähr vierhundertfünfzig Kilometer vor der amerikanischen Küste aus, genau wie Rhyme vorhergesagt hatte.

Das Küstenwachboot Evan Brigant, ausgestattet mit fünfundzwanzig Mann Besatzung, großkalibrigen Zwillingsmaschinengewehren und einem 80-mm-Geschütz, ging in Bereitschaft, blieb jedoch zunächst auf Distanz, um die Dragon näher herankommen zu lassen.

Jetzt – kurz vor Tagesanbruch am heutigen Dienstag – befand sich das chinesische Schiff in amerikanischen Hoheitsgewässern, und die Evan Brigant hatte die Verfolgung aufgenommen. Der Plan sah vor, die Dragon zu entern und den Geist samt seinem Gehilfen und der Besatzung zu verhaften. Dann sollte die Küstenwache das Schiff in den Hafen von Port Jefferson auf Long Island bringen, von wo aus man die Emigranten bis zur Abschiebung oder dem Asylverfahren in ein Bundesgefängnis überstellen würde.

Von Bord des Küstenwachboots kam ein Funkspruch herein. Thom legte ihn auf den Lautsprecher.

»Agent Dellray? Hier spricht Captain Ransom auf der Evan Brigant.«

»Ich höre Sie, Captain.«

»Wir wurden anscheinend bemerkt – deren Radar ist besser, als wir vermutet haben. Das Schiff hält nun geradewegs auf die Küste zu. Wir benötigen neue Anweisungen hinsichtlich unseres Vorgehens. Es besteht Grund zu der Befürchtung, dass ein Enterversuch zu einem Schusswechsel führen könnte. Ich meine, wir wissen ja schließlich, um wen es sich bei diesem Kerl handelt. Vielleicht gibt es Verluste. Kommen.«

»Verluste bei wem?«, fragte Coe. »Bei den Illegalen?« Der verächtliche Tonfall, in dem er dieses Wort aussprach, war nicht zu überhören.

»Genau. Wir haben uns überlegt, das Schiff eventuell nur zum Beidrehen zu zwingen und abzuwarten, bis der Geist sich ergibt. Kommen.«

Dellray hob die Hand und fingerte an der Zigarette herum, die er zur Erinnerung an sein früheres Laster hinter dem Ohr stecken hatte. »Erlaubnis verweigert. Folgen Sie dem ursprünglichen Plan. Stoppen Sie das Schiff, gehen Sie an Bord, und nehmen Sie den Geist fest. Falls nötig, machen Sie von Ihren Waffen Gebrauch. Bitte bestätigen Sie.«

Der junge Mann zögerte kurz mit der Antwort. »Bestätigt, Sir. Ende und Aus.«

Damit war das Gespräch beendet, und Thom schaltete den Lautsprecher wieder ab. In der folgenden Stille machte sich fühlbare Anspannung im Raum breit. Sellitto fuhr sich mit den Handflächen über die zerknitterten Hosenbeine und rückte dann die Dienstwaffe an seinem Gürtel zurecht. Dellray ging auf und ab. Peabody rief in der INS-Zentrale an, um den Leuten dort mitzuteilen, dass er ihnen nichts mitzuteilen hatte.

Kurz darauf klingelte das Telefon an Rhymes Privatanschluss. Thom zog sich in eine Ecke des Zimmers zurück und nahm den Anruf entgegen. Er hörte einen Moment zu und hob dann den Kopf. »Lincoln, es ist Dr. Weaver. Wegen der Operation.« Er ließ den Blick über die nervösen Beamten schweifen. »Ich sage ihr, dass du zurückrufst.«

»Nein«, widersprach Rhyme entschieden. »Ich möchte jetzt mit ihr reden.«

...Drei

Die Windstärke hatte noch zugenommen, und die Wogen türmten sich hoch über der unerschrockenen Fuzhou Dragon auf.

Der Geist hasste Schiffsfahrten, denn er war an Luxushotels mit umfassendem Service gewöhnt, und Schleppertransporte waren eine dreckige, ölige, kalte und gefährliche Angelegenheit. Die Menschheit hat es bis jetzt nicht geschafft, das Meer zu zähmen, und es wird ihr auch nie gelingen, dachte er. Der Ozean ist eine eisige Todesfalle.

Sein Blick suchte das Achterdeck des Schiffs ab, aber sein bangshou war nirgendwo zu entdecken. Er wandte sich nach vorn, kniff die Augen zusammen und vermochte im Sturm noch immer kein Land auszumachen, lediglich weitere rastlose Berge aus schwarzem Wasser. Er kletterte auf die Brücke und klopfte an die Scheibe der hinteren Tür. Kapitän Sen blickte auf, und der Geist winkte ihn zu sich.

Sen zog sich eine Strickmütze über die Ohren und trat pflichtgetreu hinaus in den Regen.

»Die Küstenwache wird bald hier sein«, brüllte der Geist, um das Heulen des Windes zu übertönen.

»Nein«, erwiderte Sen. »Ich kann dicht genug ans Ufer gelangen, um die Leute abzusetzen, und zwar noch bevor sie uns einholen.«

Doch der Geist sah ihn ungerührt an. »Sie werden jetzt Folgendes tun. Die Brückenbesatzung bleibt an ihrem Platz, aber Sie und der Rest der Mannschaft begeben sich nach unten zu den Ferkeln. Verstecken Sie sich dort, und sorgen Sie dafür, dass auch alle anderen im Laderaum sich irgendein Schlupfloch suchen.«

»Aber warum?«

»Weil Sie ein guter Mensch sind«, erklärte der Geist. »Zu gut, um zu lügen. Ich werde vorgeben, der Kapitän zu sein, denn ich kann einem Mann ins Gesicht sehen, und er wird mir glauben, was ich ihm erzähle. Sie können das nicht.«

Der Geist nahm Sen die Mütze ab. Im ersten Moment wollte der Kapitän danach greifen, aber dann ließ er die Hand wieder sinken. Der Geist setzte die Mütze auf. »So«, sagte er ernst. »Sehe ich wie ein Kapitän aus? Ich schätze, ich gebe einen recht guten Kapitän ab.«

»Die Dragon ist mein Schiff.«

»Nein«, widersprach der Geist. »Auf dieser Reise ist sie mein Schiff. Immerhin zahle ich bar und in Grün.« Amerikanische Dollars waren sehr viel wertvoller und vielseitiger einsetzbar als die chinesischen Yuan, mit denen die meisten der niederen Schlangenköpfe zu bezahlen pflegten.

»Sie wollen sie doch nicht etwa angreifen, oder? Die Küstenwache, meine ich.«

Der Geist lachte ungehalten auf. »Wie sollte ich das wohl bewerkstelligen? Es dürften mehrere Dutzend Männer sein.« Er nickte in Richtung der Matrosen auf der Brücke. »Weisen Sie Ihre Leute an, meine Befehle zu befolgen.« Als Sen zögerte, beugte der Geist sich vor und fixierte ihn mit einem ruhigen, aber eiskalten Blick, der praktisch nie seine einschüchternde Wirkung verfehlte. »Möchten Sie mir noch etwas sagen?«

Sen senkte den Kopf und kehrte dann auf die Brücke zurück, um seine Männer zu instruieren.

Der Geist wandte sich wieder dem Heck der Dragon zu und hielt abermals nach seinem Gehilfen Ausschau. Dann zog er sich die Mütze tiefer ins Gesicht und betrat die Brücke, um auf dem schlingernden Schiff das Kommando zu übernehmen.

Bei den zehn Richtern der Hölle...

Der Mann kroch auf dem Oberdeck zum Achterschiff, steckte den Kopf über die Reling der Fuzhou Dragon und fing erneut an zu würgen.

Seit Ausbruch des Sturms hatte er die ganze Nacht neben einem der Rettungsboote gelegen und war nun dem stinkenden Laderaum entflohen, um seinen Körper von der Disharmonie zu befreien, die durch die wogende See hervorgerufen wurde.

Bei den zehn Richtern der Hölle, schoss es ihm ein weiteres Mal durch den Kopf. Das ständige Schaukeln ließ seine Eingeweide revoltieren. Ihm war kalt, und er fühlte sich so elend wie noch nie in seinem Leben. Langsam rutschte er an dem rostigen Geländer hinunter und schloss die Augen.

Er hieß Sonny Li, wenngleich sein Vater ihm einst rücksichtslos den Namen Kangmei gegeben hatte, was übersetzt »Bekämpfe Amerika« bedeutete. Während Maos Regierungszeit war es üblich gewesen, den Kindern solche politisch korrekten – und furchtbar peinlichen – Vornamen zu verpassen. Später aber hatte er es den vielen anderen chinesischen Jugendlichen aus den Küstenprovinzen Fujian und Guangdong gleichgetan und zusätzlich einen westlichen Rufnamen angenommen. Die Jungs in seiner Gang hatten ihm den Namen verliehen: Sonny, nach dem gefährlichen, übellaunigen Sohn von Don Corleone in dem Film Der Pate.

Wie sein Namensvetter hatte auch Sonny Li viel Gewalt erlebt – und ausgeübt -, aber nichts und niemandem war es je gelungen, ihn buchstäblich so in die Knie zu zwingen wie diese Seekrankheit.

Bei den Richtern der Hölle...

Li war bereit, seine Reise in die Unterwelt anzutreten. Er würde sämtliche Missetaten gestehen, all die Schande, die er seinem Vater bereitet hatte, all die Dummheiten, all den Schmerz. Soll der Gott T'ai'shan mir ruhig einen Platz in der Hölle zuweisen. Wenn doch nur diese beschissene Übelkeit verschwinden würde! Erschöpft nach zwei Wochen karger Mahlzeiten und verwirrt durch den Schwindel hatte er plötzlich den Eindruck, das Meer sei nur deswegen so in Aufruhr, weil ein gewaltiger Drache sich ungehemmt austobte. Am liebsten hätte Sonny seine schwere Pistole aus der Tasche gezogen und dem Vieh einen Schuss nach dem anderen in den Wanst gejagt.

Er drehte sich um, schaute zur Brücke des Schiffs und glaubte dort den Geist zu entdecken, aber dann krampfte sich unvermittelt sein Magen zusammen, und Li musste sich wieder über die Reling beugen. Er vergaß den Schlangenkopf, vergaß das gefährliche Leben, das er in Fujian geführt hatte, vergaß alles außer den zehn Richtern der Hölle, die schadenfroh ihre Dämonen anwiesen, seinen sterbenden Leib mit ihren Speeren zu durchbohren.

Er fing von neuem an zu würgen.

Die hoch gewachsene Frau lehnte an ihrem Wagen und gab ein farblich überaus kontrastreiches Bild ab: das rote Haar, das vom heftigen Wind gepeitscht wurde, das Gelb des alten Chevy Camaro, der schwarze Waffengürtel aus Nylon, in dessen Holster an ihrer Hüfte eine ebenso schwarze Pistole steckte.

Amelia Sachs trug Jeans und eine Kapuzenjacke, auf deren Rücken die Worte NYPD SPURENSICHERUNG standen. Ihr Blick war auf das aufgewühlte Hafenbecken bei Port Jefferson an der Nordküste von Long Island gerichtet. Dann nahm sie ihre nähere Umgebung in Augenschein. Die Einwanderungsbehörde, das FBI, die Polizei des Suffolk County und Amelias eigene Truppe hatten einen Parkplatz abgesperrt, der an einem durchschnittlichen Augusttag normalerweise von den Autos zahlloser Badegäste übergequollen wäre. Heute bei diesem Tropensturm würde sich aber vermutlich kein einziger Urlauber am Strand blicken lassen.

In der Nähe waren zwei große vergitterte Häftlingsbusse geparkt, die der INS bei der Strafvollzugsbehörde ausgeliehen hatte, ein halbes Dutzend Krankenwagen und vier Kleinbusse mit den Vertretern der verschiedenen Dienststellen. Sofern alles nach Plan verlief, würde die Dragon sich bei ihrem Eintreffen in der Gewalt der Mannschaft der Evan Brigant befinden und der Geist samt seinem Assistenten wären verhaftet. Allerdings musste zwischen dem Moment, in dem der Geist das Küstenwachboot bemerkte, und der tatsächlichen Enterung zwangsläufig eine gewisse Frist verstreichen – schlimmstenfalls bis zu vierzig Minuten. Dadurch erhielten der Geist und sein bangshou jede Menge Zeit, sich unter die illegalen Einwanderer zu mischen und Waffen am Körper zu verstecken, wie die Schlangenköpfe es häufig taten. Die Küstenwache würde es vielleicht nicht schaffen, alle Passagiere und das gesamte Schiff vor dem Einlaufen in den Hafen gründlich zu durchsuchen, sodass der Schlangenkopf und ein paar Besatzungsmitglieder eventuell versuchen könnten, sich den Weg freizuschießen.

Vor allem Sachs würde ein großes Wagnis eingehen, denn ihre Aufgabe war es, das gesamte Schiff nach Spuren abzusuchen, mit denen sich die diversen Anklagen gegen den Geist untermauern ließen. Ferner suchte man nach Hinweisen auf seine Komplizen. Wenn es sich um den Fundort einer Leiche oder den Schauplatz eines Raubüberfalls handelte, so war der Täter längst geflohen, und der Beamte der Spurensicherung setzte sich keiner nennenswerten Gefahr aus. Sobald der zu untersuchende Tatort jedoch zugleich der Ort des Zugriffs war, wobei man weder die genaue Zahl der Täter noch deren Aussehen kannte, entstand eine potentiell riskante Situation, besonders im Fall von Menschenschmugglern, die meist schwer bewaffnet waren.

Amelias Mobiltelefon klingelte. Sie ließ sich auf den straff gepolsterten Sitz des Chevy fallen und nahm den Anruf entgegen.

Es war Rhyme.

»Wir stehen alle bereit«, teilte sie ihm mit.

»Man hat auf dem Schiff anscheinend etwas spitzgekriegt, Sachs«, sagte er. »Mittlerweile hält die Dragon in gerader Linie auf das Ufer zu. Die Küstenwache dürfte sie noch rechtzeitig abfangen können, aber wir gehen davon aus, dass der Geist es auf einen Kampf ankommen lassen wird.«

Sie dachte an die armen Menschen an Bord.

Als Rhyme nicht weitersprach, wagte Sachs eine Frage. »Hat sie angerufen?«

Er zögerte. »Ja«, sagte er dann. »Vor ungefähr zehn Minuten. Sie kann den Eingriff nächste Woche im Manhattan Hospital vornehmen. Wegen der Einzelheiten wird sie sich noch einmal melden.«

»Aha«, sagte Sachs.

Die Frau, von der sie sprachen, war Dr. Cheryl Weaver, eine renommierte Neurochirurgin, die für ein Semester aus North Carolina nach New York gekommen war, um am Manhattan Hospital zu lehren. Es war ein experimenteller Eingriff, dem Rhyme sich unterziehen wollte – eine Operation, die seine Lähmungserscheinungen unter Umständen bessern würden.

Eine Operation, von der Sachs nicht unbedingt begeistert war.

»An eurer Stelle würde ich noch ein paar zusätzliche Krankenwagen anfordern«, sagte Rhyme. Er klang wieder ziemlich sachlich – es gefiel ihm nicht, wenn mitten bei der Arbeit persönliche Themen zur Sprache kamen.

»Ich kümmere mich darum.«

»Das war vorerst alles, Sachs.«

Er legte auf.

Amelia lief durch den strömenden Regen zu einem der Staatspolizisten und veranlasste die Bereitstellung weiterer Ambulanzen. Dann kehrte sie zu ihrem Chevy zurück, nahm auf dem Schalensitz Platz und lauschte dem Prasseln der großen Tropfen auf Windschutzscheibe und Faltdach. In der feuchten Luft roch der Innenraum nach Plastik, Motoröl und alter Auslegeware.

Rhymes bevorstehende Operation ließ Amelia an eine Unterredung denken, die sie kürzlich mit einem anderen Arzt geführt hatte, der nicht an diesem Rückenmarkseingriff beteiligt war. Sie wollte sich eigentlich nicht an das Gespräch erinnern, aber es geschah ganz automatisch.

Zwei Wochen zuvor hatte Amelia Sachs im Aufenthaltsraum eines Krankenhauses vor dem Kaffeeautomaten gestanden, nur wenige Meter von dem Zimmer entfernt, in dem Lincoln Rhyme währenddessen untersucht wurde. Sie wusste noch, wie auffallend scheußlich ihr die gleißenden Strahlen der Julisonne auf dem grün gefliesten Boden vorgekommen waren. Der Mann in dem weißen Kittel hatte den Raum betreten und Amelia angesprochen. »Ah, Miss Sachs. Hier stecken Sie also.« Sein ernster Tonfall hatte sie frösteln lassen.

»Hallo, Doktor.«

»Ich habe gerade mit Lincoln Rhymes Arzt gesprochen.«

»Ja?«

»Und jetzt muss ich unbedingt mit Ihnen reden.«

Das Herz hatte ihr bis zum Hals geklopft. »Das klingt nach schlechten Neuigkeiten, Doktor.«

»Wollen wir uns nicht da drüben in die Ecke setzen?«, hatte er gefragt und dabei nicht wie ein Arzt, sondern eher wie ein Bestattungsunternehmer gewirkt.

»Nein, es geht schon«, hatte sie entschlossen erwidert. »Raus mit der Sprache. Was ist los?«

Eine Windbö ließ den Wagen erzittern, und Amelia schaute abermals hinaus in das Hafenbecken und auf den langen Pier, an dem die Fuzhou Dragon anlegen würde.

Schlechte Neuigkeiten.

Raus mit der Sprache. Was ist los? ...

Sachs stellte ihr Funkgerät auf die sichere Frequenz der Küstenwache ein, nicht nur, um über den weiteren Verlauf der Ereignisse unterrichtet zu bleiben, sondern auch, weil sie nicht länger an diesen blendend hellen Aufenthaltsraum denken wollte.

»Wie weit noch bis zur Küste?«, fragte der Geist die beiden Matrosen, die sich außer ihm auf der Brücke befanden.

»Anderthalb Kilometer, vielleicht etwas weniger.« Der schlanke Mann am Ruder warf dem Geist einen kurzen Blick zu. »Direkt vor den Untiefen drehen wir ab und versuchen, die geschützte Bucht zu erreichen.«

Der Geist starrte angestrengt in Fahrtrichtung. Als das Schiff auf einen Wellenkamm gehoben wurde, konnte er am Horizont das hellgraue Festland als schmalen Strich ausmachen. »Bleiben Sie exakt auf Kurs«, befahl er. »Ich bin gleich wieder zurück.«

Er atmete tief durch und ging nach draußen. Wind und Regen schlugen ihm ins Gesicht. Der Geist stieg aufs Containerdeck hinunter, dann noch ein Deck tiefer, bis er die Stahlluke zum Frachtraum erreichte. Er trat ein und ließ den Blick über die Ferkel schweifen. Besorgt und verängstigt sahen sie zu ihm hinauf. Die jämmerlichen Männer, die verwahrlosten Frauen, die dreckigen Kinder – darunter sogar ein paar nutzlose Mädchen. Weshalb nur hatten ihre dämlichen Familien sich überhaupt die Mühe gemacht, sie mitzuschleppen?

»Was gibt's?«, fragte Kapitän Sen. »Ist das Boot der Küstenwache in Sicht?«

Der Geist antwortete nicht, sondern hielt zwischen den Ferkeln nach seinem bangshou Ausschau. Vergebens. Wütend wandte er sich ab.

»Warten Sie«, rief der Kapitän.

Der Schlangenkopf verließ den Laderaum und schloss die Tür. »Bangshou!«, brüllte er.

Keine Reaktion. Ein zweites Mal würde er nicht nach dem Mann rufen. Zunächst sicherte er die Verriegelung, sodass die Luke des Frachtraums nicht mehr von innen geöffnet werden konnte. Danach eilte er zu seiner Kabine, die sich auf dem Brückendeck befand. Während er die Stufen hinaufstieg, zog er ein verschrammtes Plastikkästchen aus der Tasche, das wie der Garagentoröffner seines luxuriösen Hauses in Xiamen aussah.

Er klappte den Deckel hoch und drückte erst einen Knopf, dann noch einen. Das Funksignal raste zwei Decks hinab zu dem Matchbeutel, den er im Achterladeraum unterhalb der Wasserlinie deponiert hatte. Es schloss einen Stromkreis und sandte den elektrischen Impuls einer Neun-Volt-Batterie an eine Zündkapsel, die in zwei Kilo C4-Sprengstoff steckte.

Die Explosion war gewaltig, viel stärker, als er erwartet hatte, und ließ eine Gischtfontäne aufsteigen, die bis weit über die höchsten Wellen reichte.

Der Geist wurde von der Treppe aufs Hauptdeck geschleudert. Benommen blieb er auf der Seite liegen.

Zu viel!, wurde ihm klar. Die Ladung war nicht richtig bemessen gewesen. Schon jetzt führte das eindringende Meerwasser dazu, dass die Dragon Schlagseite bekam. Ursprünglich hatte der Geist mit einer halben Stunde bis zum Untergang gerechnet, aber stattdessen würde es nur wenige Minuten dauern. Er sah zum Brückendeck, wo in der kleinen Kabine sein Geld und seine Waffen lagen. Dann suchte sein Blick ein letztes Mal die anderen Decks nach dem bangshou ab, aber der Kerl war nirgendwo zu entdecken. Es blieb keine Zeit mehr. Der Geist stand auf, arbeitete sich über das Containerdeck bis zum nächsten Schlauchboot vor und löste die Haltetaue.

Schlingernd legte die Dragon sich ein weiteres Stück auf die Seite.

...Vier

Der Knall war ohrenbetäubend gewesen – als würden hundert Schmiedehämmer gleichzeitig auf ein Eisen treffen.

So gut wie alle Leute im Laderaum waren auf den kalten, nassen Boden gestürzt. Sam Chang rappelte sich auf und zog seinen jüngsten Sohn aus der öligen Pfütze, in der dieser gelandet war. Dann half er seiner Frau und seinem alten Vater auf die Beine.

»Was ist passiert?«, rief er Kapitän Sen zu, der sich quer durch die panische Menge in Richtung der Tür drängte, die aufs Oberdeck führte. »Sind wir auf einen Felsen aufgelaufen?«

»Nein, das war kein Felsen«, rief der Kapitän zurück. »Das Wasser ist hier dreißig Meter tief. Entweder hat der Geist das Schiff gesprengt oder die Küstenwache feuert auf uns. Ich weiß es nicht.«

»Was ist los?«, fragte ein entsetzter Mann, der in der Nähe von Chang saß. Er hieß Wu Qichen und war der Vater der Familie, die im Frachtraum unmittelbar neben den Changs Quartier bezogen hatte. Seine Frau lag teilnahmslos auf der nächsten Pritsche. Sie hatte Fieber bekommen und während der ganzen Reise apathisch ausgeharrt. Sogar jetzt schien sie die Explosion und das folgende Chaos kaum registriert zu haben. »Was ist denn bloß los?«, wiederholte Wu mit schriller Stimme.

»Wir sinken!«, rief der Kapitän, packte die Riegel der Tür und versuchte vergeblich, die Luke zu öffnen. »Er hat uns eingesperrt!«

Einige Flüchtlinge, Männer wie Frauen, fingen lauthals an zu jammern und wiegten sich vor und zurück; Kinder standen starr vor Angst, während Tränen über ihre schmutzigen Wangen liefen. Sam Chang und einige der Matrosen gesellten sich zu Sen und zerrten mit vereinten Kräften an den Riegeln, aber die dicken Metallstangen gaben keinen Millimeter nach.

Chang bemerkte, dass ein Koffer, der auf dem Boden des Laderaums stand, wie in Zeitlupe umkippte und das Wasser aufspritzen ließ; die Dragon bekam schwere Schlagseite. Zwischen den Fugen der Stahlplatten drang kaltes Wasser ein. Die Lache, aus der er seinen Sohn gezogen hatte, war mittlerweile einen halben Meter tief. Mehrere Leute rutschten schreiend aus und landeten mit rudernden Armen zwischen Abfall, Gepäckstücken, Nahrungsmitteln, Pappbechern und Papierfetzen.

Verzweifelte Männer, Frauen und Kinder fielen sich um den Hals, schluchzten, schrien um Hilfe, beteten oder unternahmen den aussichtslosen Versuch, mit ihren Koffern Löcher in das Metall der Wände zu rammen. Die Frau mit dem vernarbten Gesicht umklammerte ihre kleine Tochter auf genau die gleiche Weise wie das Mädchen ein fleckiges, gelbes Pokémon-Stofftier an sich drückte. Beide weinten.

Ein lautes Ächzen des sterbenden Schiffs hallte durch die verbrauchte Luft, und das schmutzig braune Wasser stieg unablässig.

Die Männer an der Luke erzielten keinerlei Fortschritte. Chang strich sich das Haar aus der Stirn. »Das funktioniert nicht«, sagte er zu Sen. »Wir brauchen einen anderen Weg nach draußen.«

»Im hinteren Teil des Frachtraums befindet sich ein verschraubter Zugang zum Maschinenraum«, entgegnete der Kapitän. »Genau dort wurde allerdings der Rumpf beschädigt, also werden wir den Deckel vermutlich nicht aufbekommen, weil auf der anderen Seite der Druck zu hoch ist.«

»Wo genau?«, fragte Chang.

Der Kapitän zeigte auf die Stelle, eine kleine Öffnung, versperrt durch eine Platte mit vier Schrauben. Sie war gerade groß genug, dass eine Person hindurchsteigen konnte. Er und Chang hielten darauf zu und hatten Mühe, auf dem schrägen Boden nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der schmächtige Wu Qichen half seiner kranken Frau auf die Beine, die einen Anfall von Schüttelfrost erlitt. Chang beugte sich kurz zu seiner eigenen Frau hinunter. »Hör gut zu«, sagte er. »Du musst dafür sorgen, dass unsere Familie dicht beieinander bleibt. Halt dich an diesem Durchgang immer in meiner Nähe.«

»Jawohl.«

Dann schloss Chang zu dem Kapitän auf, und mit Hilfe von Sens Taschenmesser schafften sie es, die Schrauben zu lösen. Chang versetzte dem Deckel einen festen Stoß, woraufhin dieser ohne Widerstand in den Maschinenraum fiel. Auch dort war Wasser eingedrungen, aber es stand niedriger als im Laderaum. Chang konnte die steile Treppe zum Oberdeck erkennen.

Sobald die anderen den offenen Durchgang bemerkten, drängten sie unter lautem Geschrei panisch vorwärts, sodass einige an die Stahlwand gepresst wurden. Chang schlug zwei der Männer mit der Faust nieder. »Nein!«, brüllte er. »Einer nach dem anderen, sonst werden wir alle sterben.«

Ein paar Flüchtlinge wollten sich mit verzweifeltem Blick auf ihn stürzen, aber der Kapitän stellte sich ihnen in den Weg und schwang drohend das Messer. Sie wichen zurück. Nebeneinander standen Sen und Chang der gesamten Schar gegenüber. »Einer nach dem anderen«, wiederholte der Kapitän. »Durch den Maschinenraum und die Stufen hinauf. An Deck befinden sich Rettungsboote.« Er nickte den Leuten zu, die direkt vor der Öffnung standen, und sie krabbelten hindurch. Der Erste war John Sung, ein Arzt und Dissident, mit dem Chang sich während der Reise des Öfteren unterhalten hatte. Er kniete sich auf die andere Seite des Durchgangs und half den Nachfolgenden. Ein junges Ehepaar stieg hindurch und lief zur Treppe.

Der Kapitän sah Chang an und nickte. »Gehen Sie!«

Chang gab zunächst seinem Vater Chang Jiechi einen Wink, und der alte Mann kroch nach nebenan. John Sung nahm seinen Arm und stützte ihn. Dann folgten Changs Söhne: der halbwüchsige William und der achtjährige Ronald; danach seine Frau. Chang ging als Letzter und bedeutete seiner Familie, über die Stufen nach oben zu klettern. Er blieb zurück, um Sung zu helfen.

Familie Wu kam als Nächste: Qichen, seine kranke Frau, die Tochter und der kleine Sohn.

Chang streckte die Hand aus, um den nächsten Flüchtling in Empfang zu nehmen, aber zwei der Matrosen drängten sich vor. Kapitän Sen wollte sie zurückhalten. »Noch habe ich hier das Kommando«, schimpfte er. »Die Dragon ist mein Schiff. Zuerst die Passagiere.«

»Passagiere? Du Idiot, das ist doch höchstens Ungeziefer!«, schrie einer der Männer, schubste die narbengesichtige Mutter und ihre kleine Tochter beiseite und stieg durch die Öffnung. Der andere folgte ihm auf dem Fuß, stieß Sung zu Boden und rannte zur Treppe. Chang half dem Doktor auf die Beine. »Es ist nichts passiert«, rief dieser, schloss die Hand um den Talisman, der um seinen Hals hing, und murmelte ein kurzes Gebet. Chang hörte den Namen von Chen-wu, dem Gott des Nordhimmels und Beschützer vor Verbrechern.

Die Dragon erbebte spürbar und legte sich noch ein wenig schneller auf die Seite. In den Laderaum drang immer mehr Wasser ein, was an der Öffnung zu einem starken Durchzug entweichender Luft führte, der mit herzzerreißendem Stöhnen einherging, vermischt mit einem gurgelnden Geräusch. Sie sinkt, dachte Chang. Höchstens noch ein paar Minuten. Hinter sich hörte er etwas zischen und prasseln. Er hob den Kopf und sah, dass Wasser über die Stufen strömte und sich auf die riesigen, öligen Motoren ergoss. Eine der Maschinen stellte den Betrieb ein, und das Licht ging aus. Dann verstummte auch das zweite Aggregat.

John Sung verlor den Halt und rutschte quer über den Boden gegen die Wand. »Fliehen Sie!«, rief Chang ihm zu. »Wir können hier nichts mehr tun.«

Der Doktor nickte, taumelte zur Treppe und kletterte hinaus. Chang hingegen wandte sich wieder dem Durchgang zu, um vielleicht doch noch ein oder zwei Leben zu retten. Der Anblick ließ ihn schaudern: Aus der Öffnung schoss Wasser, und aus dem Wasser reckten sich ihm verzweifelt vier Arme entgegen, die hektisch nach Hilfe tasteten. Chang packte die Hand eines der Männer, aber der Flüchtling war so zwischen den anderen eingeklemmt, dass er ihn nicht loszureißen vermochte. Die Hand erzitterte einmal, und dann erschlaffte ihr Griff. In der sprudelnden Flut, die blubbernd in den Maschinenraum drang, konnte Chang einmal kurz Sens Gesicht erkennen. Er wollte ihm nach draußen helfen, aber der Kapitän verschwand wieder in der Schwärze des Laderaums. Wenige Sekunden später schwamm der kahlköpfige Mann jedoch zu dem Durchgang zurück und stieß etwas in Changs Richtung.

Was war das?

Chang hielt sich an einem Rohr fest, um nicht weggespült zu werden, und griff in das schäumende Wasser. Seine kräftige Hand schloss sich um ein Stück Stoff und zog es zwischen den leblos aus der Öffnung ragenden Armen nach oben. Es war ein kleines Kind, die Tochter der Frau mit dem Narbengesicht. Das Mädchen hustete und spuckte, war aber bei Bewusstsein. Chang drückte die Kleine fest an seine Brust, ließ das Rohr los, glitt durch das Wasser bis zur Wand und schwamm zu den Stufen, wo er durch den eisigen Wasserfall an Deck kletterte.

Oben stockte ihm vor Schreck der Atem – das Heck des Schiffs war nahezu vollständig im Meer versunken, und die stürmischen Wogen überspülten bereits das halbe Achterdeck. Wu Qichen, Changs Vater und seine beiden Söhne mühten sich dort hinten an dem Haltetau eines der großen orangefarbenen Schlauchboote ab. Es schwamm bereits und würde bald ebenfalls überspült werden. Chang stolperte vorwärts, reichte das Kind seiner Frau und versuchte den anderen zu helfen, doch kurz darauf befand der Knoten des Taus sich unter Wasser. Chang tauchte und zerrte vergebens daran, bis seine Muskeln vor Anstrengung zuckten. Dann erschien plötzlich eine andere Hand vor seinen Augen. Sein Sohn William streckte ihm ein langes, scharfes Messer entgegen, das wohl irgendwo auf dem Deck gelegen hatte. Chang nahm es und säbelte an dem Seil herum, bis es sich endlich löste.

Dann tauchten die beiden wieder auf und halfen keuchend Changs Familie, den Wus, John Sung und dem anderen Ehepaar an Bord des Boots, das durch die hohen Wellen sofort von der Dragon abgetrieben wurde.

Chang kroch ins Heck und zog an der Reißleine des Außenborders, aber ohne Erfolg. Sie mussten den Motor so schnell wie möglich starten, denn sonst würde das Schlauchboot bei diesem Seegang innerhalb weniger Sekunden kentern. Hastig riss Chang die Leine mehrmals hintereinander bis zum Anschlag heraus, und schließlich sprang die Maschine an.

Chang packte die Lenkstange und richtete das kleine Boot unverzüglich quer zu den Wogen aus. Es bäumte sich heftig auf, aber es kippte nicht um. Er beschleunigte und fuhr dann einen vorsichtigen Kreis, um durch Gischt und Regen zurück zu dem sinkenden Schiff zu gelangen.

»Was haben Sie vor?«, fragte Wu.

»Die anderen«, rief Chang. »Wir müssen die anderen finden. Ein paar haben vielleicht ...«

In diesem Augenblick zischte kaum einen Meter entfernt eine Kugel an ihnen vorbei.

Der Geist war außer sich vor Wut.

Er stand am Bug der sinkenden Fuzhou Dragon, die Hand auf dem Taljereep des vorderen Rettungsboots, und starrte aufs Meer hinaus, wo er fünfzig Meter hinter sich soeben einige dieser verdammten Ferkel entdeckt hatte, denen irgendwie die Flucht gelungen war.

Er schoss noch einmal. Wieder daneben. Aus dieser Entfernung und bei einer solch tobenden See war es unmöglich, mit einer Pistole einen gezielten Treffer zu landen. Finster sah er zu, wie die Leute hinter der Dragon und somit aus seinem Sichtfeld verschwanden. Der Geist schaute zum Brückendeck, wo in seiner Kabine die Maschinenpistole und das Geld lagen: mehr als hunderttausend, bar und in Grün. Einen Moment überlegte er, ob es ihm wohl noch gelingen würde, die Kabine zu erreichen.

Wie als Antwort darauf entwich brodelnd eine gewaltige Luftmasse aus dem Rumpf des Schiffs, das sich sogleich weiter auf die Seite legte und noch schneller sank.

Nun ja, der Verlust tat zwar weh, aber er war es nicht wert, das eigene Leben dafür zu riskieren. Der Geist stieg in das Rettungsboot und ruderte ein Stück von der Dragon weg. Dann kniff er die Augen zusammen und suchte sorgfältig das umliegende Wasser ab. Zwei Köpfe tanzten auf den Wellen, vier Arme winkten hektisch mit vor Panik gespreizten Fingern.

»Hier, hier!«, rief der Geist. »Ich rette euch!« Die Männer wandten sich in seine Richtung und reckten sich verzweifelt aus dem Wasser, damit er sie besser sehen konnte. Es waren die beiden Matrosen, die mit ihm auf der Brücke geblieben waren. Erneut hob der Geist seine chinesische Militärpistole, eine Modell 51 Automatik, und tötete die Männer mit jeweils einem Schuss.

Dann ließ der Geist den Außenbordmotor an, drehte eine kleine Runde und suchte ein letztes Mal nach seinem bangshou. Nichts. Sein Gehilfe war ein kaltblütiger Mörder und hatte sogar im dichtesten Kugelhagel keine Angst, aber außerhalb seiner gewohnten Umgebung stellte der Mann sich manchmal ziemlich unbeholfen an. Wahrscheinlich war er ins Wasser gefallen und ertrunken, weil er seine schwere Pistole samt Munition nicht wegwerfen wollte. Na gut, der Geist hatte noch mehr zu erledigen. Er richtete den Bug des Boots auf die Stelle aus, an der er vor kurzem die Ferkel gesehen hatte, und gab kräftig Gas.

Es war ihm keine Zeit geblieben, sich nach einer Rettungsweste umzusehen.

Es war ihm für überhaupt nichts mehr Zeit geblieben.

Unmittelbar nachdem die Explosion den rostigen Rumpf der Dragon erschüttert und Sonny Li bäuchlings zu Boden geschleudert hatte, neigte das Schiff sich zur Seite. Wasser strömte über das Deck, zog ihn gnadenlos mit sich, und plötzlich fand er sich neben dem Schiff wieder, ganz allein mitten im Meer, hilflos den riesigen Wogen ausgeliefert.

Bei den zehn beschissenen Richtern der Hölle, schoss es ihm wütend auf Englisch durch den Kopf.

Das Wasser war kalt, wuchtig, atemberaubend salzig. Die Wellen drehten ihn auf den Rücken, hoben ihn empor und tauchten ihn unter. Li strampelte zur Oberfläche und hielt nach dem Geist Ausschau, aber durch den Schleier aus Regen und Gischt sah er so gut wie gar nichts. Er schluckte einen Mund voll von dem abscheulichen Wasser und musste hustend nach Luft schnappen. Da er für gewöhnlich drei Schachteln Zigaretten am Tag rauchte und literweise Tsingtao-Bier und mao-tai trank, war er bald erschöpft, und die selten strapazierten Muskeln seiner Beine verkrampften sich schmerzhaft.

Widerstrebend griff er zum Gürtel und zog seine automatische Pistole. Kaum hatte er losgelassen, versank die Waffe auch schon in der Tiefe. Dann entledigte er sich der drei gefüllten Magazine, die in seiner Gesäßtasche steckten. Dadurch schwamm es sich ein wenig leichter, aber es war noch nicht genug. Er brauchte eine Rettungsweste, irgendetwas, das von selbst an der Oberfläche trieb und ihm die Last abnehmen würde, sich aus eigener Kraft über Wasser zu halten.

Auf einmal glaubte er, einen Außenbordmotor zu hören, und sah sich hektisch nach allen Richtungen um. In dreißig Metern Entfernung fuhr ein orangefarbenes Schlauchboot vorbei. Sonny hob den Arm, aber da erwischte ihn beim Einatmen eine Welle im Gesicht, und seine Lunge füllte sich mit stechendem Wasser.

Brennender Schmerz durchzuckte seine Brust.

Luft... ich brauche Luft.

Die nächste Woge traf ihn. Er sank unter die Oberfläche und konnte dem mächtigen Sog der grauen Fluten nichts mehr entgegensetzen. Seine Hände fielen ihm auf. Wieso bewegten sie sich nicht?

Strample, rudere! Lass dich nicht vom Meer verschlucken!

Ein letztes Mal kämpfte er sich nach oben.

Lass dich...

Er schluckte noch mehr Wasser.

Lass dich nicht...

Ihm wurde schwarz vor Augen.

Bei den zehn Richtern der Hölle...

Tja, dachte Sonny Li, anscheinend würde er ihnen nun gegenübertreten.

...Fünf

Sie lagen zu seinen Füßen in der kalten Brühe auf dem Boden des Schlauchboots, ein Dutzend Menschen, gefangen zwischen den Bergen aus Wasser unter ihnen und dem peitschenden Regen, der von oben über sie hereinbrach. Verbissen klammerten sie sich an das Seil, das rund um den orangefarbenen Gummiwulst verlief.

Sam Chang, der unfreiwillige Kapitän des zerbrechlichen Gefährts, ließ den Blick über seine Passagiere schweifen. Die beiden Familien – seine eigene und die der Wus – kauerten sich im hinteren Teil und der Mitte des Boots zusammen. Vorn befanden sich Dr. John Sung und die beiden anderen, die dem Frachtraum entflohen waren und deren Nachnamen Chang nicht kannte: Chao-hua und Rose, seine Frau.

Eine Welle schlug über ihren Köpfen zusammen und durchnässte die gepeinigten Insassen ein weiteres Mal. Changs Frau, Mei-Mei, zog ihren Pullover aus und wickelte ihn um die kleine Tochter der narbengesichtigen Frau. Das Mädchen hieß Po-Yee, erinnerte Chang sich jäh, was übersetzt »Geliebtes Kind« bedeutete; die Kleine hatte eigentlich der Glücksbringer ihrer Überfahrt sein sollen.

»Los!«, brüllte Wu. »Fahren Sie ans Ufer.«

»Erst müssen wir noch nach den anderen suchen.«

»Er schießt auf uns!«

Chang sah sich auf dem aufgewühlten Meer um, konnte den Geist aber nirgendwo entdecken. »Wir fahren gleich, doch wenn außer uns noch andere entkommen konnten, müssen wir sie retten. Haltet die Augen auf!«

Der siebzehnjährige William zog sich mühsam auf die Knie und spähte durch die prickelnde Gischt. Wus halbwüchsige Tochter tat es ihm gleich.

Wu rief etwas, aber er hatte den Kopf abgewandt, und Chang konnte ihn nicht verstehen.

Unter beträchtlichen Anstrengungen, das Seil um einen Arm geschlungen und beide Füße fest gegen eine Dolle gestemmt, zwang Chang das Boot auf einen Kurs, der sie in zwanzig Metern Abstand rund um die Fuzhou Dragon führen würde. Das Schiff sank derweil noch tiefer, wobei immer wieder hohe Schaumfontänen aufstiegen, wenn Luft aus den geborstenen Bullaugen oder Luken entwich. Begleitet wurde das Ganze von einem an- und abschwellenden Stöhnen, als litte ein Tier große Qualen.

»Da!«, rief William. »Ich glaube, ich habe jemanden gesehen.«

»Nein«, wandte Wu Qichen ein. »Wir müssen weg! Worauf warten Sie noch?«

William streckte den Arm aus. »Ja, Vater. Da drüben!«

Zehn Meter vor ihnen entdeckte Chang einen dunklen Fleck neben einem kleineren weißen Fleck. Womöglich ein Kopf und eine Hand.

»Egal«, rief Wu. »Der Geist wird uns entdecken! Und dann wird er uns erschießen!«