Lasst uns länger arbeiten! - Alexander Hagelüken - E-Book

Lasst uns länger arbeiten! E-Book

Alexander Hagelüken

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Beschreibung

Wie sicher ist die Rente? Lauert am Ende des Arbeitslebens die Altersarmut? Alexander Hagelüken, Leitender Wirtschaftsredakteur der "Süddeutschen Zeitung", warnt in diesem aufrüttelndem Debattenbuch für dem, was uns droht: sinkendes Rentenniveau, höhere Beiträge, steigende Gesundheitskosten, mangelnde Vorsorge. Für alle unter 50 sieht es düster aus – es sei denn, das Rentensystem wird grundlegend umgestaltet. Acht von zehn Deutschen fürchten, dass ihre Rente nicht reichen wird. Und das mit gutem Grund, denn weil wir glücklicherweise immer länger leben, wackelt das ganze System der Alterssicherung. Alexander Hagelüken meldet sich mit einem provokativen Debattenbeitrag zu Wort: Wir sterben später. Wir sind länger gesund. Wir arbeiten immer weniger körperlich. Berufliche Tätigkeit hält uns geistig fit. Und – wir dürfen den Wohlstand des Landes nicht zugunsten der Alten umverteilen. Denn die wenigen Jungen können die Last nicht allein tragen. Daher fordert er: "Lasst uns länger arbeiten!" Dann reicht es für alle.

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Alexander Hagelüken

Lasst uns länger arbeiten!

Arbeitswelt umgestalten, Rente retten – im Alter aktiv und zufrieden sein

Knaur e-books

Über dieses Buch

Wie sicher ist die Rente? Lauert am Ende des Arbeitslebens die Altersarmut? Alexander Hagelüken, Leitender Wirtschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung, warnt in diesem aufrüttelnden Debattenbuch vor dem, was uns droht: sinkendes Rentenniveau, höhere Beiträge, steigende Gesundheitskosten, mangelnde Vorsorge. Für alle unter 50 sieht es düster aus – es sei denn, das Rentensystem wird grundlegend umgestaltet.

Acht von zehn Deutschen fürchten, dass ihre Rente nicht reichen wird. Jeder Dritte bezeichnet es als seine größte Sorge, später zu verarmen. Diese Ängste haben einen guten Grund: Wir leben glücklicherweise immer länger, und auf einen Rentner kommen immer weniger Arbeitnehmer, die seine Rente finanzieren. Deshalb wackelt die Alterssicherung.

Alexander Hagelüken meldet sich mit einem provokativen Debattenbeitrag zu Wort. Wir sterben später. Wir sind länger gesund. Wir arbeiten immer weniger körperlich. Und wir dürfen den Wohlstand des Landes nicht zugunsten der Alten umverteilen. Denn die wenigen Jungen können die Last nicht allein tragen. Daher plädiert Hagelüken dringend für eine große Rentenreform, zu der auch die Forderung gehört: »Lasst uns länger arbeiten!« Dann reicht es nicht nur für alle, sondern wir profitieren auch von den Vorteilen: Längeres Arbeiten hält uns geistig fit, sichert soziale Kontakte und erlaubt es, die bislang vollgepackten Berufsjahre zwischen 30 und 50 zu entlasten.

Inhaltsübersicht

EinleitungTeil IWarum länger arbeiten?Time is on my sideImmer mehr wollen es – oder lassen sich überzeugenMit 65 raustreten, zack!Generation Frührente – wie der Ruhestand zum Besitzstand wurdeGleitzeit statt RuheschlaffWie Arbeiten Gesundheit und Kontakte erhältSelbst bestimmenDer Wahnsinn der mittleren JahreSechs Schritte an den Abgrund des Rentensystems1. Geschenke an gut versorgte Senioren2. Privilegien für Selbstständige und Beamte3. Das Riester-Desaster4. Gebremste Mütter und schlechte Jobs5. Gefahren der Altersarmut6. Zusätzliche Lasten der AlterungTeil IIUmsteuern: Länger arbeiten plusAlt gegen Jung – das politische SpielWie länger arbeiten funktioniertWas Beschäftigte selbst tun könnenEine neue ArbeitsweltAngebote an BelasteteWarum die Firmen langsam aufwachenFalsche Anreize7-Punkte-Plan für eine faire RentenreformPunkt 1: Wahlgeschenke einsammelnPunkt 2: Besserverdiener besteuernPunkt 3: Beamte solidarisierenPunkt 4: Riester reparierenPunkt 5: Kapital schaffenPunkt 6: Arbeitsmarkt reparierenPunkt 7: Altersarmut angehenNachklangDank
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Einleitung

100 Jahre werden

Wenn jemand 100 Jahre alt wird, ist das die längste Zeit ein Kuriosum gewesen. 100 Jahre! Der Bürgermeister kommt vorbei. Die Lokalzeitung schickt den Volontär, um die steife Plauderei mit dem Jubilar oder der Jubilarin der Nachwelt zu überliefern. So lesen die Bewohner des Ortes bald, dank welch einzigartigen Gesundheitsrezepts derjenige nicht totzukriegen ist. Ständig Knoblauch. Oder nie. Beim Abendessen immer ein Glas Wein – oder niemals einen Tropfen Alkohol. Jeden Tag zwei Zigaretten, oder keinesfalls eine anrühren.

Die Statistiker führten für die seltene Spezies keine eigene Kategorie. Es waren einfach zu wenige, die den Ehrenbesuch des Bürgermeisters erlebten. 2000 zur Zeit der Wiedervereinigung.

Inzwischen mutiert das Kuriosum zur Alltäglichkeit. Inzwischen sind mehr als 15000 Bundesbürger so alt, eine Kleinstadt. Inzwischen schaffen die Statistiker für sie eine eigene Kategorie. Und das wird höchste Zeit. Die Vereinten Nationen sagen in etwas mehr als einer Generation genug hundertjährige Deutsche voraus, um eine Stadt wie Ingolstadt oder Würzburg zu bevölkern. Die EU prognostiziert sogar eine Methusalem-Ballung von der Größe Saarbrückens oder Rostocks – mehr als 200000 Hundertjährige.[1]

Die Deutschen leben länger, als sich die Menschen jahrhundertelang träumen ließen. Richtig alt zu werden, noch dazu meistens gesund: Das zählt zu den Vorteilen der modernen Zeit, die die Deutschen erst sehr kurz erfreuen. Aber sie freuen sich gar nicht. Dabei könnte das Alter ein Sehnsuchtsziel sein. Genießen, dass wir so viel länger leben. Überlegen, wie man die geschenkten Dekaden verbringt. Auf Weltreise gehen, sich um die Enkel kümmern, vielleicht ein paar Jahre weiterarbeiten, weil es Spaß macht.

Stattdessen lähmt Angst die Gedanken. Vier von fünf Arbeitnehmern fürchten, dass ihre Rente nicht reichen wird. Jeder Dritte bezeichnet es als seine größte Sorge, später zu verarmen. Es hat sich den Bürgern eingebrannt, dass die Politik mehrfach die Renten kürzte. Dass die Politik das Alterssystem teilprivatisierte, wodurch alle, die nicht vorsorgen, später wenig haben werden. Und wegen des Scheiterns des Riester-Konzepts oft selbst jene wenig haben werden, die vorsorgen. Jedem Zweiten nahe des Ruhestands werden 700 Euro im Monat fehlen, um seinen gewohnten Lebensstandard zu bezahlen. Riester-Verträge ändern daran bisher kaum etwas.[2]

Die Bürger lesen regelmäßig, dass es künftig noch enger wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen sechs Arbeitnehmer auf einen Senior, dessen Rente sie finanzierten. Heute sind es drei. In anderthalb Dekaden werden es nur noch zwei sein. Daher schrumpfen die Renten im Vergleich zu den Löhnen drastisch, wenn nichts geschieht.

Warum bekämpfen wir die begründeten Ängste nicht? Und begreifen es als Chance, dass wir 20 Jahre länger leben als damals nach dem Krieg? Ältere sind heute viel gesünder und mobiler als früher. Sie können länger arbeiten – und so ihre eigene Rente und das ganze Alterssystem stabilisieren.[3]

Der Arzt Bernd Kleine-Gunk wuchs mitten im Pott auf, in Gelsenkirchen. Da litten die Bergleute unter Staublunge. Nach Tausenden Tagen unter Tage endlich in Rente, sah sie der kleine Bernd vielleicht noch drei Jahre keuchend vor ihrem Häuschen sitzen. »Das ist heute eine Minderheit«, sagt er. »Es muss kaum noch jemand körperlich hart arbeiten. Die Deutschen werden nicht nur älter, sie bleiben dabei jünger. Die meisten, die heute in Rente gehen, sind körperlich nicht aufgebraucht. Arbeiten bis 70 ist locker drin.«[4]

Es reicht zuweilen, auf die eigene Familie zu schauen. Meine Mutter gibt mit 75 Englischkurse an der Volkshochschule. Meine Tante amtierte bis 77 als Kulturattaché der lettischen Botschaft. Mein Onkel werkelte bis 70 als Manager einer Verkehrsfirma. Den Berufsalltag der meisten aber dominieren starre Vorgaben, früh aufzuhören. Firmen, Gewerkschaften und Politik versteifen sich darauf, Beschäftigte mit spätestens 65 rauszuschieben wie zur Zeit der keuchenden Bergleute mit Staublunge. Mein Vater musste als Leiter eines Finanzamts aufhören, obwohl er gerne noch lange weitergemacht hätte.

So bringen die Deutschen zwar immer mehr Hundertjährige hervor, sind aber in der Logik gefangen, sie sollten nur bis 60 oder 65 arbeiten. Wobei sie dank Akademisierung neuerdings erst Ende 20 damit anfangen. Mit dieser Logik können nur Altersbezüge herauskommen, vor denen sich die Bürger fürchten müssen.[5]

Die Deutschen sollten das Stereotyp vergessen, sie wären im Alter alle gebrechlich. Und stattdessen nutzen, dass sie ein paar Jahre länger arbeiten können. Damit das sozial wird, braucht es natürlich Hilfen für jene, die gesundheitlich nicht so lange im Beruf aushalten.

Unsozial dagegen ist die aktuelle Politik. Heute wird ein Großteil jener, die nicht so lange im Beruf aushalten, im Alter arm. Gleichzeitig machen Union und SPD das Rentensystem arm, indem sie gut versorgten Senioren Geschenke spendieren – und älteren Wählern hohe Renten auf Kosten der Jüngeren versprechen.

In diesem Buch skizziere ich eine faire Rentenreform für Jung und Alt, die auch die Defizite im gesamten System angeht (siehe die Kapitel Sechs Schritte an den Abgrund, Umsteuern und 7-Punkte-Plan). Längeres Arbeiten gehört dazu, ist aber politisch umstritten. In der ersten Hälfte des Buchs soll daher gezeigt werden, dass es in vielen Fällen den Interessen der Menschen entgegenkommt. Wer im Beruf bleibt, bleibt fitter, empfindet mehr Sinn und erhält mehr Kontakte. Ein paar Jahre in Teilzeit auszuschwingen, tut Körper und Psyche besser als das abrupte Aufhören von heute. Längeres Arbeiten kann auch Teil einer Lebensplanung sein, in der man in den Jahrzehnten zuvor die Arbeitszeit reduziert, um sich stärker um Kinder, ältere Angehörige oder berufliche Fortbildung zu kümmern – statt alles in die Jahre zwischen 30 und 50 zu stopfen und sich dabei völlig aufzureiben.

Längeres Arbeiten ist kein neoliberales Ausbeutungsprogramm, wenn die Voraussetzungen stimmen. Wenn die Politik die richtigen Bedingungen schafft, Firmen anders mit Mitarbeitern umgehen und die Berufswelt gesünder gestaltet wird, wie in der zweiten Hälfte des Buchs behandelt. Dann können die Deutschen entdecken, was sie vom längeren Arbeiten haben.

Bisher betrachten sie den Ruhestand als Besitzstand, der umso mehr wert ist, je früher er stattfindet. Doch je stärker diese Kultur der Frührente die Rente dezimiert, desto mehr verliert dieser Besitzstand an Wert. 80 Prozent der Deutschen fürchten höhere Rentenbeiträge und mehr Altersarmut. Jeder Dritte glaubt sogar, dass er später nur so viel bekommen wird wie die Sozialhilfe. Dabei zeigen Nachforschungen, dass viele ihre Lage zu pessimistisch sehen. Es wird Zeit, diese Verunsicherung zu stoppen. Durch eine faire Rentenreform, die die Bürger nicht mehr für dumm verkauft, sondern die der tatsächlich dramatischen Alterung begegnet, indem sie die positiven Seiten des längeren Lebens nutzt.[6]

Es geht heute im Alter noch so viel. Otmar Issing, der erste Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, hatte es nicht bequem. Als Neunjähriger war er nach dem Krieg wie selbstverständlich im Gasthof der Eltern gefordert. »Wir hatten 364 Tage im Jahr offen, dann die ganzen Betrunkenen. Für die Kinderarbeit damals würden Eltern heute aus dem Gefängnis nicht mehr herauskommen«, erzählt er. Später passierte es nach einer langen Woche in der Bundesbank, dass ihn der Finanzminister Freitagabend in der Sauna anrief. Und doch berichtet Issing, wie gerne er auch jetzt noch arbeitet, wie viel Anregung er von den Studenten an der Uni bekommt. Als er in seinem Arbeitszimmer vom Stuhl aufsteht, stöhnt er kurz – er hat tags zuvor zwei Stunden Tennis gespielt. Mit 82.[7]

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Teil I

Warum länger arbeiten?

Als ich vor ein paar Jahren den langjährigen Heizungsverkäufer Bodo Schneider sprach, war er voll aktiv. Obwohl er ja eigentlich ganz früh in den Ruhestand wollte. Mit 59 hatte Schneider die Anteile an seinem Großhandel für Farben verkauft, weil er sich mit seinem Kompagnon nicht mehr verstand. »Nach einer Weile merkte ich schon, der Garten reicht nicht. Ich bin dann auf eine Messe, weil ich mit meinem Kamin unzufrieden war. Da hat mir einer einen Einsatz empfohlen, und der bot mir auch gleich einen Job an, in seinem Laden. Ich steck mein ganzes Blut ins Verkaufen, entweder man macht das gerne, oder man lässt es. Mir macht das mit den Menschen Spaß«, sagte Bodo Schneider, 73.[8]

Der passionierte Verkäufer aus Celle macht sich zunutze, dass er wie viele noch fit ist. In Deutschland hat eine Revolution stattgefunden, die den Deutschen gar nicht bewusst zu sein scheint. Sie halten es für selbstverständlich, lange zu leben. Dabei ist es historisch einzigartig.

Als sich die Einzelstaaten 1871 zum Deutschen Reich vereinigten, wurden die Bewohner im Schnitt Mitte 30. Schon seit Jahrtausenden starben die Menschen selbstverständlich früh. Nun liegt das Deutsche Reich der 35-jährigen Greise nicht einmal eineinhalb Jahrhunderte zurück. Doch die Lebenserwartung hat sich in dieser geschichtlich lächerlichen Spanne vervielfacht. »Wir werden immer älter«, sagt der heute in Nürnberg praktizierende Arzt Bernd Kleine-Gunk. »Ein ganz besonderes Privileg wird nur selten gewürdigt, obwohl es unser Leben geändert hat wie nichts anderes.«

Früher war alles schlechter. Heute ist das Essen besser, Luft und Wasser sauberer und die Medizin Meilen weiter. Wer heute auf die Welt kommt, wird im Schnitt 80. Erreicht er die 65, weil ihn nicht vorzeitig ein Unfall oder Krebs ereilt, wird er sogar Mitte 80. So ein Leben schien noch den längsten Teil des 20. Jahrhunderts unvorstellbar.

Arbeitsmarkt und Rentensystem reagieren auf diese epochalen Umwälzungen nicht. Deutsche bekommen schon seit dem Ersten Weltkrieg die volle Rente, sobald sie 65 werden. Und heute, 100 Jahre später? Gehen sie im Schnitt mit 64 in den Ruhestand. Dabei hat sich die Lebenserwartung seit dem Ersten Weltkrieg fast verdoppelt.[9] Die einzig wirkliche Reaktion auf das verdoppelte Leben war, das Ruhestandsalter in den Nullerjahren ein bisschen zu erhöhen, auf 67. Weil viele diesen moderaten Schritt für Ausbeutung halten, wird darüber bis heute gestritten. Prompt ruderte die Bundesregierung zurück und schuf eine neue, teure Frührente.[10]

Dabei sind die Deutschen heute ganz andere Deutsche als – nein, nicht nur zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Sondern auch als vor wenigen Jahrzehnten. Bernd Kleine-Gunk wird dieses Jahr 60. »Mit 60«, sagt er, »waren Sie vor 30 Jahren einer, der nicht mehr viel vom Leben erwartete. Und von dem auch nicht mehr viel erwartet wurde. Das hat sich völlig verändert.« Heute machen Menschen in diesem Alter völlig neue Dinge, gehen in neue Berufe. Viele seiner Bekannten wollen länger tätig bleiben. Natürlich trifft das nicht auf alle Bürger zu. Doch feststeht: Die Vorstellung vom gebrechlichen Alten, der dem Tod entgegendämmert, passt auf keinen Fall mehr. Eine Flut von Studien, der Öffentlichkeit kaum bekannt, zeichnet ein ganz anderes Bild.

Der Deutsche Alterssurvey, eine repräsentative Befragung von Personen in der zweiten Lebenshälfte, untersucht seit Langem, wie fit sich die Menschen fühlen. Gemessen wird, wie eingeschränkt jemand im Alltag ist. Bei anstrengenden Dingen (schnell laufen, schwer heben) genau wie bei weniger anstrengenden (Einkaufstüten tragen, staubsaugen, Treppen steigen, sich bücken oder baden). Zwei Drittel der Älteren melden eine gute Gesundheit. Selbst im höheren Alter ist es immer noch die Hälfte. Und eine Erkrankung bedeutet nicht automatisch, dass jemand Abstriche machen muss. »Viele Menschen mit einer oder mehreren Erkrankungen«, notieren die Forscher, »meistern ihren Alltag ohne jegliche Einschränkungen.« Eine andere Massenstudie unter 100000 Europäern klingt noch positiver. An der Schwelle für die politisch umstrittene Rente mit 70 bezeichnen drei Viertel ihre Gesundheit als gut bis ausgezeichnet.[11]

Sieche Senioren? Die Älteren sehen klar, wie viel besser es ihnen geht als früheren Generationen. Sie fühlen sich sieben bis zehn Jahre jünger, als ihr Personalausweis festhält. Fast die Hälfte engagiert sich ehrenamtlich, mehr als die Hälfte fährt Auto, zwei Drittel surfen im Netz. Das Alter kommt später. Irgendwann.[12]

Wo die Altersfähigkeiten Quantensprünge machen, wird es höchste Zeit, sie gegen die Altersprobleme des Rentensystems einzusetzen. Wer heute geboren wird, lebt zwei Jahrzehnte länger als der Jahrgang 1950. Wie schön! Und wie anspruchsvoll für ein Rentensystem, das auf einer simplen Umlage basiert: Wer arbeitet, zahlt für die Ruheständler, um später selbst Altersbezüge zu erhalten. Diese simple Umlage steht vor dem Kollaps, wenn die Gesellschaft so rasch altert.

Schon heute beziehen Senioren doppelt so lange Rente wie früher. Schon heute hat kein europäisches Land einen so hohen Anteil von Senioren wie die Bundesrepublik. In einer Generation wird die Lebenserwartung auf 87 steigen, womöglich auf 89. Deutschlands Bevölkerungsbaum verändert sich stark. Er wird oben, wo die Älteren sitzen, noch dicker. Unten schwächelt er.[13]

Nie wieder bekamen Eltern so viele Kinder wie 1964. Waren es damals und davor zwei bis zweieinhalb, sind es seither nur eineinhalb. Und genau diese geburtenstarken Jahrgänge der Fünfziger- und Sechzigerjahre gehen nun in den Ruhestand. Deutschland altert mit ihnen. Es fehlen sehr viele junge Menschen, um die Rente zu finanzieren. Das Alterssystem erlebt ein Erdbeben. Der Bevölkerungsbaum droht im Sturm der Zeit umzufallen.[14]

Vor mehr als 30 Jahren gab der damalige Sozialminister Norbert Blüm (CDU) ein großes Versprechen: »Die Rente ist sicher!« Damals lag das Rentenniveau[15] bei 56 Prozent des Durchschnittslohns. Seither schrumpfte es auf 48 Prozent. Das heißt, der Lebensstandard der Senioren sank im Vergleich zu den Arbeitnehmern. Nach verschiedenen Prognosen fällt das Rentenniveau in den kommenden Dekaden unter 40 Prozent. Der Lebensstandard reduziert sich also im Vergleich weiter. Gleichzeitig steigen die Beiträge, die Arbeitnehmer in die Alterskasse einzahlen müssen. Der Sozialbeirat der Bundesregierung mahnt: »Der Gesetzgeber sollte kritisch prüfen, ob damit noch ein ausreichendes Rentenniveau und ein akzeptabler Beitragssatz gewährleistet sind.«[16]

Im Sommer 2018 gab die SPD erstmals ein großes neues Versprechen. Die kleinere Regierungspartei will das aktuelle Rentenniveau einfach bis 2040 garantieren. Das klingt verführerisch. Stabile Renten, wer will das nicht. Doch wer soll das bezahlen? Wenn das komplett die Arbeitnehmer finanzieren müssen, wird es für sie enorm teuer. Für Durchschnittsverdiener würden im Jahr kaum vorstellbare Zusatzbeiträge fällig: zusätzlich zwei Drittel eines Monatslohns. Im Kapitel Umsteuern, das diese Kosten genauer behandelt, schlage ich deshalb eine faire Reform vor: Sie nimmt Geschenke für Beamte und gut versorgte Rentner zurück und verteilt die Lasten zwischen Alt und Jung gerecht.[17]

Auch viele Ökonomen sprechen sich dafür aus, nicht einfach die Arbeitnehmer abzukassieren. Sondern Maßnahmen zu kombinieren, darunter ein späteres Ruhestandsalter ab 2030, wenn das Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge richtig spürbar wird. »Man kann das Ruhestandsalter belassen, dann müssten Beiträge oder Steuermittel stark steigen. Am günstigsten ist es, auf eine steigende Lebenserwartung mit längerer Arbeitszeit zu reagieren«, sagt Johannes Geyer vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). »Man sollte das schon heute diskutieren, weil es für die Planungen der Menschen wichtig ist.«

Für ein späteres Ruhestandsalter spricht, dass der demografische Wandel nicht nur die Altersbezüge verteuert – sondern auch die Kosten für Gesundheit und Pflege (siehe das Kapitel Sechs Schritte an den Abgrund des Rentensystems). »Wenn wir immer länger leben, aber das gewohnte Rentenalter beibehalten, stimmen die Proportionen nicht mehr. An einer Erhöhung des Rentenalters geht also kein vernünftiger Weg vorbei«, argumentiert Axel Börsch-Supan, Direktor des Münchner Zentrums für die Ökonomie des Alterns.[18]

Dabei braucht es Lösungen für jene, die nicht so lange in ihrem Beruf arbeiten können. Die Politiker quer durch alle Parteien, die gegen ein höheres Ruhestandsalter wettern, argumentieren mit ihnen. Aber gleichzeitig taten sie die längste Zeit kaum etwas für sie. Jeder Zweite, der wegen Erwerbsminderung aus dem Beruf ausscheidet, ist von Armut gefährdet. Wird ihnen geholfen, ist das zentrale Argument dagegen hinfällig, dass die Mehrheit der Deutschen künftig länger arbeitet (Vorschläge mache ich im Kapitel Angebote an Belastete).[19]

»Die meisten Arbeitnehmer wären rein gesundheitlich fit genug, bis 69 zu arbeiten«, konstatiert Gert Wagner, Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung. »Das deutlich Unfitte beginnt heute erst ab Mitte 70.« Doch viele Unternehmen und der Staat machen bei einer normierten Altersgrenze von 65 Schluss. Da muss aufhören, selbst wer weitermachen will.

Dabei wäre es doch mal ein Anfang, das Potenzial der Willigen zu nutzen. Als Einstieg, dass nach und nach alle länger tätig bleiben, die es körperlich und psychisch können. Fit, wie gesagt, wären die Deutschen. Und sie tun ja auch was dafür, deutlich mehr als früher. Fast jeder zweite Senior treibt Sport, selbst jeder dritte zwischen 70 und 85 mehrmals wöchentlich. »Es ist ein Irrglaube, Menschen würden ab 60 so abbauen, dass sie gar nicht so lange arbeiten können«, sagt Axel Börsch-Supan. Die Erfahrung macht sie manchmal sogar besser als vorher.[20]

Wer dem 73-jährigen Verkäufer Bodo Schneider eine Weile zuhört, will schon fast das Portemonnaie zücken. »Offene Kamine waren ja mal sehr populär, aber die haben keinen Heizwert. Vorne kommt warme Luft raus, hinten ist Ihr Rücken kalt. Wenn Sie dagegen einen Einsatz kaufen, wird Ihnen richtig warm, verstehen Sie? Ich bin fünf Jahre zur See gefahren, das hab ich wegen einer Frau aufgegeben, dann arbeitete ich bei der Lufthansa, aber das war eine trockene Materie. Seitdem verkaufe ich. Man muss den Kunden erst mal kommen lassen, damit er sich wohlfühlt, Sie dürfen erst mal gar nicht über den Kauf reden. Viele Leute sind schon mal reingefallen, die sind misstrauisch, da müssen Sie ganz behutsam ran.«

Die populäre Kultur hat längst aufgehört, die Alten als Auslaufmodelle darzustellen. In dem Film Best Exotic Marigold Hotel bringen englische Senioren in Indien ein heruntergekommenes Hotel in Schuss. In Sein letztes Rennen trainiert der Ex-Olympionike Paul (Dieter Hallervorden) wieder für einen Marathon, um dem Alltag im Altenheim zu entkommen. Von ebendort verschwindet Allan als »der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg« – und absolviert eine wilde Verfolgungsjagd durch Schweden.

Andere Länder vollziehen längst nach, dass sich länger arbeiten lässt. Dänemark, die Niederlande und Italien haben das Ruhestandsalter der Zukunft schon auf über 68 angehoben. Staaten wie Schweden und Norwegen knüpfen die Rentenzahlungen an die steigende Lebenserwartung, was gesunde Bürger bewegt, länger im Beruf zu bleiben. In der Bundesrepublik dagegen sind weniger Senioren tätig als im Schnitt der Industriestaaten. Zwischen 65 und 69 arbeiten heute bereits 22 Prozent der schwedischen Männer, aber nur 15 Prozent der Bundesbürger.[21]

»In Norwegen gehen die Menschen im Schnitt sieben Jahre später in Pension als bei uns«, berichtet Bernd Kleine-Gunk. »Und sie bleiben auch gut sieben Jahre länger gesund. Die Arbeitsbedingungen lassen sich individuell gestalten. Siemens Norwegen zum Beispiel bietet älteren Mitarbeitern an, zwei Stunden pro Woche während der Arbeitszeit Sport zu treiben. Dazu gibt es noch zwei zusätzliche Urlaubswochen. So geht betriebliche Gesundheit.«

Was dagegen nicht guttut, ist der klassische Ruhestand, jedenfalls wenn er vor allem ruhig verbracht wird. »Für Mediziner beschreibt Ruhestand das genaue Gegenteil von dem, was sie uns für das Alter empfehlen: Aktivität, körperlich wie mental«, erkennt der frühere Bundespräsident Joachim Gauck. »Wer möglichst gesund altern will, der soll beweglich bleiben, Routinen abstreifen, Neues wagen.«[22]

Die Deutschen sollten die starren Grenzen aufweichen. Nur wer körperlich oder psychisch am Ende ist, muss früh aufhören. Die anderen können länger arbeiten. Das hilft nicht nur dem Rentensystem. Das ermöglicht auch jenen Gruppen, ihre Rente aufzubessern, denen häufig Altersarmut droht. Etwa Arbeitnehmer mit Phasen der Arbeitslosigkeit, Migranten – und ganz häufig Frauen generell. Ein überkommenes Familienbild führt dazu, dass sie nach Kinderpausen und unterbezahlter Teilzeit in B-Jobs im Alter wenig Geld haben. Im Schnitt halb so viel wie Männer.[23]

Es ist Zeit für eine Umkehr. Lasst uns länger arbeiten! Weil es viele Vorteile bringt. Und weil die alten Stereotype über die Alten nicht mehr passen, wie Joachim Gauck als damals 75-jähriger, sehr aktiver Bundespräsident erkannte: »Bewusst oder unbewusst setzen viele das Älterwerden nur mit Verfall und Verlust gleich und übertragen diese Vorstellung dann automatisch auf die Gesellschaft. Gesundheitlich betrachtet ist ein siebzigjähriger Mensch heute – im Vergleich zur Vorgängergeneration – erst 60 Jahre alt. Die geistige Leistungsfähigkeit älterer Menschen ist von Generation zu Generation deutlich gestiegen. Sind wir als Gesellschaft bereit, für die große Bandbreite an Möglichkeiten im Alter eine entsprechend große Bandbreite an Gestaltungsoptionen vorzuhalten?«

Bodo Schneider macht die Arbeit auch weit über 70 Spaß. »Wenn die Leute an unseren Stand auf der Messe kommen, sage ich zu meinem Boss: Wart’s ab, der ist ein Lehrer. Oder: Das ist ein Grüner. Und dann lachen wir. Ich geh nur noch auf die Messen, im Laden wurde es mir zu langweilig. Vergangenes Jahr war ich auf über 30 Messen, von Flensburg bis Frankfurt. Wenn ich sechs, sieben Stunden im Auto sitze, dann wird’s mir manchmal ein bisschen viel. Dieses Jahr will ich ein wenig kürzertreten.«

Dann schiebt er schnell nach: »Vielleicht.«

Time is on my side

2018 ging Mick Jagger, 75, in Deutschland wieder auf Tournee. Er tanzte, sprang und hechtete über die Bühne wie einst im Summer of Love. Neben ihm spielte Keith Richards auf. Der sah, nach jahrelangem Heroinkonsum, schon mit 40 alt aus. Im Dezember wurde er ebenfalls 75. Keith Richards ist außer Kakerlaken die einzige Lebensform, die einen Atomkrieg überleben würde, hat Bill Clinton einmal gesagt. Entsprechend verständnislos reagiert der Gitarrist auf Fragen, ob eine Welttournee die Rolling Stones in diesem Alter nicht zu sehr anstrengt: »Die Jungs haben noch genug Benzin im Tank!« Die Stones, schreibt Kurt Kister in der Süddeutschen Zeitung, sind »als Götter gealtert«.

Sie sind nicht die Einzigen. Vor den Stones absolvierte Bob Dylan, 77, in Deutschland Auftritte. Bei denen registrierte mancher Kritiker einen ganz neuen Dylan. Wahrscheinlich kein Gott, aber ebenfalls auf Tournee: Alice Cooper, 71. Der Schockrocker fuchtelt in einem Alter auf der Bühne mit Klapperschlangen herum, in dem andere nur noch an den Tanztee denken. »Ich habe schon immer gesagt«, kündet der König des Kunstbluts, »wenn wir auf Tour gehen und keiner taucht auf, dann gehe ich in Rente. Das ist bisher noch nicht passiert. Ich habe mich noch nie besser gefühlt, deswegen sehe ich keinen Grund, überhaupt in Rente zu gehen. Die Leute sagen: Du könntest jeden Tag Golf spielen. Ich sage: Na ja, ich spiele eh schon jeden Tag Golf!«

Mit 65 legt kaum ein Schriftsteller den Stift aus der Hand und kaum ein Maler den Pinsel. Das ist seit Jahrhunderten so. Goethe schrieb mit 80 den Faust fertig, Lew Tolstoi begann mit 81 Drei Tage auf dem Lande. Claude Monet malte noch mit 80. Picasso noch mit 90. Danach zeichnete er. Sein spätestes Werk »nimmt unter den zahlreichen Stilperioden eine besondere Stellung ein«, urteilt ein Kunstkritiker.

Künstler haben das späte Arbeiten nicht exklusiv. Der Papst zählt 82. »Außer den Beschwerden, die sich halt in meinem Alter so bemerkbar machen«, sagt er, »bin ich in der Hand Gottes und kann einen mehr oder weniger guten Arbeitsrhythmus aufrechterhalten.«. Als ich vor einigen Jahren den Make-up-Unternehmer Arnold Langer interviewte, war der 93. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, seit 30 Jahren querschnittsgelähmt im Rollstuhl, zählt 76. Schäuble gehört zur großen Gruppe von Politikern, die im klassischen Rentenalter aktiv bleiben, obwohl genau das viele Politiker für die übrige Bevölkerung kategorisch ablehnen.

Jupp Heynckes führte den FC Bayern München 2018 mit 73 souverän zur Meisterschaft. Nach einer Krise, die, es muss gesagt werden, ein 15 Jahre jüngerer Vorgänger verursacht hatte. Die Bayern-Fans hofften bis zuletzt, Heynckes würde in der laufenden Bundesliga-Saison weitermachen. Seine Absage: ein Drama.

Es herrscht eine bemerkenswerte Kluft zwischen diesen Berufstätigen – und der großen Mehrheit. Für Künstler, Päpste, Unternehmer, Politiker oder Fußballtrainer (kurz KüPoFu) gibt es keine Regelaltersgrenze. Bei normalen Beschäftigten scheint es ein Drama zu sein, wenn sie länger arbeiten sollen. Bei KüPoFu gilt es als Drama, wenn sie aufhören. Gottlob ersparen sie uns das meist. Der US-amerikanische Schauspieler Robert Redford erklärte gerade den Rücktritt vom Rücktritt. Auch andere Heroen scheinen nicht wirklich an Rücktritt zu denken. »Es kann sein, dass dies nun die letzte Tournee der Stones ist«, schreibt Kurt Kister zur neuen Tournee. »Das hat man sich bei der vorletzten vor drei Jahren allerdings auch gedacht.«

Die bemerkenswerte Kluft zwischen KüPoFu und normalen Beschäftigten könnte bald kleiner werden. Denn die Arbeit der Normalos verändert sich gerade fundamental: Sie ist im Alter leichter zu bewältigen als früher. Die Plackerei auf dem Feld, die jahrhundertelang den Alltag bestimmte, ist Vergangenheit.

»Tatsächlich verschwindet durch die technische Rationalisierung die körperlich schwere Arbeit immer mehr«, erzählt der Bauer Jürgen Görg. »Als ich anfing, hatte ich zehn Mitarbeiter. Inzwischen schafft man unseren Betrieb mit einem Mann. Dessen Arbeit ist viel anspruchsvoller als früher, aber körperlich nicht mehr so zehrend.« Das erleichtert es, auf dem Bauernhof und anderswo, länger tätig zu sein. Selbst in Berufen, die als besonders anstrengend gelten. »Bergleute sind einst mit 55 Jahren in den Ruhestand geschickt worden. Als im Harz der Bergbau auslief, fand sich kein Nachwuchs mehr. Da hat man die 55-Jährigen überredet, noch zehn Jahre länger zu machen. Das ging problemlos.«[24]

Auch die Fabrik besteht heute nicht mehr nur aus Maloche. Das Dreckige und Schwere, bei dem man sich Grauhaarige schwer vorstellen kann, erledigen zunehmend Maschinen. Ohnehin verliert die Fabrik genauso an Bedeutung wie der Bauernhof. Während des Wirtschaftswunders werkelten die meisten Arbeitnehmer in der Industrie. Heute ist es nur jeder vierte. Drei von vier, 30 Millionen Deutsche, sind bei Dienstleistern angestellt.

Nun strengen auch manche Serviceberufe an, was Krankenschwestern und Paketboten bestätigen werden. Doch sonst löst die Dienstleistungsgesellschaft in einem zentralen Punkt ein, was Vordenker wie der französische Ökonom Jean Fourastié Mitte des 20. Jahrhunderts versprachen: Die Plackerei wird weniger. Arbeiten wird leichter. Jene, die schon heute über 65 hinaus tätig sind, sind dies überproportional in Dienstleistungen. Normale Beschäftigte können also länger dabeibleiben – wie Künstler seit Jahrhunderten.[25]

Natürlich wird zwischen beiden gemeinhin ein großer Unterschied gesehen: Künstler identifizierten sich mit ihrem Beruf, andere Arbeitnehmer nicht. Aber das stimmt nur teilweise. Weil der Beruf keine Plackerei mehr ist wie früher, mögen ihn die meisten normalen Arbeitnehmer ganz gerne. Der Anteil der Job-Zufriedenen fällt mit über 80 Prozent so hoch aus wie die manipulierten Wahlergebnisse in Diktatorenstaaten. Der Verkäufer Bodo Schneider identifiziert sich mit dem Verkaufen so, dass er weiter verkauft. Die Bremer Soziologin Simone Scherger, die sich seit Langem intensiv mit dem Arbeiten im Alter beschäftigt, fand in ihren Forschungen sogar Identifikation mit Berufen, bei denen sie es nicht erwartet hatte. Etwa bei einer Putzfrau, die ihr sagte: »Sauber zu machen, das ist mein Leben.«[26]

Nun dürfte Putzen auch künftig nur etwas für eine Minderheit sein. Aber die digitale Dienstleistungsära verspricht viele Jobs, die einer gut und gerne im Alter ausüben kann. Maschinen könnten 2025 die Hälfte aller Arbeitsstunden auf der Welt übernehmen. Ein epochaler Einschnitt: Aktuell sind es erst 30 Prozent. Die Maschinen werden oft die Plackerei übernehmen. Aber auch langweilige Routine heutiger Buchhalter, Sekretärinnen oder Sachbearbeiter.[27]

Der Mensch wird künftig stärker für anderes gebraucht: für seine Kreativität zum Beispiel. Für Urteilsfähigkeit. Für Einfühlsamkeit und psychologisches Geschick gegenüber Mitmenschen. All das werden Maschinen noch lange nicht können, oder nie. Menschen sollten sich schon deshalb auf solche Fertigkeiten und Tätigkeiten konzentrieren, um in der Maschinen-Ära weiter Arbeit zu haben. Das Kreative und Soziale sind aber auch viel interessanter als Plackerei und Büroroutine. Die Menschen werden es lieber machen – und können es im Alter länger machen.

Was die meisten Bürger nicht wissen: Die Deutschen qualifizieren sich längst in die Richtung, die spannendere, anspruchsvollere Tätigkeiten verheißt. Menschen mit niedriger Bildung, höchstens Hauptschulabschluss, stellten zur Jahrtausendwende noch die Mehrheit. Seither schrumpfte ihr Anteil rapide. Heute verfügen 30 Prozent der Bürger über Abitur oder ein Uni-Diplom, fast doppelt so viele wie damals. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen.[28]

Auf dem Weg zu einer spannenderen Berufswelt können die Arbeitnehmer von den Künstlern lernen, wie sich lange arbeiten lässt. »Wenn ich arbeite«, bekennt der Schriftsteller Martin Walser, 91, »spielt das Alter keine Rolle.« Vielleicht kein Wunder bei einem, der sich nicht nur an Stift und Tastatur müht. Pünktlich zum Erscheinen seines Romans Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte schildert Walser sein Fitnessprogramm so: »Mein Morgen beginnt mit 50 Kniebeugen, das erste Sportprogramm dauert 40 Minuten. Mittags gehe ich eine Stunde im Wald spazieren. Und abends mache ich 40 Minuten selbst ausgedachte Übungen. Ich will wieder wie immer täglich im Bodensee schwimmen, das ist mein großes Ziel. Letztes Jahr spürte ich, dass meine Beine die Kraulbewegungen nicht mehr so mitmachen. Da blieb nur Rückenschwimmen.«

Ähnlich nonchalant reagierte Mick Jagger, als ein Interviewer schon vor zehn Jahren »ungewöhnlich« fand, dass ein Mann in seinem Alter wild auf der Bühne herumspringt. »Finde ich nicht«, sagte der Ober-Stone. »Man muss nur anfangen, Fitness zu machen, wenn man über 30 ist. Und ein wenig Laufen kann auch nicht schaden. Aber alles mit Maß und Ziel.« Wie Walser tut Jagger was für seine Fitness, mit Maß und Ziel.[29]

Tizian 88, Michelangelo 89, Verdi 88, Knut Hamsun 93, George Bernard Shaw 94: Der Schriftsteller (und Arzt) Gottfried Benn zählte bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf, wie erstaunlich alt viele berühmte Künstler wurden. Und das selbst in Jahrhunderten, in denen der Großteil der Bevölkerung keine 40 erreichte. Ihr Schaffensdrang bis ins Methusalemische legt nahe: Sie arbeiten nicht, obwohl sie so alt sind. Sie werden so alt, weil sie arbeiten.

»Wir brauchen Anregung, Stressreize, das hält uns lebendig und kreativ«, erklärt Bernd Kleine-Gunk. Von Altmeister Goethe lässt sich lernen: Dazu gehören Misserfolge. Goethe wurde sowohl als Jüngling wie als Greis von Angebeteten zurückgewiesen – und wuchs am Schmerz.

Ein Leben lang seine Neugier auf die Welt und ihre Bewohner kultivieren, seinem Körper Gutes tun, damit der Geist gerne in ihm wohnt, kreativ bleiben und Freude daran haben: Das sind Geheimnisse, um nicht gebrechlich früh zu sterben.

Die Energie für Tourneen mit 38 Musikern nahm er aus der Freude. »Das macht mir Spaß«, betonte 2010 der damals 81-jährige Bandleader James Last: »Ich sage ja auch nicht, dass ich arbeite, ich sage: Ich mache Musik.« – »It's only rock 'n' roll but I like it«, singen die Stones. Es ist manchmal schwer zu entscheiden, was man erstaunlicher finden soll: die Langlebigkeit in einem Musikergewerbe, das von Reisen, Schlafentzug, Drogen und Alkohol geprägt ist (auch Goethe trank täglich zwei Liter Wein) – oder die ungebrochene Kreativität.[30]

Selbst körperlich drastisch eingeschränkt, geht noch viel. Johann Sebastian Bach war in seinen letzten Lebensjahren schwer krank, erzählt der Altersforscher Andreas Kruse. Diabetes mellitus. Starke Nervenschmerzen. Erblindung. Schlaganfall. Drei Jahre vor seinem Tod 1750 lud ihn Friedrich der Große nach Potsdam. Der Fürst wollte sich mit dem Fugenfürst messen. Bitte sehr, hier ein Stück, mache er eine Fugenimprovisation daraus. Bach konnte es, dreistimmig. Friedrich verlangte: sechsstimmig. Das konnte Bach nicht mehr spielen. Aber schreiben. Später baute er noch die h-Moll-Messe zu einer großen Messe aus. »Daraus spricht eine ungeheure Kraft. Dabei musste er teilweise von Schülern die Noten aufschreiben lassen, weil er es selbst nicht mehr konnte.«[31]