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Alexander Hagelüken

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Beschreibung

Deutschland driftet auseinander und die Kluft zwischen Reichtum und Armut wird größer: Gerade einmal 40.000 Super-Reichen gehört fast ein Fünftel des gesamten Volksvermögens. Vierzig Millionen Menschen dagegen besitzen fast nichts – oder nur Schulden. Arme sterben sogar 10 bis 20 Jahre vor den reichen Nachbarn. Vor allem aber gibt das dramatische Schwinden der Mittelschicht Anlass zur Sorge, denn sie hat das Land über Jahrzehnte dominiert und stabilisiert. Gesellschaftliche Ungleichheit geht auf Kosten des Wachstums, das hat die Wissenschaft mittlerweile nachgewiesen. Alexander Hagelüken macht die Lage drastisch klar und zeichnet ein düsteres Bild von der Zukunft: Alters-Armut, sozialer Abstieg, politische Radikalisierung bei den Wahlen. Die Politik muss dringend handeln, so Hagelüken, sonst wird das Land nicht wiederzuerkennen sein. Hagelükens alarmierendes Debatten-Buch zeigt, dass nur ein neuer Gesellschaftsvertrag sozialen Frieden und Gerechtigkeit sowie Wohlstand für alle sichern kann.

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Alexander Hagelüken

Das gespaltene Land

Wie Ungleichheit unsere Gesellschaft zerstört – und was die Politik ändern muss

Knaur e-books

Über dieses Buch

Deutschland driftet auseinander und die Kluft zwischen Reichtum und Armut wird größer: Gerade einmal 40.000 Super-Reichen gehört fast ein Fünftel des gesamten Volksvermögens. Vierzig Millionen Menschen dagegen besitzen fast nichts – oder nur Schulden. Arme sterben sogar 10 bis 20 Jahre vor den reichen Nachbarn. Vor allem aber gibt das dramatische Schwinden der Mittelschicht Anlass zur Sorge, denn sie hat das Land über Jahrzehnte dominiert und stabilisiert. Gesellschaftliche Ungleichheit geht auf Kosten des Wachstums, das hat die Wissenschaft mittlerweile nachgewiesen.

Inhaltsübersicht

MottoWillkommen in einem gespaltenen Land1. Wie aus Arbeitsplätzen Jobs wurden2. Gewinnexplosion und Villenglück3. Todesurteil: Zu wenig verdient4. Italiener und Griechen sind reicher oder: Der Bankrott des deutschen Sparers5. Die Republik der Habenichtse6. Ungleichheit fördert die Wirtschaft? Über den Tod eines neoliberalen Mantras7. Warum Ärzte keine Krankenschwestern mehr heiraten8. Die neue Bildungskatastrophe9. Der Abstieg der Mittelschicht10. Ein politisches Erdbeben11. Zeit für einen neuen GesellschaftsvertragAusblick: Roboter beherrschen die Welt oder: Es wird noch ungleicher12. Umsteuern, um das Land gerechter zu machen1. Normalverdienern mehr Netto geben2. In Bildung und neue Sozialpolitik investieren3. Schlupflöcher schließen4. Vermögen ernsthaft besteuern5. Frauen und Familien fördern6. Wohltaten überprüfen7. Machtmissbrauch am Arbeitsmarkt stoppen13. Wie Sackgassen zu Chancen werden1. Lehrer und Eltern ansprechen2. Speziell helfen3. Früher anfangen4. Richtige Anreize setzen5. Mehr als Steine verbauen6. Sozial macht Karriere7. Mehr Geld für die frühen Jahre8. Kinder später aufteilen9. Nach der Ausbildung bilden14. Der Staat als Partner15. Macht Arbeiter zu Kapitalisten, bevor sie Sklaven werdenDank
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»Der Maßstab für unseren Fortschritt ist nicht, ob wir den Überfluss jener mehren, die viel haben, sondern ob wir denen genug geben, die zu wenig haben.«

Franklin D. Roosevelt, Rede zum Start der zweiten Amtszeit als US-Präsident, 20.1.1937

 

 

 

»Es ist schwer zu sagen, an welchem Punkt Ungleichheiten, insbesondere solche des Einkommens, Solidarität in einer Gesellschaft zerstören. Sicher aber ist, dass keine Gesellschaft es sich ungestraft leisten kann, eine beträchtliche Zahl von Menschen auszuschließen.«

Ralf Dahrendorf, »Die Globalisierung und ihre sozialen Folgen werden zur nächsten Herausforderung einer Politik der Freiheit.An der Schwelle zum autoritären Jahrhundert.«DIE ZEIT, 14.11.1997

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Willkommen in einem gespaltenen Land

Die Deutschen wirken heute auf den ersten Blick wie die Kraftmeier eines verzagten Kontinents. Andere europäische Nationen bewundern und beargwöhnen, wie schnell die Bundesrepublik die Finanzkrise hinter sich ließ und einen Boom erlebte. Die Beschäftigung hat einen Rekord erreicht. Auf den Straßen fahren Premium-Limousinen, in »Townhouses« wirbeln »Interior Designer«, es werden Horsd’œuvres und Champagner gereicht. Doch das ist nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit. Unter der glänzenden Oberfläche ist noch eine ganz andere Realität zu besichtigen: Da bröckeln die Fundamente der Gesellschaft.

In diesem Buch treffen Sie unter anderem Stefan Heigert, für den der deutsche Arbeitsmarkt nur schlecht bezahlte Jobs bereithält. Sie treffen Margret Meier, die aus der Mittelschicht fiel, nachdem sie wegen ihrer Kinder in Teilzeit ging. Den Flüchtling Alex Agho, bei dessen Integration der Staat beispielhaft versagte. Und ein Bankerpaar, das sich mit Mitte vierzig zur Ruhe setzte, während die Steuerzahler für die halsbrecherischen Geschäfte der Branche zahlten.

 

Deutschland ist heute ein gespaltenes Land. Zu lange profitieren vor allem jene, die schon haben. Die Unternehmer- und Vermögenseinkommen stiegen von 2000 bis 2014 um 30 Prozent – mehr als viermal so stark wie die Löhne. Dagegen hat fast die Hälfte der Deutschen inzwischen weniger Geld zur Verfügung.[1] Besonders dramatisch ist die Erosion der Mittelschicht. Jahrzehntelang sicherten die Arbeitnehmer in der Mitte der Bundesrepublik Wachstum und Demokratie. Jetzt schrumpft die Mittelschicht, die Einkommen der Mitte stagnieren. Die Kinder werden es einmal nicht besser haben. Willkommen in einem gespaltenen Land.

Die Deutschen leben in einem epochalen Umbruch, der permanente Unruhe erzeugt. Gewaltige Kräfte wie Globalisierung, technologischer Wandel und Neoliberalismus wirbeln den Alltag der Menschen durcheinander. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war die Ungleichheit in den Industriestaaten so groß.[2] Dieses Buch untersucht, wie sich Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten gespalten hat und woran das liegt.

Die Bundesrepublik ist heute ein Land, in dem die Reichen viel mehr angehäuft haben als in vergleichbaren Staaten. Betrachten wir dagegen beispielsweise die Mieter, die die Mehrheit der Bevölkerung stellen: Die Hälfte ist verschuldet oder besitzt Kleckerbeträge von ein paar hundert bis höchstens 10000 Euro. Diese Summe reicht gerade, um sich einen halben VW Golf zu kaufen. Die anderen haben noch weniger. Die Deutschen stehen nach Jahren des Booms als Habenichtse da, die weniger besitzen als die Einwohner der anderen Euro-Staaten. Sie besitzen sogar weniger als Spanier, Portugiesen und Griechen, die sie in der Krise mit Milliardenkrediten retteten.[3] Während Reiche ihr Geld für Luxusspielzeug verplempern, können andere Deutsche nicht anständig wohnen, regelmäßig in den Urlaub fahren oder in die Bildung ihrer Kinder investieren.

 

Die Bundesrepublik hat sich zu einer Nation voller Gegensätze entwickelt:

Die Deutschen fanden noch nie so leicht Arbeit, doch die Einkommen klaffen stärker auseinander als meist in der Geschichte des Landes[4]. Der geringe Verdienst reduziert den Konsum und schadet der ganzen Volkswirtschaft.

Die Deutschen reden ständig über Gesundheit, doch ärmere Bürger sterben zehn bis zwanzig Jahre früher als Menschen mit Geld.

Die Deutschen feiern sich als Exportweltmeister, doch sie versagen darin, benachteiligte Kinder zu jenen Fachkräften zu formen, nach denen die Industrie ruft. In kaum einem anderen Industrieland bestimmt die Herkunft so sehr wie bei uns, was einer wird.

Es ist Zeit für eine Politik, die gegen die Spaltung vorgeht. Die Politik ist die einzige Kraft, auf die die Deutschen setzen können. Unternehmen nehmen in der globalen Ära immer weniger Rücksicht auf ihr Heimatland oder irgendein anderes Land. Und sie werden immer mächtiger: Der Börsenwert eines Konzerns wie Apple, der jahrelang kaum Steuern zahlte, übersteigt die Wirtschaftsleistung von 85 Prozent aller Nationen der Erde.

Die Deutschen können sich nur auf die Politiker verlassen, doch bisher werden sie von den Politikern verlassen. Die Regierungen der vergangenen 30 Jahre ließen die Spaltung geschehen. Unter Helmut Kohl begann es ungleicher zu werden, er war es auch, der etwa durch die Abschaffung der Vermögensteuer die Ungleichheit verschärfte. Gerhard Schröder legte mit seinen Reformen zwar die Grundlage für mehr Arbeitsplätze, verlor dabei jedoch die soziale Balance aus dem Blick. Und Angela Merkel verwaltet die Spaltung einfach.

Nun braucht das Land eine Wende: Eine Politik, die sich von den Dogmen des Neoliberalismus abwendet, weil Reichtum für wenige noch nie Wohlstand für alle gebracht hat. Eine Politik, die die ganze Gesellschaft in den Blick nimmt, statt nur gut organisierte Interessengruppen. Die Spaltung des Landes wird nicht von selbst verschwinden. Stattdessen beginnt sie, die Gesellschaft zu zerstören. Zu viele Geringverdiener fühlen sich ohnmächtig. Zu viele Normalverdiener fragen sich, warum sie Steuern zahlen, wenn Westeuropas Reiche zwei Billionen Euro in Offshoreparadiesen bunkern.[5] Zu viele junge Menschen fragen sich, warum sie sich anders als ihre Eltern kein Eigenheim leisten können. Der gesammelte Frust begünstigt überall in den westlichen Staaten den Aufstieg von Populisten. In Deutschland zieht die AfD seit drei Jahren bei jeder Landtagswahl ins Parlament ein und erobert bis zu ein Viertel der Stimmen. Die Historikerin Anne Applebaum warnt, der Westen sei nur noch zwei, drei »falsche Wahlsiege« vom Ende der Europäischen Union und der Weltordnung entfernt, wie wir sie kennen.[6] Die erste der Wahlen, die Applebaum damit meinte, haben die Falschen inzwischen gewonnen: den Brexit. Und noch eine zweite: die US-Präsidentschaftswahl. Mächtigster Mann der Welt ist nun Donald Trump, der wahnwitzige Zölle auf ausländische Waren von 40 Prozent angekündigt hat und Millionen Migranten deportieren will.

Die Populisten sind so erfolgreich, weil die etablierten Parteien versagen. Sie ignorieren die Unzufriedenheit der Menschen, die mit stagnierenden Einkommen und Abstiegsängsten der Mittelschicht zusammenhängt. Geschickt verteufeln die Populisten Migranten, die sich leichter zum Sündenbock für alle Beschwernisse machen lassen als anonyme Mächte wie die Globalisierung. Statt sich vor den Populisten hertreiben zu lassen, sollten etablierte Parteien wie Union und SPD ihren Kurs radikal ändern. Doch die Parteien sind von der Rolle. Wie sehr, zeigt das Drama der SPD, die absackt, weil sie keine Antwort auf die Nöte der Normalverdiener findet, für die sie doch überhaupt gegründet wurde.

 

Dieses Buch untersucht, wie Ungleichheit die Bundesrepublik durchdrungen hat und ein politisches Erdbeben auslöst. Und es analysiert, mit welcher Politik sich mehr sozialer Ausgleich erreichen lässt. Eine gerechtere Politik wäre das richtige Mittel, um die Populisten aufzuhalten – und den Kollaps einer gesellschaftlichen Ordnung zu verhindern, in der bisher jeder etwas für den eigenen Lebensunterhalt und die Gemeinschaft zu leisten bereit ist. Es ist nicht selbstverständlich, dass Normalbürger weiter engagiert zur Arbeit gehen und Steuern und Abgaben für ein anonymes Riesengemeinwesen zahlen. Sie können die Ordnung aufkündigen, auf der die Gesellschaft aufbaut.

Die Ungleichheit könnte sich in Deutschland besonders dramatisch auswirken, weil der Reichtum hier ungleicher verteilt ist als sonst in Europa. Und weil gleichzeitig die Aufstiegschancen besonders gering sind.

Gerade in unserer Gesellschaft könnte es stärker zum Knall kommen, als wir es uns je vorstellen konnten.

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1. Wie aus Arbeitsplätzen Jobs wurden

Hinter der herrschaftlichen Fassade kreischen Maschinen. Es riecht durchdringend nach Kleber. Arbeiter eilen an diesem Sommermorgen durch die Fabrikhalle, als käme es auf jede Sekunde an. Draußen an der Fassade prangt »Peter Kaiser since 1838«. Europas ältester Fabrikant von Damenschuhen produziert seit 180 Jahren. Das ist eine Zeitspanne, in der Weltreiche aufsteigen. Und wieder untergehen.

Hier in Pirmasens fühlten sie sich stets im Zentrum des Weltreichs der Fußbekleidung. Als im 18. Jahrhundert die Garnison Soldaten abzog, begannen sie in der Not, aus Uniformen Pantoffelschlappen zu flicken. Anderswo schimpfte man die Pirmasenser »Schlabbeflicker«. Doch sie verkauften die Schuhe bald über die Grenzen. Frauen stapelten die Modelle in Körbe und schleppten sie auf Märkte bis in die Schweiz und nach Dänemark.

 

Zwei dieser Pionierinnen der Globalisierung stehen heute in der Stadtmitte, in Bronze gegossen. Sie blicken auf die frühere Paketpost, die kurz nach Vollendung im 19. Jahrhundert zu klein war, weil alle Welt Schuhe aus Pirmasens kaufte. Aus dem Notbehelf war ein internationaler Hit geworden. Die Stadt soll die größte Millionärsdichte Deutschlands aufgewiesen haben. Auf dem Hügel rund um die Strobelallee entstanden ausladende Villen, deren Besitzern Pirmasens zu Füßen lag. Einer, der in den 60er Jahren als Gymnasiast bei einem Fabrikantensohn eingeladen war, erinnert sich an Treppengeländer, überzogen mit Blattgold. Die Schuhbarone wussten in den goldenen Jahrzehnten kaum, wohin mit ihrem Geld.

Als der heutige Bürgermeister Bernhard Matheis damals in den 60er Jahren ein Junge war, saß er oft im kleinen Schuhwerk seines Großvaters. Der Junge hörte mit großen Ohren zu, als ein Vertreter zu Besuch kam und den Opa warnte: »Das geht nicht mehr lange weiter mit dir.« Die Konkurrenz in Italien sei modischer und produziere für die Hälfte. In Pirmasens fanden damals 30000 Menschen in der Schuhindustrie Arbeit, die Hälfte der Einwohner.

 

Peter Kaiser liefert heute in die ganze Welt. Neben den kreischenden Maschinen stapeln sich fertige Kisten für den globalen Markt. Wie die Aufkleber verraten, gehen sie nach Estland, Belgien, Weißrussland, Japan. Die Ware kommt nur immer seltener aus Pirmasens. Von früher eintausend Stellen hier in der Produktion sind nur etwas mehr als hundert übrig. In Portugal, wo weit mehr Arbeiter für die Firma nähen, kostet die Arbeit nur ein Viertel so viel. Andere Hersteller produzieren in Asien noch günstiger. Die ganze Branche hat die Fertigung in billigere Länder verlagert.

Diese Globalisierung der Produktion findet in der gesamten deutschen Industrie statt. Mal radikal wie bei Textilien, Fernsehern oder Telefonen, mal moderater wie bei Autos und Chemie. Pirmasens traf der Strukturwandel nur besonders hart. Die Monostruktur Schuhindustrie hatte die Stadt groß gemacht. Nun machte sie sie fertig.

»Die Leute verstanden nicht, was passierte«, erinnert sich Pfarrer Norbert Becker an den Niedergang. »Sie fühlten sich als Opfer.« Bei Messen hatten Amerikaner, Italiener und Franzosen die Stadt bevölkert. Am Exerzierplatz vor dem Rathaus wehten Flaggen wie bei einer Weltausstellung. Nun kam keiner mehr. »Der Strukturwandel war eine große Kränkung. Es legte sich eine Depression über die Stadt«, sagt Becker. Als er 1981 als Gemeindepfarrer im Winzler Viertel begann, gab es eine komplette Infrastruktur mit Bäcker, Metzger, Kino und Ärzten. Bald stufte die Bundesregierung den Ortsteil als »benachteiligtes Viertel« ein.

Pirmasens verlor von seinen 30000 Arbeitsplätzen 90 Prozent. Samstags klingelten Mütter an Beckers Tür und fragten, ob er was zu essen habe.

 

Die Stadt ist ein Beispiel dafür[7], was im boomenden Deutschland leicht aus dem Blick gerät: Gegenden, die seit Jahrzehnten kämpfen. Es gibt sie in Nordrhein-Westfalen, in Norddeutschland, im Osten. In Pirmasens blickt Bürgermeister Matheis aus dem Rathaus auf ein Kaufhaus, das seit 15 Jahren leer steht. »Man braucht eine hohe Frustrationstoleranz, wenn wieder die nächste Rangliste veröffentlicht wird«, sagt er und versucht ein Lächeln. Pirmasens hat bundesweit die höchsten öffentlichen Schulden und die meisten privaten Schuldner.[8] Jedes dritte Kind unter 15 lebt von Hartz IV.

 

Der Bürgermeister kämpft für seine Stadt. Er sucht nach neuen Nutzungen für leere Gebäude wie das Kaufhaus, zieht mit neuen Museen Touristen an, siedelt neue Betriebe an. Inzwischen gibt es wieder eine bemerkenswerte Anzahl an Stellen. Nur werden sie häufig von Pendlern aus dem Umland besetzt statt von den Einwohnern der Stadt. So hat die Stadt wieder viele Arbeitsplätze, aber immer noch viele Arbeitslose. Wie kann das sein?

Pirmasens liefert Anschauungsmaterial dafür, wie sich das Land gespalten hat. Zwischen Managern und Arbeitern, Ingenieuren und Verkäuferinnen klaffen heute größere Gräben als in den 80er Jahren. Damals waren die Bundesbürger stolz darauf, wie relativ gleich es in ihrem Land zuging. Wie moderat die Unterschiede im Vergleich zu den USA waren. Das hat sich verändert. Zum Nachteil jener, die in den Fabriken halfen, das Land zum Exportweltmeister zu machen.

Stefan Heigert[9] dreht in seinem Wohnzimmer eine Zigarette. Der vierjährige Kevin quengelt. »Ach Kevin, es gibt jetzt keine Süßigkeiten!«, ruft Mutter Eva. Die Kindergärtnerinnen schicken Kevin über Mittag nach Hause, weil sie ihn zu anstrengend finden. Das ist ein Hindernis für Stefan und Eva Heigert auf der Suche nach Arbeit. Aber nicht das zentrale. Entscheidend ist, dass beide keine Berufsausbildung haben. Eva musste ihre Ausbildung zur Altenpflegerin beenden, als sie mit 18 Jahren schwanger wurde. Stefan überwarf sich in der Maurerlehre mit seinem Chef. Jetzt gehen beide auf die 30 zu, haben drei Kinder und hatten immer wieder Jobs, aber nie was Längeres. Dabei wollen sie raus aus Hartz IV. Raus aus dieser Wohnung, die zu klein ist für fünf. Raus aus diesem Haus, in dessen Flur neulich eine tote Ratte lag. Der neunjährige Sohn will Polizist werden. Er bewundert die Typen in den grünen Uniformen, die vorbeikommen, wenn sich Betrunkene vor dem Haus prügeln.

 

Früher hätte ein Ungelernter wie Stefan Heigert eine feste Stelle gehabt. Ende der 70er Jahre war mehr als jeder dritte Westdeutsche gering qualifiziert. Beruflich stellte das keinen Makel dar: Nur fünf Prozent der Ungelernten waren arbeitslos. Heute sieht das ganz anders aus. Inzwischen haben 20 Prozent der Ungelernten keine Arbeit.[10] Wer wie Migranten oder Alleinerziehende häufiger zu dieser Gruppe gehört, hat jetzt schlechte Karten. Die meisten westdeutschen Hartz-IV-Bezieher sind heute Ungelernte.[11] In den einst stolzen Industriezonen des Ruhrgebiets lässt sich sehen, was aus Menschen mit Hilfsjobs wird: In Gelsenkirchen, Herne, Duisburg, Recklinghausen, Oberhausen und Dortmund gehen 40 Prozent von ihnen stempeln.[12]

Der deutsche Arbeitsmarkt meldet eine Rekordbeschäftigung, für die Heigerts hält er nur Brosamen bereit. Verschwunden die Tätigkeiten, bei denen einer einfach anpackt. Stefan jobbt bei Schuhzulieferern, bei Amazon, er zog auch schon für Arbeit um. Die Stellen sind immer befristet, meist Zeitarbeit, bald ist er wieder draußen. Seine Frau jobbte in der Pflege, bis ein schlecht behandelter Hüftschaden die Schmerzen zu groß werden ließ. Ohne Ausbildung hat sie kaum Aussicht auf eine Stelle, die weniger körperlichen Einsatz verlangt. In der globalisierten Wirtschaftswelt zählt Qualifikation, sonst wenig. Das sind die neuen Regeln für Arbeitnehmer.

 

Die Pointe ist, dass die Pirmasenser Schuhbarone bewusst ein Heer Ungelernter heranzogen. Sie drängten die Arbeiter, ihre Söhne und Töchter nach der Schule sofort in die Fabrik zu holen. Sie lockten mit einem Mofa und verführten sie damit, auf eine Ausbildung zu verzichten. Bürgermeister Matheis erzählt, wie früher manchmal Lehrer Fabrikarbeiter ansprachen, der Sohn solle unbedingt aufs Gymnasium. Worauf die Arbeiter erwiderten, ihr Chef wolle den Sohn in der Fabrik haben. Die Arbeit war hart, aber die Kinder verdienten sofort, statt den Eltern auf der Tasche zu liegen. Und die Stellen schienen sicher. »Über vier, fünf Generationen gab es keinen Grund, auf hohe Schulbildung zu setzen«, erklärt der Bürgermeister. Deshalb werden die neuen, qualifizierten Arbeitsplätze in Pirmasens oft von Pendlern besetzt statt von Stadtbewohnern.

Die Schuhbarone bevorzugten Arbeiter ohne Ausbildung, weil sie billiger waren und nicht abwanderten. Dann machten die Schuhbarone dicht. Die Arbeiter fanden keine Arbeit mehr. »Ungelernte können nicht in Wettbewerb treten«, beobachtet Pfarrer Becker. »Solche wie sie gibt es auch in Ludwigshafen genug.« Die Schuhbarone globalisierten ihre Produktion oder verkauften ihre Firmen. Manche gingen pleite, die meisten behielten das Vermögen aus den goldenen Jahrzehnten. Die Arbeiter verloren ihre Arbeit und behielten nichts.

In Pirmasens lässt sich studieren, wie Ungleichheit neue Ungleichheit produziert. Im Kapitalismus überdauert nur das Eigentum. Wer es hat, hat selbst dann noch was, wenn sein Geschäftsmodell untergeht. Die Arbeitsplätze in der Schuhindustrie sind verloren. Die Villen in der Strobelallee stehen noch. Die Schuhbarone haben sie verkauft oder vererbt.

 

Stefan Heigert verfügt über eine andere Art von Erbe. Jenes, das die Schuhbarone der Allgemeinheit hinterließen. Wie die Fabrikanten es stets förderten, absolvierten Heigerts Eltern keine Ausbildung, bevor sie in der Schuhfabrik anfingen. Als ihr Sohn die Hauptschule beendete, vermittelten sie ihm nicht, wie wichtig Qualifikation ist. Das hatten ihnen ihre Eltern ja auch nicht vermittelt. Als Stefan Heigert in der Lehre Schwierigkeiten bekam, standen ihm die Eltern nicht zur Seite. Sie rieten ihm nicht, das Verhältnis zum Chef zu verbessern, halfen ihm nicht, nach Abbruch der Lehre etwas anderes zu suchen. Bei seiner Frau Eva lief es ähnlich. Sie hätte Hilfe aus dem Umfeld gebraucht, um mit einem Baby die Ausbildung hinzukriegen. »Ich wäre froh, ich hätte eine Lehre gemacht«, sagt Eva Heigert heute. Ihr Mann drückt es wortgleich aus. Die Heigerts nehmen jetzt an der Westpfalz-Initiative teil, die auf die Probleme längerfristiger Arbeitsloser eingeht. Solche Projekte sind ein beispielhafter Weg aus der Misere. Aber sie kosten Geld, das der Staat oft nicht hat oder nicht ausgeben will. Daher bleiben sie Einzelfälle.

Wer bei arbeitslosen Eltern aufwächst, ist selbst häufiger arbeitslos, belegte 2015 erstmals eine Studie für ganz Deutschland.[13] Womöglich lernen Kinder weniger engagiert für ein Leben mit Schule und Beruf, wenn sie dieses Leben bei den Eltern nicht sehen. Ihnen fehlen auch die Netzwerke arbeitender Eltern. Michael Kind vom Essener RWI-Institut führt eine Studie an, wonach gleich 40 Prozent der jungen Männer bei einer Firma landen, in der ihr Vater tätig ist oder war. Er fand heraus: Ist der Vater ohne Stelle, sinkt für den Sohn die Aussicht auf längerfristige Arbeit um 80 Prozent.[14] Stefan Heigert hatte kein Netzwerk. Er hat in der toxischen Tradition der Schuhbarone auch keine Ausbildung. So verfestigt sich Arbeitslosigkeit. Bürger wie er werden abhängig von Sozialleistungen, die viel Geld kosten.

 

Wer das größere Bild betrachtet, erkennt eine Entwicklung. Globalisierung und neue Technologien wie Digitalisierung spalten den deutschen Arbeitsmarkt, schrumpfen die Mittelschicht und treiben die Einkommen auseinander. Die Globalisierung lässt Stellen verschwinden wie in den Schuhfabriken. Sie trifft jene, die den gut ausgebildeten, aber trotzdem günstigen Asiaten oder Osteuropäern unterliegen. Sie drückt auch Löhne. In Deutschland wirkte sich besonders der Fall des Eisernen Vorhangs aus, so Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Bis zur Wende nahmen die Reallöhne zu. Dann kam die Konkurrenz etwa tschechischer Arbeiter, die anfangs ein Zehntel deutscher Löhne verdienten. »Es wurden Arbeitsplätze verlagert. Vor allem wirkte die Drohung mit der Verlagerung: Das reichte schon, um in Deutschland niedrige Löhne durchzusetzen. Das veränderte die Machtverhältnisse zugunsten der Arbeitgeber«.[15]

 

Die Globalisierung löst die größte Umverteilung von Einkommen seit zweihundert Jahren aus, konstatiert der Ökonom Branko Milanović. Sie lässt die Gewinne der Firmen explodieren, befreit hunderte Millionen Menschen in der Dritten Welt aus der Armut[16] – und setzt im Westen zahlreiche Normalverdiener unter Druck. Sie lässt manche besonders profitieren – und andere verlieren.

Firmen können weltweit Kunden finden und gleichzeitig Gewinne herumschieben, um Steuern zu vermeiden. Vermögende können weltweit Anlageprodukte finden und gleichzeitig Geld in Offshoreparadiese schieben, um Steuern zu vermeiden. Viele deutsche Arbeitnehmer dagegen erleben die Konkurrenz niedriger Löhne sowie Umwelt- und Sozialstandards, während weiter voll die Steuer von ihrem stagnierenden Verdienst abgeht. »Wettbewerbsfähigkeit in einem unnachsichtigen Weltmarkt verlangt, dass alle Leistungen zum günstigsten möglichen Preis erbracht werden«, beschrieb der Soziologe Ralf Dahrendorf schon vor zwanzig Jahren hellsichtig. »Das heißt vor allem Reduktion der Zahl der Beschäftigten auf das nötige Minimum. Dieses läßt sich durchaus nicht eindeutig bestimmen, doch ist klar, daß viele, vor allem viele Angestellte, ihre Stellung verlieren und – wenn überhaupt – ersetzt werden durch Teilzeitbeschäftigte oder Vertragsangestellte.«[17] Vom Gewinnturbo in den Firmen spüren die Arbeitnehmer dagegen wenig: Nur jeder Zehnte besitzt Aktien.[18]

Wie die Globalisierung teilt auch moderne Technologie den Arbeitsmarkt in Gewinner und Verlierer auf. Da gibt es die Profiteure, etwa Manager, Ärzte oder Ingenieure, die Technologie einsetzen. Ihr Gehalt steigt oft deutlich. Gleichzeitig gibt es andere, die stagnieren oder verlieren. Technologie vernichtet ungelernte Jobs, aber auch mittelqualifizierte. Fabrikarbeiter oder Sachbearbeiter in der Verwaltung, die sich oft zur Mittelschicht zählen. Ihre Tätigkeiten sind von einer gewissen Wiederholung gekennzeichnet, die sie durch Maschinen ersetzbar macht. »Der Bankautomat hat viele Beschäftigte an den Bankschaltern überflüssig gemacht, Buchungssysteme haben Heerscharen von Buchhaltern verdrängt«, analysiert Joachim Möller. Technologie und Globalisierung ließen allein seit den 90er Jahren über 2,5 Millionen Stellen in Deutschland verschwinden.

 

Typischerweise verschwinden sozialversicherte Vollzeitstellen, nennen wir sie Sovos. Auf Sovos bauen Mittel- und obere Unterschicht ihr Leben auf, mit komfortabler Wohnung oder Reihenhaus im Grünen, mit Auto und Urlaub. »In den 80er Jahren waren Arbeitsplätze meist gleichbedeutend mit sozialversicherten Vollzeitstellen. Das hat sich völlig verändert«, sagt Michael Förster, der bei der Organisation OECD forscht.[19]

Neue Stellen entstehen häufig im Dienstleistungssektor, der heute die Mehrzahl der Arbeitsplätze stellt. Sie entstehen meist jenseits der Mitte: Oben bei höher und unten bei weniger Qualifizierten. Hier nahm die Beschäftigungsquote um 30 Prozent zu. Manchen gelang also der Aufstieg aus den Mittelstellen nach oben, sie sind gut verdienende Angestellte oder Selbständige. Auf der anderen Seite stehen eine Menge Arbeitsplätze, die mittelmäßig bis mäßig bezahlt werden: Lkw-Fahrer und Paketboten, Kindergärtnerinnen und Kellner, Verkäuferinnen und Sicherheitskräfte, Altenpfleger und Call-Center-Telefonisten.

Genau diese Jobs sind oft keine Sovos mehr, keine unbefristeten sozialversicherten Vollzeitstellen. Sondern befristete, Teilzeit- oder Minijobs, Unges, unsicher und geringer bezahlt. Unges sind bei vielen Firmen beliebter als Sovos – als Arbeitsplätze, die Sicherheit, anständigen Lohn und nennenswerte Rente gewähren. Der Wandel von Sovos zu Unges ist ein wichtiger Grund für die Ungleichheit. Genau wie stagnierende Löhne in der Mitte, die zwischen Maschinen und globalen Billigkräften eingeklemmt ist.[20]

Deutschland war mal ein Land relativ gleicher Löhne, symbolisiert im Motto »Wohlstand für alle« des Wirtschaftswunderkanzlers Ludwig Erhard. Das ist vorbei. Die Bezahlung entwickelte sich wie in kaum einem Industriestaat auseinander, ablesbar am verfügbaren Einkommen, das nach Steuern, Abgaben und Inflation bleibt. Die zehn Prozent Bestverdiener trugen im Jahr 2012 17 Prozent mehr nach Hause als zum Anbruch des Jahrtausends. In der Mitte aber stagniert der Verdienst. Und die unteren 40 Prozent haben sogar bis zu vier Prozent weniger in der Tasche.[21]

Kapitalisten und Hochqualifizierte verdienen viel, Löhne stagnieren und Sozialleistungen wie Hartz IV fallen eher knapper aus: Das verändert einiges. In den 80er Jahren hatten die zehn Prozent Gutverdiener fünfmal so viel wie die Geringstverdiener. Ende der Nullerjahre war diese Kluft fast achtmal so groß. Oben im Schnitt knapp 5000 Euro im Monat. Unten gerade mal 600 Euro.[22]

 

In Pirmasens ist die Spaltung des Arbeitsmarkts zu besichtigen. Da gibt es einstige Schuh-Zulieferer, die sich weiterentwickelten und jetzt Fensterprofile herstellen oder Klebstoff für alles Mögliche. Sie bieten industrielle Arbeitsplätze, aber eben weniger als früher. Ebenso erfolgreich sind Schuhhersteller, die auf Klasse statt Masse setzen. So einer ist Peter Kaiser. Im Lager streicht ein Arbeiter über das Leder afrikanischer Ziegen, das sich besonders für Stiefel eignet. Er verwendet nur die Innenhaut, weil sich die Tiere außen an Dornen reißen. Peter Kaiser beschäftigt erfahrene Kräfte wie ihn, aber eben weniger in Deutschland. Die Veränderung lässt sich auch an verlassenen Schuhfabriken sehen, die ein Immobilienentwickler in »P-Town-Lofts« aufgehübscht hat. All diese Geschäftsmodelle schaffen hohe Einkommen und attraktive Arbeitsplätze. Aber sie sind eben nur ein Teil der Geschichte. Firmen trimmen auf Effizienz und meiden weniger Qualifizierte. Deshalb stehen auf der anderen Seite der deutschen Erfolgsbilanz Unges wie Stefan Heigert.

Studien zeigen, wie sich die Wirtschaft aufteilt. Technologiefirmen beschäftigen vorzugsweise Akademiker, Discounter vorzugsweise An- oder Ungelernte. Damit fehlt Unges anders als früher der Wissenstransfer mit höherqualifizierten Kollegen. In ihren Firmen wird weniger hochwertige Technik eingesetzt, die ihre Produktivität steigert. Beides reduziert sowohl ihren Lohn als auch ihre Aussicht auf andere Arbeit.[23] Nicht nur die Wirtschaft insgesamt, sondern sogar Firmen derselben Branche teilen sich in Hoch- und Niedriglohnbetriebe auf und treiben damit die Einkommen auseinander.[24]

 

Die Spaltung des Arbeitsmarkts ist auch eine Machtfrage. Die Lohnungleichheit stieg in Deutschland schneller als in den USA oder Großbritannien, die als sehr ungleich gelten. Als Hauptgrund sehen Bertelsmann-Stiftung und das Münchner Ifo-Institut den Machtverlust der Gewerkschaften. In den 90er Jahren wurden 70 Prozent der westdeutschen Arbeitnehmer nach Branchentarifvertrag bezahlt. Heute sind es nur 50 Prozent. Das spüren die Beschäftigten im Portemonnaie: Ohne Tarifvertrag verdient einer fast 20 Prozent weniger.[25]

Was die Gewerkschaften beiseitedrängt, ist der Siegeszug des politischen Liberalismus – die dritte große Ursache für die Ungleichheit neben Globalisierung und Technologie. Seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan in den 80er Jahren weniger Staat, weniger Einfluss für Gewerkschaften und weniger Steuern für Reiche predigten, setzte sich das überall im Westen durch. Gewerkschaftern fehlt der politische Rückhalt, um Tarifverträge zu verteidigen. Der Liberalismus liefert einen ideologischen Überbau für permanenten Druck auf die Löhne. Er benutzt dazu die Kunstfigur des nimmersatten Arbeiters, dessen Forderungen die ganze Firma gefährden. In Wahrheit machen Arbeitgeber die Ansagen, die meisten Arbeitnehmer akzeptieren müssen.

Wenn Löhne gesenkt werden, begründen Firmen dies oft mit internationaler Konkurrenz. Dabei drücken auch Supermärkte oder Friseure die Löhne, die die Globalisierung kaum betrifft. So beschäftigen Supermärkte mehr Kassierer ohne Tarifvertrag und zahlen 30 Prozent weniger.[26] Die Dienstleister rechtfertigen so was mit dem Kunden, der es immer billiger wolle. In Wahrheit erhöhen niedrige Löhne eben auch den Gewinn eines Unternehmens. Noch besser als auf die Kunden passt der Slogan »Geiz ist geil« auf manche Arbeitgeber. »Die Löhne in vielen Dienstleistungsberufen sind ein Reflex der veränderten Machtverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern«, analysiert Joachim Möller. »Die neuen Machtverhältnisse haben viel verändert, das sehen Sie etwa am Wachsen des Niedriglohnsektors. Kapital ist mobiler als Arbeit, es kann leichter ins Ausland abwandern. Der mobilere Faktor hat immer den Vorteil.«

Viele Firmen selektieren beim Gehalt radikal nach Qualifikationen, die sich schnell auszahlen. Sie kämmen regelmäßig den Personalbestand durch, um Stellen abzubauen. Ein Hochrangiger in der Personalabteilung eines gutverdienenden Autoherstellers berichtet, wie Kosten gejagt werden: »Handwerkliche Fachkräfte wie Mechatroniker, Instandhalter oder Logistiker werden generell nicht mehr fest angestellt«, sondern nur noch extern als Leih- und Werkarbeiter. Gut bezahlte Ingenieure werden in Vorruhestand geschickt, um durch Externe bis zu 60 Prozent einzusparen. Der Hersteller verkündet öffentlich, er schaffe Arbeitsplätze. In Wirklichkeit handelt es sich bei diesen Arbeitsplätzen überwiegend um die von Leiharbeitern und Praktikanten.[27]

Der grenzenlose Wettbewerb reicht in Pirmasens bis in die Sozialdienste. Der Staat will Altenpflege oder Jugendhilfe günstiger. Das treibt kirchliche Anbieter in Konkurrenz mit privaten in die Selbstausbeutung, erzählt Pfarrer Becker. Norddeutsche Kollegen überlegten, Tariflöhne um zehn Prozent zu senken. Becker fragt: »Warum müssen in einem reichen Land ständig Löhne herunterkonkurriert werden?«

 

Der nimmersatte Arbeitnehmer ist nur eine Kunstfigur, aber als Leitbild für die Regierungen hat ihn der Liberalismus erfolgreich etabliert. Deutsche Politiker scheuen sich, in den Arbeitsmarkt einzugreifen, um das Machtübergewicht der Arbeitgeber zu korrigieren. Obwohl Putzkräfte oder Friseure nur ein paar Euro verdienten, gehörte die Bundesrepublik jahrelang zur Minderheit der EU-Staaten ohne Mindestlohn. 2015 setzte die SPD den Mindestlohn endlich durch. Rasch erwies sich die Warnung vor dem Verlust hunderttausender Arbeitsplätze als reine Panikmache.[28] Dennoch wird der Tarif am unteren Rand dessen belassen, was in Frankreich oder Großbritannien Pflicht ist. Dabei lässt sich mit 1400 Euro brutto im Monat schwer für eine Familie sorgen oder in Großstädten eine Wohnung mieten.

Wie beim Mindestlohn zögert die Bundesregierung, den wuchernden Sektor jenseits der Vollzeitstellen-Sovos zu reglementieren. Dabei könnte Angela Merkel aus einer Position der Stärke handeln. Kanzler Gerhard Schröder stand noch mit dem Rücken an der Wand, als die Arbeitslosenzahl auf fünf Millionen anstieg. Deshalb verstärkte er den Wandel von Sovos zu Unges, zu befristeten Verträgen, Teilzeit oder Wenigverdiener-Selbständigkeit, der schon eingesetzt hatte. Mit der Reform des Arbeitsmarkts entstanden fünf Millionen Stellen, ein wesentlicher Teil des Beschäftigungsrekords.[29] Klar, dieser Rekord ist ein Erfolg. Ohne Arbeit ist jemand in der Leistungsgesellschaft wenig wert, Arbeit schafft Staatseinnahmen. Aber die Art des Beschäftigungsbooms fordert einen hohen Preis.

 

Ein befristet Beschäftigter verdient nur halb so viel wie ein Sovo. Diese Differenz ist größer als in fast allen anderen 34 OECD-Staaten. Die Last der Anpassung an den Wandel, an Globalisierung und Technologie wurde jenen aufgebürdet, für die es nicht zu einem regulären Arbeitsplatz reicht. Unges machten 2013 40 Prozent aller Stellen aus. Im Boomland Deutschland arbeiten bis zu einem Fünftel der Beschäftigten für weniger als elf Euro. Mehr Niedriglöhner gibt es in der EU nur im Baltikum, in Polen und Rumänien, in Staaten, die durch ein halbes Jahrhundert hinter dem eisernen Vorhang viel ärmer sind. In Skandinavien oder Frankreich hingegen blieb der Anteil wenig entlohnter Arbeit wegen mehr Tarifbindung und mehr Mindestlohn unter zehn Prozent.[30] Die Armutsrate in Familien mit Unge-Jobs liegt mehr als viermal so hoch wie in Familien, in denen sich wenigstens ein Sovo findet. »Immer weniger Haushalte der Unterschicht und der unteren Mittelschicht können von ihren Erwerbseinkünften leben«, konstatieren die Forscher Gerhard Bosch und Thorsten Kalina.[31] »Früher sagte man: Besser ein schlechter Job als gar keiner. Aber wenn jemand nur zwischen Arbeitslosigkeit und prekären Jobs pendelt, kann es das auch nicht sein«, kritisiert OECD-Ökonom Förster.

Das Argument für Unge