Der Komponist - Jeffery Deaver - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Komponist E-Book

Jeffery Deaver

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Er komponiert den Todeswalzer – zum Klang deiner letzten Atemzüge ... Der 13. Fall für Lincoln Rhyme und Amelia Sachs.

Am helllichten Tag wird auf einer Straße in der New Yorker Upper East Side ein Mann überwältigt und entführt. Als einzige Spur bleibt am Tatort ein Galgenstrick in Miniaturgröße zurück. Kurz darauf sorgt ein Video im Internet für Aufsehen: Man sieht live dabei zu, wie dem aufgehängten Opfer langsam die Luft abgeschnürt wird. Seine verzweifelten Atemzüge bilden den Hintergrund zu einem düsteren Musikstück. Als in Neapel eine ähnliche Entführung stattfindet, reisen der Forensikexperte Lincoln Rhyme und seine Partnerin Amelia Sachs nach Italien und nehmen die Verfolgung auf. Denn solange der Täter nicht gefasst ist, wird die Musik des Grauens nicht verklingen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 665

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Am helllichten Tag wird auf einer Straße in der New Yorker Upper East Side ein Mann überwältigt und entführt. Als einzige Spur bleibt am Tatort ein Galgenstrick in Miniaturgröße zurück. Kurz darauf sorgt ein Video im Internet für Aufsehen: Man sieht live dabei zu, wie dem aufgehängten Opfer langsam die Luft abgeschnürt wird. Seine verzweifelten Atemzüge bilden den Hintergrund zu einem düsteren Musikstück. Als in Neapel eine ähnliche Entführung stattfindet, reisen der Forensikexperte Lincoln Rhyme und seine Partnerin Amelia Sachs nach Italien und nehmen die Verfolgung auf. Denn solange der Täter nicht gefasst ist, wird die Musik des Grauens nicht verklingen …

Autor

Jeffery Deaver gilt als einer der weltweit besten Autoren intelligenter psychologischer Thriller. Seit seinem ersten großen Erfolg als Schriftsteller hat der von seinen Fans und den Kritikern gleichermaßen geliebte Jeffery Deaver sich aus seinem Beruf als Rechtsanwalt zurückgezogen und lebt nun abwechselnd in Virginia und Kalifornien. Seine Bücher, die in 25 Sprachen übersetzt werden und in 150 Ländern erscheinen, haben ihm zahlreiche renommierte Auszeichnungen eingebracht.

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Jeffery Deaver

Der Komponist

Thriller

Ins Deutsche übertragen von Thomas Haufschild

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel»The Burial Hour« bei Grand Central Publishing, New York.

Copyright © der Originalausgabe 2017 by Gunner Publications, LLC

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Rainer Schöttle

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: Des Panteva/Arcangel Images

AF · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22233-8V003www.blanvalet.de

Im Gedenken an meinen Freund Giorgi Faletti.Die Welt vermisst dich.

ANMERKUNG DES VERFASSERS

Die italienischen Strafverfolgungsbehörden, die ich in diesem Roman erwähne, sind zwar echt, doch ich hoffe, dass die ehrbaren Angehörigen dieser Institutionen, von denen ich viele kennengelernt und deren Gesellschaft ich sehr genossen habe, mir die kleinen Änderungen bei den Beschreibungen ihrer Vorgehensweisen sowie diverser Örtlichkeiten verzeihen werden. Es war für die zeitliche Abstimmung und den Verlauf der Geschichte notwendig.

Zudem möchte ich mich herzlich bei dem Musiker, Autor, Übersetzer und erstklassigen Dolmetscher Seba Pezzani bedanken, ohne dessen Freundschaft, Sorgfalt und Hingabe zur Kunst dieses Buch nicht hätte geschrieben werden können.

Der Winterwind weht, und die Nacht ist dunkel;Stöhnen ertönt aus den Lindenbäumen.Weiße Skelette ziehen durch die Finsternis,Laufen und springen in ihren Totenhemden.

Henri CazalisDanse Macabre

I DER HENKERSWALZER

Montag, 20. September

1

»Mommy.«

»In einer Minute.«

Sie marschierten entschlossen die ruhige Straße an der Upper East Side entlang. Es war ein kühler Herbstmorgen, und die Sonne stand noch tief. Rote und gelbe Blätter trudelten von den lichten Ästen zu Boden.

Mutter und Tochter, beladen mit dem Gepäck, das Kinder heutzutage zur Schule mitschleppen mussten.

Zu meiner Zeit …

Claire verschickte hektisch Textnachrichten. Ihre Haushaltshilfe war – ist das zu glauben? – krank geworden, nein, wohl krank geworden, und das am Tag der Dinnerparty! Der Party. Und Alan musste länger arbeiten. Musste wohl länger arbeiten.

Als hätte ich mich je auf ihn verlassen können.

Ping.

Die Antwort von ihrer Freundin.

Sorry Carmella hat heut Abnd zu tun.

Herrje. Die Nachricht wurde von einem Tränen-Emoji begleitet. Wieso fehlt bei »Abend« das verdammte »e«? Hast du dadurch eine kostbare Millisekunde gespart? Und schon mal was von Kommas gehört?

»Aber Mommy …« Im Singsang-Tonfall einer Neunjährigen.

»Eine Minute, Morgynn. Du hast mich doch gehört.« Claires Stimme blieb freundlich und gleichmütig. Nicht im Mindesten verärgert, kein Stückchen angefressen oder sauer. Sie dachte an die wöchentlichen Sitzungen: Wie sie auf dem Sessel saß – nicht auf der Couch lag: der gute Doktor hatte nicht mal eine Couch in seinem Behandlungszimmer –, und sich ihren Schwachpunkten stellte, dem Zorn und der Ungeduld. Claire hatte ganz bewusst daran gearbeitet, nicht mehr schroff oder laut zu werden, wenn ihre Tochter sie nervte (nicht mal wenn die sich absichtlich so verhielt, was nach Claires Schätzung glatt auf ein Viertel der wachen Stunden des Mädchens zutraf).

Und ich bin verdammt gut darin geworden, mich im Zaum zu halten.

Vernünftig. Erwachsen. »Eine Minute«, wiederholte sie, weil sie spürte, dass das Mädchen schon wieder etwas sagen wollte.

Claire wurde langsamer und blieb stehen. Sie durchsuchte das Adressbuch ihres Telefons und geriet im Angesicht der drohenden Katastrophe allmählich in Panik. Es war noch früh, aber der Tag würde schnell vergehen und die Party über sie hereinbrechen wie eine Flutwelle. Gab es denn in ganz Manhattan wirklich niemanden, nicht einen, der ihr eine halbwegs anständige Bedienung für eine Party ausleihen konnte? Ein Party für zehn verflixte Leute! Das war doch gar nichts. Wie schwierig konnte das schon sein?

Sie überlegte. Ihre Schwester?

Nein. Die war nicht eingeladen.

Sally aus dem Klub?

Nein. Verreist. Und obendrein ein Miststück.

Claire bemerkte, dass Morgynn sich suchend umschaute. Hatte ihre Tochter etwas verloren? Anscheinend. Sie lief zurück, um es aufzuheben.

Wehe, es war ihr Telefon. Sie hatte schon eines zerbrochen. Die Reparatur des Displays hatte 187 Dollar gekostet.

Also ehrlich. Kinder.

Dann scrollte Claire weiter und flehte inständig um Errettung aus dem Kellnernotstand. Sieh sich einer all die Namen an. Ich muss diese verfluchte Kontaktliste unbedingt mal ausdünnen. Die Hälfte der Leute kenne ich nicht mal. Und den größten Teil vom Rest kann ich nicht leiden. Sie verschickte das nächste Bittgesuch.

Morgynn kehrte an ihre Seite zurück. »Mommy«, drängte sie, »sieh mal …«

»Pssst.« Ein Zischen. Aber ein wenig Schärfe konnte gelegentlich nicht schaden, dachte sie bei sich. Auch das gehörte zur Erziehung. Kinder mussten manches einfach lernen. Sogar die niedlichsten Welpen brauchten hin und wieder einen kräftigen Ruck am Halsband, um zu begreifen.

Ein weiteres Signal ihres iPhones.

Ein weiteres Nein.

Verdammt noch mal.

Halt, was war mit dieser Frau, von der Terri aus der Firma erzählt hatte? Eine Hispanierin oder Latino … Latina. Wie auch immer diese Leute sich heutzutage nannten. Die fröhliche Frau war der Star der Abschlussparty von Terris Tochter gewesen.

Claire fand Terris Nummer und rief an.

»Hallo?«

»Terri, hier ist Claire. Wie geht’s?«

Ein Zögern, dann sagte Terri: »Hallo. Bei dir alles klar?«

»Ich …«

In diesem Moment unterbrach Morgynn sie erneut. »Mommy!«

Peng. Claire wirbelte herum und starrte wütend auf die zierliche Blondine hinunter, das Haar zu Zöpfen geflochten, bekleidet mit einer passgenauen pinkfarbenen Lederjacke von Armani Junior. »Ich bin am Telefon!«, tobte sie. »Bist du blind? Was habe ich dir dazu gesagt? Wenn ich am Telefon bin? Was ist so verd…?« Okay, achte auf deine Ausdrucksweise, ermahnte sie sich. Claire rang sich ein Lächeln ab. »Was ist so … wichtig, Liebling?«

»Das versuche ich dir ja die ganze Zeit zu sagen. Dieser Mann da drüben …« Das Mädchen zeigte die Straße hinauf. »Er ist zu einem anderen Mann gegangen, hat ihn geschlagen oder so und ihn dann in den Kofferraum gestoßen.«

»Was?«

Morgynn warf sich einen ihrer Zöpfe, der in einem winzigen Häschen-Clip endete, von der Schulter. »Er hat das hier auf dem Boden liegen gelassen und ist dann weggefahren.« Sie hielt ein Stück Schnur oder dünnes Seil hoch. Was war das?

Claire keuchte auf. Ihre Tochter hielt die Miniaturausführung einer Henkersschlinge zwischen den zarten Fingern.

»Das war so …« Morgynn hielt inne und verzog die kleinen Lippen zu einem Lächeln. »… wichtig.«

2

»Grönland.«

Lincoln Rhyme starrte aus dem Salonfenster seines Stadthauses am Central Park West. In seinem unmittelbaren Blickfeld gab es zwei Objekte: einen komplizierten Gaschromatographen von Hewlett-Packard und, draußen vor dem großen Fenster aus dem neunzehnten Jahrhundert, einen Wanderfalken. Diese Raubvögel waren in der Stadt keine Seltenheit, denn es gab hier für sie reichlich Beute zu holen. Doch es war außergewöhnlich, dass sie so weit unten nisteten. Rhyme, so unsentimental, wie ein Wissenschaftler nur sein konnte – vor allem ein Kriminalforensiker wie er –, empfand die Anwesenheit der Tiere gleichwohl auf kuriose Weise als tröstlich. Im Laufe der Jahre hatte er sein Zuhause mit mehreren Generationen von Wanderfalken geteilt. Im Augenblick war Mom hier, ein prachtvolles Exemplar mit herrlichem braungrauen Federkleid, dessen Schnabel und Fänge wie Geschützbronze glänzten.

Eine ruhige, belustigte Männerstimme meldete sich zu Wort. »Nein. Du kannst mit Amelia nicht nach Grönland fahren.«

»Warum nicht?«, fragte Rhyme herausfordernd Thom Reston. Der schlanke, aber kräftige Mann war ungefähr genauso lange sein Betreuer, wie außen an dem alten Gebäude die Falken nisteten. Als Querschnittsgelähmter hatte Rhyme von den Schultern abwärts so gut wie keine Kontrolle über seinen Körper, und Thom ersetzte ihm nicht nur Arme und Beine, sondern war sehr viel mehr für ihn. Rhyme hatte ihn schon häufig gefeuert, Thom genauso oft von selbst gekündigt, und doch war er noch da und würde, das wussten beide tief im Innern, auch weiterhin bleiben.

»Weil ihr euch einen romantischen Ort aussuchen müsst. Florida, Kalifornien.«

»Klischee, Klischee, Klischee. Da können wir ja gleich zu den Niagarafällen fahren.« Rhymes Stirn legte sich in Falten.

»Was stimmt nicht mit denen?«

»Das würdige ich nicht mal einer Antwort.«

»Und was sagt Amelia dazu?«

»Sie hat es mir überlassen. Was ziemlich ärgerlich war. Weiß sie denn nicht, dass ich mir über wichtigere Dinge den Kopf zerbrechen muss?«

»Du hast doch neulich die Bahamas erwähnt. Du wolltest noch mal dorthin, hast du gesagt.«

»Zu dem Zeitpunkt war das auch so. Jetzt ist es das nicht mehr. Kann man denn nicht mal seine Meinung ändern? Das ist doch wohl kein Verbrechen.«

»Was ist der wahre Grund für Grönland?«

Rhymes Gesicht – mit der vorstehenden Nase und Augen wie Pistolenmündungen – hatte selbst etwas Raubtierhaftes, ähnlich wie die Vögel. »Was soll das denn heißen?«

»Könnte es sein, dass es einen praktischen Anlass für deinen Wunsch gibt, nach Grönland zu reisen? Einen beruflichen Anlass? Einen zweckdienlichen Anlass?«

Rhyme schaute zu der Flasche Single Malt Scotch, die knapp außerhalb seiner Reichweite stand. Er war zum größten Teil gelähmt, ja. Doch dank operativer Eingriffe und täglichen Trainings konnte er seinen rechten Arm und die Hand wieder eingeschränkt bewegen. Auch das Schicksal hatte geholfen. Der Balken, der ihm vor vielen Jahren an einem Tatort ins Genick gefallen war und dabei diverse Nervenstränge durchtrennt und gequetscht hatte, hatte einige am Rande liegende Nervenverbindungen intakt gelassen, wenngleich verletzt und beeinträchtigt. Rhyme konnte daher Gegenstände greifen – wie eine Flasche Single Malt Scotch, um ein beliebiges Beispiel zu wählen –, aber er konnte nicht aus seinem komplizierten Rollstuhl aufstehen und sie sich holen, falls Thom mal wieder Kindermädchen spielte und sie außerhalb seiner Reichweite hinstellte.

»Es ist noch keine Cocktailstunde«, verkündete der Betreuer, dem der Blick seines Chefs auffiel. »Also, Grönland? Raus damit.«

»Es wird unterschätzt. Heißt ›grünes Land‹, obwohl es weitgehend unfruchtbar ist. Überhaupt nicht grün. Und im Vergleich dazu Island, das ›Eisland‹? Ziemlich grün. Die Ironie gefällt mir.«

»Das ist keine Antwort.«

Rhyme seufzte. Es gefiel ihm nicht, durchschaubar zu sein, und noch viel weniger, dabei erwischt zu werden. Er würde sich auf die Wahrheit berufen. »Wie es scheint, hat die Rigspolitiet, die dänische Polizei, in Grönland recht wichtige Forschungen über ein neues System spektroskopischer Pflanzenanalysen angestellt. In einem Labor in Nuuk. Das ist übrigens die Hauptstadt. Man kann damit eine Probe viel genauer geografisch eingrenzen als mit den Standardverfahren.« Rhyme hob unwillkürlich die Augenbrauen. »Fast auf zellularer Ebene! Stell dir das mal vor! Wir glauben, alle Pflanzen seien gleich …«

»Ich nicht.«

»Du weißt, was ich meine«, erwiderte Rhyme ungehalten. »Diese neue Technik kann das Zielgebiet auf bis zu drei Meter bestimmen!« Er lächelte. »Stell dir das mal vor«, wiederholte er.

»Ich versuch’s. Grönland – nein. Und hat Amelia wirklich gesagt, dass du allein entscheiden sollst?«

»Wird sie noch. Sobald ich ihr von der spektroskopischen Analyse erzähle.«

»Wie wäre es mit England? Das würde ihr gefallen. Läuft diese Sendung noch, die sie so mag? Top Gear? Ich glaube, das Original wurde eingestellt, aber es soll wohl eine neue Version geben. Sie würde darin eine tolle Figur machen. Die lassen die Leute auf eine Rennstrecke. Sie schwärmt doch andauernd davon, wie es wohl wäre, mit zweihundertneunzig Kilometern pro Stunde auf der falschen Straßenseite zu fahren.«

»England?«, spottete Rhyme. »Du widersprichst dir selbst. Grönland und England dürften in etwa gleich romantisch sein.«

»Das glaubst auch nur du.«

»Ich und die Grönländer.«

Lincoln Rhyme reiste nicht viel. Dabei hätte – trotz der praktischen Konsequenzen seiner Behinderung, die für gewisse Komplikationen sorgten – nach Ansicht seiner Ärzte gesundheitlich nichts dagegen gesprochen. Seine Lunge funktionierte bestens – er hatte sich vor Jahren selbstständig von einem Beamtungsgerät entwöhnt, an das eine halbwegs dezente Narbe auf seiner Brust erinnerte –, und solange das Pinkeln und Kacken – seine Worte – geregelt sowie für locker sitzende Kleidung gesorgt war, bestand nur geringe Gefahr, den Fluch aller Querschnittsgelähmten zu erleiden: eine autonome Dysregulation. Ein guter Teil der Welt war mittlerweile behindertengerecht gestaltet, sodass in den meisten Restaurants, Bars und Museen Rollstuhlrampen und angepasste Toiletten zur Verfügung standen. (Rhyme und Sachs hatten lächeln müssen, als Thom einen Artikel aus der Zeitung erwähnte, in dem es um eine Schule ging, die kürzlich eine solche Rampe und Toilette installiert hatte; das einzige Unterrichtsfach dort war aber Stepptanz.)

Nein, Rhymes Zurückgezogenheit und Abneigung gegen das Reisen lagen vor allem darin begründet, dass er ein Einsiedler war. Von Natur aus. Die Arbeit in seinem Labor – diesem ehemaligen Salon voller entsprechender Ausrüstung –, seine Lehrtätigkeit und die Artikel für wissenschaftliche Fachzeitschriften sagten ihm weitaus mehr zu als abgegriffene Sehenswürdigkeiten, die speziell für die Touristen aufpoliert wurden.

Doch angesichts der Pläne, die er und Sachs für die nächsten paar Wochen hatten, war es notwendig, Manhattan zu verlassen; sogar er räumte ein, dass man seine Flitterwochen nicht in der eigenen Heimatstadt verbringen konnte.

Die Entscheidung darüber, ob sie nun ein Labor für spektroskopische Pflanzenanalysen oder doch eher einen romantischeren Ort aufsuchen würden, musste jedoch auf später verschoben werden, denn es klingelte an der Tür. Rhyme schaute auf den Bildschirm der Überwachungskamera und dachte: Ach, sieh an.

Thom stand auf und kehrte einen Moment später mit einem Mann mittleren Alters in einem kamelhaarfarbenen Anzug zurück, der aussah, als hätte er in ihm geschlafen, was vermutlich nicht der Fall war. Er bewegte sich langsam, aber gleichmäßig, und Rhyme nahm an, dass er schon bald keinen Gehstock mehr benötigen würde, mochte dieser auch ein ziemlich schickes Accessoire darstellen. Schwarz mit einem silbernen Griff in der Form eines Adlers.

Der Mann sah sich im Labor um. »Ruhig hier.«

»Stimmt. In letzter Zeit gab es nur ein paar kleinere private Aufträge. Nichts Umwerfendes. Nichts Aufregendes. Nicht seit dem talentierten Mörder.« Ein raffinierter Täter hatte vor einer Weile Haushaltsgeräte und öffentliche Transporteinrichtungen sabotiert – mit tragischem und bisweilen schaurigem Ergebnis.

Lon Sellitto, Detective in der Abteilung für Kapitalverbrechen des New York Police Department, war einst Rhymes Partner gewesen – bevor man Rhyme zum Captain und Leiter der Spurensicherung befördert hatte. Heutzutage engagierte Sellitto ihn gelegentlich als Berater bei Fällen, die besondere forensische Fachkenntnis erforderten.

»Was guckst du so? Ich hatte nur noch sandfarben.« Sellitto wies auf seinen Anzug.

»Ich gucke gar nicht, ich träume so vor mich hin«, entgegnete Rhyme.

Was nicht stimmte, aber er hatte weder auf die seltsame Farbe noch auf die enormen Knitterfalten des Anzugs geachtet, sondern zufrieden festgestellt, dass Sellitto sich gut erholte, wenngleich der Giftanschlag schwere Nerven und Muskelschäden verursacht hatte – daher auch der Gehstock. Und obwohl der Detective seit jeher mit seinem Gewicht rang, gefiel er Rhyme mit wieder etwas mehr Fleisch auf den Rippen besser als vorher. Der Anblick eines ausgemergelten, aschfahlen Lon Sellitto war erschreckend gewesen.

»Wo ist Amelia?«, fragte Sellitto.

»Vor Gericht. Sie sagt im Fall Gordon aus. Seit heute früh. Müsste bald vorbei sein. Danach wollte sie einkaufen gehen. Für unsere Reise.«

»Um sich einen Trousseau zu kaufen? Was ist das überhaupt?«

Rhyme hatte nicht die geringste Vorstellung. »Es hat wohl was mit Heiraten zu tun oder mit Klamotten. Keine Ahnung. Aber ein Kleid hat sie schon. Irgendwas mit Rüschen. Blau. Vielleicht auch rosa. Heute kauft sie für mich ein. Was gibt’s denn da zu lachen, Lon?«

»Ich stelle dich mir gerade in einem Smoking vor.«

»Bloß Hose und Hemd. Eventuell eine Krawatte. Mal sehen.«

»Eine Krawatte? Und du hast nicht protestiert?«

Ja, Rhyme hatte für Affektiertheit nicht viel übrig. Doch dies war ein besonderer Anlass. Ungeachtet all ihrer Ecken und Kanten, ihrer Vorliebe für schnelle Autos und Faustfeuerwaffen sowie ihrer Leidenschaft für taktische Zugriffe trug Sachs doch auch ein halbwüchsiges Mädchen in sich und genoss es, die eigene Hochzeit zu planen. Dazu gehörte es, sich einen Was-auch-immer-das-zum-Teufel-sein-mochte-Trousseau zu kaufen und romantische Flitterwochen zu verbringen. Und wenn es sie glücklich machte, herrje, dann würde Rhyme ihr mit Freuden jeden Gefallen tun.

Obwohl er wirklich hoffte, sie von Grönland überzeugen zu können.

»Nun, sag ihr, sie soll später einkaufen gehen. Ich brauche sie für eine Tatortuntersuchung. Es eilt.«

Rhyme konnte das Ping in seinem Kopf beinahe hören, als würde das Sonar eines U-Boots plötzlich etwas Unerwartetes voraus an Backbord orten.

Er schickte Sachs eine Textnachricht und erhielt keine Antwort. »Vielleicht sitzt sie gerade im Zeugenstand. Erzähl mir mehr.«

Thom erschien im Eingang – Rhyme hatte gar nicht gemerkt, dass er weggegangen war. »Lon, einen Kaffee?«, fragte der Betreuer. »Und ein paar Kekse? Ich habe gebacken, zwei verschiedene Sorten. Eine ist …«

»Ja, ja, ja«, unterbrach Rhyme ihn. »Bring ihm etwas. Entscheide selbst. Ich will seine Geschichte hören.«

Es eilt …

»Red weiter«, forderte er Sellitto auf.

»Irgendwas mit Schokolade«, rief dieser Thom hinterher.

»Kein Problem.«

»Eine Entführung, Linc. An der Upper East Side. Offenbar hat ein Mann sich einen anderen geschnappt.«

»Offenbar? Was gibt es da zu interpretieren?«

»Die einzige Augenzeugin ist neun Jahre alt.«

»Aha.«

»Der Täter packt das Opfer, wirft es in den Kofferraum eines Wagens und fährt weg.«

»Und das Mädchen ist sich sicher? Der Vorfall ist kein Produkt einer wilden kindlichen Fantasie, womöglich angestachelt durch endlose Stunden vor dem Fernseher, daumenzerstörende Videospiele und die Lektüre von zu vielen Hello-Pony-Geschichten?«

»Hello Kitty. Pony-Bücher gibt’s nur ohne ›Hello‹.«

»Hat Mommy oder Daddy es bestätigt?«

»Morgynn, das Mädchen, war die Einzige, die es gesehen hat. Doch ich glaube ihr. Der Täter hat eine Art Visitenkarte hinterlassen.« Sellitto hob sein Telefon und zeigte ihm ein Foto.

Im ersten Moment konnte Rhyme den Gegenstand nicht identifizieren. Eine dunkle, schmale Form, die auf einem Bürgersteig lag.

»Es ist eine …«

»… Schlinge«, erkannte Rhyme.

»Ja.«

»Und sie besteht aus?«

»Ich bin mir nicht sicher. Das Mädchen sagt, er hat sie an der Stelle des Überfalls zurückgelassen. Sie hat das Ding aufgehoben, aber die ersten Kollegen vor Ort haben es dann wieder an die ursprüngliche Stelle gelegt.«

»Super. Ich hatte noch nie einen Tatort, der von einer Neunjährigen verunreinigt wurde.«

»Nur die Ruhe, Linc. Sie hat nicht mehr gemacht, als die Schlinge aufzuheben. Und die Kollegen haben Handschuhe getragen. Der Tatort ist jetzt abgesperrt und wartet auf seine Untersuchung. Durch jemanden wie Amelia.«

Die Schlinge bestand aus einem dunklen Material, das zudem steif war, denn sie stand stellenweise vom Untergrund ab, auf dem sie lag. Von der Größe der aus Beton gegossenen Gehwegplatte her zu schließen, betrug die Länge des Gegenstands insgesamt dreißig bis fünfunddreißig Zentimeter, wovon ungefähr ein Drittel auf die Öffnung entfiel.

»Die Zeugin ist noch vor Ort. Mit Mommy. Die nicht besonders glücklich ist.«

Das war Rhyme auch nicht. Alles, was sie hatten, war ein neunjähriges Schulkind mit der Beobachtungsgabe und dem Auffassungsvermögen eines … nun ja, neunjährigen Schulkinds.

»Und das Opfer? Reich, politisch aktiv, mit Verbindungen zum organisierten Verbrechen oder einer Vorstrafenliste?«

»Wir wissen bislang nicht, um wen es sich handelt«, sagte Sellitto. »Es wurde noch niemand als vermisst gemeldet. Einige Minuten nach dem Vorfall hat jemand beobachtet, dass ein Telefon aus einem Wagen geflogen kam – eine dunkle Limousine, mehr nicht. Dritte Avenue. Dellrays Leute kümmern sich darum. Kennen wir das Wer, kennen wir auch das Wieso. Ein geplatztes Geschäft, das Opfer hat Informationen, die jemand will, oder die alte Nummer: Lösegelderpressung.«

»Oder es ist ein Verrückter. Vergiss die Schlinge nicht.«

»Ja«, sagte Sellitto. »Und das Opfer war einfach nur FZFO.«

»Was?«

»Falsche Zeit, falscher Ort.«

Rhyme runzelte missmutig die Stirn. »Lon?«

»Was denn? Das macht im Department gerade die Runde.«

»Grippeviren – nicht Virusse, nebenbei bemerkt – machen die Runde. Idiotische Ausdrücke nicht. Zumindest sollten sie das nicht.«

Sellitto benutzte den Gehstock, um aufzustehen, und steuerte den Teller Kekse an, den Thom soeben abstellte, als wäre er ein Immobilienmakler, der bei einer Hausbesichtigung die potenziellen Käufer verführen wollte. Der Detective aß einen, dann zwei, dann noch einen und nickte beifällig. Er schenkte sich aus einer silbernen Kanne eine Tasse Kaffee ein und fügte Süßstoff hinzu. Das war seine Konzession im Kampf gegen die Kalorien: Er verzichtete zugunsten des Gebäcks auf Raffinadezucker.

»Gut«, verkündete er mit vollem Mund. »Willst du auch einen? Oder Kaffee?«

Die Augen des Kriminalisten richteten sich auf den Glenmorangie, der golden und verlockend auf dem hohen Regalbrett stand.

Doch Lincoln Rhyme beschloss: Nein. Er wollte seine Sinne lieber bei sich behalten. Es beschlich ihn nämlich die Ahnung, dass die Neunjährige zutreffende Angaben gemacht und die Entführung genau so verlaufen war, wie sie es beschrieben hatte. Und die makabere Visitenkarte war die höhnische Ankündigung eines bevorstehenden Todes.

Und womöglich folgte danach noch mehr.

Er schickte Amelia Sachs eine weitere Textnachricht.

3

Ein Plopp, als Wasser von der Decke zu Boden tropfte.

Drei Meter.

Alle vier Sekunden.

Plopp, plopp, plopp.

Die Tropfen spritzten beim Aufprall nicht. Der Boden dieser alten, sehr alten und längst verlassenen Fabrik wies tiefe Kratzer auf, hinterlassen von metallenen und hölzernen Objekten, und das Wasser sammelte sich nicht in Pfützen, sondern versickerte in Ritzen und Spalten, so zahlreich wie die Falten im Gesicht eines alten Mannes.

Plopp, plopp.

Und Stöhnen, weil die kalte Herbstbrise über die Enden von Rohren, Leitungen und Abzugsöffnungen strich, als würde jemand über eine geöffnete Flasche pusten. Das mit der Flasche sah man heutzutage übrigens kaum noch. Weil die Kids dazu früher hauptsächlich Limonadenflaschen benutzt hatten, und die waren jetzt aus Plastik, nicht mehr aus Glas. Mit Plastik funktionierte das nicht so gut. Bierflaschen gingen auch, aber Erwachsene hatten keinen Spaß daran, diese klagenden Geräusche zu erzeugen.

Stefan hatte mal ein Musikstück für Limonadenflaschen geschrieben, jeweils gefüllt mit einer unterschiedlichen Menge Wasser, um eine chromatische Leiter von zwölf Tönen zu erreichen. Da war er sechs Jahre alt gewesen.

Die Töne hier in der Fabrik waren ein Cis, ein F und ein G. Allerdings ohne Rhythmus, weil der Wind ungleichmäßig blies. Hinzu kamen:

Konstante Verkehrsgeräusche in größerer Entfernung.

Noch weiter weg befindliche Düsentriebwerke von Flugzeugen.

Und überhaupt nicht weit weg: das Scharren einer Ratte.

Dazu als vorherrschendes Geräusch das rasselnde Atmen des Mannes, der auf einem Stuhl in der Ecke dieses dunklen Lagerraumes saß. Hände gefesselt. Füße gefesselt. Um seinen Hals eine Schlinge. Das kleine Exemplar, das Stefan als schaurige Bekanntgabe der Entführung auf dem Gehweg hinterlassen hatte, war aus einer Cellosaite gebunden; die Schlinge hier bestand aus zwei aneinandergeknoteten anderen Saiten, um die erforderliche Länge zu erhalten – den tiefsten und dicksten Saiten eines Kontrabasses, eines jener Instrumente, denen der erfreuliche Übergang von der klassischen Musik zum Jazz geglückt war. Sie bestanden aus Hammel-Serosa – dem Futter eines Schafdarms – und waren die derzeit teuersten Saiten am Markt. Jede hatte 140 Dollar gekostet. Sie lieferten die sattesten Töne, und es gab erstklassige Violinisten, Cellisten und Bassisten, die ein Barockstück niemals auf etwas anderem spielen würden. Darmsaiten waren weitaus eigenwilliger als ihre Gegenstücke aus Metall oder Nylon und mussten bisweilen schon bei der kleinsten Änderung von Temperatur oder Luftfeuchtigkeit neu gestimmt werden.

Für Stefans gegenwärtige Verwendung spielte diese Empfindlichkeit jedoch keine Rolle; um jemanden zu erhängen, waren die Saiten hervorragend geeignet.

Die Schlinge hing locker um den Hals des Mannes, und das Ende lag auf dem Boden.

Stefan erschauderte vor Aufregung, so wie wohl jeder Pilger am Beginn seiner Reise. Außerdem war es hier kalt, auch wenn er gut isoliert sein mochte – und das in jeder Hinsicht: Er war korpulent, hatte langes, volles, lockiges dunkles Haar bis weit über die Ohren und einen Vollbart, dazu einen seidigen Pelz aus Brust- und Armbehaarung. Darüber hinaus trug er warme Kleidung: ein weißes ärmelloses Unterhemd unter einem dicken dunkelgrauen Arbeitshemd, eine schwarze wasserdichte Jacke und eine Latzhose, ebenfalls dunkelgrau. Dieses spezielle Exemplar hatte allerdings keine Taschen, weil dort, wo er bis vor Kurzem gelebt hatte, Taschen nicht erlaubt waren. Stefan war dreißig Jahre alt, wirkte dank seiner glatten Babyspeckhaut aber jünger.

Der Raum, in dem die beiden Männer sich befanden, lag tief im Innern des weitläufigen Gebäudes. Stefan hatte hier gestern alles vorbereitet und einen Tisch und Stühle aus anderen Ecken der Fabrik hergebracht. Dazu eine kleine batteriebetriebene Lampe. Sowie seine Musik, Aufnahme und Videoausrüstung.

Laut seiner Armbanduhr war es 10.15 Uhr. Er sollte anfangen. Zwar hatte er Vorsicht walten lassen, aber bei der Polizei wusste man nie. Hatte dieses kleine Mädchen womöglich mehr gesehen, als es den Anschein hatte? Das Nummernschild war mit Dreck beschmiert, doch jemand könnte die ersten beiden Buchstaben erkannt haben. Was vielleicht ausreichte, um das Auto bis zum Langzeitparkplatz am Flughafen JFK zurückzuverfolgen, wo es bis gestern noch gestanden hatte. Unter Einsatz von Algorithmen, Schlussfolgerungen und Vernehmungstechniken entstand so letztlich noch ein schlüssiges Bild.

Und das können wir überhaupt nicht gebrauchen, nicht wahr? Wir müssen vorsichtig sein.

Das bin ich, keine Sorge.

Hatte Stefan das gerade laut gesagt? Manchmal war er sich nicht sicher, ob er seine Botschaften an Sie nur dachte oder aussprach.

Und genauso wenig war er sich sicher, ob Sie ihm tatsächlich antwortete oder nicht.

Er stellte nun alles vor sich hin und überprüfte die Tastaturen und Computer, Kabel und Stecker. Legte Schalter um. Festplatten erwachten summend zum Leben, lieferten Geräusche hinzu.

Plopp.

Stöhn.

Summ.

Gut.

Ah, und auch die Ratte.

Scharr.

Solange es Geräusche gab, ablenkende Geräusche, verführerische Geräusche, bestand die reelle Chance, dass Stefan die Schwarzen Schreie auf Abstand halten konnte.

So weit, so gut.

Und nun noch ein weiteres Geräusch, ein von ihm selbst erzeugtes. Er spielte eine Melodie auf dem Casio-Keyboard. Er war zwar kein sonderlich überragender Musiker, aber angesichts seiner Vorlieben, seiner Sucht, seiner Besessenheit konnte er halbwegs mit einem Keyboard umgehen. Er ging die Musik einmal durch, dann noch mal. Das hörte sich ja schon ganz gut an. Er versuchte es ein weiteres Mal.

Stefan betete nicht im eigentlichen Sinne, aber er schickte in Gedanken einen Dank an Sie, weil Sie ihn zur Auswahl dieser Komposition inspiriert hatte.

Nun stand er auf und ging zu dem Mann mit den verbundenen Augen. Er trug eine dunkle Anzughose und ein weißes Hemd. Sein Jackett lag auf dem Boden.

Stefan hielt einen Digitalrekorder in der Hand. »Sagen Sie nichts.«

Der Mann nickte und blieb stumm. Stefan nahm die Schlinge und zog sie zu. Mit der anderen Hand hielt er dem Mann den Rekorder vor den Mund. Die Erstickungslaute, die über seine Lippen drangen, waren herrlich. Komplex, abwechslungsreich in Tonlage und Modulation.

Fast schon melodisch, könnte man sagen.

4

Entführungen und andere vorrangig eingestufte Fälle wurden für gewöhnlich von der Abteilung für Kapitalverbrechen an der Police Plaza Nummer eins übernommen, und es gab in dem nichtssagenden Gebäude unweit des Rathauses in Downtown Manhattan eine Reihe von Konferenzräumen, die für die jeweils zuständigen Einsatzgruppen vorgesehen waren. Ohne viel Hightech, nicht besonders sexy, anders als in den dämlichen Fernsehserien. Ganz gewöhnliche Räume.

Da jedoch Lincoln Rhyme hinzugezogen worden war und sein Zustand die Fahrt zur Police Plaza und zurück ziemlich beschwerlich gestaltet hätte, diente für diesen Entführungsfall sein Salon als zentrale Anlaufstelle der Ermittlungen.

Und in dem viktorianischen Gebäude herrschte inzwischen Hochbetrieb.

Lon Sellitto war immer noch da, dazu zwei Neuankömmlinge. Der Erste war ein schmaler, adretter Akademikertyp mittleren Alters in blauer Tweedkleidung, die bestenfalls als altmodisch durchgehen konnte. Mel Cooper war blass, hatte schütteres Haar und eine Brille auf der Nase, die nur dank Harry Potter als schick galt. Zudem trug er beigefarbene Hush Puppies.

Der andere war Fred Dellray, ein erfahrener Special Agent vom New Yorker Southern District des FBI. Seine Hautfarbe entsprach der des Mahagonitisches, auf dem er halb saß und halb lehnte, und gekleidet war der hochgewachsene, auffallend langgliedrige Mann auf eine … nun ja, einzigartige Weise. Ein dunkelgrünes Jackett, ein orangefarbenes Button-down-Hemd und eine Krawatte, die ein Vogelliebhaber womöglich als zu kanariengelb, um wahr zu sein, beschrieben hätte. Sein Einstecktuch war lila. Verglichen damit wirkte die Hose mit dem marineblauen Hahnentrittmuster geradezu schlicht.

Während Cooper geduldig auf einem Laborhocker saß und auf die Beweismittel wartete, die Sachs bald mitbringen würde, stand Dellray nun von dem Tisch auf und lief hin und her, wobei er zwei Telefonate gleichzeitig führte. Ob Staats- oder Bundesbehörden die Ermittlungen in einem Kriminalfall übernehmen mussten, war oft nicht eindeutig geregelt und die Übergangszone so grau wie der East River im März, mit einer unbestrittenen Ausnahme, die eine gemeinsame Zuständigkeit vorschrieb: Entführungen. Und bei solchen Fällen gab es auch nur selten Streit darüber, wer die Leitung innehatte. Das Leben eines gewaltsam verschleppten Menschen zu retten ließ sogar aufgeblähten Egos schnell die Luft ab.

Dellray unterbrach zuerst die eine Verbindung, dann die auf dem anderen Telefon und verkündete: »Wir wissen vielleicht, wer das Opfer ist. A und B zusammenzufügen hat etwas Fantasie erfordert, aber alles in allem ist das Ergebnis hinreichend wahrscheinlich.«

Dellray besaß mehrere erweiterte Abschlüsse – unter anderem in Psychologie und Philosophie (ja, man konnte Philosophieren als Hobby betreiben) –, doch er drückte sich meistens eher umgangssprachlich aus. Auch das war, so wie seine Kleidung und die Vorliebe für die Lektüre von Heidegger und Kant, eben typisch Dellray.

Er berichtete von dem Telefon, das Sellitto gegenüber Rhyme bereits erwähnt hatte und das der Entführer vermutlich aus dem Fenster seines Wagens geworfen hatte, um nicht angepeilt werden zu können, während er mit dem Opfer im Kofferraum davonraste.

»Unsere Technikzauberer waren alle ganz gespannt, ob es ihnen gelingen würde, es zu knacken – die Leute von Apple machen es uns wirklich nicht einfach. Aber dann war es für die Leute aus dem Team, als würden sie eine Runde Angry Birds spielen. Denn das Gerät war allen Ernstes nicht passwortgeschützt! Und das in der heutigen Zeit! Sie sind also gerade damit beschäftigt, die Anruflisten durchzugehen, als das Telefon, kein Scherz, plötzlich klingelt. Am anderen Ende ist irgendein geschäftsmäßig klingender Kerl, der darauf wartet, dass der Telefon-Typ zum Frühstück aufkreuzt. Die Grapefruit wird schon ganz warm und der Haferbrei kalt.«

»Fred?«

»Oh, wir sind heute Morgen aber ungeduldig. Das Telefon gehört einem gewissen Robert Ellis, Chef eines – jedenfalls nach meiner Einschätzung – klitzekleinen Start-ups in San José. Er sucht hier in der Stadt nach Geldgebern. Keine Vorstrafen, zahlt seine Steuern. Sein Profil klingt so langweilig wie das eines Korsagenvertreters. Und wenn ich Start-up sage, denken Sie bloß nicht an Facebook, Crap-Chat oder irgendwas anderes, das sexy und lukrativ wäre. Er ist spezialisiert auf Medieneinkauf. Daher sieht es nicht danach aus, dass ein Konkurrent ihn entführt haben könnte.«

»Haben seine Geschäftspartner oder Angehörigen von dem Täter gehört? Wegen Lösegeld?«, fragte Sellitto.

»Nein. Laut den Verbindungsdaten hat er mehrmals das Mobiltelefon einer Frau angerufen, die unter derselben Adresse wie er selbst wohnt. Wahrscheinlich also eine Verwandte oder Lebensgefährtin. Nach Auskunft des Providers befindet ihr Telefon sich allerdings weit, weit weg, nämlich in Japan. Die Frau dementsprechend wohl auch, eine gewisse Sabrina Dillon. Mein Boss hat sie angerufen und eine Nachricht hinterlassen, aber noch keine Antwort erhalten. Sonst war da nichts von Belang. Bloß ein Kerl hier in der Stadt, ein Geschäftskontakt. Ellis scheint keine große Familie zu haben, soweit wir bisher wissen.«

»Probleme in der Partnerschaft?«, fragte Mel Cooper. Er war zwar Labortechniker, aber auch ein Detective des NYPD und hatte jahrelang Fälle bearbeitet.

»Nicht, dass wir wüssten«, antwortete Dellray. »Und selbst wenn, ein Fremdgänger landet meistens nicht in irgendeinem Kofferraum.«

»Stimmt«, sagte Sellitto.

»Organisiertes Verbrechen?«, fragte Rhyme.

»Auch nicht. Der Kerl ist kein Gangster, es sei denn, das lernt man heutzutage an der UCLA. Seine Alma Mater.«

»Wir neigen also eher zu einem Verrückten«, stellte Sellitto fest.

Es gab ja immerhin die Schlinge …

»Würde ich auch vorläufig vermuten, Lon«, sagte Dellray.

»Reine Spekulation«, murrte Rhyme. »Wir verschwenden unsere Zeit.«

Wo, zum Teufel, blieben Sachs und die Beweismittel?

Coopers Computer gab ein fröhliches Geräusch von sich. Er sah nach.

»Aus Ihrem Labor, Fred.«

Rhyme fuhr zu ihm. Die Spurensicherung des FBI – das Physical Evidence Response Team – hatte das Telefon sorgfältig untersucht und keine Fingerabdrücke gefunden. Der Täter hatte es abgewischt und dann erst aus dem Wagen geworfen.

Doch es gab einige Partikelspuren – kleine Schmutzflecke und ein kurzes helles Haar, das unsichtbar in der Schutzhülle des Telefons klemmte. Es stammte von einem Menschen. Leider hing keine Wurzel mehr daran, also war eine DNS-Analyse nicht möglich. Es war trocken und schien platinblond gefärbt worden zu sein.

»Haben wir ein Foto von Ellis?«

Wenige Minuten später lud Cooper bei der kalifornischen Führerscheinstelle ein Bild herunter.

Ein unscheinbarer Mann von fünfunddreißig Jahren. Schmales Gesicht. Braune Haare.

Zu wem gehörte also das hellere Haar?

Zum Entführer?

Zu der besagten Sabrina?

Die Haustür ging auf, und Rhyme erkannte sofort Amelia Sachs an ihrem charakteristischen Schritt. Noch bevor sie zu sehen war, rief er bereits: »Sachs! Her damit!«

Sie kam durch den offenen Türbogen herein und nickte zum Gruß allen zu. Dann reichte sie den Karton mit den Beweismitteltüten an Cooper weiter, der ihn zunächst abstellte und spezielle Kleidung anlegte – Füßlinge, Handschuhe, Haube und Sichtvisier, um sowohl sich selbst als auch die Spuren zu schützen.

Danach breitete er die Tüten auf mehreren Untersuchungstischen aus, die in einem anderen Teil des Salons standen, weiter weg von den Personen in Straßenkleidung, um eine Verunreinigung zu vermeiden.

Viel war es nicht. Rhyme wusste das bereits, denn er war mit Sachs per Videoübertragung verbunden gewesen, während sie den Tatort untersucht hatte. Abgesehen von der Schlinge gab es diverse Partikel vom Ort der Entführung sowie Schuh- und hoffentlich Reifenabdrücke.

Doch sogar der winzigste Rest einer Substanz kann theoretisch direkt zur Haustür des Täters führen.

»Und?«, fragte Sellitto. »Was hatte die Kleine zu sagen?«

»Ich würde das Mädchen – Morgynn – jederzeit gegen zwei ihrer Mütter eintauschen«, sagte Sachs. »Die geht mal in die Politik. Oder zur Polizei. Sie wollte meine Waffe halten. Wie dem auch sei, der Täter war ein kräftiger Weißer mit langem schwarzen Haar, Vollbart, dunkler Freizeitkleidung und dunkler Baseballmütze mit langem Schirm. Etwas größer als ich. So alt wie ihr Tennislehrer, Mr. Billings, und der ist – ich hab’s überprüft – einunddreißig. Das Modell des Autos konnte sie nicht sagen, nur dass es kein Tesla war, wie ihr Vater einen fährt – was er jedem brühwarm auf die Nase bindet. Ansonsten ist Morgynn an dem Mann nichts Konkretes aufgefallen, aber er hat blaue Handschuhe getragen.«

»Mist«, murmelte Rhyme. »Sonst noch was?«

»Nein, aber das ist mir auch noch nie passiert: Ihre Mutter, Claire, hat mich gefragt, ob ich – oder sonst jemand, den ich bei der Polizei kenne – wohl Interesse hätte, heute Abend bei einer Party als Bedienung einzuspringen.«

»Was zahlt sie denn?«, fragte Sellitto.

Rhyme war nicht in der Stimmung für Scherze. »Wir fangen mit der Schlinge an. Irgendwelche Abdrücke?«

Cooper testete das Beweisstück im Bedampfungskasten auf unsichtbare Fingerabdrücke. »Ein paar einzelne Leisten«, sagte er dann. »Nichts Verwertbares.«

»Woraus besteht das Ding?«, fragte Dellray.

»Das überprüfe ich gerade.« Cooper nahm das Material sorgsam unter einem Mikroskop in Augenschein – mit relativ geringer Vergrößerung. Dann zog er eine Bilddatenbank zurate.

»Ich kann es durch den Chromatographen schicken, aber ich bin mir sicher, es sind Proteine – Kollagen, Keratin und Fibroin. Katgut, würde ich sagen.«

Sellitto runzelte die Stirn. »Wer ist Katt? Und warum ist er gut?«

Thom lachte. »Irrtum, Detective.«

»Ganz recht«, bestätigte Cooper. »Katgut wird aus Schaf- oder Ziegendärmen hergestellt.«

»Das ist ja ekelhaft«, sagte Sellitto.

Der Techniker ging online. »Früher wurde Katgut als chirurgisches Nähmaterial verwendet«, fuhr er fort. »Heutzutage benutzt man es nur noch für die Saiten von Musikinstrumenten. Stahl- und Synthetiksaiten sind zwar häufiger, aber Katgut ist noch immer weit verbreitet.« Er zuckte die Achseln. »Es könnte aus einem beliebigen Geschäft, einem Konzertsaal oder einer Schulaula stammen. In Anbetracht der Länge würde ich auf ein Cello tippen.«

»Und die Schlinge?«, fragte Dellray. »Müsste die nicht dreizehn Windungen haben? Aus Aberglauben?«

Rhyme wusste nichts über Katgut und nur wenig über Musikinstrumente, aber mit Schlingen kannte er sich aus. Dieses Exemplar war genau genommen ein Henkersknoten. Er sollte sich nicht zuziehen wie ein Laufknoten und das Opfer erdrosseln. Der Tod trat durch einen Genickbruch ein, der zwar auch zum Ersticken führte, aber nicht durch das Einschnüren der Kehle, sondern weil die Lunge kein Signal mehr vom Gehirn erhielt. Der breite Knoten, der fachgerecht hinter dem linken Ohr des Verurteilten platziert wurde, brach das Rückgrat knapp oberhalb der Stelle, an der Rhyme seine Verletzung erlitten hatte.

»Manche hatten dreizehn Windungen«, antwortete er nun Dellray. »Die meisten Henker haben früher acht benutzt. Das hat genauso gut funktioniert. Okay, was noch?«

Sachs hatte mit Gelatinefolien und einem elektrostatischen Verfahren Schuhabdrücke gesichert, die vermutlich vom Täter stammten, basierend auf den Angaben des Mädchens darüber, wo er gestanden hatte und gegangen war.

Cooper verglich die Abdrücke mit einer Datenbank. »Ein Converse Con«, meldete er. »Größe zehneinhalb.«

Natürlich, ein Allerweltsmodell. Nur anhand des Sohlenabdrucks ließ es sich unmöglich zu einem spezifischen Händler zurückverfolgen. Rhyme erkannte das sofort, denn er war derjenige, der die Schuhdatenbank des NYPD einst angelegt hatte und bis heute mit Daten versorgte.

Sachs’ Versuch, Reifenspuren zu sichern, war dagegen erfolglos verlaufen. Seit der Abfahrt des Entführers hatten zahlreiche andere Fahrzeuge die Stelle passiert und sämtliche charakteristischen Abdrücke vernichtet.

»Ich schätze, wir sollten wohl eher fragen, was das Mädchen sonst noch zu berichten hatte«, sagte Rhyme.

Sachs beschrieb den Ablauf der Entführung.

»Eine Kapuze über dem Kopf des Opfers? Und dann ist er umgefallen?«, fragte Sellitto. »Aus Luftmangel?«

»Das wäre aber ziemlich schnell«, stellte Rhyme fest. »Vielleicht hat er ein Betäubungsmittel eingesetzt. Zum Beispiel Chloroform, den Klassiker. Oder er hat sich selbst was zusammengebraut.«

»Welche Farbe hatte die Kapuze?«, fragte Cooper.

»Sie war dunkel.«

»Ich habe hier eine Baumwollfaser«, fügte der Techniker hinzu und las die Beschriftung der Beweismitteltüte. »Amelia, Sie haben sie direkt neben der Schlinge gesichert.«

Rhyme schaute auf den Monitor, auf den das Abbild der Faser übertragen wurde. Er musste eine Entscheidung treffen. Die Faser konnte zu einem wichtigen Beweisstück werden. Mal angenommen, im Besitz eines Verdächtigen wurde eine Kapuze gefunden; sie würde ihn mit dem Verbrechen in Verbindung bringen, sofern ihre Fasern zu dieser einen passten (man sprach in so einem Fall nicht von einer »Übereinstimmung«; das traf lediglich auf DNS-Spuren und Fingerabdrücke zu).

Ein solcher Beweis wäre günstig, um vor Gericht Anklage erheben zu können. Doch zum jetzigen Zeitpunkt und in ihrem gegenwärtigen Zustand lieferte die Faser keinen Hinweis auf die Identität des Entführers und seinen Arbeitsplatz oder Wohnort. Baumwolle war jedoch wunderbar saugfähig, und dieses winzige Stück enthielt womöglich überaus hilfreiche Hinweise. Leider kam man an diese nur durch den Einsatz des Gaschromatographen samt Massenspektrometer heran – ein Gerät, das Substanzen isolierte und identifizierte. Und die Faser wurde dabei vernichtet.

»Verbrenn sie, Mel. Ich will wissen, ob sie etwas zu bieten hat.«

Der Techniker bereitete die Probe vor. Der Prozess würde insgesamt nicht mehr als zwanzig Minuten dauern.

Sellitto und Dellray setzten sich unterdessen mit ihren jeweiligen Vorgesetzten in Verbindung. Es war noch immer keine Lösegeldforderung eingetroffen, und die Überwachungskameras in der Gegend hatten weder die Entführung noch ein davonrasendes Auto aufgenommen. Danach lud Dellray alle Informationen, die ihnen vorlagen, an das NCIC hoch, das National Crime Information Center, um herauszufinden, ob irgendwo ähnliche Vorfälle gemeldet worden waren. Vergeblich.

»Lasst uns eine Tabelle anlegen«, sagte Rhyme.

Sachs zog eine der weißen Rolltafeln vor und nahm einen abwaschbaren Filzstift. »Wie nennen wir ihn?«

Ein unbekannter Täter wurde häufig mit dem zugehörigen Monat und Tag bezeichnet. Dieser Verdächtige würde demnach Täter 920 heißen, benannt nach dem 20. September.

Doch noch bevor sie sich auf einen vorläufigen Spitznamen einigen konnten, rührte Cooper sich und schaute auf den Monitor des GC/MS. »Ah. Du hattest recht, Lincoln. Die Faser, die mutmaßlich von der Kapuze stammt, weist Spuren von Chloroform auf. Und von Olanzapin.«

»Sind das K.-o.-Tropfen?«, fragte Dellray.

Cooper tippte etwas ein. »Ein Antipsychotikum. Heftiges Zeug.«

»Aus dem Arzneischrank unseres Verdächtigen? Oder dem des Opfers?«, grübelte Sellitto.

»Medieneinkauf und Psychosen passen auf Anhieb nicht so gut zusammen«, sagte Rhyme. »Ich würde den Täter vorschlagen.«

Cooper entnahm Bodenproben aus einer Beweismitteltüte mit der Aufschrift: Nähere Umgebung der Schuhe des Täters. »Die schicke ich auch durch den GC«, sagte er und ging zu dem Chromatographen.

Dellrays Telefon summte, und ein langer Finger drückte auf Abheben. »Ja? … Nein … Wir sehen uns das mal an.«

Er wandte sich an die anderen. »Das war ein Freund und Kollege von mir, aus Des Moines. Er hatte gerade erst unsere NCIC-Anfrage gelesen, als eine Frau ihn anrief. Ihr Sohn war auf YouVid, dieser Streamingseite, und hat was Übles entdeckt. Das Livevideo eines Mannes, der mit einer Schlinge erdrosselt wird. Wir sollten das überprüfen.«

Sachs ging zu einem Laptop, der mit einem breiten, flachen HDMI-Kabel an einen großen Wandmonitor angeschlossen war. Sie rief die Internetseite auf.

Das Video zeigte einen Mann im Schatten. Er war schwer zu erkennen, und man hatte ihm zudem die Augen verbunden, aber das konnte durchaus Robert Ellis sein. Sein Kopf war zur Seite geneigt – weil die Schlinge seinen Hals nach oben zog. Seine Fußgelenke hatte man mit Textilklebeband gefesselt, die Hände hinter dem Rücken vermutlich ebenfalls. Er stand auf einer etwa sechzig mal sechzig Zentimeter großen Holzkiste.

So schrecklich schon dieser Anblick war, so schaurig auch die Geräuschuntermalung. Jemand hatte ein kurzes menschliches Keuchen aufgenommen und als ersten Taktschlag eines Musikstücks benutzt, das auf einer Orgel oder einem elektrischen Keyboard eingespielt worden war. Die Melodie klang vertraut: »An der schönen blauen Donau.«

Man konnte den Walzertakt mitzählen: Keuch, zwei, drei, keuch, zwei, drei.

»O Gott«, murmelte Sellitto.

Wie lange konnte ein Mann so stehen, bevor er zusammenbrach oder abrutschte, bevor seine Beine den Dienst versagten oder er das Bewusstsein verlor – und in die Schlinge stürzte?, überlegte Rhyme. Die kurze Fallstrecke würde nicht ausreichen, um ihm das Genick zu brechen. Im Gegensatz zu einer traditionellen Hinrichtung würde dieses Opfer langsam und qualvoll erdrosselt werden.

Je länger das Video dauerte, desto gemächlicher wurde die Musik und damit das perfekt eingefügte Keuchen.

Auch das Bild des Mannes wurde immer dunkler.

Am Ende der dreiminütigen Laufzeit hörten die Musik und das verzweifelte Keuchen ganz auf, und das Bild wurde schwarz.

Auf dem Monitor erschienen blutrote Buchstaben – Worte, die eigentlich ganz normal waren und deshalb hier umso grausamer wirkten:

© DER KOMPONIST

5

»Rodney?«

Lincoln Rhyme sprach mit seinem Kontaktmann bei der NYPD-Abteilung für Computerkriminalität, Downtown, Police Plaza Nummer eins.

Rodney Szarnek war brillant und schrullig (ein Nerd, wie er im Buch stand), doch zugleich auch Fan der ohrenbetäubendsten Heavy-Metal-Musik, die man sich in seinen schlimmsten Albträumen vorzustellen vermochte.

»Rodney, bitte!«, rief Rhyme in das Mikrofon der Freisprecheinrichtung. »Machen Sie das aus.«

»Oh, Verzeihung.«

Die Musik wurde sehr leise, verschwand aber nicht ganz.

»Rodney, ich habe Sie auf den Lautsprecher gelegt. Wir sind hier ein ganzer Haufen Leute. Es würde zu lange dauern, alle vorzustellen.«

»Hallo, ich …«

»Wir haben eine Entführung, und der Täter hat dafür gesorgt, dass dem Opfer kaum noch Zeit zum Überleben bleibt.«

Die Musik wurde abgeschaltet.

»Legen Sie los.«

»Amelia schickt Ihnen gerade einen YouVid-Link. Das ist ein Video des Opfers.«

»Ist der Film immer noch online?«, fragte er.

»Soweit wir wissen. Warum?«

»Wenn ein Gewaltvideo auftaucht – echte Gewalt, nichts Vorgetäuschtes –, wird YouVid es höchstwahrscheinlich löschen. Sobald erste Beschwerden kommen oder deren Algorithmus es erwischt und die Kontrolleure entscheiden, dass es gegen deren Nutzungsbestimmungen verstößt, fliegt es raus. Sorgen Sie dafür, dass jemand es herunterlädt und sichert.«

»Unsere Jungs sind schon dran«, sagte Dellray. »Wird alles bereits erledigt.«

»Hallo, Fred.« Einen Moment lang herrschte Stille, dann sagte Szarnek: »Jetzt sehe ich es auch … O Mann. Schon mehr als zwanzigtausend Aufrufe. Und haufenweise Likes. Was für eine kranke Welt. Ist das der Kerl, der vor ein paar Stunden entführt wurde? Ich habe das Memo gelesen.«

»Wir nehmen es an«, sagte Sachs.

»He, Amelia. Okay. Und Sie benötigen den Ort, von dem aus das hier geschickt wurde. In der Hoffnung, dass er noch lebt. Okay, okay. So. Ich habe das Video mit einem Dringlichkeitsvermerk an die Rechtsabteilung geschickt. Die rufen sofort einen Richter an, der so schnell wie möglich einen Beschluss erlässt. Innerhalb weniger Minuten. Ich hatte zuvor schon mit YouVid zu tun. Die sitzen zum Glück hier in den USA, in New Jersey, und werden daher kooperieren. Falls die Server in Übersee stünden, würden wir vielleicht nie von denen hören. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich mit der Rückverfolgung loslegen kann.«

Sie trennten die Verbindung. »Fang mit der Tabelle an«, sagte Rhyme zu Sachs und nickte in Richtung der Tafel. »Was haben wir bis jetzt?« Sie nahm einen Stift und machte sich an die Arbeit.

Während sie schrieb, wollte Rhyme sich noch einmal das Video ansehen. Aber auf dem Bildschirm erschien lediglich eine Meldung in roter Schrift:

Dieses Video hat gegen unsere Nutzungsbestimmungen verstoßen und wurde daher entfernt.

Gleich darauf jedoch schickten Dellrays Techniker die aufgezeichnete MP4-Datei per E-Mail. Rhyme und die anderen sahen sich den Film ein weiteres Mal an. Sie hofften, Anhaltspunkte für den Ort der Aufzeichnung finden zu können.

Nichts. Eine Steinmauer. Eine Holzkiste. Robert Ellis, das Opfer, das auf dem provisorischen Galgen um sein Leben kämpfte.

Eine falsche Bewegung, ein Muskelkrampf würde ihn töten.

Wenig später war Sachs mit den Einträgen fertig. Rhyme musterte die Tabelle und fragte sich, ob irgendetwas davon Hinweise darauf enthielt, wo der Täter wohnte oder arbeitete oder wohin er sein Opfer gebracht hatte, um das perverse Video aufzunehmen.

86. STRASSE OST 213, MANHATTAN

Straftat: Überfall/Entführung.Vorgehensweise: Täter hat Kapuze (dunkel, vermutlich Baumwolle) über den Kopf des Opfers geworfen, versetzt mit Betäubungsmitteln, um Bewusstlosigkeit herbeizuführen.Opfer: Robert Ellis.Single, lebt vermutlich mit Sabrina Dillon zusammen; ihr Rückruf wird erwartet (geschäftlich in Japan).Wohnhaft in San José.Eigentümer eines kleinen Start-ups, Agentur für Medieneinkauf.Keine Vorstrafen, kein Eintrag auf nationaler Warnliste.Täter:Nennt sich selbst der Komponist.Männlich, Weißer.Alter: ca. 30.1,80 bis 1,85 Meter groß.Dunkler Vollbart und langes Haar.Beleibte Statur.Hat dunkle Baseballmütze mit langem Schirm getragen.Dunkle Freizeitkleidung.Schuhe.Wahrscheinlich Converse Cons, Farbe unbekannt, Größe 10½.Fährt dunkle Limousine; Nummernschild, Modell, Baujahr unbekannt.Profil:Motiv unbekannt.Spuren:Telefon des Opfers.Keine ungewöhnlichen Anrufe/Anrufmuster.Kurzes Haar, blond gefärbt. Keine DNS.Keine Fingerabdrücke.Schlinge.Traditioneller Henkersknoten.Katgut, Länge einer Cellosaite.Zu verbreitet; nicht zurückverfolgbar.Dunkle Baumwollfaser.Von Kapuze, benutzt zur Überwältigung des Opfers?Chloroform.Olanzapin, Antipsychotikum.YouVid-Video.Männlicher Weißer (vermutlich Opfer) mit Schlinge um den Hals.»An der schönen blauen Donau« wird gespielt, im Takt mit Keuchen (des Opfers?).»© Der Komponist« wird am Ende eingeblendet.Endet mit schwarzem Bildschirm und Stille. Um drohenden Tod anzudeuten?Ort der Aufnahme wird ermittelt.

Rodney Szarnek von der Abteilung für Computerkriminalität rief zurück. Und diesmal war am anderen Ende der Leitung dankenswerterweise nur seine Nerd-Stimme zu hören, keine vergewaltigte E-Gitarre. »Lincoln?«

»Kennen Sie den Ort?«

»Er liegt im Großraum New York.«

Etwas, das ich noch nicht weiß, bitte.

»Ich kann verstehen, dass Sie enttäuscht sind. Aber das lässt sich noch weiter eingrenzen. Nur wird es vier oder fünf Stunden dauern.«

»Das ist zu lange, Rodney.«

»Ich wollte es nur gesagt haben. Er hat mehrere Proxy-Server benutzt. Das ist die schlechte Neuigkeit. Die gute lautet, dass er nicht wirklich weiß, was er tut. Er hat sich in einige offene VPNs eingeloggt, die …«

»Für Griechisch bleibt keine Zeit«, murrte Rhyme.

»Das ist Amateurkram. Ich arbeite mit YouVid zusammen, und wir können das knacken, aber …«

»… es dauert vier Stunden.«

»Hoffentlich weniger.«

»Das hoffe ich auch.« Rhyme unterbrach die Verbindung.

»Ich habe hier noch etwas, Lincoln.« Mel Cooper stand bei dem Hewlett-Packard-Gaschromatographen samt Massenspektrometer.

»Von den Schuhabdrücken? Ist er in etwas getreten?«

»Genau. Zunächst mal gibt es mehr von dem Olanzapin, dem Antipsychotikum. Und dann noch etwas Unheimliches.«

»Unheimlich ist keine chemische Eigenschaft, Mel. Und allzu hilfreich ist es auch nicht.«

»Uranylnitrat«, sagte Cooper.

»Wow«, flüsterte Rhyme.

Dellray runzelte die Stirn. »Linc, was ist denn? Sollte uns das Zeug irgendwie zu denken geben?«

Rhyme lehnte sich an die Kopfstütze seines Rollstuhls zurück und starrte an die Decke. Er hatte die Frage kaum mitbekommen.

»Uranusnitrat«, sagte nun Sellitto. »Ist das gefährlich?«

»Uranyl«, verbesserte Rhyme ihn ungehalten. »Selbstverständlich ist es gefährlich. Wie würdest du denn Uransalz einschätzen, das in Salpetersäure gelöst wurde?«

»Linc«, sagte Sellitto geduldig.

»Es ist radioaktiv und führt zu Nierenversagen und akuter Tubulusnekrose. Es ist außerdem explosiv und höchst instabil. Doch mein Ausruf war positiv gemeint, Lon. Ich bin entzückt, dass unser Täter in diese Substanz getreten sein könnte.«

»Denn sie ist äußerst, absolut und herrlich selten«, sagte Dellray.

»Bingo, Fred.«

Rhyme erklärte, die Substanz sei benutzt worden, um waffenfähiges Uran für das Manhattan Projekt herzustellen – die Entwicklung der ersten Atombombe während des Zweiten Weltkriegs. Da die technische Leitung vorübergehend von Manhattan aus erfolgt war, trug das Projekt diesen Namen, doch der größte Teil der tatsächlichen Konstruktion der Bomben hatte an anderen Orten stattgefunden, hauptsächlich in Oak Ridge, Tennessee, Los Alamos, New Mexico und Richland im Bundesstaat Washington.

»Aber ganz unbeteiligt an dem eigentlichen Bau war New York dann doch nicht. Eine Firma in Bushwick, Brooklyn, hat Uranylnitrat hergestellt. Sie konnte jedoch nicht die benötigte Menge liefern und musste den Auftrag zurückgeben. Die Firma existiert längst nicht mehr, aber das Gelände weist nach wie vor eine Reststrahlung auf.«

»Woher weißt du …?«, setzte Sellitto an.

»Aus den Jahresberichten der EPA, unserer Umweltschutzbehörde«, erwiderte Rhyme ruhig. »Die sind großartig, Lon. Liest du sie denn etwa nicht? Du solltest sie sogar sammeln.«

Ein Seufzen. »Linc.«

»Ich jedenfalls lese sie. Sie verraten uns wundervolle Dinge über unsere unmittelbare Umgebung.«

»Wo liegt das Gelände?«, fragte Cooper.

»Nun, ich habe die Adresse nicht auswendig gelernt. Es handelt sich um eine offiziell gekennzeichnete belastete Fläche. In Bushwick, Brooklyn. Wie viele kann es davon schon geben? Schau doch einfach nach!«

Cooper benötigte nur eine Minute. »Wyckoff Avenue, nicht weit von der Covert Street.«

»Beim Knollwood Park Cemetery«, sagte Sachs, die in Brooklyn geboren und aufgewachsen war. Sie streifte den Laborkittel und die Handschuhe ab und lief aus dem Salon. »Lon«, rief sie, »fordern Sie ein Einsatzteam an. Wir treffen uns dort.«

6

Das Geräusch ließ Stefan erstarren.

Ein Geräusch, das fast so beunruhigend war wie ein Schwarzer Schrei, auch wenn es nur leise und sanft erklang: ein Piepton seines Mobiltelefons.

Es verriet ihm, dass jemand das Fabrikgelände betreten hatte. Eine App war per WLAN mit einer billigen Überwachungskamera an der Einfahrt verbunden.

O nein, dachte er. Es tut mir leid! Er flehte Sie stumm an, nicht wütend zu werden.

Ein Blick in den Nachbarraum, wo Robert Ellis so bedenklich auf der Holzkiste balancierte. Dann wieder auf sein Telefon. Die Webcam – hochauflösend und in Farbe – zeigte einen kastanienbraunen Sportwagen, ein älteres Modell aus den Sechzigern oder Siebzigern, aus dem soeben eine rothaarige Frau ausstieg. An ihrem Gürtel hing eine Dienstmarke. Hinter ihr kamen mehrere Streifenwagen ins Bild.

Sein Unterkiefer bebte. Wie hatten die hergefunden und dann auch noch so schnell?

Er schloss die Augen, denn in seinem Kopf hämmerte es, dröhnte ein ganzer Ozean.

Kein Schwarzer Schrei, nicht jetzt. Bitte!

Schnell! Du musst hier weg.

Er schaute zu seiner Ausrüstung. Nichts hiervon durfte gefunden werden. Stefan war vorsichtig gewesen, aber es ließen sich dennoch Verbindungen herstellen und Spuren entdecken, und er konnte es sich absolut nicht leisten, aufgehalten zu werden.

Er durfte Sie unter keinen Umständen enttäuschen.

Es tut mir leid, wiederholte er. Doch Euterpe antwortete natürlich nicht.

Stefan verstaute seinen Laptop in dem Rucksack und nahm zwei Gegenstände aus der Sporttasche, die er mitgebracht hatte. Ein Schraubglas mit einem Liter Benzin. Und ein Feuerzeug.

Stefan liebte Feuer. Von ganzem Herzen. Nicht den zuckenden Tanz der orangefarbenen und schwarzen Flammen, auch nicht die wohlige Hitze. Nein, er liebte, was wenig überraschend war, das Geräusch.

Er bedauerte nur, dass er diesmal nicht bleiben konnte, um das Prasseln und Ächzen zu hören, wenn das Feuer Existenz in Nichtexistenz verwandelte.

* * *

Sachs rannte zu dem dreieinhalb Meter hohen Maschendrahtzaun, gefolgt von sechs uniformierten Kollegen.

Das Tor war mit einer Kette und einem beeindruckenden Vorhängeschloss gesichert.

»Hat jemand ein Brecheisen oder einen Bolzenschneider dabei?«

Doch dies waren Streifenbeamte. Sie führten Verkehrskontrollen durch, schlichteten häusliche Auseinandersetzungen, halfen Autofahrern, fingen gefährliche Hunde ein oder nahmen kleine Straßendealer fest. Einbruchwerkzeug gehörte nicht zu ihrer Standardausrüstung.

Sachs stemmte die Hände in die Seiten und musterte den Firmenkomplex.

EPA SperrzoneAchtung! – Gefahrstoffe in Boden und Wasser!ZUTRITT VERBOTEN

Sie konnten nicht auf das Sondereinsatzkommando warten; das Opfer befand sich in unmittelbarer Lebensgefahr. Sie mussten sich nur irgendwie Zutritt verschaffen.

Tja, da blieb ihnen wohl nur die offensichtliche Methode übrig. Sachs hätte notfalls ihren Ford Torino geopfert, doch die Schnauze des fünfzig Jahre alten Muscle Cars war empfindlich. Die Streifenwagen waren hingegen mit einem Rammschutz ausgestattet – dem robusten schwarzen Metallgestänge, das bei Verfolgungsjagden zum Einsatz kam.

»Her mit dem Wagenschlüssel«, rief sie einer jungen Streifenbeamtin in ihrer Nähe zu, einer stämmigen Afroamerikanerin. Die Frau gehorchte sofort. Das machten die meisten Leute, wenn Amelia Sachs energisch etwas einforderte.

»Alle aus dem Weg!«

»Was haben Sie …? Oh, Detective, nein, das geht nicht. Sie verbeulen mir die Karre, und ich hab den ganzen Papierkram am Hals.«

»Ich schreibe die Fußnoten zu Ihrem Bericht.« Sachs nahm auf dem Fahrersitz Platz, gurtete sich an und setzte mit dem Wagen ein Stück zurück. Dann steckte sie den Kopf aus dem Fenster. »Folgen Sie mir, schwärmen Sie aus, und durchsuchen Sie alles gründlich«, befahl sie. »Vergessen Sie nicht, dem Opfer bleiben nur Minuten.«

Falls er überhaupt noch lebt.

»He, Detective. Sehen Sie mal!« Einer der Beamten zeigte auf das Gelände. Am Ende eines zweigeschossigen Gebäudeflügels verwandelten sich weiße und graue Schwaden soeben in leberfarbenen Rauch, der schnell emporstieg – weil die starke Hitze eines Feuers ihm Auftrieb verschaffte.

»O Gott.«

Der Täter hatte sie bemerkt und den Raum in Brand gesetzt, in dem er das Video angefertigt hatte, vermutete Sachs. Er wollte wohl alle Beweise vernichten.

Und das hieß auch, dass Robert Ellis ein Opfer der Flammen werden würde, ob noch am Leben oder nicht.

»Ich verständige die Feuerwehr«, rief eine Stimme.

Sachs trat das Gaspedal durch. Die Ford Interceptors mit ihren 370 PS beschleunigten nicht allzu gut, doch dank der dreißig Meter Anlauf riss das bullige Fahrzeug die Torflügel aus den Scharnieren, als wären sie aus Plastik, und schleuderte sie davon.

Sachs fuhr weiter und ließ den Sechszylinder aufbrüllen.

Die anderen Wagen folgten unmittelbar hinter ihr.

Nach weniger als einer Minute befand sie sich vor dem Gebäude, in dem es brannte. Hier vorn deutete nichts auf ein Feuer hin, der Rauch stieg an der Rückseite auf. Aber er würde sich auch im Innern ausgebreitet haben, in das Sachs und die anderen sich nun eilig vorwagen mussten, wenn sie das Opfer retten wollten.

Sie hatten weder Masken noch Sauerstoffflaschen, doch Sachs verschwendete keinen Gedanken daran. Sie schnappte sich eine Taschenlampe aus dem Streifenwagen, zog ihre Glock und nickte zwei Kollegen zu – einem kleinen, gut aussehenden Latino und einer blonden Frau, die ihr Haar zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgebunden hatte.

»Wir können nicht warten. Sie beide kommen mit mir. Wir gehen rein, Rauch oder nicht.«

»Natürlich, Detective.« Die Frau nickte.

Sachs, die derzeitige Einsatzleiterin, wandte sich an die anderen. »Alonzo und Wilkes stoßen mit mir durch die Mitte vor. Drei von Ihnen gehen nach hinten, um dem Täter möglichst den Weg abzuschneiden. Und einer nimmt einen Wagen und umrundet das Gelände. Unser Mann kann noch nicht weit gekommen sein. Lassen Sie bei jedem Fahrzeug und jeder Person äußerste Vorsicht walten.«

Die anderen gehorchten.

Wilkes, die blonde Beamtin, gab Alonzo und Sachs Deckung, als diese die Tür aufrissen – die zum Glück nicht abgeschlossen war. Die beiden gingen drinnen sofort in die Hocke und richteten ihre Taschenlampen und Waffen nach vorn. Wilkes folgte.

Amelia musste daran denken, dass der Täter durchaus geistesgestört sein konnte und vielleicht beschlossen hatte, vor Ort zu bleiben und ein paar Polizisten mit sich in den Tod zu reißen.

Doch niemand schoss auf sie.

Sie lauschte.

Nichts.

War Ellis tot? Falls ja, dann hoffentlich schon vorher durch die Schlinge und nicht erst jetzt durch die Flammen.

Die drei liefen nun den Korridor hinunter. Sachs versuchte, nicht die Orientierung zu verlieren und ungefähr die Stelle anzusteuern, von der der Rauch aufgestiegen war. Das Gebäude war baufällig und stank nach Moder. In der Nähe des Eingangs waren die Wände mit Graffiti übersät, und auf dem Boden lagen benutzte Kondome, Streichhölzer, Spritzen und Zigarettenstummel. Die Anzahl hielt sich allerdings in Grenzen, und Sachs nahm an, dass sogar die unvorsichtigsten Freier und Süchtigen wussten, was eine Gefahrstoff-Sperrzone war und dass es gesündere Orte gab, um sich einen Schuss zu setzen oder einen Blowjob geben zu lassen.

Über und neben den Türen hingen alte Schilder: Bedienzentrale. Spaltstoffforschung. Teststelle Strahlenschutz – Passieren Sie Kontrollpunkt B erst nach Freigabe Ihrer Plakette!

»Komisch, Detective«, keuchte der Mann, der neben ihr lief.

»Was denn, Alonzo?«

»Hier ist gar kein Rauch.«

Stimmt. Seltsam.

Die schwarzen, dichten Schwaden waren von irgendwo ganz in der Nähe aufgestiegen. Doch hier war tatsächlich keinerlei Rauch festzustellen.

Verdammt, dachte sie. Hier war einst radioaktives Material hergestellt worden. Vielleicht würden sie am Ende des Flurs auf eine dicke, undurchdringliche Sicherheitstür stoßen, die nicht nur den Rauch zurückhielt, sondern ihnen auch den Weg versperrte.

Der Korridor knickte rechtwinklig ab, und sie blieben kurz vor der Ecke stehen. Sachs duckte sich und schwenkte die Waffe um die Biegung, Wilkes sicherte nach hinten, und Alonzo beschrieb einen weiten Bogen.

Nichts als Leere.

Ihr Funkgerät erwachte knisternd zum Leben. »Hier Streife vier acht sieben acht. Melde ein Loch im Zaun auf der Rückseite. Ein Anwohner hat einen stämmigen Weißen mit Vollbart gesehen, der vor fünf Minuten mit einer Tasche oder einem Rucksack von hier weggerannt ist. Der Zeuge kann nicht sagen, wohin oder ob er ein Auto hatte.«

»Verstanden«, flüsterte Sachs. »Geben Sie das an das örtliche Revier und die ESU weiter. Ist jemand auf der Rückseite des Gebäudes und kann etwas über den Ursprung des Feuers sagen?«

Niemand antwortete. Doch ein anderer Beamter meldete, die Feuerwehr sei soeben eingetroffen und auf das Gelände gefahren.

Sachs und ihre Kollegen liefen weiter den Flur entlang. Schneller, schneller, spornte sie sich schwer atmend an.

Sie hatten das Ende des Gebäudeflügels nun fast erreicht. Vor ihnen kam eine Tür in Sicht, die sich als nicht so einschüchternd und undurchdringlich wie befürchtet erwies, sondern aus ganz gewöhnlichem Holz bestand und sogar einen Spalt geöffnet war. Und trotzdem gab es hier immer noch keinen Rauch. Es musste also jenseits dieser Tür noch einen weiteren, verschlossenen Raum geben, in dem sich das Opfer befand.

Sachs stürmte durch die Türöffnung, um das brennende Zimmer zu finden.

Und prallte mit voller Wucht gegen Robert Ellis, der von der Kiste gestoßen wurde und panisch aufschrie.

»O mein Gott«, rief sie. »Schnell, hier rein.« Das galt ihren Kollegen.

Sie packte Ellis um die Taille und hob ihn an, um den Druck der Schlinge um seinen Hals zu mindern. Verflucht, war der schwer.