Die Gedanken sind frei - Eine unerhörte Liebe - Julia Kröhn - E-Book
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Die Gedanken sind frei - Eine unerhörte Liebe E-Book

Julia Kröhn

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Beschreibung

Eine Liebeserklärung an das Lesen und die Liebe! Die neue Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin und Historikerin Julia Kröhn.

Frankfurt, 1945: Ella Reichenbach hat zwar die Bombennächte überlebt, aber von der Verlagsbuchhandlung ihrer Eltern ist kaum etwas geblieben. Die Regale sind verheizt, die Schaufenster ohne Glas, die Bücher fort. Doch dann entdeckt sie den geheimen Papiervorrat ihrer verstorbenen Mutter, und plötzlich wendet sich das Blatt. Ella kann fortan Hunger und Not ein Ende setzen, indem sie selbst Bücher veröffentlicht. Doch die junge Verlegerin will nicht nur neue Bücher unter die Menschen bringen – sie will die Gedanken in den Köpfen der Menschen befreien ...


»Die Buchhändlerinnen von Frankfurt« von Julia Kröhn:
1. Die Gedanken sind frei
2. Die Welt gehört uns

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Seitenzahl: 517

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Buch

Frankfurt, 1945: Ella Reichenbach hat zwar die Bombennächte überlebt, aber von der Buchhandlung ihrer Eltern ist kaum etwas geblieben. Die Regale sind verheizt, die Schaufenster ohne Glas, die Bücher fort. Doch dann entdeckt sie den geheimen Papiervorrat ihrer verstorbenen Mutter, und plötzlich wendet sich das Blatt. Ella kann fortan Hunger und Not ein Ende setzen, indem sie selbst Bücher veröffentlicht. Doch die junge Verlegerin will nicht nur neue Bücher unter die Menschen bringen – sie will die Gedanken in den Köpfen der Menschen befreien

Autorin

Die große Leidenschaft von Julia Kröhn ist nicht nur das Erzählen von Geschichten, sondern auch die Beschäftigung mit Geschichte: Die studierte Historikerin veröffentlichte – teils unter Pseudonym – bereits zahlreiche Romane, die sich weltweit über eine Million mal verkauft haben. Ihr größter Erfolg hierzulande war »Das Modehaus«, ein Top-20-SPIEGEL-Bestseller; nun widmet sich Julia Kröhn ihrem Herzensthema: den Büchern. In ihrer Dilogie »Die Buchhandlung auf der Zeil« erzählt sie die Geschichte einer Buchhandlung aus der Perspektive zweier Schwestern, von der Nachkriegszeit bis zur Studentenrevolte.

Weitere Informationen unter: www. juliakroehn.at

Von Julia Kröhn bei Blanvalet bereits erschienen:

Das ModehausRiviera – Der Traum vom MeerRiviera – Der Weg in die FreiheitDie Alster-Schule – Zeit des WandelsDie Alster-Schule – Jahre des Widerstands

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

JULIA KRÖHN

DieGedankensindfrei

EineunerhörteLiebe

Roman

Die im Buch verwendeten Zitate folgen diesen Ausgaben:

Friedrich Schiller, Don Karlos, Infant von Spanien, Ein dramatisches Gedicht, Herausgegeben von Martin C. Wald, Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Ditzingen 2019

Reinhold Schneider, Die Heimkehr des deutschen Geistes: Das Bild Christi in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts, F. H.Kerle Verlag, Heidelberg, 2. Auflage, 1946

Astrid Lindgren, Pippi Langstrumpf: Alle Abenteuer in einem Band. Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 2020, Seite 4Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

3. Auflage

Copyright © 2022 by Julia Kröhn

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

© 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Everett Collection/Shutterstock.com

BL · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28128-1V004

www.blanvalet.de

Für alle, die Bücher so sehr lieben, dass sie es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, diese herzustellen und unter die Leute zu bringen.

»Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben, über die Sterne.«

Jean Paul

1945

1. KAPITEL

»Meine liebe Klara hielt sich gerne unter Menschen auf und war immer freundlich zu ihnen. Sie ließ sich nie aus der Ruhe bringen, reagierte stets geduldig, schenkte nicht nur unserer Kundschaft ihr feines Lächeln, sondern auch dem Postboten und den Lastenträgern. Doch insgeheim war sie am glücklichsten, wenn sie sich zurückziehen und es sich mit einem Buch gemütlich machen konnte. Natürlich gehörte dazu auch eine große Tasse mit heißer Schokolade, die unter einer cremigen Sahnewolke dampfte.«

Ella entging nicht, dass die Stimme ihres Vaters zitterte. Als er vor das offene Grab am Höchster Friedhof getreten war, hatte er kurz gezögert, die Verstorbene zu würdigen. Doch sobald er seine Rede begonnen hatte, wollte er nicht wieder aufhören. »Klaras Liebe zu Büchern war beständig und tief. Bücher waren ihr kostbar. Wenn sie nach einem griff, das gerade frisch von der Buchbinderei kam, streichelte sie zärtlich den Leineneinband, und wenn sie es aufschlug, meinte man, dass sie nicht bloß mit wachem Geist die Zeilen las, nein, mit allen Sinnen schien sie das Buch in dieser Welt willkommen zu heißen. Sie labte sich am süßlichen Duft der Seiten und jenem leisen Knistern beim Umblättern, das in ihren Ohren wie ein himmlischer Chor klang.« Julius Reichenbach hielt inne, ahnte wohl selbst, dass der Grat zwischen Würdigung und Übertreibung schmal war. Etwas weniger schwärmerisch, jedoch entschlossen fuhr er fort: »Ich mag vor der Welt als Besitzer unserer Verlagsbuchhandlung gelten, aber die Herrin über unser Bücherreich war stets Klara. Unvergessen bleibt, wie sie, in edlen Brokat gekleidet, unsere Autoren empfing, um sie sodann ins rote Eckzimmer unseres Hauses zu führen, zur Einleitung ein Stück auf dem Klavier zu spielen und schließlich ein anregendes Gespräch über Literatur und Philosophie anzustoßen. Sie beteiligte sich daran stets mit Eifer, bewies immer Feingefühl und Bildung, spielte sich jedoch nie in den Vordergrund.«

Seine Stimme klang nun gepresst. Die Worte mussten ihm schwerfallen, ja selbst das Atemholen war inzwischen eine Anstrengung.

Ella hatte kein Mitleid mit ihm. Warum machst du dich wichtig, obwohl es dir nicht zusteht, am offenen Grab zu stehen und auch nur ein Wort über Mutter zu verlieren?

Der Drang, ihn von dort zu verjagen, wurde beinahe übermächtig. Nur weil sie Luise, ihre zweijährige Schwester, auf dem Arm hatte, unterdrückte sie ihn. Zum Glück hielt die Kleine endlich still und wollte nicht länger dem Eichhörnchen, das dort drüben am Gebüsch eine Eichel verspeiste, hinterherjagen. Stattdessen beobachtete sie den Vater und die anderen Trauergäste aus großen, dunklen Augen. Ihr erschien das alles wohl wie ein interessantes Spiel, Ellas Trauer um die Mutter teilte sie nicht. Als die beiden Reichenbach-Mädchen damals nach einer der ersten schlimmen Bombennächte die Frankfurter Innenstadt verlassen hatten, um für eine Weile bei den Großeltern in Höchst zu leben, war Luise noch kein Jahr alt gewesen. Die Erinnerung an die Mutter, die sie nur unregelmäßig besucht hatte, war rasch verblasst, und als sie im Sommer nach Kriegsende zurück zu den Eltern kamen, war Klara Reichenbach schon so geschwächt gewesen, dass sie Luise kaum mehr über den Kopf streicheln konnte.

»Ich will außerdem betonen, dass es unsere Verlagsbuchhandlung ohne Klara nie gegeben hätte«, fuhr der Vater unterdessen fort. »Gewiss, als wir heirateten, war aus dem Großhandelsgeschäft für Indigo- und Farbwaren, das mein Urgroßvater einst in Bockenheim gegründet hat, längst ein Buchgeschäft hervorgegangen. Doch nur weil sie selbiges mit so viel Umsicht, Geschick und Energie leitete und formte, konnte der Reichenbachverlag mit angeschlossener Sortimentsbuchhandlung gegen die Konkurrenz bestehen. Nie fehlte es ihr an weiser Voraussicht, welches Druckwerk höchsten Gewinn oder literarischen Ruhm verspräche, nie an nüchterner Berechnung, die in unserem Gewerbe Hand in Hand mit der Leidenschaft geht.«

Ella presste die Lippen zusammen. Wie war es möglich, dass er an seinen Worten nicht erstickte? Dass alle anderen nun ergriffen nickten?

Vor dem Krieg hätten sich wohl an die hundert Trauergäste eingefunden, um Klara Reichenbach das letzte Geleit zu geben. Ein halbes Jahr nach Kriegsende waren es kaum mehr als ein Dutzend. Früher hätte man elegante Trauerkleidung getragen, aber diese war nun Mangelware. Herr Kaffenberger, der einst für den Vertrieb des Reichenbachverlags zuständig gewesen war, trug keinen schwarzen Frack, sondern einen Militärmantel, von dem die Epauletten entfernt worden waren. Zeit ihres Lebens hatte er eine Schwäche für Klara Reichenbach gehabt, wenngleich er diese nie deutlicher bewiesen hatte als mit einem formvollendeten Handkuss. Seine steife Haltung und die übertriebenen Manieren ließen an einen Bürger des Kaiserreichs denken, und so fehl am Platz er bereits in Hitlers Deutschland gewirkt hatte – in der Trümmerlandschaft, die davon übrig geblieben war, machte er erst recht einen verlorenen Eindruck.

Aus der Kaiserzeit schien auch das Kleid zu stammen, das eine alte Dame trug, während das Gebilde, das eine andere um ihren Kopf gebunden hatte – es war Hertha Brinkmann, eine ihrer treuesten Kundinnen –, wohl aus Teilen eines Regenschirms gefertigt worden war.

Ella selbst hatte nichts Schwarzes zum Anziehen gefunden und trug darum einen grauen Kittel, dessen trostloser Anblick von ihrem verstrubbelten Haar verstärkt wurde. Erst gestern Abend hatte sie sich ihre zwei dicken dunkelblonden Zöpfe abgeschnitten. Ihre Mutter hatte ihr Haar geliebt, aber da sie nun nie wieder darüber streichen würde, weckte es nur schmerzhafte Erinnerungen. Störend war allerdings, dass sich die nun knapp schulterlangen Haare lockten und ihr immer wieder ins Gesicht fielen, sodass sie sie ständig aufs Neue hinter die Ohren schieben musste.

Ellas Großeltern hatten auch keine schwarze Kleidung, ihre braunen Schuhe hatten sie heute Morgen mit dem Ruß vom Küchenherd geschwärzt. Sie waren die Einzigen, die während der Trauerrede ihres Schwiegersohns nicht ergriffen nickten, wenngleich Ella nicht sicher war, ob die Lügen des Vaters auch ihnen zuwider waren. Schon zu deren Lebzeiten waren sie von der Liebe ihrer Tochter zu Büchern befremdet gewesen.

Gewiss, genau genommen log der Vater nicht. Er ließ nur das Entscheidende weg, als würde er auch Klaras Leben umfärben wollen, nicht mit Ruß, jedoch mit den hellsten, freundlichsten Farben. Als er von Klaras Gesprächen mit den Autoren berichtete, die entweder im roten Eckzimmer oder gar im Boudoir der Verlegergattin stattgefunden hatten, hätte er hinzufügen müssen, dass es beide Räume nicht mehr gab, waren sie doch wie viele Frankfurter ausgebombt worden.

Ebenso verschwieg Julius Reichenbach, dass Klaras Weg, so kraftgeladen und entschlossen sie ihn auch beschritten hatte, von unzähligen Niederlagen und Rückschlägen gepflastert gewesen war. Hochwertige Bücher, schöngeistige Literatur, auch kunstgeschichtliche Tafelwerke hatte sie verlegen wollen, aber nach der Wirtschaftskrise im Jahr 1929 war dieser Traum ausgeträumt. Anstelle opulent ausgestatteter Kataloge gab es nur mehr einfache Verzeichnisse, und um besagte schöngeistige Literatur zu finanzieren, mussten sie mit anderen Titeln Kundschaft anlocken.

Fort mit Grippefurcht und Bazillenangst.

Warum fiel ihr ausgerechnet dieses Buch ein?

Lange Jahre konnte sich der Reichenbachverlag jedenfalls nur über Wasser halten, weil gesundheitliche Themen in Mode kamen und sie auf populärwissenschaftliche und medizinische Fachbücher setzten – über Tropen- und Seuchenmedizin, Dermatologie und Geschlechtskrankheiten, die zunehmend gründlich erforscht wurden.

»Wir müssen Studenten als Leserschaft gewinnen«, hatte Klara zu ihrem Vater gesagt, als dieser sich angesichts des Themas sträubte. Und Ella, die damals erst zwölf Jahre alt gewesen war, hatte sie kurzerhand erklärt, was Geschlechtskrankheiten waren. Worte waren für sie ein Schatz, den man verschwendete, nicht hortete und schon gar nicht versteckte. Und deswegen verkaufte sie die Bücher über Geschlechtskrankheiten mit gleicher Selbstverständlichkeit wie jene seichten Romane, die ihre treue Kundin Hertha Brinkmann so gerne las.

»Und wie sie allen in den vielen Nächten im Luftschutzkeller stets Beistand leistete!«, fuhr der Vater fort und versetzte damit selbst Hildegard in Rührung. Die treue Buchhändlerin arbeitete seit Jahrzehnten für die Reichenbachs und hatte sich Tränen selbst dann verkniffen, als ihr einziger Sohn als vermisst gemeldet wurde. Nun gut, auch jetzt liefen ihr keine Tränen über die Wangen, aber die Mittfünfzigerin nickte energisch. »Stets hatten sich jede Menge Bücher in ihrem Luftschutzgepäck befunden. Ob Dr. Karl Ploetz’ Auszug aus der Geschichte, die einbändige Dünndruckausgabe von Hölderlins Werken, darin enthalten Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch, oder Boethius’ Der Trost der Philosophie. Wenn die Angst übermächtig wurde, die Luft zu brennen schien, wenn die Wände bebten und die Bombeneinschläge immer näher kamen – sie hörte nicht auf, mit fester Stimme vorzulesen. Und nicht nur im Bunker trotzte sie der Angst. In manchen Nächten weigerte sie sich, sich zu verkriechen, schlief lieber auf einer dünnen Matratze in den Geschäftsräumen, um einen Brand notfalls rechtzeitig löschen zu können. Als einmal die Fensterscheiben platzten, ging ein Scherbenregen auf sie nieder, doch sie verband stoisch ihre Wunden und fegte für den nächsten Tag Büro und Verkaufsraum.«

Jemand schluchzte laut, aber Ella brachte keinen Ton hervor.

Auch der Vater schwieg endlich. Als sie sah, wie ihn ein Zittern überlief, er gar bedrohlich wankte und das nur einen Schritt vom offenen Grab entfernt, hätte sie ihm am liebsten einen Stoß versetzt.

Du solltest dort unten liegen, nicht Mutter. Denn bei all den Dingen, die du gesagt hast, hast du das Wichtigste vergessen: Dass du sie letztlich umgebracht hast. Dass ihr Blut an deinen Händen klebt. Dass …

»Gib sie mir.«

Ella merkte verspätet, dass Luise sich wieder unruhig in ihren Armen wand und ein Greinen ausstieß. Vielleicht hatte sie noch mehr Eichhörnchen erspäht oder spürte die finsteren Gefühle, die in der großen Schwester tobten. Kurz umklammerte Ella den weichen Körper der Kleinen noch fester, versenkte ihr Gesicht in ihren hellen Locken. Aber die Kleine strampelte immer heftiger, und irgendwann stieß ihre Großmutter ein beschwörendes »Elsbeth!« aus.

Neben ihrer Mutter war Gertrude Hagedorn die Einzige, die sie Elsbeth nannte, und kurz war ihr das ein Trost. Dann schnitt die Trauer umso tiefer. Die Großmutter war schon lange vor dem Krieg eine verhärmte Frau gewesen, jetzt war sie gänzlich verbittert. Dass Luise trotzdem die Arme ausbreitete und zu ihr strebte, verriet nur allzu deutlich, wie unwohl sie sich auf dem Arm der verkrampften großen Schwester fühlte.

Widerwillig reichte Ella die Kleine weiter, und augenblicklich fühlte sie sich leer und klamm.

Der Vater sagte weiterhin nichts, stand nur schlotternd am Grab, doch als sich ihre Blicke trafen und er unmerklich zusammenzuckte, wusste sie, dass er ihre Gedanken erahnte. Mörder, du Mörder.

Was zählte es noch, dass er sich in den letzten Wochen von Klaras Leben jeden Bissen vom Mund abgespart hatte? Klara wollte … konnte nichts mehr essen. Zuletzt hatte sie sogar Wasser erbrochen.

Mit tränenüberströmtem Gesicht hatte der Vater vor ihrer Pritsche gekniet, hatte sich noch Stunden nach ihrem letzten Atemzug an ihren schmächtigen Körper geklammert. Der Anblick hätte in Ella wohl Mitleid beschworen, wäre da nicht diese unbändige Wut gewesen.

Immerhin war diese Wut eine brauchbare Krücke, auf die man sich stützen konnte. Keinerlei Halt boten dagegen Ohnmacht, Hilflosigkeit und Trauer, die jetzt übermächtig wurden. Ella wandte sich ab, machte ein paar Schritte, jene stolpernden, wackeligen unsicheren, wie sie im Moment alle Frankfurter machten, weil sie nicht nur regelmäßig Trümmer schleppten, sondern an der Last der bedingungslosen Kapitulation zu tragen hatten. Zu ihrem Erstaunen gaben ihre Beine nicht nach, und bald hatte sie eine Grabreihe mit verwitterten Steinen erreicht. Schwer stützte sie sich auf einen Grabstein, schaffte es, einige Atemzüge lang dem Kummer zu trotzen, der Empörung.

Stark sein, beschwor sie sich, sie musste stark sein … für Luise, die ihre Mutter immer Wunderkind genannt hatte, weil sie knapp zwanzig Jahre nach der Geburt der ersten Tochter die Hoffnung auf weiteren Nachwuchs längst begraben hatte.

Stark sein … stark sein … echote es in ihr.

Sie blickte auf das vertrocknete Moos auf dem Stein, dann auf einen kleinen Vogel, der zwischen den Gräbern hüpfte, sein Federkleid war von einem durchdringenden Gelb, das an diesem von den Farben des Verfalls bestimmten Ort fehl am Platze wirkte.

Sein Zwitschern klang fröhlich, unbekümmert. Machst du es wie Vater und lügst uns vor, dass das Leben schön und leicht ist? Oder ist die größte Wahrheit von allen, dass das Leben trotz aller Dunkelheit und Bitternis weitergeht?

Das Vögelchen hielt sein Köpfchen schief, sie auch.

Und dann kam zum Zwitschern eine Stimme. »Das ist ein Parus major.«

Ella fuhr herum. Kurz konnte sie nicht einschätzen, woher die Stimme gekommen war, denn da waren nur ein paar Birken, deren silbrige Blätter im Oktoberwind rauschten. Doch dann flatterte das Vögelchen zu einem alten Ahornbaum mit weitaus dickerem Stamm, und hinter dem trat ein junger Mann hervor. Er zog die Schultern hoch, und der Eindruck, dass sie einen scheuen Menschen vor sich hatte, verstärkte sich angesichts seiner Kleidung. Hemd und Hosen schienen einem vierzehnjährigen Jungen zu gehören, diesen Mann schätzte sie auf mindestens zwanzig. Hastig löste sie ihren Blick von den unzähligen Flicken auf seiner jämmerlichen Jacke, wollte sie ihn doch nicht bloßstellen, und musterte stattdessen sein Gesicht, hohlwangig und gezeichnet von den Jahren des Darbens. Nur seine Haare waren kräftig, von einem hellen Braun, mit leicht rötlichem Schimmer und beinahe schulterlang. Wieder fuhr sie unwillkürlich an ihre eigenen Haare und zupfte daran, ehe sie sie hinters Ohr schob. Ob sie sich je an die neue Länge gewöhnen würde? Hatte wirklich Trauer um die Mutter sie veranlasst, sich die Haare abzuschneiden, oder wollte sie den Vater brüskieren, der ihre Zöpfe immer geliebt und manchmal neckisch daran gezogen hatte?

Schmerz und Wut wurden erneut so übermächtig, dass ihr nun doch Tränen in die Augen schossen und über die Wangen liefen. Nun war sie diejenige, die den Kopf einzog, doch ausgerechnet das bewog den jungen Mann näherzukommen.

»Parus major – das klingt wie ein militärischer Rang«, fuhr er leise fort, »dabei ist damit die Kohlmeise gemeint. Eine der häufigsten Vogelarten überhaupt, nicht nur in Europa verbreitet, auch in Asien. Die Populationen in Asien haben eigene Unterarten hervorgebracht, den Parus minor oder den Parus cinereus. Erstaunlich, dass diese Kohlmeise hier ganz allein herumflattert. Nach dem Flüggewerden schließen sich die jungen Vögel oft zu einem Schwarm zusammen.« Kurz klang seine Stimme sehnsüchtig, doch dann fügte er trocken hinzu: »Sie machen sich gegenseitig das Leben schwer, weil sie ständig Rangstreitigkeiten austragen.«

Als er verstummte, hatte er sie fast erreicht, nur der verwitterte Grabstein stand zwischen ihnen. Obwohl sie wegen der Tränen nur verschwommen sah, fiel ihr auf, wie intensiv der Blick seiner grauen Augen war, nicht einfach nur neugierig, sondern gierig, als wollte er sie bis ins Innerste erforschen.

Rasch senkte sie den Kopf, weil sie nicht wollte, dass er ihre Gefühle ergründete.

»Soll ich lieber aufhören?«, fragte er.

»Nein, bitte sprechen Sie weiter!«

»Ich fürchte, ich weiß nicht viel mehr über die Kohlmeise. Was könnte ich sonst erzählen?«

Vielleicht was Sie über den Tod wissen?, dachte sie plötzlich.

Allerdings könnte ihr der junge Mann nichts darüber erzählen, was sie nicht längst schmerzhaft gelernt hatte – dass der Tod gierig war, rücksichtslos, unbarmherzig. Über das Leben wusste sie viel weniger – weder, wie es nun weiterging, noch wie sie jemals wieder glücklich werden sollte.

Zögernd suchte sie wieder seinen Blick, stellte fest, dass auch er nicht sonderlich glücklich zu sein schien. Obwohl fast alles an ihm hell war, die Haut, die Augen, selbst die rauen Lippen, lag irgendein Schatten auf ihm. Ob auch er einen lieben Menschen verloren hatte?

»Erzählen Sie mir von sich.«

Die Worte kamen einfach über ihre Lippen, und ihr entging nicht der kurze Schrecken, der über sein Gesicht huschte. Doch dann verbogen sich die Mundwinkel nach oben. Ob es wirklich ein Lächeln war oder bloß Ausdruck von Verlegenheit, konnte sie nicht sagen, aber seine Stimme klang unbekümmert wie vorhin, als er erwiderte: »Und wenn ich über mich weniger weiß als über diesen Vogel? Kohlmeisen fressen am liebsten Larven und Eier von Insekten, und ihr bevorzugter Lebensraum sind Laub- und Mischwälder. Was dagegen mich anbelangt …«

Er hob hilflos die Hände. Für einen Frankfurter war es nach dem Krieg schier unmöglich, sein liebstes Essen zu bekommen. Und von einem Lebensraum konnte man nicht sprechen, war die Stadt doch lange Zeit eher ein Todesraum gewesen.

»Ein Name würde genügen«, sagte sie.

»Ich bin Ari«, erwiderte er, um schnell hinzuzufügen: »Eigentlich Arnold, aber das klingt mir zu noldig.«

Das Lachen, das aus ihr hervorbrach, klang metallisch, aber immerhin war es ein Lachen. »Noldig? Was ist denn das für ein Wort?«

»Eine berechtigte Frage. Wussten Sie, dass die Buchstabenkombination NOLD abgesehen von den Namen Arnold und Nolde nur in einem einzigen deutschen Wort vorkommt, nämlich im Linoldruck?«

Wieder musste sie lachen, ehe vage Erinnerungen in ihr hochstiegen. Die Mutter hatte ihr einmal erklärt, dass der Linoldruck zwar nicht bei der Herstellung von Büchern eine Rolle spielte, man damit aber Postkarten, Wandbilder und Kunstdrucke anfertigen konnte. In eine Linoleumplatte wurde hierfür ein Muster eingeritzt, und mit dieser dann – gleich einem Stempel – die Farbe aufgebracht.

Ihr Lachen verstummte, als ihr einfiel, dass die Mutter ihr nicht nur das Prinzip des Linoldrucks erklärt hatte, sondern diese Gelegenheit genutzt hatte, um ihr eine ihrer Lebensweisheiten zu vermitteln. Auf einer glatten Fläche entstünde kein Bild, hatte sie gesagt, es bräuchte Risse und Rillen. Mit dem Leben verhielte es sich ebenfalls so. Leid wäre ein Werkzeug, das der glatten Oberfläche des Lebens ein Muster gab. Und obwohl das schmerzhaft war, der Mensch das Glatte bevorzuge und die Rillen Kummerfalten nannte, entstünde nur durch sie ein einzigartiges Bild.

Der junge Mann verschwamm vor ihren Augen, schon wieder musste sie weinen.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte er besorgt.

Sie schüttelte den Kopf. Eigentlich war es genau das Richtige, um Erinnerungen an die Mutter heraufzubeschwören, nicht an die schwerkranke, sondern an die liebevolle Frau, auf deren Schoß Ella als kleines Mädchen gesessen hatte, wenn sie in einem Buch blätterte. Ihre Mutter ließ sie nicht nur von ihrer geliebten heißen Schokolade kosten, sie nahm Ella auch mit, wenn sie die Räume des Verlags wie eine Königin durchschritt, später in der Buchhandlung nach dem Rechten sah, ihrem Zauberreich, dessen Grenzen zur grauen irdischen Welt verlässlich schützende waren. Leider hatte sie zu wenig bedacht, dass auch in einem Zauberreich dunkle Wesen hausten, gefährlich und listig, die Tod und Verderben brachten …

Ihre Gedanken versiegten, als Ari sich bückte und von dem Streifen zwischen den Gräbern eine Blume pflückte. So fahl das Gras um diese Jahreszeit auch war – die Blume war von einem leuchtenden Rosa. »Eine Anemone hupehensis«, murmelte er, »genauer gesagt, eine Herbst-Anemone aus der Familie der Windrosen.«

»Wie kann man sich bloß all diese lateinischen Namen merken?«

»Ihren Namen würde ich mir auch merken, wenn es kein lateinischer wäre.«

»In meiner Geburtsurkunde steht Elisabeth. Meine Mutter hat mich immer Elsbeth gerufen. Ich selber konnte das nicht aussprechen und nannte mich als kleines Kind Ella, was mir alle anderen nachmachten und …«

»Und wie soll ich Sie nennen?«

Sie zuckte ratlos mit den Schultern. Wollte sie noch eine Elsbeth sein?

Ihr Zögern bewog den jungen Mann, einen großen Schritt auf sie zuzumachen. Und dann stand er vor ihr und hielt ihr die Blume hin, sodass sie gar nicht anders konnte, als das Gesicht darüber zu beugen und den vagen Geruch einzusaugen. Danach nahm sie sie entgegen, und kurz berührten ihre Fingerkuppen seine. Ihrer beider Hände waren kalt, dennoch durchfuhr sie ein sachtes Kribbeln, und es fiel ihr plötzlich ganz leicht zu lächeln.

»Wo bleibst du denn?«

Ella fuhr herum. Ihre erste Regung war, das Blümchen hinter ihrem Rücken zu verbergen, schien es doch verboten, sich an einem Tag wie diesem an etwas Schönem zu erfreuen. Sie widerstand dem Drang aber, zumal Hildegard ohnehin keinen Blick für die Herbst-Anemone hatte. Sie erklärte eben, dass nun der Moment gekommen war, endgültig Abschied zu nehmen und eine Schaufel Erde auf den Sarg fallen zu lassen, doch als sie Ari erblickte, hielt sie mitten im Satz inne.

Dessen Lächeln war augenblicklich geschwunden, seine Miene wirkte nahezu schuldbewusst. Nicht nur, dass er wieder die Schultern hochzog, schon hastete er ohne Abschiedsworte über das raschelnde Herbstlaub zum Friedhofstor.

Noch erstaunlicher als seine Reaktion war die von Hildegard. Die Augen der treuen Buchhändlerin weiteten sich, und was darin stand, war nicht einfach nur Befremden, weil Ella sich mit einem fremden jungen Mann unterhielt, anstatt im Kreise der Familie auszuharren, sondern … Verachtung.

»Kennst du diesen jungen Mann etwa?«, fragte Ella.

Aus Hildegards Lippen wurde ein schmaler Strich.

»Kannte er vielleicht meine Mutter?«, bohrte Ella nach. »Ist er hier, um Abschied von ihr zu nehmen?«

Anstatt etwas zu sagen, machte Hildegard kehrt und ging entschlossen zurück zum offenen Grab. Als Ella ihr folgte, glaubte sie zu hören, wie Hildegard eine Verwünschung nuschelte, aber vielleicht irrte sie sich.

Sie sann nicht lange darüber nach, denn schon kam der Moment, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hatte. Ihre Beine waren steif, als sie vors Grab trat, sie drohte zu wanken wie vorhin ihr Vater. Zwar wurde sie des Zitterns Herr, doch ihre Hände wollten nicht tun, was sie ihnen befahl. Anstatt mit dem Schäufelchen Erde auf das Grab zu schütten, ließ sie lediglich das Blümchen fallen, einem Tropfen Farbe gleichend, der sich, wenn auch nur kurz, gegen das dunkle Totenreich behauptete.

Als sie vom Grab zurücktrat, versuchte der Vater, sie an sich zu ziehen und zu umarmen. »Ella«, stammelte er, »Ella … Jetzt haben wir nur noch uns.«

Wie gerne sie ihm Erde ins Gesicht geschleudert hätte! Am Ende begnügte sie sich mit Worten. »Ich werde dir nie verzeihen, was du Mutter angetan hast«, raunte sie. »Nie!«

Ihre Großeltern waren mit Luise schon vorausgegangen, und sie beeilte sich, ihnen zu folgen. Wie aus weiter Ferne hörte sie das Schluchzen von Hertha Brinkmann, der treuen Kundin. Etwas leiser, auch tröstlicher, war das Zwitschern der Kohlmeise, die plötzlich wieder herbeigeflattert kam und auf dem schmalen Weg vor ihr etwas aufpickte.

Schweigend gingen sie durch Höchst, jenes Viertel im Westen Frankfurts, das einst ein eigenständiges Städtchen gewesen war. Die Großeltern waren noch nie gut im Reden gewesen. Insbesondere ihr Großvater Gustav Hagedorn, der als gelernter Tischler seine ganze Zärtlichkeit dem Holz angedeihen ließ, nicht den Menschen, schien den Worten zu misstrauen – den gesprochenen ebenso wie den geschriebenen. Er hatte Klaras Hunger nach Büchern nie verstanden und dass dieser Hunger sie aus Höchst fortgetrieben hatte, erst recht nicht. Menschen waren für ihn Mobiliar: An dem Platz, an dem man es abstellte, hatte es gefälligst zu bleiben. Ein Herd hatte nichts im Schlafzimmer verloren, eine Badewanne nichts in der Küche und die Tochter eines Tischlers nichts in einer Verlagsbuchhandlung.

Klara hatte ihre Eltern dennoch regelmäßig besucht, schon um sie nicht von den Enkelkindern zu entfremden, doch Ella konnte sich nicht erinnern, dass der Großvater sich jemals herzlich über ein Wiedersehen gefreut hatte. Auch jetzt witterte sie unter seiner Trauer ein tiefes Unverständnis gegenüber seiner Tochter – und keinen Trost für sie.

Die Großmutter wiederum, hinter deren Verdrossenheit immer auch Güte zu erahnen war, hielt Luise an der Hand und hatte es schwer genug, sie zum Gehen zu bewegen, sodass Ella nicht auch noch ihren Kummer auf ihr abladen wollte.

Obwohl sie den Friedhof von Höchst längst verlassen hatten, vermeinte sie immer noch, auf einem zu sein. Sicher, Höchst hatte bei Weitem nicht so viele Bomben abbekommen wie das Zentrum von Frankfurt, aber einige Häuser waren komplett zerstört, darunter auch die Gaststätte zum Goldenen Anker oder das Eckhaus an der Dalbergstraße, in dessen Erdgeschoss sich eine Kaufhalle befunden hatte. Sie konnte sich zwar nicht erinnern, diese je betreten zu haben, aber andere Erinnerungen an ihre Besuche im Viertel wurden übermächtig.

Wie der Vater und sie einen Kahn ausgeliehen hatten, er sie über den Stadtparkweiher gerudert hatte, und hinterher gab es frisch geröstete Kastanien und Erdnüsse. Wie sie sich – lange bevor man hier Verdunkelungsmaterial für Bombennächte verkaufte – am Schaufenster des Kaufhauses Conradi die Nase platt gedrückt hatte, wo, dekoriert mit schwarzen Scherenschnitten von leicht bekleideten Damen, die sie für die Feen aus Dornröschen gehalten hatte, feinste Damenstrümpfe ausgestellt waren.

Auf dem Höchster Marktplatz hatte der Vater oft ein Eis spendiert, in der Café-Conditorei Kowald ein Stück Torte, und im Café Gärtner hatte er sich regelmäßig den Kopf angeschlagen, vergaß er doch jedes Mal, dass man das Haus im Volksmund ob seiner niedrigen Eingangstür »Kaffee Bück-dich« nannte.

Die Mutter hatte immer laut gelacht, ehe sie die schmerzende Stelle küsste. »Ich will auch einen Kuss«, hatte Ella gerufen, obwohl ihr rein gar nichts wehtat und sie glücklich und geborgen gewesen war. Selbst die düstere Stimmung im Haus der wortkargen Großeltern hatte ihr nichts anhaben können.

Als sie sich jetzt der Arbeitersiedlung, dem kleinen Backsteinhäuschen mit ausgebautem Dachgeschoss, näherten, empfing sie zu ihrem Erstaunen nicht die übliche Stille. Schon von weither waren Stimmen zu hören, auch das Plärren eines Kindes, das so alt wie Luise sein musste, und das Zetern der Mutter, das eher hilflos als streng klang.

Ella blieb unwillkürlich vor dem Tor stehen, hinter dem ein winziger Garten lag, gerade mal groß genug, um einem einzigen Salatbeet, einem Kirschbaum und einem Schuppen Platz zu bieten. In Letzterem sägte und hämmerte der Großvater manchmal, seitdem er seine Werkstatt aus Altersgründen hatte schließen müssen.

Ella legte den Kopf schief. Tatsächlich! Die Stimmen kamen eindeutig aus dem Haus der Großeltern.

»Wer … wer ist denn da bei euch zu Gast?«, entfuhr es ihr.

Die Großmutter war beherzt durchs Gartentor getreten, blieb dahinter aber stehen. Während Luise ihre Hand losließ und zu den Schnecken im Salatbeet eilte, stampfte der Großvater auf.

»Gäste, von wegen!«, schimpfte er. »Flüchtlingspack ist es.«

Anstatt das Haus zu betreten, ging er zum Holzblock vor dem Schuppen und begann Scheite zu spalten. Heute hatte er nicht einmal fürs Holz Zärtlichkeit über.

»Sie wurden uns einfach zugeteilt«, berichtete die Großmutter mit gepresster Stimme.

Ella hörte die Worte zwar, aber verstand sie nicht. Während die Großeltern im Garten blieben, betrat sie das Haus.

Wie immer empfing sie graues Schummerlicht. Die Fenster waren winzig, und die zwei Petroleumlampen erhellten den Raum ebenso wenig wie die Funken vom Kohlenofen, die wild zu tanzen begannen, als der Luftzug sie traf. Grau war denn auch das Gesicht der Frau, die davor kniete und gerade ein Scheit nachlegte. Eine andere stand beim Herd in der Küche, Großmutters ganzem Stolz, und schälte verschrumpelte Möhren. Gleich daneben versuchte eine weitere Frau, ein greinendes Kind zu wickeln. Dem strampelnden Kind war nicht beizukommen, der Leere in den Gesichtern auch nicht. Wenn Trostlosigkeit und Erschöpfung einen Geruch hatten, dann diesen nach alter, muffiger Kleidung und saurem Atem.

Ella wich zurück, merkte erst jetzt, dass die Großmutter ihr gefolgt war und ihr leise zuraunte: »Sie kommen zu Tausenden aus dem Osten, manche mit dem Zug, manche zu Fuß mit dem Leiterwagen. Ganze sieben haben wir aufnehmen müssen und können noch von Glück reden, dass wir selber hier haben wohnen bleiben dürfen. In Sindlingen und Zeilsheim haben die Amis etliche Wohnungen beschlagnahmt. Dein Großvater wollte einfach absperren, so tun, als wäre niemand zu Hause, aber als der Nachbar das versuchte, ist die Polizei angerückt und hat die Wohnungstür mit der Axt eingeschlagen.«

Ob das der Grund war, dass der Großvater so wütend Scheite spaltete? Das dumpfe Geräusch der Schläge drang zu ihr, sonst war jeder Laut verstummt, selbst das Kind hatte aufgehört zu greinen. Die Großmutter fügte nichts hinzu, doch Ella glaubte, ihre Gedanken zu hören: Du kannst hier nicht bleiben, für dich haben wir nicht auch noch Platz.

Wie betäubt ließ sie sich von der Großmutter nach draußen ziehen. Erst als sie im Freien standen, presste Ella heraus: »Ich … ich kann doch nicht mit Vater unter einem Dach leben. Ich will bei euch wohnen.«

Der Großvater hatte eben die Axt erhoben, doch nun ließ er sie auf den Boden fallen und sank schwer auf den Hackklotz. »Wie stellst du dir das vor?«

Trauer klang aus seiner Stimme, Unsicherheit, aber auch jene Verdrossenheit, mit der er den Lebensweg seiner Tochter bezeugt hatte. Warum hatte sie sich bloß ehrlicher und harter Arbeit verweigert und sich stattdessen den Büchern verschrieben? Wer seinen Platz nicht kannte und zu hoch hinaus strebte, landete nun mal früher unter der Erde als einer, der unauffällig und demütig durchs Leben ging.

Nein, von Gustav Hagedorn war kein Mitleid zu holen, nicht für die tote Mutter, nicht für sie.

»Ich … ich …«

Zumindest im Blick der Großmutter las Ella Verständnis und ehrliches Mitgefühl. Sie deutete auf die kleine Schwester, die munter um den Baum herumsprang. »Um Luischen können wir uns natürlich kümmern – wie damals in den Bombennächten.«

Allein bei der Vorstellung, sie hier zurückzulassen, verkrampfte sich Ellas Innerstes.

»Ich … Ich …«, begann sie wieder.

»Komm mal her, Kleine«, brummte der Großvater, ergriff ein faustgroßes Stück Holz, zog ein Messer aus der Hosentasche und begann, eine kleine Figur zu schnitzen. Neugierig stapfte Luise auf ihren Beinchen näher und stieß ein umso lauteres Juchzen aus, je genauer die Umrisse einer Figur zu erkennen waren. Gustav Hagedorns Züge wurden weich und liebevoll wie nur selten.

»Es ist das Beste so«, murmelte die Großmutter.

»Letztes Jahr … im Krieg … da habe ich euch doch geholfen, dass ihr durchkommt.« Ella hob die Hände, mit denen sie unermüdlich auf den Feldern gewühlt hatte, um noch die letzte Knolle ans Tageslicht zu befördern, sie hatte eigenhändig Wurzelstöcke gefällter Bäume ausgegraben, die die Bauern ihnen großmütig überließen. Die Wurzeln waren hart, der Großvater bekam sie kaum klein, und wenn sie im Ofen brannten, spuckten sie beißenden Rauch. Noch mehr Rauch verursachten feuchte Tannenzapfen, aber die hatte sie ebenso rastlos gesammelt wie Bucheckern.

»Wenn Luise bei uns lebt, kriegen wir etwas mehr Essen zugeteilt.«

War es Berechnung, was die Großmutter antrieb? War der Hunger größer als die Sorge um die beiden Enkeltöchter?

Nun, als der Großvater Luise den kleinen Hasen überreichte und das Kind noch lauter lachte, lag auch auf Gertrudes Gesicht ein Lächeln.

Ella war nicht nach Lachen zumute.

»Komm!«, sagte die Großmutter da und zog sie mit sich.

Kurz schien es, als wollte sie sie zum Abort führen, der sich außerhalb des Hauses befand, aber stattdessen war Gertrudes Ziel der Schuppen gleich daneben. In Ella regte sich die Hoffnung, dass sie vielleicht hier unterschlüpfen konnte, doch als die Großmutter sie über die Schwelle zog, zu einer Truhe führte und diese öffnete, sah sie, dass sie ihr keine alte Pferdedecke zeigen wollte, auf der sie schlafen könnte, sondern etwas anderes … Kostbareres.

Wie war es möglich, dass sich ein solcher Schatz im Besitz der Großeltern befand?

Was Trauer und Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit nicht gelungen war, schaffte nun das Erstaunen. Ella sank auf die Knie. Erst nach einer Weile hob sie die Hand, um über den Schatz zu streicheln, wagte es am Ende doch nicht. Ihre Hand war so dreckig, das Papier so weiß.

Es war viel Papier, in verschiedenen Arten. Griffiges, offenes Werkdruckpapier, mehr oder weniger holzhaltig, das gut für den Buchdruck geeignet war, geglättetes, satiniertes Papier für Bilder, gussgestrichenes Papier mit fast spiegelglatter Oberfläche für den Kunstdruck.

»Woher hast du das?«, fragte Ella.

Die Großmutter war wieder zurückgetreten, zuckte nun mit den Schultern. Mit der Tochter hatte sie nie viel anfangen können. Dass ihre Lehrer sie als außergewöhnlich begabt bezeichnet, erst das Gymnasium, später eine Buchhandelslehre empfohlen hatten, hatte sie zwar hingenommen, zugleich aber wie ihr Mann als Kriegserklärung an die eigene Lebensweise empfunden. Und dass die Tochter schließlich nicht nur einen Verleger geheiratet hatte, sondern mit ihm sein Unternehmen führte, war ihr als Anmaßung erschienen.

Allerdings musste selbst ihr bewusst sein, dass Papier während des Kriegs zur Mangelware geworden war. Nicht nur, dass immer mehr Zeitungen eingestellt worden waren – auch den Reichenbachverlag hatte die strenge Kontingentierung empfindlich getroffen. Die sogenannte totale Mobilmachung des Buchhandels am 31. August 1944 hatte sich schließlich als Todesstoß erwiesen: Sämtliche Papierbestände, Materialien für den Buchdruck und Maschinen waren eingezogen worden. Einzig Schulbücher und Fachwerke über Waffen und Kriegstaktik waren auf dem Markt geblieben, die Produktion von schöngeistigem Schrifttum, auch Kinder- und Jugendliteratur dagegen komplett eingestellt worden.

»Wie … wie hat Mutter es geschafft, all das Papier zu horten?«, rief Ella.

Wieder zuckte die Großmutter mit den Schultern. »Ich weiß nur, dass sie einmal spätabends mit einem Wagen kam und ein Mann ihr half, es hier hereinzubringen.«

»Ich habe gehört, dass vielerorts auch alte Buchbestände versteckt wurden und nun auf den Markt kommen«, murmelte Ella. »Tausende Exemplare von Remarques Im Westen nichts Neues, die man während des Kriegs in einem geheimen Außenlager eingemauert hat, waren binnen weniger Tage verkauft.«

Das Stirnrunzeln verriet, dass der Titel der Großmutter nichts sagte.

»Mit dem Papier könnte man Bücher drucken!«, sagte Ella überschwänglich. »Den Reichenbachverlag wieder zum Leben erwecken … ihn in Mutters Sinne weiterführen … unsere verlagseigene Buchhandlung bestücken und …«

Die Großmutter trat näher. Langsam hob sie die Hand und strich ihrer Enkelin liebevoll über die Schulter. Wärme erfüllte Ella, das tröstliche Gefühl, nicht ganz allein auf der Welt zu sein.

Leider hielt es nicht an.

»Luise würde dich nur stören dabei. Hier bei uns hat sie’s besser. Das Haus mag voll sein, aber es steht noch, und bei den Bauern in der Nähe gibt’s mehr zu essen als drinnen in der Stadt.«

»Ich habe Mutter versprochen, ihr jeden Tag vorzulesen.«

»Du kannst sie dann und wann besuchen.«

»Das ist mir zu wenig. Zumindest am Wochenende will ich sie zu mir holen.«

Die Großmutter starrte sie kurz zweifelnd an, ehe sie widerwillig nickte. Ella war insgeheim nicht sicher, ob die Wochenenden genügten, Klara … Luise … ihr selbst. Aber dieses Papier genügte für einen Neuanfang. Als sie es betrachtete, hatte sie das Gefühl, dass auch die eben noch nebelgraue Zukunft plötzlich weiß und glatt vor ihr lag, sie nur die richtigen Worte finden musste, um ihre Geschichte zu erzählen. Wovon die Geschichte handeln würde, wusste sie noch nicht. Im Mittelpunkt stand jedenfalls eine junge Frau, auf die mehr wartete als nur die Trauer um die Mutter und die Wut auf den Vater.

2. KAPITEL

Sich in der Ruinenlandschaft der Frankfurter Innenstadt zu orientieren war nahezu unmöglich. Anstelle von Wegen und Straßen empfingen Ari Schuttberge, über die man wie eine Ziege klettern musste. Manchmal zeigten die Fußspuren von anderen, wo man auftreten konnte, ohne im Geröll einzubrechen, manchmal konnte man sich an einem Abflussrohr, das in den blauen Himmel ragte, festhalten. Immer wieder rumorte es bedrohlich im Schutt, löste sich ein Holzbrett oder ein Ziegel und krachte auf den Boden.

An manche Mauern hatten amerikanische Soldaten »Death is so permanent« geschrieben, und Ari war nicht sicher, ob das eine Lebensweisheit sein sollte oder eine Drohung, an jene gerichtet, die sich gegen die Besatzung auflehnten. Das Gras, die Disteln und das Moos scherten sich jedenfalls nicht darum. Unbeirrt wuchsen sie auf den Trümmern und taten so, als könnte die Steinwüste zu einer bunten Wiese werden, wenn man nur beharrlich daran glaubte.

Vielleicht sollte er ein bisschen frohgemuter und selbstbewusster einen Fuß vor den anderen setzen, als hätte er nicht nur ein Ziel, sondern wüsste auch, wie er dorthin fand.

Immerhin, vorhin war er einem Postboten begegnet, der wusste, wer in welchem Kellerloch lebte. Und obwohl lange Zeit sämtlicher Verkehr zum Erliegen gekommen war, weil die Bahnhöfe getroffen, der Schiffsverkehr lahmgelegt, alle Brücken über den Main gesprengt worden waren, gab es immerhin zwei funktionierende Straßenbahnlinien.

Dennoch verstörte ihn dieses Gerippe einer Stadt. Von so vielen Orten, die er aus seiner Kindheit kannte, waren nur Grundmauern oder ausgeglühte Kuppeln geblieben. Die gotischen Fachwerkbauten des Altstadtkerns gab es nicht länger, ebenso wenig wie die Nikolaikirche, den Römer und die Alte Börse gegenüber der Paulskirche. An das prächtige Goethehaus aus großen Blöcken roten Mainsandsteins erinnerte nur eine armselige Tafel, an das Café an der Hauptwache ein Berg Trümmer.

Auf dem Schoß seines Vaters hatte er hier zum ersten Mal an einer Tasse Kaffee genippt – was die Mutter noch hinnahm –, auch an einem Glas Cognac, wofür die Mutter den Vater heftig gerügt hatte. In seiner Kehle hatte es wie Feuer gebrannt, doch das war ein geradezu köstlicher Schmerz gewesen.

Nicht nur die Orte seiner Vergangenheit fand er verwüstet vor, sondern auch jene, in der seine Zukunft hätte stattfinden sollen, so das Schumanntheater gegenüber vom Hauptbahnhof. Es war für seine im Jugendstil gestaltete Fassade berühmt gewesen, die beiden markanten Türme und die moderne Technik im Inneren. Doch von der Bühne und dem Zuschauerraum war nichts geblieben, und die Außenwände waren zwar heil, aber mit Stacheldraht umzäunt, ein Zeichen, dass die Amerikaner das Gebäude zu nutzen gedachten, jedoch nicht als Theater. Derzeit war nichts ein Spiel, alles bitterer Ernst. Nur er war fest entschlossen, auf jenem schmalen Grat zwischen Zerstörung und Neubeginn zu wandeln, sich nicht in die Tiefe ziehen zu lassen und aus diesem Drahtseilakt ein Kunststück zu machen.

Akrobat hatte er zwar niemals werden wollen, Schauspieler aber schon. Und deswegen würde er immer weitergehen … notfalls kriechen … krabbeln … robben … Deswegen würde er sich nicht von der Verzweiflung und Leere, die in den Gesichtern der Menschen hier standen, anstecken lassen.

Und irgendwann erreichte er tatsächlich sein Ziel: Die Kabine 15a im vormaligen Tiefbunker am Schauspielhaus, ein kahler Raum mit weißen Wänden, sechs blanken Holztischen und harten Bänken. Von der Decke baumelte inmitten eines Gewirrs von Leitungsrohren eine nackte Glühbirne, in der Ecke dort hinten machte eine Dampfheizung tuckernde Geräusche.

Worte waren keine zu hören. Schweigend löffelten ein paar Männer einen dünnflüssigen, farblosen Eintopf aus einer Schüssel, der – wie ein Schild beim Eingang bekundete – zum Preis von 2,60 Mark zu erhalten war. Er war wohl ohne jegliche Gewürze zubereitet worden, denn keinerlei Essensduft lag in der feuchten, kellerkalten Luft.

»Hier gibt’s nichts mehr zu holen«, grummelte ein Mann, dessen Kopf tief über der Schüssel hing. »Heute wurde schon alles verteilt.«

»Ich … ich bin nicht hier, um mich satt zu essen«, sagte Ari, »ich will vorsprechen.«

Nun hob der Mann doch ein wenig den Kopf. »Vorsprechen?«

»Fürs Theater.«

»Was denn für ein Theater?«

»Ja, doch …«, Ari zögerte kurz. »Es öffnen jetzt immer mehr Schauspielhäuser, auch hier in Frankfurt. Das Vorsprechen für eine neue Inszenierung soll im Kellerraum stattfinden.«

Als der andere einmal mehr den Löffel zu den Lippen führte, stieß das Metall laut gegen seine Zähne, sonst kam kein Ton mehr von ihm. Ari entdeckte indes ganz hinten in dem Raum eine schmale Tür.

Dahinter erwartete ihn nicht nur modrige Luft, auch Dunkelheit, doch dann machte er Konturen einer Treppe aus, und nachdem er vorsichtig die ersten Stufen genommen hatte – ein Geländer fehlte –, traf ihn die Ahnung eines Lichtscheins. Er folgte ihm, der Streifen wurde breiter. Nein, da war kein Scheinwerfer, der die Bühne erleuchtete, aber immerhin eine funktionierende Lampe. Eine Bühne war es eigentlich nicht, jedoch hatte man etliche leere Apfelsinenkisten nebeneinander gestapelt und Bretter darübergelegt. Und es gab sogar einen Vorhang – oder zumindest die zerfetzten, verschlissenen Reste eines solchen, die kläglich von einer schiefen Stange hingen.

Stühle fehlten, da waren nur ein paar Fässer. Ari konnte sich nicht vorstellen, dass Zuschauer darauf freiwillig Platz nehmen würden, aber wahrscheinlich wurde hier nur geprobt, während die Aufführung später anderswo stattfinden würde.

Noch bevor er mit einem Räuspern auf sich aufmerksam machen konnte, trat eine junge Frau auf ihn zu. Sie sah aus wie alle Frauen im Ruinenfrankfurt – aus dem hageren Gesicht standen spitz die Wangenknochen hervor, die Kleidung war zusammengestückelt und ausgeblichen, die ganze Gestalt wirkte wie von einer dünnen Staubschicht bedeckt. Allerdings war sie stark geschminkt. Sie hatte die Augen schwarz umrandet wie ein Stummfilmstar in den Zwanzigern, und ihre Lippen waren leuchtend rot.

Er vermied es, aufdringlich darauf zu starren, doch sie wusste wohl, was ihr Anblick bei anderen auslöste. »Rote-Rüben-Saft wirkt Wunder. Man kann ihn auch als künstliches Blut nutzen, wenn auf der Bühne jemand ermordet wird.«

Etwas in ihrem kalten Blick und ihrer rigorosen Gestik ließ vermuten, dass sie lieber Mord- als Liebesszenen spielte.

Ari erkannte in dem diffusen Licht einen weiteren Menschen – auf einem der Fässer hockte der Mann, wegen dem er gekommen war. Max Guthmann, so hatte er erst vor wenigen Tagen erfahren, war einer der Regisseure, die nach dem Krieg das Theater wiederbeleben wollten.

»Bin ich der Einzige, der zum Vorsprechen kommt?«, fragte Ari.

Die junge Frau musterte ihn von oben bis unten, wie um nach Wunden zu schauen oder Narben, die er vom Krieg zurückbehalten hatte. Ihr Ausdruck wurde nahezu verächtlich, weil sie nichts fand. »Den meisten Menschen geht es zu schlecht, um ans Theaterspielen auch nur zu denken.«

»Dabei lässt sich das Leid doch nutzen«, entfuhr es ihm. »Alles, was man erlebt hat, auch die schlimmen Dinge, ist das Eisen, aus dem man seine Rolle schmieden kann.«

Das Lachen der jungen Frau klang ein wenig, als befände sich ein Hohlraum in ihrer Brust und bestünden dessen Wände ebenfalls aus Eisen. »Wo hast du denn dieses Sprüchlein gelernt?«

Die Worte stammten tatsächlich nicht von ihm. Er hatte sie in jenem Buch gelesen, das für ihn die Heilige Schrift war, und das seiner Meinung nach jeder Schauspieler kennen sollte. »So ungefähr heißt es im Deutschen Stanislawski-Buch«, setzte er an und wollte gerade von Konstantin Sergejewitsch Stanislawski schwärmen, dem großen Reformer des Theaters.

Doch die junge Frau winkte ab. »Ich hoffe, du kannst nicht nur dieses Buch auswendig, sondern auch diverse Dramen.«

»Selbstverständlich. Schiller oder Goethe, Tucholsky oder Brecht, ich trage vor, was ihr hören wollt, gerne auch Gedichte. Wobei Stanislawski ja meinte, Schauspielkunst begänne vor dem Wort. Nennt mir gerne eine Szenerie, und ich stelle sie glaubhaft dar: Ich kann den Verdurstenden in der Wüste mimen, der endlich auf ein Wasserloch stößt und der, kaum dass er sich darüber beugt, erfährt, dass es vergiftet ist. Man kann mir auch einen Satz sagen – und sei es ein so schlichter wie ›Ist Herr Schmidt hier?‹ – und ich spreche ihn einmal als kleiner, geduckter Mensch aus, der in einer glänzenden Versammlung seinen Gönner sucht, ein anderes Mal als Hochgestellter, der im Vorzimmer seine Bittsteller mustert. Und …«

Er redete zu viel, wenn er aufgeregt war. Eigentlich redete er immer zu viel, wenn er mit Menschen zusammen war. Als müsste er beweisen, dass er es trotz der letzten Jahre noch konnte. Und wenn das erst einmal bewiesen war, war er so erleichtert, dass er nicht wieder aufhören konnte.

Das neuerliche Auflachen der jungen Frau klang wieder metallisch. »Du bist also ein Stanislawski-Jünger durch und durch.«

Das war sicher nicht als Kompliment gemeint, und die rot geschminkten Lippen zuckten spöttisch, nicht freundlich. Womit immer sie den Rübensaft gemischt hatte – er war so dünnflüssig geblieben, dass die Farbe über die Lippenränder trat und ihren Mund aussehen ließ wie eine klaffende Wunde. So viele Worte Ari eben noch gemacht hatte – jetzt konnte er gar kein einziges mehr hervorbringen. Nur das Knirschen von Holz verriet, dass der Mann sich von seinem Fass erhob. Erst als Max Guthmann vor ihn trat, sah Ari, dass an einer Seite ein leerer Ärmel baumelte. In der Hand hielt er etwas, was wie eine Zigarette aussah, jedoch nicht wie eine solche roch. Woraus immer der Tabak gemacht war – der unerträglich scharfe Rauch, den er in seine Richtung blies, ließ nicht nur Aris Augen tränen, sondern rief starken Hustenreiz hervor. Verzweifelt schluckte er dagegen an.

»So, so«, sagte der Regisseur. »Was gefällt dir denn noch an Stanislawski außer dessen Vorliebe für Improvisation und authentisches Gefühl?«

Das Husten brach sich Bahn, als er wieder Luft bekam, sagte Ari: »Am meisten gefällt mir Stanislawskis Meinung, laut der jeder jede Rolle spielen kann. Ein Riese vermag folglich einen Zwerg zu spielen, ein Zwerg einen Riesen, vorausgesetzt, er begnügt sich nicht mit leeren Posen. Nein, ganz und gar in die Rolle schlüpfen muss man, mit ihr verschmelzen, sodass man am Ende nicht spielt, sondern … ist. Auf diese Weise versteht das Publikum nicht nur, was man darstellt, das Publikum fühlt es.«

Die junge Frau stieß ein trockenes Lachen aus. Vielleicht war es auch ein Husten, denn eben nahm sie dem Regisseur die Zigarette weg und zog selbst gierig daran.

Max betrachtete Ari versonnen, nicht ohne Wohlwollen, und zugleich, wie Ari instinktiv spürte, mit einem gewissen Neid. Ob wegen seiner zwei Arme oder seines Enthusiasmus, vermochte Ari nicht zu sagen.

»Nicht alles, was ein Schauspieler spielt, muss er selbst erlebt haben«, sagte der Regisseur leise, »aber alle Gefühle, die er darstellt, muss er selbst kennen. Wenn er sich auf der Bühne freut, so hat er an ein Ereignis zu denken, bei dem ihm das Herz schier platzte vor Glück. Stellt er Leid dar, gilt es, sich des eigenen Leids zu besinnen.«

Traute er Ari zu, das eigene Leid heraufzubeschwören, und auch, was dieser Tage noch schwieriger schien, die Freude?

Trotz der Worte, die doch eigentlich wohlmeinend waren, fühlte sich Ari plötzlich eigentümlich verzagt. Den nagenden Zweifel, ob es eine Anmaßung war, zu einem Vorsprechen zu gehen, hatte er nie ganz abstreifen können, jetzt verstärkte sich die vage Ahnung, ein Hochstapler zu sein.

»Hm«, machte Max, beugte sich vor und tätschelte mit seiner heilen Hand seine Schultern. »Ich war selber nie ganz von Stanislawski überzeugt. Er will nur ehrliche Regungen darstellen, aber müssen wir nicht alle Lügner sein, um zu spielen, um zu überleben … um glücklich zu sein?« Sein Lächeln wurde breiter. »Trotzdem gefällst du mir.«

Die junge Frau ließ die Zigarette auf den Boden fallen und zerdrückte sie mit ihrer Schuhsohle. Erst jetzt sah Ari, dass sie zwei verschiedene Schuhe trug und die Absätze unterschiedlich hoch waren. »Nimm kein Urteil vorweg, ehe du ihn nicht hast vorspielen lassen.«

»Sei doch nicht so uncharmant, meine liebe Kathi«, Max trat wieder zurück zum Fass, ließ sich mit einem Ächzen darauf sinken. Mit dem Kinn deutete er auf die provisorische Bühne. »Ich bin sicher, unser junger Kollege wird uns nun zeigen, was er kann.«

Und Ari kletterte auf die Apfelsinenkisten und zeigte es.

Nach seinem letzten Wort folgte Stille. Ari war so in seinem Spiel aufgegangen, dass er kurz vergessen hatte, wo er sich befand. Es machte keinen Unterschied, ob er vor zwei Menschen spielte, vor hundert oder vor keinem. Auch ob das diffuse Glimmen einer Glühbirne auf ihn fiel, Kerzenschein oder Scheinwerferlicht, war egal. Erst jetzt kehrte er in die Wirklichkeit zurück und blickte sich um. Kathi hatte die Hände über der Brust verschränkt. Sie machte keine Anstalten, sie zu lösen und zu applaudieren, und obwohl er das auch nicht erwartet hatte, vermisste er schmerzlich eine Regung an ihr, die ein wenig Zustimmung verriet.

Über Max Guthmanns Lippen aber trat ein Keuchen, von dem Ari nicht sagen konnte, ob es Ausdruck von Begeisterung oder Abfälligkeit war. Er begann erst zu sprechen, nachdem er in seiner Jackentasche nach einer weiteren Zigarette gekramt und ein Päckchen hervorgezogen hatte. Sein Blick richtete sich beharrlich darauf, nicht auf Ari.

»Du verfügst über ein breites Repertoire«, stellte er fest, »das muss man können – so nahtlos vom Mephisto zum Dauphin in Shaws Heiliger Johanna zu wechseln oder von Tasso zum Heiratsantrag von Tschechow. Und es scheint keine Rolle zu geben, die dir nicht liegt. Ich könnte mir dich in einem expressionistischen Stück, das am Neuen Theater inszeniert wird, ebenso vorstellen wie in einem klassischen Drama auf dem Römerberg.«

»Das Neue Theater wurde längst geschlossen«, warf Kathi mit kalter Stimme ein, »und der Römerberg ist zerstört.«

»Na und, demnächst werden wir Stücke im Frankfurter Börsensaal aufführen oder im Sendesaal des Rundfunks. Erst gestern habe ich eine Turnhalle in Sachsenhausen besichtigt, die ebenfalls als Theater dienen könnte.« Er ließ seinen Blick über Ari gleiten. »Es ist alles nur provisorisch, die Akustik eine Katastrophe, aber wenn wir genug von dem zusammenscharren, was zur Hälfte taugt – eine halbe Bühne, ein halbes Publikum«, er schaute an sich herab, »und halbe Regisseure, wird vielleicht etwas Ganzes draus.«

Sein Blick ging von Ari zu Kathis ungleichen Schuhen, und plötzlich grinste er spöttisch.

»Wir wissen nicht, ob uns die Amis im letzten Augenblick nicht doch noch die Aufführungen verbieten«, sagte sie, löste ihre Arme vom Körper und machte einen Schritt auf die provisorische Bühne zu. Der Mund wirkte nicht mehr rot, sondern fast schwarz, als sie Ari anfuhr: »Wer bist du eigentlich?«

Ari ahnte, was sie wissen wollte, und Unbehagen kroch in ihm hoch. »Wer ich bin? Oh, ich kann alles sein. Ich spiele euch den …«

»Wo hast du deine Schauspielausbildung absolviert? Hast du sie überhaupt abgeschlossen? Fechten gelernt, parieren und konterparieren? Eine gründliche Sprecherziehung durchlaufen, auch Tanz und Gesang studiert? In Berlin lernen Schauspieler sogar reiten.«

»Die größte Kunst ist dieser Tage nicht, reiten zu können, sondern ein Pferd zu finden, das nicht geschlachtet wurde«, warf Max ein.

»Du weißt genau, worauf ich hinauswill«, rief Kathi schrill.

»Ich weiß, dass eine Ausbildung allein nichts darüber aussagt, was man kann«, hielt Max dagegen. »In einem bin ich mit Stanislawski nämlich einer Meinung: Dass man nicht zum Schauspieler gemacht wird, sondern dass man einer ist. Und dass man am meisten lernt, wenn man auf der Bühne steht. Nicht Theorie gibt dem Talent Tiefe, sondern die eigene Persönlichkeit und …«

»Wer bist du?«, unterbrach Kathi ihn rüde, und ihr stechender Blick bohrte sich in Ari. »Du bist offenbar nicht verwundet worden, du wirkst nicht abgemagert wie wir alle. Wie hast du das geschafft? Wann hast du die vielen Texte einstudiert? Wenn du nicht an der Front gewesen bist, hättest du wenigstens bei der Flak dienen müssen. Und in den vielen Bombennächten lernt man ein wenig über das Leben und ganz viel über den Tod, aber was ein Goethe einst in die Welt posaunt hat, spielt keine Rolle mehr.«

»Kathi …«, ermahnte Max sie.

Sie fuhr zu ihm herum. »Was denn? Ich stelle doch eine äußerst berechtigte Frage. Du hast dich im Krieg kaputt schießen lassen. Ich wiederum hätte gerade die Berta von Bruneck in Schillers Tell spielen sollen, als ich zum Arbeitsdienst eingezogen wurde und fortan in einer Fabrik Granatzünder einsetzen musste. Ich will wissen, was der da in den letzten Jahren gemacht hat.«

Ari wich unwillkürlich zurück, hatte den Rand der Apfelsinenkistenbühne erreicht und lief Gefahr abzustürzen.

»Wer kann dieser Tage schon ein Zeugnis vorweisen?«, fragte Max.

»Sei doch nicht so leichtgläubig! Du weißt genau, dass die Amis sie suchen – die, die man früher Helden nannte und die jetzt als Kriegsverbrecher bezeichnet werden.«

Sie spuckte das Wort geradezu aus.

Max war es mit Mühe gelungen, eine Zigarette aus dem Päckchen zu ziehen, dann rutschte es ihm aus der Hand und fiel auf den Boden. Er machte keine Anstalten, sich danach zu bücken, klemmte sich nur die Zigarette zwischen die Lippen, holte Streichhölzer hervor und richtete erst danach seinen Blick wieder auf Ari. »Nun ja, verkehrt ist es nicht, wenn du uns ein bisschen von dir erzählst. Uns einen Ausweis zu zeigen schadet ebenfalls nicht.«

Ari verknotete seine Hände hinter dem Rücken, spürte, wie sie schweißnass wurden. Er könne alles spielen, was man von ihm verlangte, hatte er vorhin noch behauptet, und doch gab es eine Rolle, an der er scheiterte – sich unbekümmert zu geben.

Kathi stieg auf die Bühne, und nun war sie es, die spielte – mit ihm. »Offenheit, Ehrlichkeit, Wahrheit fordert Stanislawski von den Schauspielern, und das fordere auch ich. Steigt der Schauspieler nicht in die Abgründe der menschlichen Seele? Welche Abgründe klaffen denn in deiner Seele?«

Als Ari die Zeilen, die sie frei zitierte, im Stanislawski-Buch gelesen hatte, hatte er überzeugt genickt. Jetzt konnte er nicht nicken, auch nicht den Kopf schütteln, er brachte keine Lügen über die Lippen, aber die Wahrheit erst recht nicht. Nur von der Bühne stürmen, die Treppe hochstolpern, durch den Raum hasten, wo immer noch Eintopf gelöffelt wurde – das konnte er.

Ari zog den Kopf ein, machte sich doch der beißende Wind einen Spaß daraus, Staub und Steinchen aufzuwühlen und den Leuten ins Gesicht zu schleudern, die hier unterwegs waren. Fast lief Ari gegen ein Haus, weil er die Augen zugekniffen hatte. Nein, es war kein Haus, nur eine heile Fassade, hinter der ein Loch klaffte.

Was, wenn das ein Sinnbild für ihn selbst war? Wenn die Maske, die er trug, ein nacktes Nichts verbarg?

Kraftlos sank er auf einen Berg Geröll und blickte selbst dann nicht hoch, als er Schritte vernahm. Auf eines konnte man sich hier verlassen: Wer zu Boden ging, fiel nicht weiter auf. Doch die Schritte hielten inne, jemand war dicht vor ihm stehen geblieben, und schon spürte er eine Hand, die sich auf seine Schulter legte.

»Nicht so schnell, nicht so schnell …«

Max Guthmann hatte die Zigarette zwischen seinen Lippen immer noch nicht angezündet. Er nuschelte seine Worte nur, Ari verstand sie trotzdem, als er fortfuhr: »Du hast deine Sache wirklich gut gemacht. Dass jemand heutzutage noch eine Seele hat, ist schon viel. Was soll es mich kümmern, welche Schuld womöglich auf dieser Seele lastet? Ich selbst schlüpfe schließlich auch in den alten Militärmantel, wenn ich’s warm haben will, ganz gleich, ob Blut daran klebt. Und wenn man kein sauberes Wasser hat, um den Boden aufzuwischen, muss dreckig braunes genügen.«

Ari starrte ihn verständnislos an. Er hatte sich schon nach einem Fluchtweg umgesehen, doch als Max sich nun neben ihn hockte, begriff er, dass der Regisseur auf etwas anderes hinauswollte.

»Wir haben uns alle nicht mit Ruhm bekleckert, wir Schauspieler schon gar nicht. Jungspunde wie du müssen sich dafür aber nicht schämen. Die Reichstheaterkammer hat ja dafür gesorgt, dass der Nachwuchs eine weltanschauliche Schulung bekommt. Mit mir selber gehe ich weitaus kritischer ins Gericht. Ich war 1933 kein Kind mehr, sondern schon erwachsen. Am Anfang dachten wir, wir müssten nur lange genug den Atem anhalten, dann hätte sich die Pestilenz verzogen. Aber am Ende gewöhnten wir uns an den Gestank, und was verschwand, war nicht der braune Dunst, es waren unsere Kollegen, unzählige Intendanten, auch Regisseure. Wusstest du, dass ein Drittel sofort entlassen wurde? Ich stand damals noch am Anfang, ergatterte so meine erste große Rolle. Bis dahin war ich kaum mehr als ein Statist gewesen, ich kann nicht behaupten, auch nur annähernd so viel Talent gehabt zu haben wie du. Aber das konnte ich wettmachen, indem ich laut genug grölte, Hitler wäre der beste aller Führer fürs deutsche Volk. Stolz bin ich nicht darauf, dass ich eines der ersten Mitglieder der Reichstheaterkammer wurde. Dass ich am vehementesten forderte, volksfremdes Kulturgut müsste von den Bühnen verbannt werden und selbige müssten mit Hakenkreuzfahnen geschmückt werden, ob’s zum Inhalt des Stückes passte oder nicht.«

Ari fühlte, wie ihm ein Stein ins Gesäß stach. Auch an Max’ Worten vermeinte er, sich aufzuschürfen. Er rückte von ihm ab.

»Was immer du in den letzten Jahren gemacht hast«, fuhr Max gutmütig fort, »vor mir musst du dich nicht rechtfertigen. Ich rechtfertige mich ja nicht einmal vor mir selber. Sind wir doch ehrlich: Bevor die Nazis an die Macht kamen, standen die meisten Bühnen Deutschlands vor dem Bankrott. Die Spielzeiten waren nach der Wirtschaftskrise verkürzt worden, die Zuschüsse eingefroren. Doch nun floss plötzlich Geld, und wir durften spielen, was das Zeug hielt. Nun ja, nicht alles, aber was war daran schon schlimm?« Er lachte spöttisch, hatte nun endlich die Streichholzschachtel gefunden. Er klemmte sie neben der Zigarette zwischen die Lippen, zog ein Streichholz heraus, und es gelang ihm sogar, es anzumachen. Aber das Feuer erlosch, ehe er die Zigarette daran anzünden konnte.

Ari ignorierte seinen hilfesuchenden Blick.

»Ganz ehrlich«, rief Max davon ungerührt. »Wir haben damals heimlich gelästert, dass in den jüdischen Theatern, die es noch eine Weile gab, nicht nur Schiller und deutsche Romantiker verboten waren, nein, dass man aus allen Stücken die Worte ›deutsch‹ und ›blond‹ tilgen musste. Blond! Ich bitte dich! Das ist doch ein harmloses Wörtchen! Warum hätte es der Jude nicht sagen dürfen? Ich verstehe überhaupt nicht, warum man Worte wie Gold wiegt und dieses im Notfall schluckt, damit niemand es einem rauben kann. Ich spucke lieber aus, was andere hören wollen – bis vor Kurzem vor den Braunen, jetzt vor den Amis. Ist mir etwa die Zunge davon abgefallen?«

Er verschwendete das zweite Streichholz, das wieder erlosch, stieß Ari an. »Wenn du nicht willst, musst du nichts sagen. Auf der Bühne zwar schon, aber dort ist der Text vorgegeben. Was du sonst treibst … getrieben hast, ist mir egal. Lass uns darüber gern schweigen. Auch Kathi werde ich sagen, sie soll dich in Ruhe lassen. Dass man etwas, was eben noch als Heldentat galt, nun plötzlich Unrecht nennt, ist so lächerlich, als wollte man einen blonden Menschen als Rotschopf bezeichnen, obwohl ihm immer noch die gleichen Haare auf dem Kopf wachsen. Wobei man Haare färben kann, wie man will. Aus Blond kann man mit Schuhcreme ein Schwarz machen, und aus Braun Rot – du hast ja an Kathis Lippen gesehen, was man mit Rübensaft alles anstellen kann.«

Je länger der Mann auf ihn einredete, desto verwirrter wurde Ari. »Sie … Sie nehmen mich in Ihr Ensemble auf?«, fragte er, als der andere endlich geendet hatte.

Max hielt ihm die Streichholzschachtel vor das Gesicht. »Man kann fast alles mit einem Arm tun, sich selber Feuer geben aber nicht.« Ari machte weiterhin keine Anstalten, ihm zu helfen. »Was nun unser Ensemble anbelangt«, fuhr Max schulterzuckend fort, »so kannst du gern ein Teil davon werden, unter einer Bedingung. Ganz Unrecht hat Kathi nämlich nicht – wir müssen einander vertrauen. Und darum musst du uns beweisen, dass du nicht nur ein guter Schauspieler bist, sondern dass wir uns auf dich verlassen können.«

Die Zigarette war ihm aus dem Mundwinkel gerutscht, fiel nun auf seinen Schoß, rollte von dort auf den Boden und verschwand im Geröll.

»Verdammt!«, fluchte Max.

Ari erhob sich: »Wie soll ich das beweisen?«

Max bückte sich und tastete nach der Zigarette. Er blickte nicht hoch, als er sein Anliegen nannte.

Die Aufgabe, die er Ari stellte, klang auf den ersten Blick harmlos. Aber wer nur ein wenig vom Leben im Ruinenfrankfurt wusste, kam rasch zu dem Schluss, dass sie sich nicht ohne Erfindungsreichtum, gar Tricksen und Betrügen, erfüllen ließ.

»Denkst du, du schaffst das?«, fragte Max.

Ari machte keine Anstalten, ihm bei der Suche nach der Zigarette zu helfen und sie ihm anzuzünden. Aber er erklärte: »Ich werde es versuchen.«