Das graue Phantom - Clive Cussler - E-Book

Das graue Phantom E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Ein geheimnisvolles Automobil wird gestohlen – gleich zwei Mal! Ein Fall sowohl für Isaac Bell als auch für Sam und Remi Fargo.

1906: Der Grey Ghost, ein bahnbrechender Prototyp von Rolls-Royce, wird gestohlen. Kein Geringerer als der berühmte amerikanische Detektiv Isaac Bell spührt das kostbare Automobil auf und kann es den rechtmäßigen Besitzern zurückbringen.
Heute: Der berühmte Oldtimer Grey Ghost wird auf ähnlich spektakuläre Weise gestohlen wie zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Die Schatzjäger Sam und Remi Fargo beschließen, ihn aufzuspüren. Doch bald ahnen sie, dass es um weit mehr geht, als nur um ein Auto. Denn kein noch so verrückter Sammler würde dafür morden – oder?

Archäologie, Action und Humor für Indiana-Jones-Fans! Verpassen Sie kein Abenteuer des Schatzjäger-Ehepaars Sam und Remi Fargo. Alle Romane sind einzeln lesbar.

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Seitenzahl: 627

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Autoren

Seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist jeder Roman von Clive Cussler ein New York Times-Bestseller. Auch auf der deutschen Spiegel-Bestsellerliste ist jeder seiner Romane vertreten. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Robin Burcell befand sich beinahe drei Jahrzehnte im Polizeidienst von Kalifornien – zunächst als Police Officer, später im Rang eines Detective. Sie hat mit Geiselnehmern verhandelt und wurde vom FBI in Forensik ausgebildet. Sie lebt heute in Nordkalifornien.

Die Fargo-Romane bei Blanvalet

Das Gold von Sparta

Das Erbe der Azteken

Das Geheimnis von Shangri La

Das fünfte Grab des Königs

Das Vermächtnis der Maya

Der Schwur der Wikinger

Die verlorene Stadt

Der Schatz des Piraten

Jäger des gestohlenen Goldes

Das graue Phantom

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Clive Cussler& Robin Burcell

DAS GRAUE PHANTOM

Ein Fargo-Roman

Deutsch von Michael Kubiak

Die englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Gray Ghost« bei G. P. Putnam’s Sons, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 by Sandecker, RLLLP

By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc., 551 Fifth Avenue, Suite 1613, New York, NY 10176-0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Jörn Rauser

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (maxim ibragimov; Lyu Hu; zhao jiankang; Artiste2d3d; Jag_cz; WitthayaP; Michal Zduniak; Alexyz3d; PointImages; faestock; Michal Zduniak; iulias) und Max Meinzold

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24250-3V001www.blanvalet.de

HANDELNDE PERSONEN

Reginald »Reggie« Oren – Ein Cousin von Jonathon Payton.

Charles Rolls und Henry Royce – Eigentümer von Rolls-Royce Limited.

Jonathon Payton, 5th Viscount Wellswick

Elizabeth Oren – Reginalds Ehefrau.

DAS PAYTON HOME FOR ORPHANS

Toby Edwards – Ein Waisenjunge.

Chip Edwards – Ein Waisenjunge.

Will Sutton – Ein Privatdetektiv aus Manchester, engagiert von Rolls-Royce Limited.

Isaac Bell – Ein amerikanischer Privatdetektiv, Angestellter der Van Dorn Detective Agency.

Miss Lydia Atwater – Eine Lehrerin im Payton Home For Orphans.

Byron, Lord Ryderton – Jonathon Paytons Freund.

Mac – Ein Autodieb.

Eddie – Ein Autodieb.

Finlay – Ein Autodieb.

Barclay Keene – Eigentümer von Barclay Keene Electric Motor Works.

GEGENWART

Sam Fargo

Remi Fargo

Eunice »Libby« Fargo – Sams Mutter.

Albert Payton, 7th Viscount Wellswick

Oliver Payton – Alberts Neffe.

Kimberley – Concierge des Hotels Inn in Spanish Bay.

Selma Wondrash – Chef-Rechercheurin der Fargos.

Zoltán – Der Deutsche Schäferhund der Fargos.

Professor Lazlo Kemp – Ein Rechercheur und Kryptologe der Fargos.

Pete Jeffcoat und Wendy Corden – Selmas Assistenten.

Geoffrey Russell – Der Bankier der Fargos.

MANCHESTER

Arthur Oren – Ein sehr entfernter Cousin der Paytons.

Colton Devereux – Ehemaliges Mitglied der Special Forces, arbeitet für Oren.

Frank – Arbeitet für Oren.

Bruno – Arbeitet für Oren.

Mrs. Beckett – Haushälterin von Payton Manor.

Allegra Payton Northcott – Olivers Schwester.

Trevor Payton Northcott – Allegras sechzehn Jahre alter Sohn.

Dex Northcott – Allegras Exehemann.

David Cooke – Albert Paytons Rechtsanwalt.

Bill Snyder – Ein Privatdetektiv, der in David Cookes Auftrag arbeitet.

Chad Williams – Mechaniker des Grey Ghost.

ITALIEN

John und Georgia Bockoven – Fotografen des Magazins Sports Car Market, Eigentümer eines Weinguts und Inhaber einer Frühstückspension.

Paolo Magnanimi – Inhaber des Restaurants Hostaria ­Antica Roma.

Luca – Ein Geschäftspartner von Lorenzo Rossi.

Lorenzo Rossi – Makler, der keine Skrupel hat, gelegentlich auch mit gestohlenem Gut zu handeln.

Marco Verzino – Eigentümer des Apartments am Trevi-Brunnen.

FRANKREICH

Monsieur Marchand – Der Manager von Lorenzo Rossis Filiale in Paris.

Suzette – Marchands Sekretärin.

PROLOG

MANCHESTER, ENGLANDMÄRZ 1906

Wohl wissend, dass er zu spät zur Arbeit kommen würde, eilte Reginald Oren über die Straße, deren Kopfsteinpflaster noch vom nächtlichen Regen glänzte. Er wich einem Pferdegespann aus, setzte über eine Pfütze und rannte auf einen Klinkerbau zu, der einen halben Häuserblock einnahm. Im Vorraum hinter der Haustür schlüpfte er aus seinem Mantel, hängte ihn an einen Garderobenhaken an der Wand, ging weiter in einen Flur und betrat leise einen großen Arbeitsraum, in dem ein halbes Dutzend junger männlicher Angestellter an ihren Schreibtischen saßen. In gespannter Erwartung blickten sie zu dem Büro am anderen Ende des Raums hinüber. Niemand zeigte durch eine ­Reaktion, dass Reginalds verspätetes Erscheinen regis­triert worden war, und so begab er sich eilig an seinen Platz und warf gleichzeitig einen Blick auf das Büro, dessen Tür offen ­stand. Dort waren Charles Rolls und Henry Royce zu sehen. Beide trugen dunkle Anzüge und unterhielten sich mit einem Polizisten.

»Das sieht gar nicht gut aus«, sagte Reginald und schaute fragend zu Jonathon Payton hinüber, seinem Cousin. Er saß an dem Schreibtisch, der neben seinem stand. »Habe ich irgendetwas versäumt?«

»Er ist verschwunden.«

»Wer ist verschwunden?«

»Der Prototyp des Forty-fifty.«

»Wann?«

»Letzte Nacht. Sie sind heute Morgen rübergegangen, um der Karosserie den letzten Schliff zu verpassen, und er war nicht mehr da.«

Reginald lehnte sich auf seinem Stuhl nach hinten, während er den Blick durch den Raum wandern ließ, ihn dann wieder auf die Männer im Büro richtete und sich vorzustellen versuchte, welche Folgen dies für die Firma hätte. Rolls-Royce Limited hatten ihr gesamtes Kapital und das Geld ihrer Investoren zusammengekratzt und für diese verbesserte Version ihres regulären Sechszylindermotors aufgewendet. Jeder Penny war in die Entwicklung dieses Antriebs­aggregats sowie eines Chassis’ gesteckt worden, das solide genug sein musste, um mit den meist abenteuerlichen Verhältnissen auf den zum Teil unbefestigten Landstraßen fertigzuwerden. Obwohl die ganze Welt sie auslachte und meinte, dies sei ein Ding der Unmöglichkeit, blieben sie ihrer Idee treu und setzten ihre Planungen unverdrossen fort. Und nun, als sie dicht davor standen, das Unmögliche Gestalt annehmen zu lassen …

Jonathon lehnte sich zu ihm hinüber und senkte die Stimme. »Hat sich Elizabeth gefreut?«

»Gefreut?«, fragte Reginald, in diesem Moment unfähig, den Blick von dem Büro und dem, was darin vor sich ging, zu lösen. Reginalds Frau, Elizabeth, war mit ihrem neugeborenen Sohn zu ihrer Mutter gereist, aber ihm wollte um alles in der Welt kein Grund einfallen, weshalb Jonathon ausgerechnet in diesem Augenblick auf sie zu sprechen kam. »Über was?«

»Über das Pianoforte.«

Zu schade, dass Reginald nicht hören konnte, worüber ihre Chefs und der Polizist dort drinnen diskutierten, und er wandte seine Aufmerksamkeit schließlich seinem Cousin zu, da er sich ein wenig verspätet an das Gespräch vom Vorabend erinnerte, in dessen Verlauf er Jonathon um Hilfe gebeten hatte. »Zweifellos wird sie das getan haben. Ich hatte die Absicht, mich bei dir dafür zu bedanken, dass du mir und meinen Freunden geholfen hast, es zu transportieren, aber dann bist du plötzlich verschwunden gewesen. In der einen Minute warst du noch neben mir und hast mit angepackt, und schon in der nächsten war nichts mehr von dir zu sehen.«

»Ich fürchte, ich hatte ein wenig zu tief ins Glas geschaut. Ich bekomme gar nicht mehr richtig zusammen, was gestern passiert ist.« Für einen Moment verstummte Jonathon, dann flüsterte er: »Du wirst doch meinem Vater nichts verraten, oder?«

»Natürlich nicht.« Jonathons Vater, der Viscount Wellswick, hatte beide Jungen großgezogen, nachdem Reginalds Eltern verstorben waren, wobei Reginald immer vermutet hatte, dass er wahrscheinlich in ein Waisenhaus gesteckt worden wäre, hätte sich Jonathons Mutter nicht für ihn verwendet. Dies entbehrte nicht einer gewissen Ironie, wenn man bedachte, dass eigentlich sie der Grund dafür gewesen war, dass ihre Väter zu erbitterten Feinden wurden. Reginalds Vater hatte sich in sie verliebt, aber ihr Vermögen wurde dringend gebraucht, um den Adelstitel des Viscounts zu behalten, daher entschied man, dass sie Jonathons Frau werden sollte. Er fragte sich oft, ob sie diese Heirat mittlerweile bedauerte. Ihr Ehemann, der Viscount, war unglaublich sparsam und außerdem ein strenger Zuchtmeister, für den Disziplin an erster Stelle stand. Er hätte gewiss niemals gebilligt, dass einer von ihnen einen Abend in einer der örtlichen Tavernen verbrachte und mit den Leuten aus der Nachbarschaft Bier trank. Für den Viscount rangierte Schicklichkeit vor allem anderen. Wie würde er denn bei seinen Freunden dastehen, wenn sein Sohn und sein Neffe unangenehm auffielen? Der ­äußere Schein war alles, allein darauf kam es an, weshalb von ­Reginald und Jonathon verlangt wurde, dass sie den Betrieb und die Führung des Waisenhauses überwachten, das den Namen des Viscounts trug. Von Jonathon, der die Viscount-Würde als Nächster übernehmen sollte, wurde erwartet, dass er an sechs Tagen in der Woche im Waisenhaus erschien, was er nach Feierabend auch meist zu tun pflegte. Für Reginald war dies der einzige Vorteil, den er als bedürftiger Verwandter genoss, der unter dem Dach seines Onkels leben durfte. Er brauchte dem Waisenhaus seine Freizeit nur zwei Mal in der Woche zu opfern. An welchen Tagen, das konnte er sich nach Belieben aus­suchen. Natürlich hatte dies neben ihrer regulären Tätigkeit zu geschehen, die die beiden Männer an sechs Tagen in der Woche bei Rolls-Royce ausübten.

Im Payton-Haushalt gab es keinerlei Freifahrtscheine, da der alte Herr der Auffassung war, dass es den Charakter festigte, einer täglichen Arbeit nachzugehen. Wäre dem Viscount zu Ohren gekommen, dass Reginald den jungen Payton zu irgendwelchen Disziplinlosigkeiten verführt hatte, hätte er Reginald, seine Frau und ihren Sohn höchstwahrscheinlich aus dem Haus gejagt. »Keine Sorge«, sagte Reginald und konzentrierte sich wieder auf das Geschehen im Büro. »Dein Geheimnis gelegentlicher bierseliger Zügel­losigkeit ist bei mir sicher aufgehoben.«

Reginald beobachtete die in ihr Gespräch ­vertieften Männer im Büro, die mit Sorgenfalten gezeichneten Ge­­sich­ter der Eigentümer, Rolls und Royce, sowie ihre gebeugte Haltung, die den Eindruck erweckte, dass der Verlust des Prototyps wie eine unendlich schwere Last auf ihren Schultern lag. Die Existenz des gestohlenen Automobils, wegen seiner Karosseriefarbe und des flüsterleisen Forty-fifty-Motors von seinen Erbauern auf den Namen Grey Ghost getauft, war vor jedermann außer den Investoren geheim gehalten worden – aus Furcht, jemand könnte versuchen, ihnen ihre technischen Ideen zu stehlen. Offensichtlich war ihnen nie in den Sinn gekommen, dass man sich auch gleich den ganzen Wagen holen konnte. Paytons Vater, der Viscount, hatte das Lagerhaus der Familie als Unterstellplatz angeboten, während sie ihn mit seiner maßgeschneiderten Karosserie versahen – in der Hoffnung, ihn in einigen Monaten auf der Olympia Motor Show einem breiten Publikum vorstellen zu können. Regi­nald und ­Jonathon hatten nach längerer Diskussion entschieden, dass ihr Fahrzeug dort sicherer wäre und kaum wie in der Fabrik die Gefahr bestünde, dass sich jemand in seiner Nähe herumtrieb und versuchte, unbemerkt irgendwelche Konstruktionspläne an sich zu bringen. Es war ­jedoch Jonathon gewesen, der diesen Plan zur Sprache gebracht hatte. »Eine schlimme Sache, dass der Diebstahl ausgerechnet während deiner Schicht stattgefunden hat, meinst du nicht?«, sagte Reginald.

»Und wie schlimm das ist. Ich erwarte, dass sie mich deswegen rauswerfen.«

»Haben sie schon irgendetwas zu dir gesagt?«

»Nein«, flüsterte Payton und wurde bleich, als Mr. Rolls dem Polizisten die Hand schüttelte und ihn zur Tür und aus seinem Büro geleitete.

Mr. Royce kam nach ihnen aus dem Büro und blickte zu Jonathon hinüber. »Haben Sie einen Moment Zeit?«

»Sofort, Sir.« Jonathon Payton erhob sich und wagte es nicht, seinen Cousin noch einmal anzusehen, während er auf das Büro zuging.

»Schließen Sie die Tür.«

»Ja, Sir.« Er drückte die Tür hinter sich ins Schloss.

Reginald, der sich plötzlich brennend für die Magazine interessierte, die auf einem Aktenschrank lagen, der vor der Bürowand stand, schlenderte betont beiläufig hinüber, griff nach dem obersten Heft, schlug es auf und tat so, als ob er darin läse. Die Wand war dünn genug, um mithören zu können, was im Büro gesprochen wurde.

»Sie haben zweifellos gehört, was geschehen ist, nicht wahr?«, sagte Mr. Royce zu Jonathon.

»Das habe ich.«

»Dann ist Ihnen sicherlich auch klar, in welchen Schwierigkeiten wir zurzeit stecken.«

Reginald beugte sich näher zur Wand. Da er die ­Bücher führte, wusste er über jeden Penny Bescheid, den die Firma ausgab, und was auf ihre Investoren zukäme, wenn sie den Wagen nicht wiederbeschaffen könnten, um endlich anzufangen, Gewinne zu erzielen. Sie würden zweifellos pleite­gehen und sein Onkel, der Viscount – der sein gesamtes Vermögen in die Firma investiert hatte –, gleich mit. Jona­thons Erwiderung wurde jedoch durch das Erscheinen von Mr. Rolls überdeckt, der beinahe mit Reginald zusammenstieß, als er zurückkam, nachdem er den Polizisten hinausbegleitet hatte.

»Entschuldigung«, sagte Mr. Rolls und ging an ihm vorbei. Er war schon so weit, die Bürotür zu öffnen, hielt dann aber inne, blickte über Reginalds Schulter auf die anderen jungen Männer, die an ihren Schreibtischen saßen und nur noch Augen für das hatten, was sich im Büro abspielte. »Ich muss zugeben, dass wir alle uns wegen dieses Rückschlags die allergrößten Sorgen machen. Aber wir werden diese Krise gewiss überwinden. In der Zwischenzeit sollten wir alle wie gewohnt mit unserer Arbeit fortfahren, nicht wahr?«

Die jungen Männer nickten, desgleichen Reginald, und ihr Arbeitgeber brachte ein gequältes Lächeln zustande, nickte ihnen zu und betrat dann das Büro. »Es ist eine absolute Katastrophe«, sagte er und drückte die Tür hinter sich zu. Der Riegel rastete nicht richtig ein. »Wir müssen diesen Motor einfach wiederfinden.«

»Warum haben die sich bloß solche Umstände gemacht?«, fragte Mr. Royce. »Die verdammte Karosserie war doch alles andere als vollständig.«

»Was denkst du denn?«, erwiderte Rolls. »Sie haben uns ausspionieren lassen, um uns zu überflügeln. Wer immer es gewesen sein mag, sie haben den Wagen gestohlen, weil sie selbst nichts bauen können, was auch nur annähernd an das heranreicht, was wir auf die Räder gestellt haben.«

»Das Problem ist, dass sich das Fahrzeug noch im Proto­typstadium befindet. Wenn sie damit vor uns an die Öffent­lichkeit gehen, verlieren wir alles. Jeder Investor, den wir gewinnen konnten, wird sein Geld aus dem Projekt herausziehen.«

»Ein schlagendes Argument. Was ist, wenn wir das ­Patent verlieren?«, fragte Rolls. »Wir müssen diesen Wagen noch vor der Olympia Motor Show wieder zurückhaben.«

»Der Polizist hat uns empfohlen, einen Privatdetektiv zu engagieren.«

Mr. Rolls lachte spöttisch. »Ich weiß nicht, ob das etwas ist, das unsere Investoren erfahren sollten. Ich höre sie schon spotten, wir könnten noch nicht einmal auf unsere eigenen Produkte aufpassen und verhindern, dass sie in die Hände unserer Konkurrenten gelangen.«

Jonathon Payton wollte etwas sagen, aber über seine Lippen kam nicht mehr als ein raues Krächzen. Er räusperte sich und setzte ein zweites Mal an. »Was ist mit diesen Bauteilen, die wir versandt haben, um sie maschinell bearbeiten zu lassen? Wenn wir sie rechtzeitig zurückbekommen, haben wir vielleicht die Chance, den anderen 40/50 hp rechtzeitig startklar zu machen.«

»Brillanter Gedanke«, sagte Royce. »Sie müssten mittlerweile fertig sein. Rufen Sie doch mal an, Payton. Wenn die Teile tatsächlich so weit sind, schaffen sie es vielleicht, sie mit dem nächsten Zug zu schicken. Wir müssen diese Firma um jeden Preis retten.«

Eine Woche später …

Kurz vor Sonnenaufgang gingen der zehn Jahre alte Toby Edwards und sein neunjähriger Bruder, Chip, die Straße entlang. Dabei mieden sie die Mulden und Rinnen, in denen sich der Regen während des Wolkenbruchs am Tag zuvor gesammelt hatte. An der Mündung einer Gasse blieben sie stehen. »Warte hier«, sagte Toby und schob seinen Bruder in den dunklen Spalt zwischen zwei Häusern. »Bin gleich wieder zurück.«

»Warum darf ich nicht mitkommen? Ich bin so leise wie eine Maus.«

»Warte einfach hier. Wenn irgendwas passiert, renn zurück.«

Der Junge nickte, und Toby entfernte sich. Das letzte Mal, als er etwas aus der Bäckerei stibitzt hatte, war er beinahe erwischt worden, während er in eine knöcheltiefe Pfütze getreten hatte. Das Wasser war durch die abgetragenen Sohlen seiner Schuhe gedrungen und hatte bei jedem Schritt, den er gemacht hatte, einen Quietschlaut erzeugt. Es war ein Kunde gewesen, der es gehört hatte und dem Bäcker zurief, ein Dieb sei eingebrochen, und ihn danach verfolgte.

Diesen Fehler würde er nicht noch einmal machen.

Aus Furcht, dass der Bäcker ihn vielleicht wieder erwischen würde, war er dem Laden für einige Tage ferngeblieben, bis ihn der Hunger erneut auf die Straße hinausgetrieben hatte. Als er diesmal zur Rückseite des Ladens kam, wackelte er mit den Zehen und stellte erleichtert fest, dass sie trocken waren. Er schaute zurück und konnte vage seinen Bruder in der Dunkelheit ausmachen. Zufrieden stellte Toby fest, dass er wartete, wie es von ihm verlangt wurde, und bezog seinen Posten.

Das Warten war der schwierigste Teil der Aktion. Er atmete den Duft des frisch gebackenen Brotes ein, der in die Gasse hinausdrang. Jeden Morgen öffnete der Bäcker die Hintertür einen Spaltbreit, gerade weit genug, um seine graue Katze hinaus- oder hereinzulassen. Die Tür war verriegelt, und Toby fragte sich, ob der Mann, nachdem Toby beinahe erwischt worden war, erkannt hatte, dass die ­offene Tür fast so etwas wie eine Einladung bedeutete, ihn zu bestehlen. Mit jeder Minute, die ereignislos verstrich, verzweifelte Toby mehr. Schon fast bereit umzukehren, hörte er ein leises Knarren, als die Tür geöffnet wurde. Die Katze schlüpfte hinaus, tappte mit ihren weichen Pfoten lautlos über die nassen Pflastersteine und kam auf ihn zu. Dann rieb sie ihr schnurrhaariges Gesicht an Tobys vielfach ­geflickter Hose.

Als die Katze laut miaute, kauerte sich Toby neben ihr nieder, strich ihr mit einer Hand über den Kopf und spürte mit seinen Fingerspitzen das feine Vibrieren, als sie wohlig schnurrte. »Sei still«, flüsterte er und beobachtete gespannt die Tür.

Schließlich hörte er das leise Bimmeln der Glocke, die über der Ladentür auf der Vorderseite des Hauses hing. Kurz darauf wurde ihr Klang von der tiefen Stimme des Bäckers überdeckt, als von ihm begrüßt wurde, wer immer soeben seinen Laden betreten hatte. Meistens waren es Hausangestellte aus den stattlichen Villen der Umgebung, die schon so früh einkaufen gingen, weil sie kein eigenes Brot backten.

Toby wagte sich näher an die Tür heran und lauschte einige Sekunden lang, ehe er sich durch den Türspalt schlängelte. Sofort wurde er von wohliger Wärme eingehüllt und hatte den starken Wunsch, sich einen Platz unter einem der Tische zu suchen, wo er die Nacht verbringen könnte, ohne entdeckt zu werden. Um sich in der Wärme zu aalen, während er schlief …

In diesem Augenblick war Nahrung jedoch viel wichtiger. Abrupt blieb er stehen, als ihn jeder Mut verließ. Der Korb, in dem der Bäcker die verbrannten und aufgeplatzten Brote sammelte und den er immer auf einem Tisch abstellte, war nicht an seinem üblichen Platz.

Der Tisch war leer.

Tobys Blick sprang zur Tür, die zum vorderen Teil des Ladens führte. Undeutlich konnte er die wunderbar geformten Brote erkennen, die aus den Körben herausragten, die auf der Theke standen.

Für einen kurzen Moment fragte er sich, wie schwierig es wohl wäre, dorthin zu rennen, sich ein Brot zu schnappen und die Flucht zu ergreifen.

Dazu wäre er niemals imstande. Es war eine Sache, sich zu holen, was sowieso weggeworfen würde, aber es war etwas vollkommen anderes, so dreist zu sein und etwas zu stehlen, womit der Bäcker seinen Lebensunterhalt verdiente.

Mit knurrendem Magen zog er sich aus dem Raum ­zurück. Dabei stieß sein Fuß gegen eine Holzkiste in der Nähe der Tür. Er erstarrte und murmelte ein stummes Dankgebet, als niemand in die Backstube kam. Als er sich umdrehte, um den Raum zu verlassen, sah er, was sich in der Kiste befand. Fast ein Dutzend Semmeln, oben ein wenig zu dunkel, die Unterseiten schwarz wie Kohle.

Er konnte sein Glück kaum fassen, stopfte sich mehrere davon in die Taschen und widerstand der Versuchung, die Kiste ganz zu leeren und ihren gesamten Inhalt mitzu­nehmen.

Er schlüpfte durch den Türspalt hinaus. Rannte durch die Gasse zur Straße und hielt nur an, um den Arm seines Bruders zu ergreifen. Die beiden Jungen umrundeten die Pfützen, dann gelangten sie auf die Straße hinaus, wo wuchtige, aus Ziegeln gemauerte Lagerhäuser die Eisenbahngleise säumten. Toby und Chip lebten im Waisenhaus auf der anderen Seite der Gleise. Nach einem schnellen Blick nach hinten, um sich zu vergewissern, dass niemand sie verfolgte, steuerte Toby seinen Bruder in diese Richtung. Als sie zur Straßenecke kamen, sahen sie einen Mann, der auf einer Rappstute saß, die schmatzend auf ihrer Gebiss­stange kaute. Der Reiter, der Mühe hatte, sein Pferd, das nervös mit den Hufen scharrte, unter Kontrolle zu halten, blickte in ihre Richtung.

Toby fasste Chips Hand fester. Sein Instinkt riet ihm weiterzugehen, als ob dies nicht von Anfang an ihre Absicht gewesen wäre.

Sobald sie sicher sein konnten, dass der Reiter sie nicht mehr sah, rannten sie los. Nicht allzu weit vor ihnen entdeckte Toby eine Mauernische und schob Chip dort hinein. Er folgte ihm und versteckte seinen Bruder hinter sich.

Einige Sekunden später hörte er das Klappern der Pfer­de­hufe auf dem Kopfsteinpflaster. Toby lugte aus der ­Nische heraus, erhaschte kurz einen Blick auf den Mann, zog sich sofort wieder zurück und presste sich gegen die Mauer in seinem Rücken. Dabei schickte er ein stummes Bitt­gebet zum Himmel, dass sie mit den Schatten in der Nische verschmolzen und zumindest für den Reiter nicht zu sehen waren.

»Wer ist das?«, fragte Chip.

»Sei ganz still.«

»Ich habe Hunger«, flüsterte Chip. »Und mir ist kalt.«

Dar Mann hatte etwas Vertrautes an sich gehabt, als er zu Toby herübergeschaut hatte.

Und das beunruhigte Toby. Irgendetwas sagte ihm, dass, wenn er nicht herausfand, wer dieser Mann war, sein ­Bruder und seine Schwestern sich nicht sicher fühlen konnten.

Nachdem sein Vater, ein Bergmann, an Staublunge gestorben war, hatte ihre Mutter entschieden, mit ihnen nach Manchester umzuziehen, wo sie Arbeit in einer der Textil­fabriken fand. Aber dann erkrankte auch sie und konnte nicht mehr für die Jungen sorgen. Die letzten Jahre hatten sie im Payton Home for Orphans gelebt. Hätte Toby nicht seine regelmäßigen Abstecher zur Bäckerei gemacht, wären er und seine Geschwister verhungert.

Er musste unbedingt zu seinen Schwestern zurückkehren, aber der einzige Weg dorthin führte über die Bahngleise. Sekunden tickten vorbei, und das Rumpeln eines sich nähernden Zugs wurde lauter. Plötzlich machte der Reiter kehrt und galoppierte zu den Gleisen zurück.

»Warte hier«, sagte Toby und ließ seinen Bruder in der dunklen Mauernische warten.

* * *

Wenn drei Tage zuvor jemand zu Toby gesagt hätte, er sei mutig genug, um einen Reiter in der Dunkelheit zu verfolgen und zu versuchen herauszufinden, was der Mann im Schilde führte, hätte er schallend gelacht. Er war die am wenigsten mutige Person, die er kannte. Aber seine Mutter hatte ihm das Versprechen abgenommen, dass er für seine Schwestern und für seinen Bruder sorgte, und genau das war es, was er tun wollte.

Er hatte nicht mehr als ein paar Schritte zurückgelegt, als Chip an seiner Seite erschien. Toby ging langsamer und ergriff die Hand seines Bruders. »Ich habe dir doch befohlen zu warten.«

»Ich mag nicht allein sein.«

Toby überlegte, ob er ihn nicht doch mitnehmen sollte, bis er sich an dieses Gefühl namenloser Angst erinnerte, als er beinahe dabei geschnappt worden wäre, als er in der Bäcke­rei Brotreste gestohlen hatte. »Halte diese hier für mich fest«, sagte er, holte drei von den vier Semmeln aus der Tasche und half seinem Bruder, sie in dessen ­Taschen zu verstauen. Als er die vierte Semmel herauszog, hielt er sie hoch. »Wenn du hier wartest, bis ich dich holen komme, kannst du dies hier haben.«

Chip machte große Augen, als er das angebrannte Brötchen sah. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Wenn ich es kriege, was hast du dann?«

»Ich habe schon eins in der Backstube gegessen, bevor ich herauskam«, sagte Toby und hoffte, dass ihn sein Magenknurren nicht verriet. »Ich war so hungrig, dass ich nicht warten konnte. Aber wenn du ein Brötchen zusätzlich haben möchtest, musst du hierbleiben.«

»Weshalb?«

»Du willst sicher nicht, dass Lizzy oder Abigail sehen, wie du es isst. Meinst du, du schaffst das?«

»Klar.«

Als ihm Toby die letzte Semmel reichte, ergriff er sie mit beiden Händen und hielt sie sich unter die Nase.

»Geh nicht von hier weg, bis ich dich hole«, sagte Toby und steuerte seinen Bruder behutsam zu der Mauernische zurück. Sobald Chip sich wieder in seinem Versteck befand, schlug Toby die andere Richtung ein und achtete ­darauf, sich stets im Schatten der Häuser zu halten.

Während er sich den Gleisen näherte, fiel ihm ein Fuhrwerk auf, das auf der anderen Seite stand, sowie ein Stapel Holz, der auf den Gleisen verstreut war. Sterne verblassten am frühmorgendlichen Himmel, ein Zeichen, dass es noch um einiges zu früh war für jeden, der dem Kutscher hätte helfen können, die verlorene Ladung wieder einzusammeln. Der Mann hatte offenbar keine Lust, das Holz von den Schienen zu räumen. Stattdessen saß er da und hielt die Zügel seines Gespanns in der Hand, während der Zug näher kam.

Warum sollte jemand um diese Tageszeit Holz transportieren wollen …?

Tobys Blick sprang gerade noch rechtzeitig zu dem Reiter zurück, um mitzubekommen, wie er sich eine Maske über das Gesicht zog. Ein Stück entfernt, auf der anderen Seite des Gleiskörpers, entdeckte er zwei weitere Reiter – beide maskiert.

»Verdammt …«

Der Zug kam mit einem metallischen Kreischen zum Stehen. Funken stoben von den Gleisen hoch. Toby schaute zu den Männern, sah die Pistolen, die sie in den Händen hielten. Angst ließ sein Blut gefrieren. Er wirbelte herum, wollte wegrennen, aber jemand packte ihn von hinten, presste eine Hand auf seinen Mund und zog ihn unter die Holztreppe in der Nähe des Eckhauses.

Toby zerrte an den Händen, die ihn festhielten, bäumte sich auf, um sich zu befreien.

»Stopp!« Der Mann riss Toby zurück und presste die Hand so fest auf den Mund, dass er kaum atmen konnte. »Willst du, dass sie dich hören?«

Mehrere angsterfüllte Sekunden verstrichen, ehe er ­begriff, dass der Mann nicht die Absicht hatte, ihm etwas anzutun. Seine Stimme war nur ein Flüstern, als er seinen Mund dicht an Tobys Ohr hielt. »Ich lasse dich jetzt los. Aber keinen Laut, Junge. Verstanden?«

Toby, dessen Herz wild hämmerte, nickte benommen. Der Mann ließ die Hand sinken, und Toby holte krampfhaft Luft, wobei er einen Blick auf den Fremden riskierte. Er war groß, Ende zwanzig und mit einem schwarzen ­Anzug bekleidet. Außerdem trug er eine schwarze Melone, die sein braunes Haar bedeckte. »Wer sind Sie?«

»Will Sutton«, antwortete der Mann. »Ich verfolge diese Bande bereits seit der vergangenen Woche. Zuerst dachte ich, sie seien hinter Maschinenteilen her. Wie sich aber heraus­stellt, hatten sie wohl einen größeren Coup im Sinn.« Seine blauen Augen fixierten die Reiter, die dem angehaltenen Zug entgegengaloppierten.

Toby lugte zwischen teilweise zersplitterten Treppenstufen hindurch und konnte erkennen, wie der Maschinist aus der Lokomotive herauskletterte, während ihn der erste Reiter mit einer Pistole in Schach hielt. Der Lokomotivführer hob die Hände. Hinter ihm erschien der Bremser, dessen Hände sich ebenfalls zum Himmel reckten. Die beiden anderen Reiter galoppierten bis zum dritten Waggon weiter, vor dem sie aus den Sätteln stiegen. Sie benutzten die Leiter am Kopfende des Waggons, um auf sein Dach zu klettern. Dort öffneten sie eine Klappe, durch die sie im Waggon verschwanden.

»Interessant«, sagte Sutton. »Ich hätte erwartet, dass sie verriegelt ist.«

Toby hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach. Er interessierte sich in diesem Augenblick nur für den ersten Reiter. »Den kenne ich.«

»Wen?«

»Diesen Mann mit der Pistole. Den habe ich schon im Heim gesehen. Ganz bestimmt sogar.«

»Bist du sicher?«

Toby nickte. »Deshalb habe ich ihn ja verfolgt.«

Sutton ging vor Toby auf die Knie herunter. Er legte ihm die Hände auf die Schultern und sah ihn ­beschwörend an. »Hat er dich gesehen? Draußen auf der Straße, meine ich?«

»Ich … vielleicht.« Er überlegte krampfhaft. War der Mann nicht viel zu weit entfernt gewesen? »Ich glaube nicht.«

»Sollte er noch einmal ins Waisenhaus zurückkommen, dann sieh bloß zu, dass du ihm nicht begegnest.«

»Weshalb?«

Das Räder-Rattern eines Pferdefuhrwerks erklang anstelle einer Antwort. Der Kutscher ruckte an den Zügeln, und das Zweiergespann zog den Wagen weiter bis zum Güterwagen und zu den beiden wartenden Pferden. Die Tür des Güterwagens wurde geöffnet, und die beiden Männer begannen schwere Holzkisten in den Pferdewagen zu schieben. Jede landete mit einem dumpfen Laut auf der Ladefläche. Den Kisten folgten große Leinensäcke, aus denen ein metallisches Klirren drang.

Sobald sie den Waggon geleert hatten, sprangen die Männer auf das Schotterbett herunter und schwangen sich auf ihre Pferde. Der Kutscher knallte mit der Peitsche. Die beiden Gespannpferde zogen den Wagen herum und nahmen die Straße unter die Hufe, gefolgt von den beiden Reitern.

Der dritte Reiter – es war der, den Toby wiedererkannt hatte – schaute seinen Komplizen nach, dann wandte er sich zu dem Lokführer und seinem Bremser um. »Runter auf den Boden. Jetzt!«

Sie gingen auf die Knie, dann streckten sie sich neben den Gleisen aus. Der Reiter ging um sie herum und richtete seine Pistole auf ihre Köpfe. Er drückte zwei Mal ab. Die Schüsse hallten als Echo von der Ziegelmauer des Lager­hauses wider.

Toby war vollkommen unfähig, den Blick abzuwenden. Seine Knie gaben nach, und er sank zu Boden. Ein leises Wimmern erklang und wurde lauter.

»Sei still, Junge«, warnte Sutton.

Aber es war nicht Toby, der wimmerte.

Sein Bruder, das zur Hälfte verzehrte angebrannte Brötchen in der Hand, stand weinend mitten auf der Straße und rief: »T-Toby …?«

Der Reiter zügelte sein Pferd, riss es herum, und sein Blick fand den Jungen. Er hob seine Pistole und zielte.

Sutton stieß einen Fluch aus und verließ das Versteck. Der erste Schuss ging daneben. Er packte Chip, schwang ihn herum und warf ihn regelrecht zu Toby hinüber, während ein zweiter Schuss fiel. Er taumelte vorwärts, sackte nur wenige Schritte von Toby entfernt auf die Knie. In diesem Moment feuerte der Reiter ein weiteres Mal. Als Sutton nach vorn kippte, sah er Toby flehend in die Augen und formte mit dem Mund Worte, die der Junge nicht hören konnte.

Toby hockte unter der Treppe. Tränen füllten seine Augen. Er ergriff die Hand seines Bruders. Er konnte sich nicht rühren, gebannt vom Anblick des größer werdenden dunklen Flecks auf Will Suttons Rücken. Nur am Rande nahm er wahr, wie der Reiter seine Pistole aufklappte, um nachzuladen.

»Junge …«, sagte Sutton, seine Stimme war nur noch ein leises Rascheln.

Während er seinen Bruder schützend an sich drückte, machte Toby einen zaghaften Schritt vorwärts, nicht sicher, was er tun sollte.

»Renn!«

1

PEBBLE BEACH, KALIFORNIENCONCOURS D’ELEGANCE

Gegenwart, August

Eine salzig frische Brise wehte vom Meer landeinwärts und blähte die schneeweiße Leinenplane der Zeltpavillons, in denen sich Zuschauer drängten und Champagner tranken. Hinter den Pavillons wurde der strahlende Sonnenschein von den auf Hochglanz polierten Motorhauben der Luxus­oldtimer reflektiert, die auf dem frisch gemähten smaragdgrünen Rasen parkten. Zwei Kinder rannten zwischen einem blau-weißen 1932er Auburn V-12 Boattail und einem weißen 1936er Auburn Speedster herum und lachten ausgelassen, als ihre sichtlich genervten Eltern hinter ihnen herkamen, sie an den Händen fassten und von den Autos wegzogen.

Sam Fargo steuerte seine Frau, Remi, die in den Auk­tionskatalog vertieft war, ein Stück zur Seite, um den Eltern und ihren Kindern Platz zu machen.

»Gibt es da irgendwas Interessantes?«, fragte er und guckte ihr über die Schulter.

»Außer sehr seltenen und sehr teuren Autos?« Remi räusperte sich. »Ich habe hier gerade einen 1929er Bent­ley. Als Besitzer wird ein gewisser Lord Albert Payton, Viscount Wellswick, genannt. Ich hoffe, deine Mutter erwartet nicht, dass wir für den mitbieten.«

»Natürlich nicht.«

Sie sah ihn an, ihre seegrünen Augen hinter den dunklen Gläsern einer Sonnenbrille versteckt, das kastanienbraune Haar von einem breitkrempigen Hut vor der grellen kalifornischen Sonne geschützt. »Hast du wirklich keine Ahnung, weshalb wir hierherkommen sollten, um ihn zu treffen und mit ihm zu reden?«

»Ich weiß nur, dass es irgendwas mit Autos zu tun haben muss.«

»Das grenzt das Ganze ja schon erheblich ein«, sagte sie mit einem Anflug von Spott, blickte wieder ins Veranstaltungsprogramm und blätterte weiter. »Viscount Wellswick hat drei Wagen für die Auktion angemeldet. Warum um alles in der Welt sollte er sie den weiten Weg hierherbringen, wenn er in Großbritannien lebt?«

»Die Wagen sind nicht hier. Er allerdings schon.«

Sie schlug den Katalog zu und sah sich um. »Ich komme allmählich zu dem Schluss, dass auch er auf gewisse Art eine Seltenheit ist. Sagte deine Mutter nicht, dass er uns um zehn treffen wollte?«

Sam sah auf die Uhr. Es war kurz vor elf. »Vielleicht habe ich die Zeit falsch verstanden.« Er holte sein Telefon aus der Tasche und wählte die Nummer seiner Mutter. »Hi, Mum …«

»Hast du mit Albert gesprochen?«, fragte sie, ehe er eine Chance hatte, den Grund seines Anrufs zu nennen.

»Deshalb ruf ich an. Wir würden gern wissen, ob du etwas von ihm gehört hast.«

»Nein, aber ich bin sicher, dass er kommen wird. Ich bin am Hafen, sonst hätte ich euch die Telefonnummer des Motels nennen können, in dem er wohnt.« Im Hintergrund hörte er das Geräusch eines Bootsmotors. Seine Mutter, Eunice »Libby« Fargo, betrieb in Key West einen Charterboot-Service für Taucher und Hochseeangler. Früher, als sein Vater noch gelebt hatte, war das nur ein Hobby gewesen, nun aber gehörte es zu ihren Leidenschaften. Es war noch gar nicht so lange her, dass sie mehr Zeit an Land verbracht hatte als auf dem Wasser. Nun, mittlerweile in den Siebzigern, traf das Gegenteil zu, und sie war nicht bereit, dies zu ändern und in absehbarer Zeit irgendwo vor Anker zu gehen. »Es ist möglich, dass ich mich mit der Uhrzeit vertan oder irgendetwas verwechselt habe«, sagte sie.

»Besteht auch die Möglichkeit, dass du mehr über das weißt, um das es geht?«

»Nur das, was ich dir neulich erzählt habe – ich muss jetzt aber Schluss machen. Ich habe eine Gruppe Kunden an Bord, und wir wollen starten. Ruf mich wieder an, wenn du nicht bald von ihm hörst.«

Sie trennte die Verbindung.

»Nun?«, fragte Remi.

»Es ist nach wie vor ein Rätsel.«

Das Einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass laut der Aussage seiner Mutter Albert Payton, der 7. Viscount Wellswick, ein entfernter Verwandter von ihm war. »Er gehört zur Familie und steckt in finanziellen Schwierigkeiten«, war alles, was sie verlauten ließ, als sie ein paar Tage zuvor angerufen und gefragt hatte, ob er und Remi sich mit ihm treffen könnten, wenn sie den Concourse d’Elegance in Pebble Beach besuchten.

Sam war nicht der Typ, der sich unvorbereitet auf irgend­welche Dinge einließ, aber als er versuchte, mehr zu erfahren, und sie fragte, um welche Art von Schwierigkeiten es sich handle, bequemte sie sich lediglich zu der vagen Andeutung, dass es irgendetwas mit Autos und Finanzen zu tun habe.

Dabei störte ihn ein wenig der Hinweis auf Finanzen, was er jedoch seiner Mutter gegenüber nicht erwähnen wollte. Er und Remi waren Selfmade-Multimillionäre, im Wesentlichen dank Sams Erfindungen, unter denen auch ein Argon-Laser-Scanner war. Dies war ein Gerät, mit dem unterschiedliche Metalle und Legierungen auf größere Entfernung aufgespürt und lokalisiert werden konnten. Mittlerweile investierten sie einen Großteil ihrer Energie in ihre Tätigkeit für die Wohltätigkeitsstiftung, die sie gegründet hatten. Erstaunlich war immer wieder, dass jedes Mal, wenn in irgendeinem Magazin oder im Internet ein Artikel erschien, in dem ihr Vermögen erwähnt wurde, kein Mangel an Freunden und Verwandten bestand, die sich plötzlich enger oder weniger enger Verbindungen mit Sam und Remi entsannen und sich Unterstützung für Investitionen oder ganz einfach nur eine milde Gabe erhofften.

Sosehr Sam sich auch wünschte, davon ausgehen zu können, dass niemand versuchen würde, über seine Mutter an ihn heranzukommen, wusste er es aus Erfahrung jedoch besser. Bis vor zwei Tagen, als seine Mutter ihn angerufen hatte, hatte er noch nie etwas von einem Viscount Wellswick gehört. »Wahrscheinlich noch nicht mal ein echter Viscount«, sagte Sam und ließ das Telefon in seiner Hosentasche verschwinden. »Welcher echte englische Adlige würde sich dazu herablassen, in einem Motel abzusteigen?«

Remi hielt das Ausstellungsprogramm hoch. »Höchstwahrscheinlich derjenige, der gezwungen ist, Autos bei einer Versteigerung zu verkaufen.«

»Da er nicht erschienen ist, dürfte dies jetzt eine rein hypo­thetische Frage sein. Vergessen wir das Ganze und ­genießen wir den Tag.«

Sie schlenderten über den Rasen und ließen sich ausreichend Zeit, um die präsentierten Fahrzeuge ausgiebig zu inspizieren. Remi blieb stehen, weil es ihr eine Reihe klassischer Sportwagen in allen Regenbogenfarben angetan hatte. Sie waren außerdem entsprechend der Reihenfolge bogenförmig angeordnet worden. »Dieses Spektakel beweist, dass Museen nicht die einzigen Orte sind, an denen man echte Kunst bewundern kann.«

»Der unwesentliche Unterschied ist in diesem Fall, dass diese Kunstwerke auf Rädern stehen«, sagte Sam. »Sieh dir nur mal diesen Motor an. Das ist wirklich echte Kunst … ein 6,3-Liter-Aggregat …«

»Konstruiert von Dr. Ferdinand Porsche«, beendete Remi seine Ausführungen.

»Bitte, stiehl mir nicht die Show.«

Sam trat beiseite, um einem Fotografen Platz zu machen, der eine geeignete Position suchte, um den Wagen und den Pazifischen Ozean als Hintergrund gleichzeitig ins Bild zu bekommen, als Remi ihrem Mann auf die Schulter klopfte. »Ist das nicht der Wagen von Clive Cussler? Der, den er nach Jahren aufwendiger Restaurierungsarbeiten 2010 der Öffentlichkeit vorgestellt hat?«

»Es sieht so aus.« Sie gingen zu dem seegrünen Wagen hinüber, und Sam las laut vor, was auf der Informationstafel eingetragen war. »Delahaye Type 135 Cabriolet Baujahr 1948 … Diese Farbe gefällt mir ausgesprochen gut. Könnte glatt meine Lieblingsfarbe sein, darf ich sie doch jeden Tag, den wir zusammen sind, bewundern. Und die sattelbraunen Ledersitze passen einfach perfekt dazu. Und dann dieser Innenraum …« Er umrundete den Wagen. »Das ist reinstes Art déco. Oder täusch ich mich?«

»Okay, Sam, du kannst jetzt aufhören zu sabbern. Und die reichlich plumpe Anspielung auf meine Augenfarbe kannst du dir auch schenken. Du bist ja wie ein Kind in einem Bonbonladen.«

»Wer wäre das nicht? Jedes Jahr, wenn wir hierherkommen, gibt es was Neues zu sehen.«

»Zugegeben, ohne einen Ausflug nach Pebble Beach wär der August ein Monat wie alle anderen. So ist er immer wieder etwas Besonderes.«

Sam sah seine Frau an und wollte sie daran erinnern, wie dankbar sie sein konnten, dass Clive stets persönliche Besucherpässe für sie bereitlegen ließ, als ihm in der Nähe des Champagner- und Erfrischungszeltes jemand auffiel. Es war ein dunkelhaariger Mann in Sams Alter, Mitte dreißig – damit viel zu jung, um der vermisste Viscount zu sein. Der Mann dort drüben jedenfalls beobachtete sie auf Schritt und Tritt.

Angesichts der vielen Menschen, die sich an diesem Ort eingefunden hatten, kam Sam das Interesse des Mannes – gelinde gesagt – seltsam vor. »Wie wäre es mit einem Glas Champagner?«, fragte er seine Frau.

»Vor dem Mittagessen? Sogar für uns wäre das ein bisschen früh am Tag, oder?«

»Ja, sicher, aber in diesem Moment«, sagte er und hakte sich bei ihr unter, »brauchen wir einen Vorwand, um heraus­zufinden, weshalb ausgerechnet wir so reges Interesse wecken.«

»Wie aufregend. Das gefällt mir. Auf wen haben wir es abgesehen?«

»Auf einen Mann in gelbem Oberhemd mit einem grünen Pullover über den Schultern. Er steht links hinten an der Ecke des Champagnerzeltes.«

»Gelb? Grün?« Sie blickte wie zufällig in diese Richtung. »Tatsächlich. Aber wie kann man sich nur für eine derart auffällige Farbkombination entscheiden, wenn man jemanden heimlich ausspionieren will?«

Sam mimte intensives Interesse für den 1937er Delahaye links von ihnen, während sie auf den Pavillon zuschlenderten. »Vielleicht will er gar nicht aussehen wie ein Spion. Oder«, sagte er und neigte den Kopf leicht vor ihr herunter, »er ist von deiner Schönheit so verzaubert, dass er den Blick nicht von dir losreißen kann.«

»Hm. Höchst unwahrscheinlich. Letzteres, meine ich, falls du etwas anderes annimmst. Hier sind viele weitaus aufregendere Frauen zu sehen, als dass ausgerechnet ich im Zentrum irgendwelchen Interesses stehen könnte, meinst du nicht?«

»Das meine ich ganz und gar nicht«, protestierte er und betrachtete seine Frau mit sichtlichem Wohlgefallen. Remi hatte sich zu diesem Anlass für ein Nachmittagskleid von Dolce & Gabbana entschieden. Marineblau und mit weißen Punkten gemustert, war es schulterfrei geschnitten und hatte geraffte Halbärmel, die bis zu den Ellbogen reichten. Der dreistufige geraffte Rock endete dicht unterhalb der Knie, und die leichte Brise spielte mit dem hauchdünnen Baumwoll-Voile. Sorgfältig lackierte und polierte Fußnägel lugten aus ihren weißen Valentino-Sandalen. Ihr aus Panamastroh geflochtener breitkrempiger Hut passte zu einer ebenfalls geflochtenen Schultertasche, die für die lebens­wichtigsten Utensilien gerade groß genug war: Lippen­stift, Kamm, Führerschein, Kreditkarte, Mobiltelefon, eine mikro-kompakte 9 -mm-Sig-Sauer-Pistole und ein mit Einschränkungen international gültiger Ausweis, der auch ihr – als Sams Ehefrau und daher eine Person mit erhöhtem Gefährdungsrisiko – das verdeckte Mitführen der Waffe erlaubte. Sam besaß ein identisches Dokument. »Du bist eine Wucht, Remi. Das warst du schon immer, und das wirst du immer sein.«

»Eine ausgesprochen weise Antwort, Fargo.« Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln, dann galt ihre Aufmerksamkeit wieder dem Champagnerzelt. »Wir wissen, dass er kein Spionage-Spion sein kann.«

»Ein was?«

»Ich meine, ein Agent in Sachen politischer Intrigen und Weltverschwörung. So wie er gekleidet ist, würde ich eher auf einen internationalen Juwelendieb tippen, oder was würdest du sagen?«

Zweifellos zog sie Vergleiche mit ihrer letzten Eskapade – der Suche nach dem Schatz der Romanows –, die sie nach Südamerika verschlagen hatte. »Wenn er nicht gerade auf deinen Trauring scharf ist, wird er eine ziemlich herbe Enttäuschung erleben.«

Die Art und Weise, wie der Mann sie beobachtete und immer wieder hinter anderen Besuchern Deckung suchte, verriet Sam, dass er eindeutig sie im Visier hatte. Er und Remi traten an einen Tisch, hinter dem eine junge Frau in strahlend weißer Leinenbluse und schwarzer Weste stand und Champagner in hohe schlanke Gläser einschenkte. Sam nahm zwei Gläser von einem Tablett und gab eins an Remi weiter. »Nimm du die linke Seite, ich nehme die rechte.«

Sie prostete ihm mit ihrem Glas zu und trank einen Schluck. »Wir sehen uns dann auf der anderen Seite.«

Sam beobachtete, wie seine Frau sich geschickt zwischen den Gästen hindurchschlängelte, und wartete, bis sie das Zelt zur Hälfte durchquert hatte. Erst dann machte er sich in die andere Richtung auf den Weg. Er ging auf den Mann zu, der seine Aufmerksamkeit plötzlich zwischen ihnen aufteilen musste. Als Remi das Glas zu einem Toast hob, folgte Sam ihrem Beispiel, und beide änderten synchron die Gehrichtung und führten unauffällig eine geradezu bilderbuchmäßige Zangenbewegung aus.

Ihre Zielperson hatte nicht bemerkt, dass sie direkt auf sie zusteuerten, bis sie nur noch wenige Schritte von ihr entfernt waren. Sam erreichte den Mann zuerst und klopfte ihm auf den Rücken. »Donnerwetter. Ich hätte gar nicht erwartet, Sie hier zu sehen. Du doch auch nicht, oder, Remi?«

»Ganz bestimmt nicht. Es erstaunt mich immer wieder, welche Leute einem in Pebble Beach gelegentlich über den Weg laufen.«

Die blauen Augen des Mannes weiteten sich, als sein ungläubiger Blick zwischen Sam und Remi hin und her sprang. »Ihr seid es tatsächlich!«

Wenn man bedachte, dass Sam eigentlich erwartet hatte, dass der Mann leugnen oder zumindest so tun würde, als hätte er sie nicht beobachtet, war seine Reaktion eine Überraschung. »Woher kennen Sie uns?«

»Natürlich kenne ich euch … äh, Sie nicht«, gestand er mit entwaffnender Offenheit und einem starken englischen Akzent. »Nicht persönlich jedenfalls. Sie sehen tatsächlich genauso aus wie auf Ihren Fotos. Was für ein Glücksfall, schon jetzt mit Ihnen zusammenzutreffen.«

»Ein Glücksfall, in der Tat«, sagte Sam und fragte sich, welches Spiel dieser Knabe eigentlich trieb. Seinen seltsam vertrauten Tonfall fand er schlichtweg irritierend, und sein Misstrauen war geweckt. »Ich habe Ihren Namen nicht richtig verstanden.«

»Sie müssen mir verzeihen. Ich bin Oliver Payton. Aber Sie wollen mit meinem Onkel Albert sprechen. Würden Sie bitte so freundlich sein und einen Moment warten, während ich ihn hole?«

»Nur zu. Wir rühren uns nicht vom Fleck«, sagte Sam.

Er und Remi schauten dem Mann nach, während er sich entfernte, und Remi meinte: »Der Neffe unseres vermissten Viscounts?«

»Wahrscheinlich. Vorausgesetzt, der Mann ist tatsächlich ein Viscount.«

»Deine Mutter ist offenbar davon überzeugt.«

»Sie ist nicht annähernd so vorsichtig und misstrauisch wie ich. Außerdem, wie kommt es, dass ich bis jetzt noch nie von ihm gehört habe?«

Remi musterte ihn skeptisch von der Seite. »Liegt das vielleicht an deinem mangelnden Interesse für euern weitläufigen Familienstammbaum?«

»An dem ist doch nur das Problem, dass sich seine Äste wie von selbst ständig weiter verzweigen.«

»Höre ich in deiner Stimme etwa einen Anflug von Zynismus? Verkneif dir eine Antwort.« Sie deutete mit einem Kopfnicken links an Sam vorbei, wo Oliver Payton einem weißhaarigen Mann half, sich die steile, mit hohen Grasbüscheln bewachsene Böschung zu einem Fahrweg hinun­terzutasten. »Unser Viscount und sein Neffe sind im Anmarsch.«

Als sie das Champagnerzelt erreichten, schüttelte der Viscount Olivers Hand von seinem Arm ab. »Ich bin alt, aber nicht behindert.«

Oliver Payton lächelte verlegen und räusperte sich. »Darf ich miteinander bekannt machen – mein Onkel, ­Albert Payton, Viscount Wellswick. Und dies sind Sam Fargo und seine Frau, Remi. Sie sind wegen des Wagens hier.«

Der alte Mann brummelte halblaut, der Wagen gehöre ihm, und schickte einen anklagenden Blick in Sams Richtung. Aber plötzlich entspannte sich seine verkniffene Miene. »Sie sehen genauso aus wie Eunice.«

Die letzte Person, die Sam den Namen seiner Mutter hatte aussprechen hören, war ein Angestellter der DVM, als sie die Gültigkeitsdauer ihres Führerscheins hatte verlängern lassen. Sie hatte diesen Namen immer gehasst und Libby vorgezogen, eine Verkleinerungsform von Eliza­beth, ihrem zweiten Vornamen. »Sie erwähnte tatsächlich, dass Sie beide wegen eines Autos hier sein würden.«

Albert Payton nickte. »Ich … Ja. Ich dachte, dass Sie sich vielleicht für den Prototyp des Rolls-Royce Silver Ghost interessieren. Ich … ich habe nicht viel Geld. Und ich weiß nicht, ob diese Show hier der geeignete Ort dafür ist. Aber ich habe einige gute Ideen, wo jemand einen Oldtimer verstecken könnte. Ich weiß zwar, diese Ideen klingen ziemlich abenteuerlich, aber Sie sollten mich auf jeden Fall bis zu Ende anhören …«

Sam und Remi wechselten einige vielsagende Blicke. Zweifellos sollte irgendein Schwindel inszeniert werden, und zwar kein sonderlich guter, wie sich den Worten des alten Herrn entnehmen ließ. Wenn er mit Betrügern zu tun hatte, gaukelte Sam ihnen gerne vor, dass sie ihm in jeder Hinsicht überlegen waren und ihn auch in der Tasche hatten – umso leichter waren sie zu überrumpeln. »Haben Sie vielleicht eine Visitenkarte? Ich werde mich kundig machen und lasse von mir hören.«

Das Gesicht des Mannes verdüsterte sich, als er seine Taschen abklopfte. Entweder war er ein außerordentlich guter Schauspieler, oder er verband mit den seltsamen Andeutungen, die er soeben von sich gegeben hatte, allzu große Hoffnungen. »Nein.«

»Ich habe ein Mobiltelefon«, warf Oliver Payton ein. »Ist das genug?«

»Natürlich. Remi?«

Sie reichte Sam ihr Champagnerglas, dann holte sie ihr Mobiltelefon aus der Schultertasche und tippte die Nummer ein, die Oliver ihr nannte.

»Wir melden uns«, sagte Sam und stellte beide Champagnergläser auf einem freien Bistrotisch in ihrer Nähe ab.

Während er und Remi das Zelt hinter sich ließen, fragte Remi: »Was glaubst du, führt er im Schilde?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob er selbst das so genau weiß.« Sam blickte auf das Programmheft, das Remi in der Hand hielt, als wäre ihm gerade irgendetwas eingefallen. »Stand im letzten Sports Car Market nicht ein Artikel über einen englischen Viscount, der einige Oldtimer verkaufen will?«

»Das war der Mann. Albert Payton«, sagte Remi. Sams Erinnerungsvermögen war ziemlich präzise, aber seine Frau hatte ein beinahe fotografisches Gedächtnis für alles, was sie las. Es verblüffte ihn immer wieder, dass sie sich an die winzigsten Details erinnern konnte. »Er hat die Absicht, seine Sammlung zu verkleinern, um den Familiensitz und den Adelstitel zu retten. Aber ich kann mich nicht entsinnen, dass von dem Verkauf eines Prototyps des Rolls-Royce Silver Ghost die Rede war. Du denkst doch nicht etwa, dass er das Exemplar meinte, das 1906 gestohlen wurde? Den ersten 40/50 hp?«

Sie blieben beide plötzlich stehen.

Sam sah Remi an. »Wir sollten uns diesen Mann einmal näher ansehen.«

Aber als sie sich zum Champagnerzelt umdrehten, waren er und sein Neffe verschwunden.

2

Sam und Remi brauchten ein paar Minuten, um den Viscount und seinen Neffen in dem Gedränge aufzuspüren. Die beiden Männer hatten den Pavillon durchquert, standen jetzt am anderen Ende und blickten auf den Ozean hinaus.

»Ich glaube nicht, dass sie interessiert sind«, sagte der jüngere Mann namens Oliver.

»Sie wollen darüber nachdenken. Sie …« Die Schultern des älteren Mannes sanken herab. »All diese Familien. Was soll … was kann ich ihnen sagen?«

Oliver Payton legte einen Arm um die Schultern seines Onkels. »Uns wird irgendetwas einfallen. Ganz sicher. Du kannst dich darauf verlassen.«

Remi versetzte Sam einen leichten Stoß mit dem Ellbogen.

Er räusperte sich und ließ den beiden Männern Zeit, sich zu sammeln. »Mr. Payton?«

Die Männer drehten sich um. Oliver war sichtlich überrascht, sein Onkel erschien eher ein wenig verwirrt.

»Es gibt noch etwas, das ich wissen möchte.« Sam war im Begriff zu fragen, weshalb sie sich ausgerechnet an seine Mutter gewandt hatten, als sich bei ihm wieder dieses seltsame Gefühl, beobachtet zu werden, meldete. Er suchte die Gästeschar ab und entdeckte einen breitschultrigen Mann mit militärisch kurzem Bürstenhaarschnitt. Der Blick des Mannes wanderte über Sam hinweg, als hielte er Ausschau nach jemand anders, um dann mit einer Hand zu winken, als hätte er ihn entdeckt. Und dann entfernte er sich in diese Richtung. Als Sam seine Position ein wenig veränderte, um erkennen zu können, wem er gewunken hatte, und niemanden finden konnte, schaute er wieder zu dem Mann und musste feststellen, dass er im Gedränge der Zeltbesucher inzwischen untergetaucht war.

Während natürlich die hohe Wahrscheinlichkeit bestand, dass die Angelegenheit vollkommen harmlos war, glaubte Sam, sicher sein zu können, dass Oliver Payton und sein Onkel die Objekte seiner immer gearteten Begierde waren. Es stand außer Frage, dass sie mehr über die beiden in ­Erfahrung bringen mussten, allerdings nicht hier draußen vor aller Augen und Ohren. »Wir sollten uns ein ruhiges Plätzchen suchen, wo wir uns ungestört unterhalten können.«

»Wie wäre es mit Mittagessen«, schlug Remi vor. »Ich bin vollkommen ausgehungert. Vorausgesetzt, wir finden irgendwo noch einen freien Tisch.«

»Ich rufe das Hotel an«, sagte Sam. Ohne langfristige Terminabsprache einen Platz in einem der Restaurants auf der Halbinsel zu finden war während des Concourse d’Elegance so gut wie unmöglich. Wie immer, wenn sie die Ausstellung besuchten, waren Sam und Remi im Inn at Spanish Bay Resort abgestiegen, und das war jedes Mal wieder eine große Hilfe gewesen, wenn sie in letzter Minute einen Lunch- oder einen Dinnertisch brauchten. Er wählte die Nummer der Rezeption und wurde mit Kimberley verbunden, der diensthabenden Concierge. »Sam Fargo«, meldete er sich und musste einen Schritt zur Seite machen, weil er von einem Mann, der ausschließlich Augen für seinen Ausstellungskatalog hatte, beinahe umgerannt worden wäre. »Besteht die Chance, noch einen Tisch zum Lunch zu ergattern? Für vier Personen?«

»Das dürfte kein Problem sein, Mr. Fargo. Ich bitte das Restaurant sofort um Bestätigung. Bitte bleiben Sie in der Leitung.«

Sam entdeckte den Mann, mit dem er beinahe zusammengestoßen wäre, und sah, wie er sich entfernte, diesmal jedoch mit schnellen Schritten und erstaunlich zielstrebig. Als er mit Mr. Bürstenhaarschnitt zusammentraf – derselben Person, die sie vorher beobachtet hatte –, erkannte Sam, dass der Beinahezusammenstoß offenbar kein Zufall gewesen war. Sie oder die Paytons wurden überwacht. »Ich denke, wir sollten uns schon mal auf den Weg zum Pendelbus machen«, sagte Sam zu Remi. Er wollte ihre Schatten so schnell wie möglich abschütteln. Dabei fragte er sich gleichzeitig, ob die beiden die Einzigen waren, die sich für sie interessierten.

Sie brauchten nicht weit zu gehen. Kimberley meldete sich wieder und informierte sie, dass sie einen Tisch für vier Personen im Tap Room, einem der Restaurants des Lodge at Pebble Beach, reserviert habe.

Nachdem sie Getränke bestellt hatten, schaute Sam ihre beiden Gäste fragend an. »Meine Mutter hat sich ziemlich vage ausgedrückt, was den Grund betrifft, weshalb Sie sich mit uns treffen wollten. Vielleicht können Sie uns in dieser Richtung ein wenig ausführlicher …?«

Der alte Mann lehnte sich zu seinem Neffen hinüber. »Haben wir nach ihm gesucht?«

»Ja«, sagte Oliver. »Es geht um den Wagen, wie du bestimmt noch weißt.«

»Ganz richtig.« Albert nickte, während er den Blick auf Sam richtete. »Wir dachten uns, dass Sie der perfekte Bewahrer für meinen Wagen sein könnten.«

Perfekter Bewahrer, fand Sam, war eine ganz seltsame Wortwahl. »Meinen Sie diesen Silver-Ghost-Prototyp, den Sie erwähnt haben?«

»Genau den.«

Sam nickte. Es war eine ganz andere Frage, die ihn seit ihrer ersten Begegnung beschäftigte. »Wie genau sind Sie und meine Mutter miteinander verwandt?«

Oliver Payton lächelte seinen Onkel an. »Sie ist eine Cousine zweiten Grades, nicht wahr?«

»Ah, Cousine Eunice.«

Das war interessant, weil Sams Mutter ihm gegenüber diesen Zweig ihrer Familie niemals erwähnt hatte, bis sie plötzlich um dieses Treffen gebeten worden war. »Sie erzählte mir etwas von einem Darlehen«, sagte Sam, um vorerst beim Thema zu bleiben. Über ihr Verwandtschaftsverhältnis würde er später noch ausführlich mit Oliver Payton und seinem Onkel diskutieren. Vorläufig würde er weiterhin eine gewisse Distanz an den Tag legen. »Wofür brauchen Sie das Geld?«

»Die kurze Version ist«, antwortete der junge Mann, »dass wir alles verloren haben und uns einen höheren Geldbetrag leihen müssen, damit man uns den Grund und Boden mitsamt unserem Zuhause nicht wegnimmt. Wir haben schon versucht, alles Mögliche zu verkaufen, um über die Runden zu kommen, aber so viele Menschen bestreiten mit dem Land, das sie von uns gepachtet haben, ihren Lebensunterhalt – ich denke an ganze Generationen von Familien –, dass wir große Hemmungen haben, uns auf einen Deal einzulassen, der sie zwingen könnte, ihre Heimat aufzugeben.«

Während Olivers Worten blickte Sam instinktiv zur Tür und fragte sich, ob der Prototyp des Silver Ghosts mit den Männern zu tun haben könnte, die ihnen die ganze Zeit gefolgt waren. Momentan sah es so aus, als hätten sie den Weg zum Restaurant gefunden, ohne beschattet zu werden. Trotzdem wollte er kein Risiko eingehen und behielt den Eingang im Auge, während sie ihre Mahlzeit einnahmen.

Oliver Payton lächelte verkniffen und vermied es, seinen Onkel anzusehen. »Das einzige Angebot für das Land, das uns bisher unterbreitet wurde, nun, es enthielt keinerlei Garantie, dass die Käufer nichts daran ändern würden.«

Albert Payton nickte bekräftigend. »Wir werden nicht verkaufen.«

»Der Punkt ist«, sagte Oliver, »dass ich nicht weiß, wie es überhaupt so weit hat kommen können. Es ging uns eigentlich recht gut, aber plötzlich schien alles verloren. Ich …« Er sah seinen Onkel an, dann wieder zu Sam. »Ich gebe mir selbst die Schuld. Ich hätte die Buchhaltung viel eher übernehmen sollen. Zurzeit bin ich noch immer ­damit beschäftigt, eine Erklärung für diesen desaströsen wirtschaftlichen Abstieg zu finden und den Sinn dahinter zu erkennen.«

»Jemand will mir etwas anhängen«, sagte Onkel Albert und nickte noch einmal. »Sie haben es darauf angelegt, mir alles wegzunehmen. Absolut alles.«

»Das kannst du nicht wissen«, sagte Oliver.

»Wirklich nicht?« Er sah Sam an, seine Augen waren hell und klar. »Ich kann dir genau sagen, wer es ist, der dahintersteckt. Und auch, weshalb.«

3

Der Kellner legte eine lederne Zahlmappe mit der Rechnung neben Sams Weinglas.

Albert schaute dem Kellner nach, während dieser sich entfernte, dann sah er Sam an. »Ich … was wollte ich gerade sagen?«

»Jemand versucht, Ihnen etwas anzuhängen.«

Albert Payton nickte. Was immer er hatte sagen wollen, blieb jedoch unausgesprochen. Die Gedächtnisprobleme des älteren Mannes waren offenbar tatsächlich vorhanden und nicht gespielt. Das schloss jedoch keineswegs die Möglichkeit aus, dass der jüngere Mann, ganz gleich, wie ernsthaft und aufrichtig er erschien, den Zustand seines Onkels für seine eigenen Zwecke ausnutzte und die Absicht hatte, das Gleiche mit ihnen zu versuchen. Sam wandte sich Oliver Payton zu. »Welche Art von Hilfe erhoffen Sie sich von uns? Was können wir tun? Oder was dachte meine Mutter, dass wir tun können?«

»Sie meinte, dass Sie vielleicht bereit sind, den Wagen als eine Art Sicherheit zu akzeptieren. Für ein Darlehen.«

»Das hat meine Mutter gesagt?«

Oliver Payton rutschte auf seinem Platz hin und her. Er fühlte sich plötzlich sichtlich unwohl. »Nur so viel, um sein Anwesen aus den roten Zahlen herauszuholen und zu verhindern, dass unsere Mieter und Pächter auf die Straße ­gesetzt werden. In einem Punkt bin ich mir sicher. Sollte ich dahinterkommen, was es war, das schiefgelaufen ist und diesen Abstieg ausgelöst hat, besteht die reelle Chance, dass wir uns davon erholen.«

»Alles war meine Schuld«, meldete sich Albert zu Wort und sah seinen Neffen an, als erwartete er eine Bestätigung von ihm.

Oliver Payton ergriff die Hand seines Onkels. »Er ist immer ein guter Hauswirt und Vermieter gewesen. Ich glaube nicht, dass diese Familien hätten überleben können, wenn wir verkauft hätten und sie eine Miete hätten bezahlen müssen, die für die Häuser, die sie bewohnen, tatsächlich angemessen wäre. Ich …« Er sah seinen ­Onkel an, dann wanderte sein Blick wieder zu Sam. »Wie ich schon angedeutet habe, ich gebe allein mir die Schuld.«

»Sie wollen uns ruinieren«, murmelte sein Onkel düster. »Unseren guten Namen beschmutzen.« Aber auch diesmal folgten keinerlei Enthüllungen oder Andeutungen, wer konkret – wenn überhaupt jemand – dahintersteckte.

Sam schob seine Kreditkarte in die Ledermappe und reichte diese dem Kellner, als er wieder an ihren Tisch kam. »Das Ganze klingt ziemlich kompliziert.«

»Ich kann durchaus verstehen, wenn Sie uns nicht glauben«, sagte Oliver. »Manchmal bin noch nicht einmal ich mir ganz sicher, was hier im Gange ist. Ich weiß nur, dass Onkel Albert der festen Überzeugung ist, dass jemand anders seine Hände in diesem abgekarteten Spiel hat. Und das glaube ich ihm. Ich habe mein Sabbatjahr und den letzten Rest meiner Ersparnisse aufgebraucht, und da ich über keine Rücklagen mehr verfüge, muss ich wieder an meine Arbeit zurückkehren. Ich … ich weiß nicht, wie ich ihm anders helfen kann oder wie ich in Erfahrung bringen soll, was tatsächlich geschehen ist.«

Remi beugte sich vor und legte Oliver Payton eine Hand auf den Arm. »Wenn zutrifft, was er erzählt, nämlich dass jemand ganz Bestimmter hinter dieser Geschichte steckt, dann sollten Sie sich an die Polizei wenden.«

»Meine Frau hat recht«, sagte Sam. »Das, was Sie von uns erwarten, gehört eigentlich nicht in unseren Tätigkeitsbereich.«

»Sie suchen doch nach Schätzen, nicht wahr?«

»Das ist etwas anderes.«

»Inwiefern? Der Silver Ghost hat einen Wert von fünfzig Millionen Dollar, wenn nicht sogar mehr. Der Wert des Grey Ghost dürfte sich auf dem gleichen Niveau bewegen.«

»Genau das ist die Frage«, sagte Sam. »Wo kann er denn die ganze lange Zeit versteckt gewesen sein?«

»Während des Zweiten Weltkriegs stand er wegen der Bombenangriffe an einem sicheren Ort. Dort blieb er noch, bis wir gezwungen waren, unsere Oldtimersammlung zu Geld zu machen. Aber niemand hatte eine genaue Vorstellung von seinem Wert. Wir hatten mindestens ein Dutzend alter Automobile verkauft, als wir auf den Grey Ghost stießen, der unter einer Schutzplane in der Scheune seinen Dornröschenschlaf hielt. Als uns klar wurde, was wir da gefunden hatten, wandten wir uns an die Firmenleitung von Rolls-Royce in der Hoffnung, von dort einen brauchbaren Hinweis zu erhalten, zu welchem Preis dieses Fahrzeug gehandelt wurde.«

»Und hat man Sie über seinen ungefähren Wert auf­geklärt?«, fragte Sam.

»Genau das war der Punkt. Man meinte, einen Preis dafür zu benennen, sei so gut wie unmöglich, da es sich nur um den Prototyp der geplanten Modellreihe handele.«

»Nur?«, fragte Remi und runzelte irritiert die Stirn. So einen Unsinn hatte sie noch nie gehört.

»Genau das war auch meine Reaktion. Aber dann erklärten sie sich bereit, den Wagen zu erwerben – für ihr Firmenmuseum, vermute ich –, und versprachen, jemanden zu schicken, der ihn begutachten und einen Schätzwert nennen sollte.«

»Allesamt Diebe«, murmelte Albert Payton. »Ich werde ihn nicht verkaufen.«

Oliver lächelte nachsichtig und meinte: »Das war auch seine damalige Position. Aber es kam auch niemand vorbei, um sich den Wagen anzusehen.«

Der Kellner kam und holte das Quittungsmäppchen. Sam fügte ein angemessenes Trinkgeld hinzu und unterschrieb. »Also gab es kein konkretes Angebot?«

»So weit gediehen die Verhandlungen gar nicht erst. Andere Leute meldeten sich und überredeten Onkel ­Albert, den Wagen für den Londoner Concourse anzumelden. Sie sagten, dass auf diese Weise das Interesse geweckt werden würde, was wiederum den Preis in die Höhe treibe.«

»Hab erst nicht mehr viel davon gehalten, dass er in einer Show in London gezeigt werden sollte«, sagte ­Albert. »Überlegte es mir dann aber anders.«

»Ein wenig zu spät, wie ich leider feststellen muss«, sagte Oliver. »Jetzt ist er fest gemeldet.«