Die Welt gehört uns  - Eine unmögliche Freiheit - - Julia Kröhn - E-Book

Die Welt gehört uns - Eine unmögliche Freiheit - E-Book

Julia Kröhn

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Beschreibung

Eine Liebeserklärung an die Kraft der Bücher! Die neue Reihe der SPIEGEL-Bestsellerautorin und Historikerin Julia Kröhn.

Frankfurt, 1965: Zwanzig Jahre hat Ella erfolgreich das »Bücherreich« geführt, doch nun herrscht Zwist: Ihre deutlich jüngere Schwester Luise hat die schnulzigen Bücher satt. Ihr Kopf ist voller neuer, unerhörter Ideen, zu denen sie der charismatische und politisch aktive Student Thilo anstiftet. Zunächst steht Ella diesen ablehnend gegenüber. Doch dann bringt Luise sie dazu, ein dunkles Kapitel ihrer Vergangenheit aufzuschlagen. Ella erinnert sich wieder, was sie einst als Verlegerin angetrieben hat: der Glaube, dass Bücher Menschen aufrütteln und die Welt verändern können. Werden sie ihr nun auch helfen, endlich ihr Glück zu finden?

»Die Buchhändlerinnen von Frankfurt« von Julia Kröhn:
1. Die Gedanken sind frei
2. Die Welt gehört uns

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Seitenzahl: 519

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Buch

Frankfurt, 1965: Zwanzig Jahre hat Ella erfolgreich das Bücherreich geführt, doch nun herrscht Zwist: Ihre deutlich jüngere Schwester Luise hat die schnulzigen Bücher satt. Ihr Kopf ist voller neuer, unerhörter Ideen, zu denen sie der charismatische und politisch aktive Student Thilo anstiftet. Zunächst steht Ella diesen ablehnend gegenüber. Doch dann bringt Luise sie dazu, ein dunkles Kapitel ihrer Vergangenheit aufzuschlagen. Ella erinnert sich wieder, was sie einst als Verlegerin angetrieben hat: der Glaube, dass Bücher Menschen aufrütteln und die Welt verändern können. Werden sie ihr nun auch helfen, endlich ihr Glück zu finden?

Autorin

Die große Leidenschaft von Julia Kröhn ist nicht nur das Erzählen von Geschichten, sondern auch die Beschäftigung mit Geschichte: Die studierte Historikerin veröffentlichte – teils unter Pseudonym – bereits zahlreiche Romane. Nach ihrem großen Erfolg, »Das Modehaus«, ein Top-20-SPIEGEL-Bestseller, ihrem hochgelobten Riviera-Zweiteiler sowie ihrer Lehrerinnen-Saga »Die Alster-Schule« widmet sich Julia Kröhn nun ihrem Herzensthema: den Büchern. In ihrer Dilogie »Die Buchhändlerinnen von Frankfurt« erzählt sie die Geschichte einer Buchhandlung aus der Perspektive zweier Schwestern, von der Nachkriegszeit bis zur Studentenrevolte.

Weitere Informationen unter: www.juliakroehn.at

Von Julia Kröhn bei Blanvalet bereits erschienen:

Das Modehaus

Riviera – Der Traum vom Meer

Riviera – Der Weg in die Freiheit

Die Alster-Schule – Zeit des Wandels

Die Alster-Schule – Jahre des Widerstands

Die Gedanken sind frei. Eine unerhörte Liebe

Die Welt gehört uns. Eine unmögliche Freiheit

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JULIA KRÖHN

Die Welt gehört uns

Eine unmögliche Freiheit

Roman

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die im Buch verwendeten Zitate folgen diesen Ausgaben: Gertrude Oheim: Das praktische Haushaltsbuch, Gütersloh 1954 Erich Kästner: Gesammelte Schriften, Band 7, Zürich 1959Erich Fried: Liebesgedichte, Wagenbachverlag, Berlin 1979Friedrich Schiller: Gedichte. J. G. Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart 1879Songtext »Wir wollen niemals auseinandergeh’n«: Gloria De Vos, Bruno Balz, Michael Jary Rainer Maria Rilke: Advent, P. Friesenhain, Leipzig 1898 Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 by Julia Kröhn

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

© 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Stefan Laws/stock.adobe.com, whoisho/Shutterstock.com und ullstein bild – CARO/Frank Sorge

BL · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28129-8V002

www.blanvalet.de

Bücher sind nicht Denkmäler der Vergangenheit, sondern Waffen der Gegenwart.

Heinrich Laube

1965

1. KAPITEL

»Nein«, sagte Lilo Brinkmann bedauernd, »heute werde ich kein Buch kaufen.«

Ella blickte sie verwundert an. Lilo war nicht nur ihre beste Freundin, sondern auch ihre treueste Kundin. Sie hatten an der großen Theke des Bücherreichs geplaudert, und eben hatte Ella sich abwenden, aus den Regalen einige Bücher ziehen und deren Lektüre empfehlen wollen. Sie wusste genau, was Lilo gefiel. Als vor zwei Jahren Angélique, die Rebellin erschienen war, hatte Lilo den Roman ebenso begeistert verschlungen wie die kürzlich erschienene Fortsetzung Angélique und ihre Liebe. Der neue Band der Reihe würde auf sich warten lassen, aber Ella hatte schon eine Idee, was sie ihr stattdessen schmackhaft machen konnte: Mit Cathérine von Juliette Benzoni würde sie nichts verkehrt machen und ebenso wenig mit den Verkaufsschlagern von Konsalik und Simmel.

Doch Lilo schüttelte energisch den Kopf. »Du weißt doch, Ella: Mit dem Lesen ist es so ähnlich wie mit meinen geliebten Marzipanpralinen. Am Abend sagt man: Ich lese nur noch eine Seite. Dabei weißt du genau, wie es endet: Bald ist Mitternacht vorbei, man kann immer noch nicht aufhören, und am nächsten Tag wird man nicht mal unter der eiskalten Dusche wach.«

Ella musste unwillkürlich an ihre Mutter denken, die das Lesen mit dem Genuss von heißer Schokolade verglichen hatte, aber sie vermied, sie zu erwähnen. Lilos Mutter Hertha, mit der die unverheiratete Tochter bis zuletzt zusammengelebt hatte, war erst vor wenigen Monaten verstorben, und Ella wollte nicht an die Trauer ihrer Freundin rühren. »Pralinen kann ich dir nicht anbieten, die bekommst du im Feinkostladen nebenan.«

»Aber ich darf doch nichts Süßes essen! Erinnerst du dich nicht an das Buch, das ich letztens bei dir gekauft habe?«

Ella musste kurz nachdenken, ehe ihr einfiel, dass nicht nur Liebesromane zu Lilos bevorzugter Lektüre gehörten, sondern auch Ratgeber wie Dr. Donald G. Cooleys Wunderkur.

Schon begann Lilo den täglichen Speiseplan vorzubeten, den sie dem Buch entnommen hatte und an den sie sich nun sklavisch hielt: Ihr Tag begann mit einem pochierten Ei und einer Scheibe Knäckebrot. Zum Mittagessen wurden frischer Spinat, Orange und Magermilch aufgetischt. Das Abendessen bestand aus Gemüsebrühe oder gegrilltem Fisch.

Als Lilo ansetzte, die Kalorientabelle, die am Ende des Buchs angehängt war, herunterzurattern, hob Ella abwehrend die Hand. Sie selbst ließ sich in einem Stehcafé in der Schillerstraße oft eine Mohnschnecke oder ein Stück Streuselkuchen schmecken – da wollte sie gar nicht wissen, wie ihre kleinen Sünden zu Buche schlugen.

»Außerdem habe ich mir die in der Wunderkur empfohlenen zwei Körperbürsten gekauft«, sagte Lilo. »Mit der einen reibt man sich unter heißem Wasser ab, mit der anderen unter kaltem.«

Ella verstand nicht recht, warum man hierfür nicht ein und dieselbe Bürste verwenden konnte. Aber viel wichtiger war die Frage: Wie konnte man freiwillig auf ein neues Buch verzichten, nur weil man keine Praline dazu essen durfte?

»Dann und wann wird eine Praline doch gestattet sein«, versuchte Ella das Thema umzulenken.

»Nein, nein, ich verzichte auf ein neues Buch.«

Seufzend verabschiedete Lilo sich. Als sie einen letzten Blick auf die übervollen Regale warf, schien es, als würde sie im letzten Moment doch noch schwach werden. Aber dann spiegelte ihre Miene die Entschlossenheit eines Priesters wider, der ein für alle Mal der Versuchung abschwört.

Sobald ihre Freundin den Laden verlassen hatte, sah Ella sich wohlwollend in ihrem Bücherreich um. Manchmal dachte sie, sie müsse die Buchhandlung etwas übersichtlicher gestalten, aber insgeheim mochte sie es, dass man keinen Schritt tun konnte, ohne ein Buch zu berühren.

An beiden Seiten des schmalen Verkaufsraums reichten die Regale bis zur Decke. Nicht nur diese waren randvoll, auch die kleinen Tischchen davor. Und ganz hinten bedeckten mehrere Stapel, die sie noch nicht einsortiert hatte, den Boden. Obwohl das Angebot der Buchhandlung eine große Bandbreite bot – Biografien und Reiseliteratur waren ebenso erhältlich wie wissenschaftliche Werke und Lyrik –, fand Ella sich doch in jenen programmatischen Worten wieder, die Lothar Blanvalet, dem Verleger der Angélique-Reihe, zugeschrieben wurden. Seine Bücher, so hatte er einmal erklärt, würden dem Entspannungsbedürfnis eines breiten Publikums entsprechen, ohne dass dabei das notwendige Niveau außer acht gelassen werde.

In der kleinen Schmökerecke konnte man seit Kurzem in Bücher hineinlesen. Ella hatte einen Winkel der Buchhandlung leer geräumt und vor einer Wand mit grün-weißer Schmucktapete einen Schaukelstuhl aufgestellt. Der Platz fehlte ihr natürlich für Regale, und oft überlegte sie, ob sie ihr Bücherreich nicht doch vergrößern sollte. Sie könnte das Stockwerk darüber mieten oder jene Räumlichkeiten einbinden, die man über den Hinterhof erreichte, die einst den zur Buchhandlung gehörigen Verlag ihrer Eltern beherbergt hatten und die sie nach dessen Auflösung an einen Weinhändler vermietet hatte. Aber dann sagte sie sich, dass gerade die heimelige Enge ihren Reiz hatte.

Bald ließ sie ihren Blick nicht mehr über die Regale schweifen, sondern Richtung Uhr.

Luise hatte eigentlich um siebzehn Uhr da sein wollen, um Ella in der Buchhandlung abzulösen, schließlich galt es, im kleinen Büro dahinter diverse Dinge zu erledigen. Die Remittenden – jene unverkäuflichen Exemplare, die man zurück an den Verlag schickte – warteten darauf, verpackt zu werden. Außerdem musste sie ein paar Abrechnungen erledigen, um des Papierwusts auf dem Schreibtisch Herr zu werden.

Endlich ertönten Schritte.

»Wo bleibst du denn …«

Als Ella ihre Schwester – für sie insgeheim immer noch die kleine Schwester, obwohl Luise sie um einen halben Kopf überragte – genauer musterte, blieb ihr das »so lange« in der Kehle stecken. Stattdessen platzte aus ihr heraus: »Wie siehst du denn aus?«

Sie verstand, dass Luise mit ihrem Kleidungsstil betonen wollte, ganze zwanzig Jahre jünger als Ella zu sein. Nie hatte Ella sie getadelt, weil ihre Faltenröcke etwas kürzer, die Pfennigabsätze etwas höher waren und sie, wenn sie zum Tanzen ging, ein Rüschenwunder namens Petticoat trug. Im Gegenteil: Ella war immer die Erste, die die schmale Taille, die sie selbst den geliebten Mohnschnecken geopfert hatte, bewunderte. Doch ein Petticoat bedeckte wenigstens die Knie, dieses formlose Hängerchen aber, das man unmöglich als ordentliches Kleid bezeichnen konnte, reichte gerade mal über die Hälfte der Oberschenkel. Das Blumenmuster erinnerte an die Tapete in der Schmökerecke, allerdings waren die Farben so grell, dass es in den Augen wehtat. Und Luises Lidschatten war auch erstaunlich farbenfroh. Noch nie hatte Ella ihre Schwester so stark geschminkt gesehen, noch nie mit derart hochtoupierten Haaren. Am Hinterkopf hatte sie sich einen lockeren Pferdeschwanz gebunden, doch etliche Strähnen fielen ihr ums Gesicht.

»Ist das eine Buchhandlung oder ein Bestattungsunternehmen?«, gab Luise trotzig zurück.

Ella war nicht sicher, wann genau ihre Schwester sich diesen Tonfall angewöhnt hatte.

»Ich meine ja nur, ob dein Auftritt hierzu passt?« Sie deutete auf das graue Kleid samt weißer Schürze, das Ella wie fast alle Buchhändlerinnen bei der Arbeit trug und das sie selbst als ihre Uniform bezeichnete.

Kurz wurde Luises Miene noch verdrossener. Dann nahm sie die eigene Schürze vom Haken und band sie sich missmutig um, aber sie erklärte umso entschiedener: »Ich gehe nicht mehr dorthin.«

»Dorthin?«, fragte Ella, obwohl sie wusste, was gemeint war.

Für insgesamt acht Wochen sollte Luise ergänzend zur Buchhändlerlehre die sogenannte Schule der Frauen besuchen, wo junge Damen nicht nur Einblick in Warenkunde und Verkaufstechnik erhielten, sondern auch diverse Benimmregeln gelehrt wurden. Ella wusste, dass neben angehenden Verkäuferinnen auch Mannequins diese Kurse besuchten. Doch sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass man dort lernte, sich derart auffällig zu schminken. Sie verkniff sich eine harsche Entgegnung und fragte vermeintlich amüsiert: »Warum denn nicht? War heute wieder mal ein Beamter der Frankfurter Kriminalpolizei eingeladen, der über Heiratsschwindel referierte?«

Sie hatten letztens gemeinsam darüber gelacht, aber heute war Luise nicht nach Lachen zumute.

»Eine Hauswirtschaftslehrerin hat über Gefriertruhen, die sie liebevoll Spartruhen genannt hat, gesprochen. Und besonders begeistert hat sie geschildert, wie man Schweinehälften zerlegt.«

Ella konnte nicht anders, als loszuprusten, aber aus Luises schmalen Augen blitzte Verärgerung.

»Du bist die Letzte, die sich darüber lustig machen darf«, zischte sie. »Schließlich entspricht dieser Unsinn doch dem Frauenbild, das du hier propagierst.«

»Propagierst?« Ella konnte sich nicht erinnern, einen Begriff wie diesen jemals aus Luises Mund vernommen zu haben.

Luise trat prompt zu jenem Bücherregal, aus dem Lilo vorhin ihren Diätratgeber gezogen hatte. Sie nahm ein Buch heraus und hielt es hoch wie eine Anklageschrift. »Du verkaufst ja auch so etwas!« Schon begann sie, mit künstlicher Stimme ein Kapitel aus dem Praktischen Haushaltsbuch von Gertrude Oheim zusammenzufassen. »Richtig tolle Tipps werden einem da gegeben! Zum Beispiel, das Frühstücksgeschirr schon am Vortag vorzubereiten. Kleider und Schuhe sowieso. Und die Erbsen für das Mittagessen einzuweichen. Die dämliche Hausfrau scheint ohne Anweisung ja nichts auf die Reihe zu kriegen.«

Ella zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, das klingt etwas … antiquiert, aber es verkauft sich nun mal gut.«

»Und deine Seele verkaufst du gleich dazu!«

»Warum bist du bloß so melodramatisch?«

Luise nahm sich den nächsten Ratgeber vor. »Weißt du, was hier drinsteht? Dass man täglich laut einen Zeitungsartikel mit einem Flaschenkorken zwischen den Zähnen lesen soll? So lernt man deutliche Aussprache. Ich frage mich allerdings, wozu. Für junge Frauen ist schließlich nicht vorgesehen, sich an Gesprächen zu beteiligen.« Sie blätterte ein paar Seiten weiter. »Hier, siehst du: Wenn Sie Gäste haben, zeigen Sie Ihr Wissen nur, wenn Sie direkt gefragt werden.« Luises Stimme klang nicht, als hätte sie einen Korken zwischen den Zähnen, sondern hart und verärgert. »Und ein weiteres Kapitel widmet sich dem Thema, wie man seine eigene Bestattung plant.«

Ella konnte sich vage erinnern, dass der wichtigste Ratschlag lautete, Bescheidenheit über den Tod hinaus zu demonstrieren und auf einem einfachen Sarg zu bestehen. Und dass der beste Ruheort das Elterngrab wäre. Sie hatte es ein wenig kurios gefunden, dass gleich nach diesem morbiden Kapitel eines über das richtige Auftragen von Faltencreme folgte, aber sie konnte trotzdem nicht verstehen, warum Luise derart erzürnt war.

Sie trat auf sie zu, nahm ihr das Buch aus den Händen. »Wie gesagt, es gibt Kundinnen, die solche Bücher verlangen und …«

»Bücher!«, stieß Luise aus. »So etwas kann man doch nicht Bücher nennen. Frauenverblödungsmachwerke sind das bestenfalls. Und deine ganzen Schmonzetten …«

»Luise!« Ella verlor allmählich die Geduld. Oft genug hatte sie ihrer jüngeren Schwester ihre Sichtweise erklärt. »Es ist schön und wichtig, dass Menschen überhaupt lesen. Solange sie nicht vor dem Fernseher sitzen, ist mir jede Form recht. Es ist elitär und ignorant, über die Bedürfnisse der Menschen hinweg an einem Bildungskanon festzuhalten, der nicht mit der Zeit geht, und etwas als kitschig und anrüchig zu bezeichnen, was eine wichtige seelische Funktion hat. Nach all den langen Jahren, in denen es mit dem Umsatz bei uns stetig bergauf ging, ist jetzt ein Einbruch zu befürchten, weil viele Menschen den Fernseher bevorzugen. Da kann ich nicht von meinem Programm abrücken, das mir verlässlich Kundschaft bringt. Es ist auch nicht so, dass ich keine zeitgenössische Literatur anbiete. Natürlich gibt es hier ebenso Werke von Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann oder Siegfried Lenz.« Luise hatte schon den Mund geöffnet, um zu widersprechen, doch Ella würgte die Debatte ab. »Lass uns später weiterreden. Wolltest du nicht heute das Schaufenster dekorieren?«

Luise verzog ihr Gesicht, als wäre ihr auch das zu dumm. Dabei war in der Berufsschule vorgesehen, dass sie jeden Monat mindestens einen Plan für eine Schaufenstergestaltung anfertigte und umsetzte.

Etwas versöhnlicher fügte Ella hinzu: »Wenn dir so viel am Niveau unserer Buchhandlung liegt, kannst du dich gerne auf die Sachbücher konzentrieren. Mit dem Fahrstuhl in die Römerzeit ist ein echter Verkaufsschlager. Für dieses Buch haben wir vom Verlag jede Menge Dekorationsmaterial erhalten.«

Nun zupfte ein Lächeln an Luises Lippen. »Ich hoffe, das ist langlebiger als der Nazipanzer.«

Selbigen hatten sie gemeinsam mit einem Buch über den Zweiten Weltkrieg bekommen. Er bestand aus drei Teilen, die man an gestrichelten Linien mit etwas Klebstoff zusammenfügen sollte, doch am Ende dabei herausgekommen war ein grässliches, schiefes Monstrum. Als noch instabiler hatten sich die zwei Pappfiguren in Lebensgröße erwiesen, die Stalin und Roosevelt darstellen sollten und ein kleines Mädchen, das mit seiner Mutter das Bücherreich besuchte, zum Weinen gebracht hatten. Immerhin war der Anblick der beiden Staatsmänner nicht so erschreckend gewesen wie das Pferd mit den beweglichen Augäpfeln – das Dekorationsmaterial für ein naturkundliches Buch.

Ella musste schmunzeln, aber Luise war längst wieder ernst. »Warum verkaufst du nicht endlich mal Bücher von Rowohlt, Suhrkamp und der Europäischen Verlagsanstalt?«

»Weil die nicht ins Bücherreich passen.«

»Sind dir die Verlage etwa zu links?«

»Wir haben keine politische Ausrichtung.«

Luise stampfte mit dem Fuß auf. »Alles ist politisch.«

»Wo hast du denn diesen Spruch her?«

»Muss mir das jemand vorgebetet haben? Kann ich als frei denkender Mensch nicht selbst darauf gekommen sein?«

Ella hob beschwichtigend die Hände, doch jetzt hatte sich Luise in Fahrt geredet. »Karl Marx anzubieten, das wäre doch mal was. Oder die Mao-Bibel, gerade weil man die fast nirgends bekommt. Damit würdest du auch Kundschaft anlocken … junge, frische, unverbrauchte Kundschaft. Stattdessen setzt du auf Plüschsesselliteratur, die ausschließlich deiner Generation gefällt.«

»Jetzt ist aber mal gut. Du tust ja so, als stünde ich mit einem Fuß in der Gruft, dabei bin ich gerade mal zweiundvierzig.«

»Egal wie alt du bist – du verhältst dich wie eine von diesen betulichen Buchhändlerinnen, die ihre Käufer bevormunden wollen.«

»Und wenn ich einer Lilo Brinkmann eine Mao-Bibel andrehe, bevormunde ich sie nicht?«

Luise trat an ihr vorbei und klopfte auf den Tresen. »Es fängt schon mit diesem Ungetüm an, das klar eine Grenze zwischen Leser und Buchhändler zieht. Warum sieht unsere Buchhandlung nicht wie ein Kaufhaus aus, in dem jedes Eckchen frei zugänglich ist? Warum lockst du keine jungen Leute an? In Italien stehen in fast jeder Buchhandlung ein Flipper und ein Cola-Automat.«

»Cola!«, Ella versagte beinahe die Stimme. »Trinkt man das etwa zur Karl-Marx-Lektüre?«, krächzte sie.

»Lass es eben Wein oder Kaffee sein. Eigentlich geht es nicht ums Trinken, sondern um freies Denken, und das kann man inmitten von Büchern, auf deren Einband adrett frisierte Frauen dargestellt sind, ja wohl kaum.«

Luise kam Ella fremd wie nie vor, und relativ scharf entfuhr es ihr: »Es reicht jetzt. Du kümmerst dich ums Schaufenster. Und du übernimmst die Kundenbetreuung, während ich …«

Luise schüttelte rüde den Kopf, ehe sie sich abwandte, um die Buchhandlung zu verlassen. »Tut mir leid, aber ich muss mich erst mal von den Schweinehälften erholen.«

»Luise, du kannst nicht kommen und gehen, wann du willst. Du machst hier offiziell eine Lehre, für die du bezahlt wirst und …«

Ella konnte kaum fassen, dass sie anstelle einer Entschuldigung oder Rechtfertigung nur die Ladenglocke hörte – und danach klappernde Schritte. Ihr war völlig entgangen, dass Luise zu dem Hängerchen auch noch hochhackige Stiefel anhatte. Seit wann trug man die mitten im Sommer? Seit wann wurde im Bücherreich gestritten? Und das, obwohl ihre Schwester für sie wie eine Tochter war?

Als sich Ella auf den Verkaufstresen stützte, merkte sie, dass ihre Hände zitterten. Sie ließ ihren Blick kreisen, doch die vollen Bücherregale wirkten nicht wohltuend wie sonst. Plötzlich überkam sie eine unbändige Sehnsucht nach Marzipanpralinen – Bücher allein waren nun mal nicht immer ein Trost.

Luise bereute es bald, dass sie mit Ella gestritten hatte.

Sie fand zwar immer noch, dass sie mit allem, was sie gesagt hatte, recht hatte, aber die dumme Auseinandersetzung hatte sie viel Zeit gekostet. Warum hatte sie nach der Schule der Frauen überhaupt noch den Umweg über die Buchhandlung genommen?

Als sie kürzlich zu spät auf den Campus gekommen war, weil ihr die Schwester Überstunden aufgebrummt hatte, hatte sie sich eine von Thilos spöttischen Bemerkungen eingefangen: »Mit deinen zweiundzwanzig Jahren brauchst du noch eine Genehmigung für einen freien Abend?«

In den letzten Wochen hatte sie alles getan, um den Eindruck zu zerstreuen, sie stünde unter Ellas Fuchtel, auch heute würde sie nicht die Wahrheit sagen, lieber so tun, als hielte sie Pünktlichkeit für spießig. Leider verriet die aufgelöste Frisur, dass sie gerannt war, die zerlaufene Wimperntusche machte gar den Anschein, als hätte sie geweint. Nun gut, bevor sie das Studierendenhaus – der Mittelpunkt vom Campus Bockenheim – betrat, spiegelte sie sich im Fenster und beseitigte die schlimmsten Spuren der Hast.

Aus der Ferne wirkte das Gebäude ein wenig wie ein Kloster, aber mittlerweile war sie oft genug hier gewesen, um zu wissen, dass in den um einen Innenhof gruppierten Fluren regelmäßig lebhafte Diskussionen und Debatten tobten. Den lichtdurchfluteten Festsaal hatte sie zwar noch nie betreten, aber sie kannte diverse Klubräume und das Herz des Hauses – die Mensa –, wohin sie auch jetzt strebte. Anders als noch vor ein paar Wochen fand sie sich mittlerweile gut zurecht, wusste, wo sich die Druckwerkstatt einer Studentenzeitschrift befand, wo die Autovermietung und die Arbeitsvermittlungsagentur.

Kaum zu glauben, wie sich die Uni in nur wenigen Jahren verändert hatte. Als sie sich seinerzeit nach dem Abitur inskribiert hatte, um Lehrerin zu werden, hatte man den Dekan als Spektabilität anzureden, und bei der feierlichen Immatrikulation waren die Erstsemester in Anzug und Kleid vor dem Rektor – der Magnifizenz – erschienen, der seinerseits Talar trug. Alles war ihr sehr steif vorgekommen, sie hatte rasch die Lust am Studium verloren, weil sie mehr mit Menschen arbeiten wollte, und nachdem sie auch eine Reisebürolehre abgebrochen hatte, hatte sie sich entschieden, in die Fußstapfen ihrer Schwester zu treten. Mittlerweile aber war die Buchhandlung zu einem Ort geworden, der ihr antiquiert und verstaubt erschien, während hier ein frischer Wind wehte.

Sie blickte sich in der Mensa um, konnte zwar Thilo nirgendwo entdecken, aber einige seiner Freunde.

Am auffälligsten war Ernesto. Mit durchgedrücktem Kreuz saß hier niemand, jeder hing auf seinem Stuhl, doch keiner war in der Kunst des Gammelns so bewandert wie er, der auf dem durchgesessenen Fauteuil eher lag, als saß. Auch andere trugen die Haare länger, als es ihren Eltern zusagte, aber keiner hatte einen so wild wuchernden Bart. Nicht nur, dass er nicht gestutzt war, es verfing sich immer irgendwas in den Zotteln – Zigarettenasche, Essenreste, einmal sogar ein ganzer Bleistift. Bis heute wusste sie nicht, ob er ihn selbst hineingesteckt oder jemand ihm einen Streich gespielt hatte.

Genau genommen hieß Ernesto Ernst, aber er war glühender Bewunderer von Che Guevara – jenem marxistischen Revolutionär, der zunächst angetreten war, mehr Gerechtigkeit nach Kuba zu bringen, nach einem Streit mit Fidel Castro aber nun die Revolution im Kongo vorantreiben wollte – und ließ sich nur mit dessen Vornamen anreden.

Ernesto gegenüber saß der Jurastudent Claus. Er hatte so gar nichts mit Ernesto gemein, sah aber auch nicht so aus, wie Luise sich noch vor Kurzem einen typischen Studenten vorgestellt hatte. Seine blonden Haare waren zwar akkurat gescheitelt, und die Nickelbrille, die im Laufe heftiger Diskussionen oft auf die Nasenspitze rutschte, gab ihm einen intellektuellen Anstrich, aber er trug stets stark gemusterte Anzüge, niemals Krawatte und Stiefeletten aus kreischend rotem oder blauem Lack. Anders als die anderen lümmelte er nicht auf einem Stuhl, sondern hielt seine langen Monologe über die Verkrustung des Establishments im Stehen.

Auch jetzt hatte er sich in Rednerpose geschmissen, und da alle Augen auf ihn gerichtet waren und niemand merkte, wie sich Luise näherte, war ihr die Entscheidung abgenommen, ob sie nach Thilo fragen sollte. Möglichst leise setzte sie sich auf einen Stuhl, während Claus die geplante Notstandsgesetzgebung anprangerte, die in seinen Augen das Parlament entmachten, folglich dem autoritären Staat Vorschub leisten würde.

Ernesto zupfte mit solch grimmiger Miene an seinem Bart herum, als wollte er ihn sich ausreißen, und ballte verärgert die Hände. »Und wo warst du dann vor zwei Tagen, als wir am Römerberg dagegen protestierten?«, grummelte er.

Claus blickte über Ernestos Fäuste hinweg. »Die staatskapitalistische Ausrichtung unseres Staats hat sich drastisch verstärkt. Man muss ein Bewusstsein für die reale Lage wecken und neue Formen der politischen Agitation finden. Was nützen denn die Demonstrationen, solange im Proletariat kein revolutionäres Potenzial mehr vorhanden ist?«

Ernesto löste seine Fäuste und winkte ab. »Ist ja schon gut mit dem Geschwafel. Mir würde es reichen, wenn jeder Nazi mal eine aufs Maul kriegt.«

Doch Claus hatte sich in Fahrt geredet. »Das große Projekt der Revolution sollte den geschichtlichen Nullpunkt markieren, der die Zukunft von jeglicher Vergangenheit abzutrennen hat. Und das ist nur mit antiautoritärer Erziehung und Zugang zur Bildung für alle Schichten zu erreichen.«

»Bildung, ha! Was nützt das bei diesen Ignoranten?«, höhnte Ernesto. »Jeder Dritte weiß nichts von den Napalmbomben in Vietnam. Das muss man ihnen ins Hirn hämmern.« Seine eindeutigen Gesten bekundeten, dass er am liebsten sofort damit angefangen hätte. Die heftige Regung führte allerdings dazu, dass er sich leicht zur Seite drehte und sein Blick auf Luise fiel. Neben den vier anderen, die im Halbkreis saßen, war sie die einzige Frau.

»Was willst du denn hier?«, kam es ungnädig.

Sie war nicht sicher, was sie sagen sollte. Mit dem Hinweis, dass sie schon an mehreren Diskussionsrunden teilgenommen hatte, würde sie eher Claus’ Zustimmung ernten, nicht Ernestos. Und der würde wohl auch nicht davon beeindruckt sein, dass sie sich auf das heutige Gespräch eigens vorbereitet hatte, indem sie sich in die erste Ausgabe der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Kultur-Zeitschrift Kursbuch vertieft hatte. Besondere Aufmerksamkeit hatte sie dem Dossier über Jean-Paul Sartre geschenkt, auch wenn sie nicht sicher war, ob sie es wirklich verstanden hatte. Sie war nicht mal sicher, ob Ernesto überhaupt wusste, wer Sartre war. Unlängst hatte er behauptet, dass nicht Philosophen mit Büchern in der Hand eine neue Welt formten, sondern Revolutionäre mit der Waffe.

Bevor sie etwas sagen konnte, waren Schritte hinter ihr zu hören. »Sie will doch nur wissen, wo Thilo steckt.«

Luise fuhr herum. Die junge Studentin, die sich ihnen näherte, wäre auch dann aufgefallen, wenn weibliche Studentinnen keine Minderheit gewesen wären – auf drei männliche kam gerade mal eine. Obwohl Luise sich alle Mühe gegeben hatte, sich ihrem Stil anzupassen – nie würde sie an diese mühelose Lässigkeit herankommen. Egal was Rosie trug, bei ihr wirkte es immer eine Spur schicker als bei ihr selbst. Obwohl auch Luises Hängerchen verboten kurz war, bedeckte Rosies Minirock noch weniger Bein. Ihr Oberteil war nicht bloß bunt, sondern hatte jenes geometrische Muster, wie Luise es bis jetzt nur in Modezeitschriften gesehen hatte, die die Boutiquen der Londoner Carnaby Street und King’s Road anpriesen. Während Luise fast eine Stunde mit ihrer Frisur gekämpft hatte, hatte sie einmal gesehen, wie Rosie sich zwischen zwei Vorlesungen ganz ohne Blick in den Spiegel die Strähnen zusammendrehte und mit einer Spange befestigte. Als sie ihren neidischen Blick gespürt hatte, hatte sie schulterzuckend erklärt, dass die langen Haare ihr lästig waren und sie sie bald streichholzkurz schneiden lassen würde.

Luise konnte sich nicht vorstellen, dass so eine Frisur irgendjemandem stand – außer Rosie natürlich.

Gerade machte sie sich eine Zigarette an und wurde zum lebenden Beweis dafür, dass ein weiterer Frauenratgeber in Ellas Buchhandlung – Das kleine Anstandsbuch für junge Mädchen – komplett irrte mit der Behauptung, dass Kettenrauchen und literweise Kaffee dem guten Aussehen schadeten.

Selbst Ernesto war kurz verstummt, und das gab Luise Zeit, zu einer Erklärung anzusetzen. »Ich bin hier, um über Sartre …« Der Name blieb ihr nicht nur darum in der Kehle stecken, weil sie sich an einem möglichst rauen r versuchte.

»Genug mit der öden Theorie!«, unterbrach Rosie. »Haben wir nicht vereinbart, in den Club Voltaire zu gehen?«

Claus war kurz irritiert, hatte wahrscheinlich noch mindestens zwei Vorträge parat, aber die anderen vier erhoben sich mit einem Ausdruck der Erleichterung, und Ernesto war es wohl egal, wo genau er von der Revolution träumen konnte.

Luise wusste, dass der Club Voltaire in der Kleinen Hochstraße bei Studenten beliebt war, aber betreten hatte sie ihn bislang noch nie. Gut möglich, dass es dort ähnlich zuging wie auf der Studentenparty, die sie letzte Woche besucht hatte. Flaschenbier und Zigaretten waren nur in den ersten Stunden herumgereicht worden – danach hatten alle zu kiffen begonnen, bis sogar Ernesto verträumt gelächelt und Claus gekichert statt geredet hatte. Nur Luise hatte abgelehnt, der Rhythmus von Velvet Underground und Pink Floyd berauschte sie genug.

Das Verruchteste, was sie bis dahin erlebt hatte, war die Blaue Stunde in einer Teenagerbar nahe der Hauptwache gewesen, wo zwischen 17.00 und 20.00 Uhr Rock ’n’ Roll getanzt wurde. Für die zwei Mark Eintritt gab es auch eine Cola gratis.

Obwohl sie sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als zuzugeben, dass ihr der Club Voltaire nicht ganz geheuer war, durchschaute Rosie sie natürlich. Schon sagte sie mit herablassendem Lächeln: »Keine Angst, dort kriegst du auch eine Limo. Aber mit flachen Stiefeln Twisten geht eher nicht.«

Luise blickte auf ihr neues Schuhwerk. Eigentlich hatte sie noch nie so hohe Absätze getragen wie heute, doch mit Rosies weißen Lackstiefeln konnte sie nicht mithalten.

»Ich bin heute nicht dabei«, erklärte Claus. »Morgen hält Jürgen Habermas seine Antrittsvorlesung, die will ich mir nicht entgehen lassen.«

»Und dafür brauchst du zuvor deinen Dornröschenschlaf? Für die Schönheit oder den Intellekt?«

Claus schob sich seine Nickelbrille zurück. »Thilo geht heute auch nicht mehr fort, hat er mir gesagt. Er ist schon im Studentenwohnheim.« Er wandte sich an Luise. »Wenn du willst, kannst du mich begleiten.«

Wieder fühlte sie sich ertappt. Wie peinlich, dass selbst Claus erkannt hatte, dass Sartre ihr nur als Vorwand diente, um Thilo zu sehen. Allerdings war von ihm kein Spott zu erwarten, auf dem Weg zum Studentenwohnheim würde sie nur eine antikapitalistische Rede über sich ergehen lassen müssen – und die war ihr immer noch lieber als Rosies Grinsen und ihr verächtlicher Blick. Außerdem wollte sie seit Langem wissen, wo genau Thilo wohnte. Leider hatte er sie bis jetzt noch nie zu sich eingeladen, aber als die selbstbewusste junge Frau, die sie sein wollte, sollte sie nicht darauf warten, sondern sich das Recht herausnehmen, ungefragt bei ihm aufzukreuzen.

Ein Vortrag von Claus blieb ihr dann doch erspart, denn das Kolb-Studentenwohnheim am Beethovenplatz war nicht so weit entfernt wie gedacht. Sie wusste, dass es im Keller einen Vortragssaal für Veranstaltungen des SDS gab – des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds –, wo politische Debatten stattfanden, ehe er dann wieder zum Tanzsaal umgewidmet wurde. Bevor Claus dorthin ging – offensichtlich hatte er keinen Schlaf gewollt, sondern die Möglichkeit, Ernestos dumpfen Phrasen zu entgehen –, nuschelte er noch Thilos Zimmernummer.

Wenig später war Luise ins dritte Stockwerk hochgestiegen und stand vor Zimmer 124. Sie hatte die Hand schon erhoben, um zu klopfen, ließ sie nun aber wieder sinken. Auf ein Herein zu warten war sicher spießig.

Sie kannte Thilo seit knapp vier Monaten, und immer noch konnte sie nicht recht einschätzen, womit man bei ihm wohlwollendes Gelächter oder beißenden Spott, eine skeptisch hochgezogene Braue oder ein Funkeln in den Augen hervorrief. Sie wusste nur, dass ihr Herz unrhythmisch zu pochen begann, sobald sie in seiner Nähe war – so wie zuerst an jenem Märztag vor vier Monaten, der ihr nun deutlich vor Augen stand.

Sie war auf der Zeil einkaufen, und neben der üblichen Menschenmenge drängte sich ein Protestzug über Frankfurts Einkaufsstraße. Erst später nahm sie wahr, dass die jungen Leute gegen den Vietnamkrieg protestierten. Sie begegnete einer Demonstration nicht zum ersten Mal, wenige Wochen zuvor hatte sich eine Menschenmenge Richtung US-Generalkonsulat in der Siesmayerstraße auf den Weg gemacht und war dabei am Bücherreich vorbeigekommen. Damals war es ein Schweigemarsch gewesen, heute waren immer wieder Parolen zu hören. So beharrlich sie den Demonstranten zunächst auszuweichen versuchte – irgendwann war kein Durchkommen mehr, hatten sie doch die Zeil einfach abgesperrt.

Luise dachte sich nicht viel dabei. Erst kürzlich hatte Ella gemeint, dass diese jungen Demonstranten Hunden glichen, die zwar bellen, aber nicht beißen würden. Also nutzte sie die erzwungene Ruhepause, um zu kontrollieren, ob die Naht ihrer neuen Seidenstrümpfe gerade saß, und sie zurechtzuzupfen. Laut Benimmbuch war das zwar etwas, was eine junge Dame niemals auf offener Straße tat, aber sie fühlte sich unbeobachtet. Gerade als sie sich noch etwas tiefer beugte, um die Strümpfe auch über den Fersen zurechtzuschieben, erkannte sie allerdings, dass dem nicht so war.

»Na, sitzt die Naht?«

Später konnte sie sich nicht mehr genau erinnern, was sie als Erstes wahrnahm, als sie den Blick hob: Das breite Grinsen, das eine weiße Zahnreihe offenbarte, diese langen braunen Locken, die ein kantiges Gesicht umspielten und ihm etwas Weiches gaben, die leicht zusammengekniffenen Augen, deren Farbe zwischen Blau, Grau und Grün changierte und die kalt gewirkt hätten, wäre nicht dieses Funkeln darin gewesen, den groß gewachsenen, schlaksigen Körper, der leicht wippte, als wäre das Leben ein Seiltanz.

Bevor sie all das erfasste, hatte sie jedenfalls etwas gefühlt, was einem sanften Stoß in den Magen glich. Ein Prickeln rann über ihren Rücken, und ihre Wangen liefen glühend rot an. Sie schämte sich, weil der junge Mann sie ertappt hatte, wie sie sich die Strumpfnaht richtete – und noch mehr, dass sie ihn mit offenem Mund hingerissen anstarrte. Sein Lachen, das man mit viel gutem Willen als keck hätte bezeichnen können, das in Wahrheit aber wohl anzüglich war, ließ sie noch heftiger erröten. Rasch senkte sie den Blick, um sich allerdings im nächsten Moment zurechtzuweisen, dass sie sich nicht wie ein kleines Mädchen benehmen solle, das beim Schummeln erwischt worden war. Sie blickte wieder hoch und zischte ein trotziges: »Idiot!«

Er war nicht im Geringsten beleidigt, sein Lachen klang freundlich, doch im nächsten Augenblick ging es im Lärm unter. Dass die Demonstranten die Zeil abgesperrt hatten, hatte eine Kompanie Polizisten auf den Plan gerufen. Luise konnte nicht genau erkennen, aus welcher Richtung sie kamen, nur dass im nächsten Moment auf Sprechchöre Geschrei folgte. Sie sah, wie Schlagstöcke flogen, auch Fäuste. Sie wollte ihrer ersten Regung folgen und fliehen, aber aus den Augenwinkeln sah sie, wie der junge Mann den Zweikampf mit einem Polizisten aufnahm, und sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Die Bewegungen waren so geschmeidig, als wäre der Kampf ein Tanz.

Wie verrückt, sich mit der Staatsmacht anzulegen, wie frech, wie provokant … wie elektrisierend.

Der Polizist hatte zwar rasch wieder von dem jungen Mann abgelassen, weil an anderer Stelle die Gegenwehr heftiger ausfiel, aber er musste ihn mit dem Schlagstock getroffen haben. Über die Stirn ging ein dünner Riss, aus dem Blut tropfte, und in seinem Blick stand nicht länger Spott – eher eine gewisse Verachtung, weil sie so entsetzt aufschrie.

Rasch presste sie die Lippen zusammen, und wieder ging alles ganz schnell. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie nur ein paar Meter von ihnen entfernt Demonstranten abgeführt wurden und sich von der anderen Richtung weitere Polizisten näherten. Im nächsten Augenblick hatte sie den jungen Mann am Arm gepackt. »Komm mit!«

Schon zog sie ihn in eine Seitengasse neben dem Kaufhaus Schneider. Sie hatte mit Gegenwehr gerechnet, ungeminderter Kampfeslust, aber er rannte hinter ihr her. Als sie stehen blieben, sobald sie die Polizisten abgeschüttelt hatten, waren seine Wangen leicht gerötet und seine Miene wieder so belustigt, als wäre alles ein großer Spaß. Dabei kam aus der Wunde noch mehr Blut, perlte über die Wangen wie rote Tränen.

»Du bist verletzt!«

Wieder dieses Lachen. »Du bist nicht zufällig Krankenschwester?«, spöttelte er.

Sie schüttelte den Kopf, erlebte zum ersten Mal, wie er die rechte Augenbraue hochzog. Sie achtete nicht weiter darauf, denn schon bückte sie sich, zog die Seidenstrümpfe von ihren Beinen, und bevor sie bereuen konnte, dass sie etwas so Kostbares verschwendete, bevor sie sich sagen konnte, dass das lächerlich aussehen würde, hatte sie sie ihm um den Kopf gewickelt wie einen Verband.

»Oh, là, là! Dafür lässt man sich gern den Schädel einschlagen.«

Als sie in seinem Blick versank, hatte sie kurz das Gefühl, dass auch ihr jemand auf den Kopf geschlagen hatte. Ihr schwindelte, und sie stützte sich unwillkürlich gegen die Hauswand. Im nächsten Augenblick stand er ganz dicht an sie gepresst. Laut und deutlich waren Pfiffe und Trampeln zu hören, die herannahende Polizisten verrieten. Auf der Suche nach noch mehr Unruhestiftern, die sie abführen konnten, erreichten sie soeben die Seitenstraße. Bevor sie den jungen Mann erblickten, presste der seinen Mund auf ihren. Seine Haare kitzelten sie, die Seidenstrümpfe erst recht, und wieder war da dieses Kribbeln in ihrem Magen, das sich überallhin ausbreitete.

So abrupt er sie an sich gezogen hatte, ließ er sie wenig später los. »Ich glaube, jetzt sind sie weg«, stellte er fest, dann machte er erneut diese weichen, fast tänzelnden Schritte, als wäre er nicht auf der Flucht, sondern schlenderte am Main entlang. Sie starrte ihm wortlos nach, doch am Ende der Gasse blieb er stehen, drehte sich um und deutete auf seinen Kopfverband. »Die Strümpfe darf ich doch behalten, oder?«

Ein Kichern brach sich in ihr Bahn, von dem sie nicht sicher war, ob es belustigt oder hysterisch klang.

»Und darf ich den Namen meiner Retterin erfahren?«, fragte er.

Sie unterdrückte ein neuerliches Kichern. »Luise … Luise Reichenbach«, sagte sie gepresst.

Er ging weiter. Thilo heiße er, warf er ihr über die Schultern zu. Seinen Nachnamen nannte er nicht, aber er lud sie zu einer Diskussion an die Uni ein.

In den nächsten Wochen hatte sie erfahren, dass der Campus Bockenheim nicht einfach nur ein Ort war, wo man studierte. Er war die Brutstätte einer Bewegung. Luise hatte APO bis dahin für eine Abkürzung von Apotheke gehalten, nun aber erfahren, dass es sich hierbei um die sogenannte außerparlamentarische Opposition handelte, zu der die Ostermarschbewegung mittlerweile ebenso gehörte wie die Kampagne Tod dem Atomstrom. Es gab verschiedene Untergruppen, die sich den Protest gegen die griechische Militärdiktatur oder das Franco-Regime in Spanien auf die Fahnen geschrieben hatten; der Kern, der die zersplitterte Formation zusammenhielt, war jedenfalls der SDS, der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der in Frankfurt sein Bundessekretariat eingerichtet hatte und hier zahllose Vollversammlungen sowie Demonstrationen organisierte.

Einmal war Luise an Thilos Seite bei einer mitmarschiert. Immer wieder war er ganz nah an sie herangerückt, hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt, nur geküsst hatte er sie leider nicht wieder, und seine Miene war immer spöttisch geblieben.

»Weißt du überhaupt, was die geplanten Notstandsgesetze sind, gegen die wir hier demonstrieren?«

Luise wollte nicht eingestehen, dass sie das immer noch nicht ganz kapiert hatte, auch nicht, warum ein Aktionsausschuss dagegen gegründet worden war. »Ich weiß, dass unsere Regierung aus Faschisten besteht«, sagte sie knapp, und aus dem gönnerhaften Grinsen wurde ein wohlwollendes. Im nächsten Augenblick gab er ihr sogar einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.

»Und weiß jemand wie du, was Faschismus überhaupt ist?«

Sie hatte keine Ahnung, was mit »jemand wie du« gemeint war. Ernestos Ansicht, wonach alle über dreißig Faschisten waren, erschien ihr jedenfalls etwas zu platt. Sosehr sie um die richtigen Worte rang, sie fielen ihr genauso wenig ein wie bei den Diskussionsrunden auf dem Campus. Mit vielen Begriffen – ob Emanzipation, antiautoritäre Erziehung oder Neomarxismus – konnte sie kaum etwas anfangen. Nun gut, Rosie, die man oft dort antraf, wo Thilo, Claus und Ernesto gerade waren, schwieg auch meistens. Aber sie wirkte dabei geheimnisvoll wie die Sphinx, während Luise ständig vor Scham rote Flecken im Gesicht hatte.

»Du bist doch mit Büchern aufgewachsen«, hatte Thilo, dem sie mittlerweile von ihrer Buchhandelslehre und ihrer Schwester erzählt hatte, gespottet. »Kann es sein, dass du bis jetzt die falschen Bücher gelesen hast?«

Zumindest das wollte sie sich nicht vorhalten lassen. In den letzten Wochen hatte sie alles, was ihr vom sogenannten roten Trio – Suhrkamp, Rowohlt und Europäische Verlagsanstalt – in die Hände kam, gelesen, und nun eben auch das von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene Kursbuch.

Sie würde Thilo mit ihrem Wissen über Sartre allerdings nicht beeindrucken können, wenn sie vor seinem Zimmer stehen blieb. Am Ende verzichtete sie darauf zu klopfen und riss die Tür einfach auf.

Thilo lag auf dem Bett und schlief. Das Bett war schmal, das Zimmer erst recht. Gleich neben der Tür befand sich ein von Sprüngen durchzogenes Waschbecken. Die grünlichen Fliesen dahinter waren in keinem besseren Zustand, der Spiegel angelaufen. Wahrscheinlich wiesen auch die weißen Wände ein paar Risse auf, aber die waren mit Plakaten gepflastert, von denen eins ein Porträt von Che Guevara zeigte. Es gab einen Schrank, dessen Tür halb offen stand; die Kleidung war nicht aufgehängt, sondern lag auf einem Haufen am Boden. Das Regal an der Wand war ebenfalls leer, denn das, was sich dort hätte befinden können, war auf dem Boden verstreut – etliche Schallplatten, auch diverse Bücher. Sie waren nicht zu Stapeln geschichtet, sondern lagen nebeneinander, teilweise aufgeschlagen – Camus, Adorno, Horkheimer, Lukács, Marcuse. Luise musste dem Drang widerstehen, sich danach zu bücken, die Eselsohren glatt zu streichen und sie zu ordnen. Sie war mit dem Gefühl aufgewachsen, dass Bücher heilig wären. Aber sie wusste, mit Ordnungswahn würde sie Thilo nicht beeindrucken. Schließlich lag der in Stiefeln und Parka auf der fleckigen karierten Bettdecke.

Sie schlich zum Bett, kniete sich davor und betrachtete ihn. Dort, wo er damals verletzt worden war, war eine dünne Narbe geblieben, und jedes Mal, wenn sie ihn traf, überkam sie das unbändige Verlangen, sie mit der Fingerkuppe nachzufahren. Sie konnte es immer unterdrücken, aber jetzt kam ein neues Verlangen hinzu – eine der braunen Locken, die ihm in die Stirn gefallen war, zurückzustreichen. Auch dem gab sie nicht nach, begnügte sich, einfach zuzusehen, wie er regelmäßig atmete. Doch als sie schon überlegte, wieder zu gehen, schnellte seine Hand vor und umfasste ihr Handgelenk. Während ihr ein spitzer Schrei entfuhr, verriet das Lachen, das aus ihm herausplatzte, dass er sich nur schlafend gestellt hatte.

»Hab ich dich erschreckt?«

Sie zwang sich zu lächeln. Die Lippen bekam sie so unter Kontrolle, das Beben nicht.

»Gar nicht«, sagte sie schnell und überlegte, wie sie die Überleitung zu Sartre hinkriegen könnte. Thilo machte allerdings nicht den Eindruck, als stünde ihm der Sinn nach philosophischen Debatten. Ruckartig zog er an ihrem Arm, und unversehens lag sie mit ihm auf dem Bett. Kaum zu glauben, dass hier zwei Menschen Platz finden konnten. Es war nur möglich, weil sie halb auf ihm zu liegen kam. Nie war sie ihm so nahe gekommen, nie hatte sie seinen schlaksigen Körper so deutlich gespürt, nie seinen warmen Atem so dicht an ihrem Gesicht.

Wie von weither ertönte in ihr eine mahnende Stimme, dass Verehrer einen bestenfalls auf eine Tasse Kaffee einladen durften, schon eine Kino- oder Theaterkarte anzunehmen nicht sittsam war und dass man in der Öffentlichkeit nicht mal Händchen halten oder einen Kosenamen nennen durfte.

Nun, sie hatte keinen Kosenamen, und die mahnende Stimme wurde gerade immer leiser. Sein Arm lag eine Weile schwer auf ihrem Bauch, doch plötzlich wanderte seine Hand langsam nach oben, während seine Lippen sich ihren Ohrläppchen näherten. Sie spürte, wie sie glühend heiß anliefen.

»Hans Marcus Enzensberger hat … «, setzte sie an.

»Du besuchst mich endlich einmal in meinem Zimmer, und dann willst du über Bücher sprechen?«

Er klang, als hätte er seit Wochen darauf gewartet und wäre immer wieder enttäuscht worden. In Wahrheit hatte sie inständig, aber vergeblich, auf ein Zeichen gewartet, dass ihm etwas an ihr lag, der damalige Kuss mehr als nur ein Ablenkungsmanöver für die Polizisten gewesen war, dass er sie nicht für ein kurioses Mädchen hielt, das durch das Studierendenhaus stolperte, sondern für eine belesene junge Frau, die etwas Interessantes zu sagen hatte.

In diesem Moment konnte sie nicht einmal etwas Uninteressantes sagen, doch wenn sie ihm gar nichts bedeutete, würde er nicht plötzlich ihr Ohrläppchen küssen, würde nicht auch noch seine zweite Hand über sie wandern lassen, kleine Stromstöße durch ihren Körper senden. Dann würde er nicht plötzlich in jenen dünnen Spalt ihrer Bluse vordringen, sich gefährlich der rechten Brust nähern.

Sie japste nach Luft. Sosehr sie sich gewünscht hatte, dass er sie noch einmal küsste – das hier ging ihr etwas zu weit.

»Na, du gehst aber ran.« Sie wollte locker wirken, belustigt, aber ihre Stimme klang gepresst, und unwillkürlich machte sie sich steif. Er merkte es, und so schnell, wie seine Hände begonnen hatten, ihren Körper zu erforschen, so schnell zog er sie zurück.

»Ist es zu schnell für dich?«

Als er von ihr abrückte, kam sie der Bettkante bedrohlich nahe. Aus dem aufregenden Kribbeln in ihrem Körper wurde ein dumpfes Pochen. Die Gedanken dröhnten in ihrem Kopf. Wollte sie es ewig bei dem belassen, was man Fummeln nannte? Sie hatte es mit ihrem einstigen Partner in der Tanzschule gemacht, der Walter hieß, schnell schweißnasse Hände bekam und bei jedem Kuss nach Luft schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Nach ihm war sie eine Weile mit Peter zusammen gewesen. Er brachte immer einen Blumenstrauß mit, der schon etwas welk war, und genauso fühlte sich der Griff seiner Hände an. Bevor er küsste, nahm er stets seine Brille ab. Und während er küsste, knetete er ihren Bauch wie einen Lebkuchenteig.

Bei solchen Männern konnte man doch nur ein spätes Mädchen werden. Aber sie wollte weder spät noch ein Mädchen sein, sondern eine junge, lebendige Frau, verführerisch und begehrenswert. Klug natürlich auch.

»Ach was. Make love, not war. So sehe ich das auch. Doch Liebe und Krieg sind zwei unterschiedliche Dinge. Du musst ja nicht gleich über mich herfallen wie ein Soldat über seine Kriegsbeute, oder?«

Er grinste, wälzte sich zur Seite, nahm sich diesmal die Zeit, um sie gründlich anzusehen, ehe er sie mit einer schwungvollen, aber keineswegs hektischen Bewegung auf sich zog. Eine Weile küssten sie sich, dann erst vollführte er eine weitere Drehung, sodass sie unter ihm lag. Nun ging es doch wieder recht schnell, irgendein Knochen stach hart in ihre Hüfte, aber bald gab sie sich wieder diesen Schauern hin, die sich überall dort ausbreiteten, wo seine Lippen sie berührten. Und das war fast überall. Er küsste sie auf den Mund, auf die Ohrläppchen, auf den Hals und zwischen den Brüsten. Erst als er beim Bauchnabel angekommen war, merkte sie, dass sie nackt war, zumindest teilweise. Ihr Hängerchen war einfach hochgeschoben, die Unterwäsche hing bei den Knien. Er selbst öffnete bloß seine Hose und schob sie mit der Unterwäsche etwas nach unten, während er Parka und Stiefel anließ.

Als er nun die Braue hochzog, wirkte es siegesgewiss.

Wieder presste sich sein Mund auf ihren, seine Zunge drang tiefer ein als zuvor. Sie war noch dabei, einen Rhythmus zu finden, als sie spürte, wie sich seine Finger zwischen ihre Beine schoben. Unwillkürlich verkrampfte sie sich, als auf das wohlige Kribbeln ein Schmerz folgte.

Er hob den Kopf, sah ihr forschend in die Augen. »Tue ich dir etwa weh? Ich meine, du bist doch schon zweiundzwanzig. Du bist doch keine …«

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Natürlich bin ich keine Jungfrau mehr, nun mach schon.«

Sie schlang ihre Hände um seinen Nacken, um ihm einen gierigen Kuss zu geben, dann biss sie vorsorglich die Zähne zusammen, um jeden Schmerzenslaut im Keim zu ersticken. Noch hielt er sich zurück.

»Du nimmst doch die Pille, oder?«

Eine weitere Lüge lag ihr auf den Lippen, aber sie wusste, dass diese mehr wog. Verlegen schüttelte sie den Kopf. »Du weißt doch, an die kommen nur verheiratete Frauen heran oder die, die aufgeschlossene Mütter haben.«

»Na, dann muss ich halt aufpassen.«

Wieder trafen sich ihre Zungen, während sich sein Körper in sie schraubte. Sie hatte keine Ahnung, was genau sie tun sollte, außer es einfach geschehen zu lassen. Immerhin war der stechende Schmerz sofort vorbei, eigentlich spürte sie fast gar nichts mehr, kein Kribbeln, keine Schauer, keine roten Flecken im Gesicht. Auch die Ohrläppchen glühten nicht länger, als hätte der restliche Körper nichts mit dem zu schaffen, was sich in der Leibesmitte abspielte. Nun gut, etwas fühlte sie schon – einen tiefen Triumph, als seine oft harten Züge so weich, fast liebevoll wurden, als das spöttische Lachen in ein Keuchen überging, die mechanischen Bewegungen in geschmeidige.

Und es war schön, hinterher ihr Gesicht an seine Brust zu schmiegen, auch wenn er sich nicht weiter entkleidet hatte, immer noch den Parka trug.

Er hatte sich eine Zigarette angezündet.

»Kann ich auch eine haben?«, fragte sie, erfreut, dass ihre Stimme wie gewünscht rau klang, nicht piepsig.

Einmal mehr zog er die Augenbraue hoch. »Seit wann rauchst du denn?«

»Oh, schon seit einer Weile.« Diese Lüge fiel ihr wieder ganz leicht.

Es war schon nach Mitternacht, als sie in ihre Klamotten schlüpfte. Insgeheim hatte sie gehofft, dass sie die ganze Nacht bei ihm verbringen würde, aber nach der dritten Zigarette hatte er gemeint, er müsse früh raus. Während sie sich anzog, blieb er liegen und sah ihr zu. Sie versuchte, möglichst wendig in ihre Unterwäsche zu schlüpfen, doch ihre Bewegungen wirkten wohl recht ungelenk. Seinem Grinsen ließ sich nicht entnehmen, ob ihm der Anblick gefiel. Wenigstens ihren Abgang wollte sie in Würde hinbekommen. Zwar hätte sie sich am liebsten noch einmal über das Bett gebeugt, ihn geküsst und auf diese Weise gezeigt, wie viel ihr dieser Abend bedeutete, aber es wirkte wohl wesentlich cooler, wenn sie, ohne sich umzudrehen, bis zur Tür ging und erst dort einen letzten Blick über ihre Schultern warf.

»Bis bald.«

Sie trat hinaus, stellte fest, dass im Gang nur ein Notlicht brannte. Suchend sah sie sich nach einem Schalter für die Neonleuchte an der Decke um, sah stattdessen … Rosie.

Einen Fuß lässig gegen die Wand gestützt, stand sie da und schien anders als Luise nicht verwundert über die Begegnung zu sein.

»Na endlich.«

»Was machst du denn hier?«

»Was wohl? Ich will hier schlafen.«

Rosie stieß sich von der Wand ab und kam auf sie zu stolziert, und Luise erstarrte.

Hier schlafen? Lebte sie mit Thilo zusammen? Waren sie ein Paar? Nun gut, ganz am Anfang hatte sie diesen Verdacht gehabt, denn wo Thilo war, war Rosie nie weit. Aber dasselbe galt für Ernesto und Claus, und sie hatte nie gesehen, dass Thilo und Rosie sich geküsst hätten.

Die Studentin schien zu wissen, was hinter Luises Stirn vorging, denn sie blieb stehen.

»Eigentlich lebe ich in einer Wohngemeinschaft, aber wenn die anderen Mädels rumzicken, schlafe ich auch mal hier.«

Als sie weitergehen wollte, stellte sich Luise ihr in den Weg.

»Thilo und du … seid ihr zusammen?«

Die eben noch spöttische Miene wurde ungehalten. »Himmel, so wie du das sagst, klingt es fast, als wollten wir morgen vor den Altar treten. Ich habe halt was mit ihm.«

Sie machte eine ungeduldige Bewegung mit dem Kinn, ein Zeichen, dass sie vorbeiwollte, aber Luise konnte sich immer noch nicht rühren. Trotz des eben noch genervten Ausdrucks lachte Rosie plötzlich auf.

»Keine Angst. Es ist kein Problem für mich, wenn er zwischendurch mit einer anderen bumst, das mache ich ja auch. Ich halt’s mit dem alten Descartes: Coito ergo sum.«

Die Worte boten Luises Gedanken etwas, woran sie sich festhalten konnte. Sie hätte schwören können, dass der Grundsatz des Philosophen Cogito ergo sum hieß – und es ihm ums Denken, nicht um Sex gegangen war. Ob sie sich vollends lächerlich machte, wenn sie das sagte?

Rosie kam ihr zuvor, indem sie neugierig fragte: »War’s denn gut für dich?«

Luise spürte einmal mehr, wie sich rote Flecken in ihrem Gesicht und Dekolleté ausbreiteten. »Ich will nicht …«, begann sie.

»Warum sollen wir denn nicht darüber reden?«, fragte Rosie unschuldig. »Wie Claus so schön sagt: Sexuelle Befreiung ist Teil des gesamtgesellschaftlichen Kampfes für die Selbstbestimmung der Menschen. Der befreite Eros ist dazu bestimmt, die bürgerliche Gesellschaft in Bewegung zu bringen.«

Sie lachte wieder, Luise war nicht sicher, ob über Claus’ gestelzte Worte oder ihre steifen Bewegungen. Eben hatte sie sich aus der Starre gelöst, ein paar Schritte gemacht. Gerade mal drei hatte sie geschafft, als die Tür hinter ihnen aufging und Licht den Flur erhellte. Thilo lehnte im Türrahmen, sein Blick ging zwischen ihnen hin und her.

Luise blieb wieder stehen, obwohl sie eigentlich dringend wegwollte.

»Ist noch was?«, fragte er.

Irrte sie sich oder klang er ungehalten?

Rosie trat auf ihn zu. »Du, ich habe mir Gedanken gemacht, was wir auf die Transparente schreiben können. Bei der geplanten Demo gegen den bundesweiten Bildungsnotstand nämlich. Ich habe da eine ganz witzige Formulierung …«

Sie hielt inne, als ihr aufging, dass Luise immer noch wie angewurzelt dastand. Genervt drehte sie sich zu ihr um.

Luise hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal gewusst, dass eine Demonstration geplant war. Und dass in Deutschland so etwas wie Bildungsnotstand herrschte, war ihr ebenfalls neu. »Tschüss«, presste sie heraus, bevor sie sich noch komplett blamierte, und ging eilig weg. Sie hatte das Gefühl, auf Stelzen zu laufen, und sie war überzeugt, die beiden starrten ihr nach und lachten sich insgeheim kaputt. Doch dann hörte sie, wie die Zimmertür zufiel, und im nächsten Augenblick stand sie wieder im trüben Licht der Notbeleuchtung.

»Verdammt!«

Sie tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn nicht. So blieb ihr wenigstens genug Zeit, um nachzudenken. Es war ihr unerträglich, dass das eben für Thilo nur eine schnelle Nummer war, die nichts zu bedeuten hatte. Ob sie selbst am Postulat der Einehe festhielt, hatte sie zwar noch nicht endgültig entschieden, aber sie wollte noch einmal an Thilo gepresst eine Zigarette rauchen. Um mit Rosie mitzuhalten, sie gar auszustechen und ihn restlos zu beeindrucken, würde allerdings kein Slogan für ein Transparent reichen, sie musste sich etwas anderes einfallen lassen.

Die Idee kam ihr genau in dem Augenblick, als ihre Hand den Lichtschalter berührte.

2. KAPITEL

Im Büro hinter der Buchhandlung war es heiß und stickig. Die Jalousie schützte kaum vor der Julisonne, die auf die Scheiben knallte, und obwohl Ella viel zu tun hatte, kam sie nicht recht voran.

Mehrmals musste sie einen Brief mit ihrer kleinen Erika-Schreibmaschine neu tippen – einmal, weil sich zu viele Fehler eingeschlichen hatten, dann, weil das Blaupapier verrutscht war.

Nach den Geschäftsbriefen nahm sie sich die Bestelllisten vor. Bis vor Kurzem hatte sie den Einkauf bei den Verlagsvertretern telefonisch abgewickelt, seit einiger Zeit arbeitete sie mit dem Telex, einem Fernschreiber: Ähnlich wie beim Telefon wählte man die Nummer des Adressaten und tippte dann Buchstaben ein, die in Signale verwandelt wurden.

Es war Luise gewesen, die auf der Anschaffung dieses Geräts bestanden hatte, würde dergleichen doch mittlerweile in allen Redaktionen stehen und wegen der ratternden Geräusche Ticker genannt werden. Ella war nicht klar gewesen, warum man als Buchhandlung einer Zeitung nacheifern sollte, eigentlich telefonierte sie auch gerne, aber es war ihr wichtig gewesen, Luise einen gewissen Gestaltungsspielraum zu lassen. Leider hatte das nichts gebracht. Seit ihrem Streit vor über einer Woche war die Schwester schmallippig und führte mit der Kundschaft weitaus längere Gespräche als mit ihr.

Nicht nur ihr Streit belastete Ella, auch die Tatsache, dass Luise an diesem Abend erst sehr spät nach Hause gekommen war. Sie hatte sich alles Nachfragen verkniffen, hatte sie nur misstrauisch gemustert. Betrunken hatte sie nicht gewirkt, aber am nächsten Tag hatte sie sich wegen angeblich unerträglicher Kopfschmerzen krankgemeldet.

Auch die Bemerkung, dass eine Tablette und starker Kaffee eigentlich reichen müssten, hatte Ella sich verkniffen, stattdessen sanft gesagt: »Bleib im Bett und ruh dich aus.«

Den ganzen Tag über hatte sie gehofft, dass sich nicht nur Luises Zustand bessern würde, auch ihre Laune, doch als sie am Abend angeboten hatte, Vanillepudding zu machen – früher ein Wundermittel, wenn Luise krank gewesen war –, hatte diese sie angeblafft: »Ich bin doch kein kleines Kind mehr.«

Wie eine verantwortungsvolle Erwachsene verhielt sie sich allerdings auch nicht. Am nächsten Tag hatte sie wieder erklärt, zu angeschlagen für die Arbeit zu sein, und aus Angst vor einem neuen Streit hatte Ella sie gewähren lassen. Selbst seit Luise endlich wieder zur Arbeit erschien, behandelte sie sie wie ein rohes Ei. Sie konnte sich nicht erinnern, sich im Umgang mit ihr je so unsicher gefühlt zu haben.

Dass sie die kleine Schwester wie eine Tochter liebte, hatte bislang genügt, um sie alle Krisen meistern zu lassen. Als Luise schon nach einer Woche am Gymnasium erklärt hatte, nicht mehr hinzugehen, weil einer ihrer Lehrer einen Mitschüler verprügelt hatte, hatte sie die richtigen Worte gefunden – behutsame gegenüber Luise, drohende gegenüber dem Rektor. Und als die kleine Schwester wenig später an Silvester heimlich zu viel von der Bowle getrunken hatte, hatte sie sie nicht getadelt, sondern ihr nur die Haare zurückgehalten, als sie über der Kloschüssel hing. Gewiss, es war ihr nicht leichtgefallen zuzusehen, wie schwer sie sich bei der Berufswahl tat, aber sie hatte immer Geduld bewiesen, und den Krisen waren so viele glückliche gemeinsame Jahre vorausgegangen.

Sie hätte nicht sagen können, welches Alter ihr das liebste gewesen war – jedenfalls hatte es immer etwas gegeben, was sie gerne gemeinsam gemacht hatten. Nicht nur Luise hatte sich einst dafür interessiert, wie die Schlafaugen der Puppe, die sich von selbst öffneten und wieder schlossen, funktionierten. Als Luise mit der Pinzette eine komplizierte Operation durchgeführt hatte, an deren Ende ein Auge für immer weit offen stand, hatte Ella sie dafür genauso wenig gerügt wie für die Tatsache, dass sie der Puppe eines Tages die Haare raspelkurz geschoren hatte. »Weil sie doch Läuse hat!«

Und sie hatte sich mit Luise durch alle Sorten von Ahoj-Brause getestet. Wenn sie in Gasthöfen im Taunus, wohin sie Ausflüge machten, kostenlos heißes Wasser bekamen, rührte sich Ella nicht nur Löskaffee an, immer auch die Brause.

Gerne gewandert waren sie bei diesen Ausflügen beide nicht, meist hatten sie sich frühzeitig ein schattiges Plätzchen gesucht, um zu lesen. Gemeinsam hatten sie Luises Kinderbücher verschlungen – angefangen mit Pippi Langstrumpf, später dann Josef Carl Grunds Rosita, das Zigeunermädchen oder die Heftreihe Abenteuer mit Doktor Dolittle.

Obwohl das Lesen eine gemeinsame Leidenschaft blieb – sie hatte auch die Fernsehabende genossen, als Luise größer wurde. Dass sie sich eine Flimmerkiste – eigentlich der Todfeind einer jeden Buchhändlerin – angeschafft hatte, blieb lange ihr Geheimnis. Jedenfalls hatten sie sich für die Krimis von Edgar Wallace ebenso begeistert wie für Karl Mays Schatz im Silbersee oder die Serie Melissa. Nur von Bonanza sahen sie bloß eine Folge – zu viele Schießereien, hatten sie beide gefunden.

Nein, nie hatte ihr jemand sagen müssen, wie man ein Kind großzog, immer hatte sie geahnt, was Luise brauchte, und war überzeugt gewesen, ihr das geben zu können. Mussten andere Frauen in Ratgebern nachlesen und tausend Kniffe anwenden, um ein zufriedenes Leben zu führen, hatte sie nie mühevoll darum gekämpft.

»Na, aber einen Mann hast du nicht«, hatte ihre Freundin Lilo einmal spitz gesagt. Gewiss, den zu ergattern galt vielen als wichtigstes Ziel im Leben einer Frau. Ella wusste, dass Lilo darunter litt, als spätes Mädchen zu gelten, wie sie es nannte. Aber sie selbst konnte immer im Brustton der Überzeugung erklären: »Mir fehlt keiner.«

»Aber willst du nicht auch einmal dein Herz verlieren?«, hatte Lilo nach der Lektüre eines besonders schwülstigen Liebesromans gefragt.

Obwohl Ella gleichmütig gelächelt hatte – im Innersten hatte es ihr einen Stich versetzt. Das habe ich doch schon längst, war ihr durch den Kopf gegangen – nein, nicht einfach durch den Kopf, durch den ganzen Körper, in dem sich etwas schmerzlich zusammenkrampfte, wann immer sie an ihre große Liebe dachte. Doch mit den Jahren geschah das seltener, zumal sie mit niemandem darüber sprach, auch nicht mit Lilo. Die hatte lediglich mitbekommen, wie Reinhold Schadewald eine Weile um sie geworben hatte, und damals von einer Romanze geschwärmt, von der in Wahrheit nicht die Rede sein konnte.

Dass Ella vor einigen Jahren mehrmals mit ihm ausgegangen war, geschah nicht aus Zuneigung oder Interesse, sondern aus Mitleid. Reinhold war der Sohn von Hildegard, jener Buchhändlerin, die ihr beim Wiederaufbau nach dem Krieg so unverzichtbare Hilfe geleistet hatte. Er hatte viele Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft verbracht, und nach seiner Rückkehr hatte er mit nicht mal dreißig wie ein Greis gewirkt. Er war ein etwas unbeholfener Mann mit steifen Bewegungen, bei dessen Anblick Ella manchmal an eine Mumie denken musste. So nett sie ihn fand und so freundlich sie ihm begegnete – als er einmal während einer Operettenaufführung ihre Hand ergriffen hatte, hatte sie sie ihm rasch entzogen. Er hatte schmerzlich und resigniert gelächelt, es nie wieder versucht, und die Treffen waren immer seltener geworden, bis sie kurz nach Hildegards Tod vor fünf Jahren ein endgültiges Ende gefunden hatten.

Sie seufzte, wischte sich mit einem Taschentuch den Nacken, denn trotz der praktischen Kurzhaarfrisur, die sie seit Jahren trug, schwitzte sie.

Sie brauchte keinen Mann. Sie brauchte keinen Ratgeber, in dem sie erfuhr, wie man Hüte pflegte und den Kaffeetisch dekorierte. Sie brauchte Luise. Ihre Buchhandlung war ihr ganzer Stolz, aber an der Schwester, so fühlte sie, hing ihr Glück – nur leider schien dieser Faden unmerklich dünner geworden zu sein.

Als sie die Bestellungen abgeschlossen hatte, war sie erleichtert, dass sie in spätestens zehn Minuten im Laden stehen würde. Der Kontakt mit den Kunden würde sie mehr beleben als die einsame Arbeit in diesem Loch. Doch als sie sich erhob, um die obligatorische weiße Schürze umzubinden, hörte sie von draußen Schritte.

Zu ihrer Überraschung traf sie im Laden keine Kundschaft an, sondern Luise, obwohl diese Spätdienst hatte.

Nicht nur, dass sie bereits ihre weiße Schürze trug – ihr Kleid war deutlich länger als in den letzten Wochen, das Make-up dezenter, und überdies hatte sie einen Staubwedel in der Hand, um damit Tresen und Bücherregale abzuwischen.

»Du bist schon hier?«

Luise konzentrierte sich aufs Staubwischen. Als sie sich das Regal mit den Liebesromanen vornahm, murmelte sie eher in dessen Richtung als in Ellas: »Es tut mir leid, dass ich diese Bücher als Schmonzetten abgetan habe. Ich weiß, dass Heftromane bevorzugt von Arbeiterinnen gelesen werden, und dem Bildungsbürgertum steht es wirklich nicht zu, diese hart arbeitende Schicht abzuwerten.«

Ella zog ihre Braue hoch. Wie immer, wenn sie nervös war oder über etwas nachdenken musste, zupfte sie an ihrem Haar, eine Geste, die sie sich als junge Frau angewöhnt hatte, als sie sich ihre langen Zöpfe abgeschnitten hatte.