Das halbe Leben Dunkelheit - Dania Dicken - E-Book

Das halbe Leben Dunkelheit E-Book

Dania Dicken

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In Birmingham taucht die verstörte und verwahrloste siebzehnjährige Katie auf, die vor acht Jahren spurlos verschwand. Psychologen und Sozialarbeiter versuchen vergeblich, von ihr etwas über den Verbleib ihrer ebenfalls vermissten Schwester Tracy zu erfahren, doch Katie spricht kein Wort.
Profilerin Andrea übernimmt den Fall und holt Katie zu sich nach Hause. Einfühlsam gelingt es ihr, Zugang zu dem traumatisierten Mädchen zu finden. Jedoch ahnt sie nicht, in welcher Gefahr sie beide schweben, denn Katies skrupellose Entführer sind ihr längst auf der Spur ...
Neuauflage des unter dem Titel "Keiner hört dein Schweigen" veröffentlichten Thrillers von be.thrilled (2017)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Prolog
Montag, 2. März
Acht Jahre zuvor
Dienstag, 3. März
Acht Jahre zuvor
Mittwoch, 4. März
Vier Jahre zuvor
Donnerstag, 5. März
Zwei Jahre zuvor
Freitag, 6. März
Samstag, 7. März
Sonntag, 8. März
Montag, 9. März
Dienstag, 10. März
Mittwoch, 11. März
Donnerstag, 12. März
Dienstag, 17. März
Freitag, 20. März
Epilog
Nachbemerkung
Impressum

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

 

Das halbe Leben Dunkelheit

 

Profiler-Reihe 6

 

 

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

 

Neuauflage 2023

 

Zuerst erschienen unter dem Titel „Keiner hört dein Schweigen“ bei be.thrilled, Köln (2017)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wir sollten unseren Kindern nicht vorgaukeln, die Welt sei heil.

Aber wir sollten in ihnen die Zuversicht wecken, dass die Welt nicht unheilbar ist.

 

Johannes Rau

Prolog

 

Tränen nahmen ihr die Sicht. Immer wieder wischte sie mit dem ausgeleierten Ärmel des schmutzigen Pullovers über ihre Augen, um sehen zu können, wohin sie überhaupt lief. Seitenstiche quälten sie, die kalte Luft brannte in ihrer Lunge. Sie verfügte über keinerlei Ausdauer. Keuchend lehnte sie an der kalten Backsteinmauer und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ihre Knie zitterten.

Sie hatte sich so überanstrengt, dass ihr Speichel wie Blut schmeckte. Warum das so war, konnte sie sich nicht erklären. Ihr war heiß und sie glaubte, ihr Kopf müsse platzen. Als sie versuchte, einen Schritt nach vorn zu machen, zitterten ihre Beine. Aber sie musste weiter. Sie musste einfach. Seit acht Jahren hatten sie auf diese Chance gewartet. Acht Jahre lang hatte es keine Gelegenheit zur Flucht gegeben.

Bis jetzt.

Das Industriegebiet war menschenleer. Sie wusste nicht, in welcher Stadt sie sich befand. Das musste sie jetzt erst einmal in Erfahrung bringen. Vor allem musste sie aus diesem Industriegebiet herausfinden. Alte, halb verfallene Werkshallen, verrostete Rohre, besprayte Wände. Mehr war da nicht. Obwohl es an diesem Tag bedeckt war und die dunkelgrauen Regenwolken tief hingen, war sie immer noch geblendet von der Helligkeit.

Tageslicht. Das erste Mal seit acht Jahren.

Das Motorengeräusch war schon seit längerem verklungen. Sie waren viel zu weit weg; überschätzten sie. So schnell wäre sie niemals gewesen. Aber das war gerade ihre einzige Chance. Sie konnte sie hören, wenn sie zurückkehrten. Und sie durften sie niemals, niemals wieder kriegen, ganz egal, was sie versuchten. Was vermutlich eine ganze Menge war. Die mussten einiges draufhaben, wenn es ihnen gelang, zwei Mädchen auf offener Straße zu entführen und acht Jahre in einen Keller zu sperren.

Sie dachte an ihre Eltern. Ob sie wohl wussten, dass sie die ganze Zeit am Leben gewesen waren? Oder hatten sie ihre Töchter längst aufgegeben?

Entschlossen holte sie Luft und quälte sich weiter voran. Sie hätte alles für den kleinsten Tropfen Wasser gegeben. Etwas zu essen. Eine Pizza. Oh, ein Königreich für eine Pizza!

Atemlos stakste sie voran und lauschte unablässig auf ihre Umgebung. Verkehrsrauschen von fern, dazu die Geräusche des Windes. Mehr war da nicht. Keine Spur von dem Lieferwagen, der vor kurzem noch losgebraust war, um sie wieder einzufangen.

Diesmal nicht.

Es hatte weh getan, nur mit Tennissocken an den Füßen über den harten Asphalt zu rennen. Aber die Männer waren nie der Meinung gewesen, dass die Mädchen Schuhe bräuchten. Wozu? Sie saßen doch eh nur herum. Tagein, tagaus in demselben kleinen Verlies.

Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag wieder und sie sah klarer. Die Tränen waren versiegt. Tränen darüber, dass nur sie es geschafft hatte.

Als sie im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, erschrak sie. Dabei war es nur ihr eigenes Spiegelbild, das sie in der blinden Scheibe einer verlassenen Halle erblickte.

Sie blieb stehen und musterte sich. So sah sie jetzt also aus. Sie hatte keine Ahnung gehabt. Das letzte Bild, das sie von sich in Erinnerung gehabt hatte, zeigte eine Neunjährige.

Aber das hier war keine Neunjährige. Inzwischen war sie viel größer. An ihrem mageren Körper hing das ausgeleierte Sweatshirt herunter, das sie seit ein paar Monaten trug. Es roch stechend nach Schweiß. An diesen Geruch hatte sie sich nie so sehr gewöhnt, dass sie ihn nicht mehr wahrgenommen hätte.

Das Kleidungsstück war voller Flecken. Darunter befanden sich auch einige Blutflecken. Ihre schlabbrige Trainingshose machte nicht gerade einen besseren Eindruck und ohne Schuhe ... sie sah aus wie eine Obdachlose. Strähniges blondes Haar rahmte ihr Gesicht ein. Sie trat näher und musterte sich ganz genau. Hübsch, dachte sie. Eigentlich war sie ganz hübsch.

Der Meinung waren die Männer sicher auch immer gewesen.

Sie packte das Sweatshirt an den Seiten und zog es enger. Ja, das war eine völlig andere Statur als damals. Inzwischen hatte sie Brüste und runde Hüften. Dabei hätte sie lieber verzichtet.

Nur langsam löste sie sich von dem Anblick ihres Spiegelbildes in der matten Scheibe. Sie musste weiter. Irgendwohin. Sie wusste nicht, wohin und was sie dort tun sollte. Man würde sie nach Tracy fragen. Aber was sollte sie sagen?

Sie hörte noch immer die grauenvollen Schreie ihrer Schwester. Es war jetzt zwei Tage her, aber sie waren immer noch nicht in ihrem Kopf verklungen.

Da waren nur Schuldgefühle. Furchtbare Schuldgefühle. Sie hätte nicht einfach weglaufen dürfen.

Aber jetzt war es zu spät. Zurückkehren würde sie nicht – nur über ihre Leiche.

Der Lieferwagen tauchte nicht wieder auf. Fröstelnd lief sie die Straße entlang, bis sie die erste belebtere Kreuzung erreichte. Hier fuhren Autos.

Die sahen völlig anders aus als damals.

Achtsam schaute sie sich um. Kein Lieferwagen. Aber ihr kam auch sonst nichts bekannt vor. Das war nicht Leicester. Wo war sie? Wo hatte man sie hingebracht?

Sie schlang die Arme fest um den Körper. Der Geruch, der in der Luft lag, erinnerte sie an Schnee. So hatte es früher immer gerochen, bevor Schnee gefallen war. Aber welcher Tag war heute? Sie wusste gar nichts. Sie konnte nur vermuten, dass es Winter war, denn es fühlte sich verdammt danach an. Wie Tracy es geschafft hatte, ungefähr im Auge zu behalten, wie lang sie schon eingesperrt gewesen waren, war ihr ein völliges Rätsel.

Nicht wissend, wohin sie sich wenden sollte, folgte sie einfach der Querstraße und beobachtete die Autos, die an ihr vorüberfuhren. Niemand schien sich an der verwahrlosten jungen Frau zu stören, die ohne Jacke und nur auf Socken im Winter durch eine fremde Stadt lief.

Sie kam an einigen Läden vorüber. Das totenstille Industriegebiet lag nun endgültig hinter ihr. Als sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einiger Entfernung einen blauen Lieferwagen entdeckte, geriet sie in Panik. Atemlos rannte sie hinter ein parkendes Auto und kauerte sich zitternd dahinter zusammen. Wenn sie sie nur nicht fanden.

Doch der Lieferwagen fuhr einfach vorüber. Vielleicht waren das gar nicht die Männer.

Erleichtert stand sie auf und ging weiter. Die ersten Passanten, die ihr entgegenkamen, musterten sie fragend, regelrecht abschätzig.

Noch immer hatte sie nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befand. Sie wusste auch nicht, seit wann sie schon unterwegs oder wie weit sie gelaufen war. Klar war nur, dass sie sich in einer Stadt befand. Die Straßen wurden immer belebter – und ohrenbetäubend laut. Der Verkehrslärm schmerzte regelrecht in ihren Ohren. Das war sie nicht mehr gewöhnt.

Ein riesiger, moderner Gebäudekomplex stach ihr ins Auge. Neugierig betrachtete sie ihn, bis sie einen Schriftzug über dem vermutlichen Haupteingang erkannte. Queen Elizabeth Hospital Birmingham.

Sie war in Birmingham?

Es war ein Krankenhaus. Das war nicht das Schlechteste, fand sie. Dort würde man ihr helfen.

Sie fasste sich ein Herz und ging auf den Haupteingang zu. Ein Pfleger, der den Rollstuhl eines alten Mannes schob, musterte sie fragend. Zwei Männer im Anzug kamen aus der Drehtür des Krankenhauses und starrten sie von oben bis unten an.

Erkannten sie sie wieder? Hatten sie irgendetwas davon gesehen? Jemand musste es gesehen haben. Dafür waren die Aufnahmen doch gemacht worden.

Sie fühlte sich unbehaglich und lief schnellen Schrittes ins Innere des Krankenhauses.

Aber was sollte sie sagen? Würde sich überhaupt noch jemand an Tracy und sie erinnern?

Verloren stand sie in der belebten Eingangshalle des Krankenhauses. Ein kleines Kind kreischte, das Stimmengewirr vermischte sich zu einem steten Summen. Irgendwo klingelte ein Telefon. Das grelle Neonlicht brannte in ihren Augen. Hilfesuchend drehte sie sich um und rang den Instinkt zur Flucht nieder. Das hier war ein sicherer Ort. Ihr konnte gar nichts passieren.

Aber ihr konnte auch niemand helfen.

Sie traute sich nicht, jemanden anzusprechen. Plötzlich hatte sie Angst. Seit acht Jahren hatte sie von ihrer Flucht geträumt und jetzt hatte sie Angst. Es waren so viele Leute um sie herum. Überall waren Männer. Sie wollte weg, sich verstecken.

Ein gellender Schrei drang an ihre Ohren. Erschrocken blickte sie sich um und erkannte erst dann, dass sie es war, die da schrie.

Montag, 2. März

 

Sarah stellte ihre Tasse ab. „Hättest du damals gedacht, dass irgendwann etwas aus Chris und mir wird?“

„Nein“, gestand Andrea lachend. „Ich dachte immer, das sei nur eine Schwärmerei von dir, denn du hast ihm ja nie etwas gesagt.“

„War vielleicht auch so“, stimmte Sarah zu. „Aber jetzt ist es anders. Es ist so, als würden wir uns ewig kennen.“

„Was auch stimmt.“

„Aber jetzt fühlt es sich richtig an. Ich fühle mich so wohl bei ihm.“ Sarah leerte ihre Tasse. „Es ist so viel passiert und ich fühle mich trotzdem irgendwie schuldig.“

„Das musst du nicht“, widersprach Andrea. „Du kannst nichts dafür. Niemand darf dir einen Vorwurf machen, auch du nicht. Es ist nicht deine Schuld. Du kannst mir glauben, dass du mit Robert sehr glücklich warst. Aber die Frage, ob dein jetziges Verhalten ihm gegenüber gerecht ist, stellt sich doch gar nicht. Er ist tot.“

Sarah nickte wenig überzeugt. „Leider hatte ich nicht einmal die Gelegenheit, herauszufinden, ob ich mich erinnert hätte. Das Bild, das ich von Robert im Krankenhaus habe, zeigt einen vollkommen Fremden.“

„Aber das meinst du doch nicht persönlich. Du solltest damit abschließen – das wäre leichter für dich und Christopher gegenüber nur fair.“

„Du hast Recht.“ Seufzend zog Sarah die Schultern hoch.

Andrea konnte Sarahs Skrupel durchaus verstehen. Der Anschlag auf ihren Freund Robert hatte ihr Leben verändert – in jeder nur denkbaren Weise. Robert war tot und Sarah hatte eine retrograde Amnesie erlitten, die zwei Jahre ihres Lebens aus ihrer Erinnerung gelöscht hatte. Auch die an Robert und ihr Leben in Glasgow.

Doch da Robert keine Eltern mehr gehabt hatte, war Sarah immer noch die Ansprechpartnerin, wenn es darum ging, das Eigentum ihres verstorbenen Freundes entgegenzunehmen oder seine Angelegenheiten zu klären. Das war eine schwere und undankbare Aufgabe für sie, da sie sich de facto um die Angelegenheiten eines für sie völlig Fremden kümmern musste. Hätte Robert nicht in weiser Voraussicht ein Testament verfasst, in dem sie die Begünstigte war, wäre es in das reinste Chaos ausgeartet. Sie hatte so schon oft genug Schwierigkeiten – und sei es nur, dass sie seine Konten kündigen musste. Schließlich waren die beiden nicht verheiratet gewesen, aber Sarah war die Einzige, die es tun konnte.

Trotzdem nagte das schlechte Gewissen an ihr, da sie den Nachlass und das Erbe eines Menschen verwaltete, den sie vergessen hatte. Das konnte Andrea gut verstehen. Und jedes Mal, wenn Sarah irgendein Brief wegen Robert erreichte, riss die alte Wunde wieder auf.

Er war nun knapp sieben Monate tot. Sarahs Erinnerung war noch immer nicht zurückgekehrt. Da hatte es auch nichts genutzt, ihr Fotos zu zeigen, auf denen sie mit Robert zu sehen war oder sogar die gemeinsame Wohnung in Glasgow zu besuchen. Da war nichts.

Andrea stellte sich das unglaublich schwer vor. Und natürlich fühlte Sarah sich schuldig, weil sie Roberts Erbin war und gleich nach seinem Tod eine Beziehung mit einem anderen Mann begonnen hatte.

Aber sie hatte sich ihre Amnesie nicht ausgesucht. Sie konnte froh sein, dass sie nicht mehr vergessen hatte als das. Sie hätte berufsunfähig werden können. Sie hätte ihre Identität vergessen können, aber so weit war es glücklicherweise nicht gekommen.

Die Sache mit Robert war schwer, aber wenigstens war sie nicht allein. Sie hatte Andrea nicht vergessen und sie hatte jetzt Christopher. Dass ihre beste Freundin und ihr Kollege und Freund Detective Sergeant Christopher McKenzie nun ein glückliches Paar waren, freute Andrea.

 „Sag mal, hättet ihr Lust, am Freitag zum Essen zu kommen?“, wechselte Sarah das Thema. „Julie kann natürlich auch mitkommen.“

„Ach, sie kann auch bei Anna bleiben“, winkte Andrea ab.

„Wenn du meinst. Aber ich hätte nichts dagegen. Kinder sind toll.“ Sarah lächelte. „Nur Mr. Workaholic scheint weniger davon angetan zu sein.“

„Du hast doch noch gar nicht mit ihm darüber geredet“, sagte Andrea stirnrunzelnd.

„Müsste ich aber mal. Sonst wird er zu alt!“ Jetzt lachte Sarah. Allerdings fand Andrea, dass sie übertrieb. Christopher war nur zwei Jahre älter als Greg. Ein Workaholic war er jedoch definitiv. Andreas Fall wäre das nicht gewesen, aber Sarah kam gut damit zurecht.

„Also, was sagst du?“, fragte Sarah.

„Ich bin dafür, aber ich muss erst noch mit Greg sprechen.“

Sarah schaute demonstrativ auf die Uhr. „Wann kommt er denn?“

„Heute kommt er etwas später, das hat er gesagt. Aber ich gebe dir auf jeden Fall wegen Freitag Bescheid“, versprach Andrea.

„Sehr gut. Ich mache mich dann mal wieder auf den Weg.“ Sarah stand auf. „Danke für deine Zeit.“

„Ist doch klar. Du weißt, dass du immer kommen kannst.“

„Ja. Danke.“ Mit einem Lächeln winkte Sarah Julie zu. An der Haustür umarmte sie Andrea zum Abschied. „Du bist die Beste.“

„Übertreib nicht so schamlos“, sagte Andrea und lachte. Sie beobachtete noch, wie Sarah ins Auto stieg und wegfuhr, bevor sie ins Haus zurückkehrte. Sie war selbst gerade erst zu Hause gewesen, als Sarah geklingelt hatte. Erneut hatte sie ein Brief wegen Robert erreicht und sie musste ihrem Frust darüber ein wenig Luft machen, was Andrea allzu gut verstehen konnte.

Nachdenklich betrat sie das Wohnzimmer. Julie saß angestrengt über ihr Malbuch gebeugt da und hielt den Buntstift fest umklammert, während sie damit irgendetwas ausmalte, was Andrea nicht erkennen konnte. Julies dunkle Lockenmähne war leider im Weg. Trotzdem entdeckte Andrea ihre Zungenspitze zwischen den Lippen – ein Zeichen größter Konzentration.

Sie bewunderte immer wieder die Ausdauer ihrer Tochter, wenn es darum ging, sich zu beschäftigen. Ihr war nie langweilig. Sie war aufgeweckt, neugierig und sehr kreativ.

Andrea war stolz auf sie. Natürlich liebten alle Eltern ihre Kinder und das eigene Kind war das Hübscheste und Klügste – aber ihre Tochter war wirklich besonders klug, das stand zweifelsohne fest. Lächelnd beobachtete Andrea Julie beim Malen und griff gelangweilt nach der Fernbedienung. Nachmittags lief nur Unfug im Fernsehen, aber sie konnte ihr Glück ja mal versuchen.

Bei BBC News blieb sie hängen. Die Bildunterschrift war es, die ihre Aufmerksamkeit erregte. Breaking News: Missing Katherine Archer found after eight years. Andrea verstand kein Wort, deshalb erhöhte sie die Lautstärke und hörte aufmerksam zu. Im Hintergrund war das weitläufige Gebäude eines Krankenhauses zu sehen.

„Katherine Archer und ihre zwei Jahre ältere Schwester Tracy verschwanden damals in ihrer Heimatstadt Leicester auf dem Schulweg. Die beiden Mädchen waren zu diesem Zeitpunkt neun und elf Jahre alt und befanden sich auf dem Heimweg, kamen aber nie zu Hause an. Die Polizei ging gleich zu Beginn von einem Gewaltverbrechen aus, konnte aber keine heiße Spur ausmachen. Es gab keine Zeugen für das Verschwinden der Mädchen und keinerlei verwertbare Hinweise. Die damaligen Vermutungen besagten, dass eine Bande organisierter Krimineller die Kinder entführt haben könnte, um sie in einen Kinderpornoring einzuführen.“

Hastig blickte Andrea zu Julie, aber die hatte nicht zugehört. Unbeirrt malte sie weiter.

„Diese Vermutung wurde drei Jahre später bestätigt, als bei einer großangelegten Razzia kinderpornographische Bilder und Videos gefunden wurden, die vermutlich die beiden Schwestern zeigten. Leider verlief auch diese Spur im Sande, denn die Verantwortlichen konnten nie ausfindig gemacht werden. Die Polizei ging immer davon aus, dass die Schwestern noch leben und hat die Suche nie aufgegeben, konnte aber auch keine Erfolge verzeichnen.“

Das Bild wechselte zurück zur Sprecherin ins Studio. „Sollten Sie gerade erst zugeschaltet haben: Vor drei Stunden betrat ein siebzehnjähriges Mädchen das Queen Elizabeth Hospital in Birmingham und erlitt dort einen Zusammenbruch. Wie soeben bestätigt wurde, handelt es sich bei der jungen Frau um die vermisste Katherine Archer aus Leicester. Die Identifizierung stellte die herbeigerufenen Polizeibeamten vor ein Problem, da das Mädchen bislang kein Wort gesprochen hat. Somit gibt es auch keinerlei Informationen zum Verbleib ihrer älteren Schwester Tracy, die damals zeitgleich mit Katherine verschwunden ist. Für die ermittelnden Beamten aus Leicester ist Katherines Auftauchen die langersehnte Sensation und nährt die Hoffnung, etwas über ihren Verbleib und das Schicksal ihrer Schwester zu erfahren.“

Nachdenklich blickte Andrea auf den Fernsehbildschirm. Acht Jahre ... damals hatte sie noch in Deutschland gelebt. Sie hatte gerade mit dem Studium begonnen. Ihre Familie hatte noch gelebt ...

Andrea erinnerte sich an die Schlagzeile. Auch in den deutschen Nachrichten war vom Verschwinden der Schwestern berichtet worden. Also waren sie die ganze Zeit über am Leben gewesen. Entführt von Kriminellen und seitdem gefangengehalten. Reglos saß Andrea da und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

Ihr war klar, warum Katherine kein Wort sprach. Zwar fand Andrea diese Reaktion extrem, aber sie war nicht überrascht. Katherine musste schwer traumatisiert sein. Als Neunjährige verschwunden und nun mit siebzehn wieder aufgetaucht. Sie hatte ihre Jugend in Gefangenschaft verbracht – die Phase, in der man zum Erwachsenen heranreifte.

Andrea schluckte hart. Sich auszumalen, was das bedeutete, schnürte ihr unweigerlich die Kehle zu. Beinahe hätte sie auch in so einem Keller geendet.

Ein Polizeibeamter erschien auf dem Bildschirm. „Unsere wichtigste Aufgabe ist jetzt, herauszufinden, wo Katherines Schwester Tracy sich aufhält. Leider ist Katherines Zustand nicht besonders stabil, so dass wir uns zum jetzigen Zeitpunkt keinerlei Informationen erhoffen können. Seit ihrer Ankunft im Krankenhaus hat sie kein Wort gesprochen. Wir haben sie nur anhand bestimmter Merkmale identifizieren können, indem wir ihr Alter geschätzt und die Vermisstendatei nach Mädchen in ihrem Alter durchsucht haben, deren Äußeres zutreffen könnte. Außerdem ließ ihr Zustand sehr früh Rückschlüsse auf eine jahrelange Misshandlung und Verwahrlosung zu, so dass wir sie rasch identifizieren konnten. Zurzeit versucht ein Seelsorger, Zugang zu dem Mädchen zu finden. Die ermittelnden Beamten aus Leicester sind mit der Mutter der Mädchen auf dem Weg hierher. Wir hoffen nun, dass Katherine bald aus ihrem Schockzustand erwacht und uns erzählt, wo sie die letzten Jahre verbracht hat und was mit ihrer Schwester geschehen ist.“

Es wurden Bilder der beiden Mädchen eingeblendet, die vor dem Zeitpunkt ihres Verschwindens aufgenommen worden waren. Katherine hatte eine Zahnlücke gehabt und wirkte noch sehr jung, während Tracy gar nicht wie elf aussah, sondern eher wie dreizehn oder vierzehn.

Organisiertes Verbrechen. Da waren auf offener Straße zwei Mädchen entführt und jahrelang eingesperrt worden, um sie für kinderpornographische Aufnahmen zu missbrauchen. Hatte man so etwas in Belgien im Fall Dutroux nicht anfangs auch vermutet?

Während des Studiums hatte Andrea die Schilderung eines seiner Opfer, Sabine Dardenne, gelesen und die Stärke bewundert, die aus der jungen Frau sprach. Dutroux hatte sie für fast drei Monate gefangengehalten und später Laetitia Delhez zu ihr gesperrt. Nur durch Laetitias Entführung war man auf Dutroux aufmerksam geworden und hatte die beiden Mädchen vor einem ähnlichen Schicksal wie dem der anderen vier Mädchen bewahren können, die Dutroux zuvor gefangengehalten hatte. Sie waren in ihren Verliesen verhungert oder ermordet worden. Weil man sich aber nie hatte erklären können, wie ein Fall solch monströser Ausmaße von einem Mann ohne Netzwerk im Rücken hatte begangen werden sollen, war daraus eine Staatsaffäre erwachsen. Man hatte vermutet, dass die Hintermänner sich in höchsten Kreisen wiederfanden – eine Annahme, die Sabine Dardenne immer bestritten hatte. Sie wusste nichts von Hintermännern. Ihr hatte Dutroux nur immer wieder weisgemacht, er habe ihre verzweifelten Briefe tatsächlich an ihre Familie geschickt. Diese perfide Grausamkeit hatte Andrea entsetzt.

Das hier war auch so ein Fall. Unwillkürlich musste Andrea an die anderen Fälle junger Frauen denken, die über Jahre hinweg irgendwo gefangengehalten worden waren. Natascha Kampusch, Elisabeth Fritzl, Jaycee Lee Dugard. Und das war nur die Spitze des Eisbergs. Nur einige der bekannten Fälle.

Nur einige aller Fälle.

Und jetzt war Katherine Archer wieder aufgetaucht. Sie sprach kein Wort. Warum? War ihre Schwester tot? Warum wollte sie niemandem sagen, wo Tracy war?

Konnte sie es nicht?

Andrea stand auf und holte ihr Notebook. Irgendwo hatte sie Unterlagen auch zu solchen Fällen gesammelt, die sie nun unbedingt durchgehen wollte. Neugier war es, die sie trieb. Katherine musste einen guten Grund haben, zu schweigen. War es vielleicht falsch verstandene Solidarität mit ihren Peinigern? Auch das hatte es schon gegeben, im Fall von Colleen Stan. Sie war über Jahre eingesperrt worden, manchmal dreiundzwanzig Stunden am Tag in einer klaustrophobischen Kiste unter dem Bett ihres Entführers. Trotzdem war sie ihm nicht davongelaufen, als sie gekonnt hätte.

Doch genau das hatte Katherine heute getan.

Andrea war völlig in ihren Unterlagen versunken, so dass sie gar nicht merkte, als Gregory nach Hause kam. Plötzlich stand er einfach in der Tür, blickte erst stirnrunzelnd zu ihr, dann zum Fernseher und wieder zurück.

„Was ist denn hier los?“, fragte er perplex.

„Nur diese Sache in Birmingham“, sagte Andrea.

„Hm? Was ist denn passiert?“

„Da ist ein Mädchen wieder aufgetaucht, das acht Jahre lang verschwunden war.“

„Aha.“ Er stellte seine Tasche ab und setzte sich neben Andrea. Sie blickte auf, um ihm einen Kuss zu geben. Er lächelte und strafte seine Tochter mit einem ungnädigen Blick.

„Wenigstens du interessierst dich für meine Ankunft“, sagte er zu seiner Frau.

„Natürlich.“

Julie kritzelte weiter. Andrea war irritiert, denn normalerweise fiel sie ihrem Vater zur Begrüßung immer um den Hals und versuchte, ihn umzureißen. Doch nicht so heute.

Grinsend zog Andrea an Gregorys Krawatte und fuhr durch seine braunen Locken. „Na, einen guten Tag gehabt?“

„Ja, war ganz okay. Warum wühlst du denn schon wieder auf deinem Laptop herum? Hat das was mit der Sache im Fernsehen zu tun?“

„Ja, aber nicht, was du denkst. Ich bin nur neugierig.“

Für einen Moment verfolgte er die Nachrichten. „Ich erinnere mich an den Fall. Das ist ja schon eine Weile her.“

Andrea schaute auf, als eine junge Frau gezeigt wurde. Sie wurde als Augenzeugin präsentiert.  

„Ich war gerade auf dem Weg nach draußen, um eine zu rauchen, als ich plötzlich diesen Schrei gehört habe. Der war total laut. Dann habe ich mich umgedreht und sah das Mädchen vor der Eingangstür stehen. Sie hat ganz laut geschrien und dann brach sie einfach zusammen.“

„Wie sah sie aus?“

„Irgendwas stimmte nicht mit ihr, das konnte man sehen. Sie trug gar keine Schuhe, wissen Sie? Eine Jacke hatte sie auch nicht, und das, wo es doch morgen schneien soll! Sie trug verschmutzte Sachen und hatte ganz verfilztes Haar. Im ersten Moment hat sie mich an einen Junkie erinnert, so heruntergekommen sah sie aus. Aber jetzt weiß ich ja, warum das so war.“

Erneut wurden die alten Fotos der Mädchen eingeblendet, aber neue Informationen folgten nicht mehr. Andrea vergrub sich hinter dem Bildschirm ihres Notebooks, während Gregory weiter die Nachrichten verfolgte.

„Üble Sache“, sagte er schließlich. Andrea schaute auf. „Und das bei einem Kind.“

„Mhm“, machte sie.

Er ging wortlos nach oben. Seufzend klappte Andrea ihren Laptop zu und schaltete auch den Fernseher aus.

„Magst du mir dabei helfen, den Auflauf zu machen?“, fragte sie ihre Tochter.

Endlich schaute Julie auf. „Au ja!“

„Außerdem musst du gleich noch Daddy begrüßen.“

„Ja.“ Sie machte den Hals lang, um in den Flur zu spähen, und flüsterte leise auf Deutsch – gerade so, als würde Greg das nicht verstehen: „Das Bild ist eine Überraschung!“

„Ach so.“ Andrea grinste und strich ihr übers Haar. „Er wird sich bestimmt freuen.“

Julie strahlte. „Daddy ist der Beste.“

„Stimmt.“ Andrea reichte ihr die Hand und ging mit ihr in die Küche, wo sie wieder auf Greg trafen; diesmal in Pullover und Jeans. Andrea fand es schade, dass er seinen Anzug nicht länger trug, denn der stand ihm doch so gut ...

Julie schlang die Arme um ihren Vater und schaute frech zu ihm auf. „Ich habe eine Überraschung! Aber die ist noch nicht fertig.“

„Ich bin gespannt“, erwiderte er augenzwinkernd.

„Sarah war vorhin hier“, sagte Andrea. „Sie hat uns für Freitag zum Essen eingeladen.“

„Oh, das klingt gut. Du hast hoffentlich zugesagt.“

„Noch nicht. Aber ich dachte mir schon, dass du Lust hast.“

„Immer doch. Was machen wir denn mit dem Quälgeist? Nehmen wir sie mit?“

„Daddy!“, rief Julie empört, die genau wusste, dass sie mit dem Quälgeist gemeint war.

„Das war zumindest Sarahs Vorschlag.“

„Mal sehen. Julie zu Mum zu bringen und hinterher sturmfrei zu haben, ist doch auch absolut verlockend, meinst du nicht?“ Über Julies Kopf hinweg warf Gregory Andrea einen vielsagenden Blick zu.

„Was ist sturmfrei?“, fragte Julie.

„Das wirst du später mal sagen, wenn wir nicht da sind und du allein zu Hause bist. Dann hast du sturmfrei. To have the run of the house auf Englisch.“

Julie nickte eifrig und wirkte zufrieden. Wieder etwas gelernt. Seit sie im Kindergarten war, ließen ihre Eltern das Englischsprechen zu Hause etwas schleifen, zumindest wenn sie unter sich waren. Das tat Julies Sprachkenntnissen keinen Abbruch, war aber ein Entgegenkommen an Andrea – wenn auch eins, um das sie nicht gebeten hatte. Vor allem konnte sie so nie aufhören, Greg darum zu beneiden, dass er beide Sprachen perfekt beherrschte. Deutsch sprach er zwar mit einem leichten Akzent, aber den fand sie herrlich.

Gemeinsam bereiteten sie den Auflauf zu und gingen wieder ins Wohnzimmer, als das Essen im Ofen stand. Julie schnappte sich ihr Bild und verschwand damit hinter dem Sofa auf dem Boden, damit Greg sie nicht dabei beobachten konnte, wie sie sein Geschenk fertigstellte. Gemeinsam mit Andrea setzte er sich aufs Sofa und legte einen Arm um sie.

„Was meinst du wegen Freitag? Nehmen wir sie mit oder nicht?“, fragte er.

„Mir egal.“

Ein gelangweilter Ausdruck stahl sich auf sein Gesicht. „Etwas mehr Zuspruch hatte ich jetzt schon erwartet.“

Grinsend sah Andrea ihn an. „Ich weiß genau, was du willst.“

„Dann ist ja gut. Und was willst du?“

Andrea tat so, als müsse sie darüber eingehend nachdenken, und nickte schließlich. „Also gut. Dann sturmfrei.“

Zufrieden gab Gregory ihr einen Kuss und drückte sie an sich. Das war gar keine schlechte Idee – allein mit ihm sein, so wie früher ...

Acht Jahre zuvor

 

Die Ketten reichten nicht bis zur Tür. Das hatten sie schon zur Genüge probiert. Katie wünschte nur immer noch, Tracy hätte den Bezug der Matratze nicht hochgehoben. Die alten Blutflecken machten ihr Angst. Es hatte also schon vorher jemanden an diesem grauenvollen Ort gegeben.

Ihr war entsetzlich kalt. Am liebsten hätte sie die ganze Zeit unter ihrer Decke gelegen. Aber auf der Matratze war doch der Blutfleck.

Obwohl das Licht an der Decke eingeschaltet war, kam es ihr düster in dem Raum vor. Warum waren die Wände so grau gestrichen? So dunkel. Sollte die Farbe etwas verbergen?

Es gab keinen Zugang zu dem Raum außer durch die Tür. Fenster waren keine da, nur ein winziger Lüftungsschacht. Die abgestandene Luft roch alt. Katie spürte Beklemmungen in der Brust. Es war klaustrophobisch. Es gab nur die Matratzen, Decken und den Eimer. Sonst war da nichts.

Sie war furchtbar müde. Vor lauter Angst hatten weder Tracy noch sie schlafen können. Wenigstens wusste sie, wie spät es war, denn sie hatte noch ihre Armbanduhr. Zwei Uhr nachmittags. Jetzt waren sie schon fast einen ganzen Tag an diesem schrecklichen Ort.

Angst hatte Katie immer noch, aber sie war nicht mehr so intensiv. Nicht mehr wie am Vortag, als es gerade passiert war. Wie jeden Tag war sie mit Tracy von der Schule nach Hause gelaufen, vorbei an dem Wohnblock mit leerstehenden Häusern, wo niemand in der Nähe war. Niemand, der sich für die Entführung von zwei kleinen Mädchen interessierte.

Dann war der blaue Lieferwagen aufgetaucht. Er war an ihnen vorbeigefahren, hatte plötzlich angehalten und die Türen waren aufgeflogen. Es war alles so schnell gegangen. Die Männer waren auf sie zu gekommen, hatten sie gepackt und in den Wagen gezerrt. Sie hatte geglaubt, nicht mehr atmen zu können. Tracy hatte um sich getreten und geschrien und fast keine Luft mehr bekommen. Aber es hatte nichts geholfen. Die Männer hatten sie festgehalten und gefesselt. Ihnen gedroht, dass sie ihnen sehr weh tun würden, wenn sie nicht still waren. Aber Tracy war fast erstickt. Sie hatte nicht still sein können.

Katie hatte sich vor Angst beinahe in die Hose gemacht, als der Mann sie dann geknebelt hatte. Fast wäre es doch passiert, aber sie hatte so fest gekniffen, wie sie konnte. Sie war ja nicht mehr klein. Sie machte nicht mehr in die Hose. Auch nicht, wenn böse Männer sie verschleppten.  

Danach hatte der Mann ihr etwas über den Kopf gestülpt, irgendeinen kratzenden Sack. Sie hatte nichts mehr sehen können, nur noch ein paar Umrisse im Gegenlicht. Katie hatte automatisch vor lauter Angst stillgehalten.

Und jetzt saßen sie in diesem Loch. Nach stundenlanger Fahrt hatte man sie dort eingesperrt, angekettet und ihnen etwas zu essen aus der Dose gegeben, fast wie Hundefutter. Das war‘s. Seitdem war nichts mehr passiert. Zu den Gründen ihrer Entführung hatten die Männer ihnen nichts gesagt. Katie verstand das alles nicht. Ihre Eltern waren doch nicht reich. Wer würde sie denn entführen?  

Mum und Dad würden sich große Sorgen machen. Bestimmt hatten sie die Polizei gerufen, die nach ihnen suchte. Vielleicht sogar im Fernsehen. Man würde sie suchen und dann würde alles wieder gut sein. Sie würden wieder zu ihren Eltern nach Hause kommen und zu ihrem Hund Jasper. Sie würden wieder zur Schule gehen und nächste Woche die Mathearbeit schreiben. Vor der hatte Katie plötzlich gar keine Angst mehr.

Unwirsch blickte sie auf den Eimer. Sie musste schon die ganze Zeit pinkeln, aber beim Gedanken daran, sich wieder über den Eimer zu hocken, überlegte sie es sich jedes Mal anders. Sie fand es eklig. Außerdem würde es stinken. Nein.

Tracy saß mit rotgeweinten Augen neben ihr und hatte die Arme um die Beine geschlungen. Die Ketten an ihren Händen wirkten so unecht. Katie blickte auf ihre eigenen Handgelenke und schluckte. Warum taten diese bösen Männer das?

Die Tür wurde geöffnet. Die Schwestern blickten auf. Da stand einer der Männer und blickte auf sie herab. Katie spürte, wie ihr Herz raste und sie überlegte, was sie tun könnte. Aber ihr fiel nichts ein. Alles und nichts.

„Schicken Sie uns zu unseren Eltern zurück!“, forderte Tracy und stand auf, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. „Unsere Eltern sind nicht reich. Sie können ihnen nichts geben.“

„Das wissen wir“, erwiderte der Mann. „Wir haben ihnen gesagt, dass ihr hier nur rauskommt, wenn sie für euch bezahlen. Aber sie können nicht bezahlen. Deshalb müsst ihr hierbleiben.“

„Das dürfen Sie nicht!“, rief Tracy. Katie bewunderte ihre ältere Schwester für ihren Mut. „Das ist verboten! Sie kommen dafür ins Gefängnis!“

„Denkst du?“, fragte der Mann. Er kam näher und blieb vor den Mädchen stehen. Entschlossen schob Tracy sich vor ihre Schwester. Katie betrachtete ihren Rücken, als habe sie ihn noch nie zuvor gesehen. Tracys langer Pferdeschwanz saß ganz schief. Um ihn zu sehen, musste Katie aufschauen, denn Tracy war nicht nur die Ältere, sondern auch die Größere. Katie war froh, dass sie bei ihr war.

„Die Polizei wird Sie einsperren“, prophezeite Tracy.

„Sie wissen gar nicht, wo wir sind. Oder ihr. Aber wir passen gut auf euch auf.“ Der Mann legte eine Hand an Tracys Wange, die sie entrüstet wegschlug.

„Fassen Sie mich nicht an!“

„Du solltest dir abgewöhnen, so frech zu sein. Sonst tun wir euch nur weh.“

Tracy kreischte entsetzt. „Sie sind ja ein Schwein!“

Er schlug ihr ins Gesicht. Katie zuckte zusammen und wich zurück. Ihr Herz raste und ihr war ganz heiß.

„Hauen Sie ab!“, schrie Tracy unter Tränen. „Und lassen Sie uns hier raus! Wir wollen besseres Essen! Wir wollen uns waschen! Und außerdem ist es hier so kalt!“

„Gewöhnt euch dran“, sagte er gelangweilt. „Ihr werdet hier sehr lange bleiben.“

„Nein!“, schrie Tracy und sank in sich zusammen, als er ging und die Tür verriegelte. Sie schluchzte laut, beinahe hysterisch.

„Was ist denn?“, fragte Katie und kniete sich neben ihre Schwester. Tröstend umarmte sie Tracy.

„Die wollen gar kein Lösegeld“, stammelte Tracy.

„Denkst du?“

„Das macht keinen Sinn.“

„Aber was wollen die dann?“

Tracy drehte sich um und hob den Blick. Er wirkte trüb. „Sie wollen böse Sachen machen.“

„Böse Sachen?“

„Ja. Deshalb hat er mich gerade angefasst.“

„Aber das war doch nicht böse.“

„Nein. Das nicht. Aber die kommen wieder, Katie. Dann müssen wir uns bestimmt ausziehen und komische Sachen machen.“

Katie spürte, wie ihr plötzlich kalt wurde. „Aber dafür sind wir noch zu klein.“

„Das ist denen doch egal.“

„Aber ich will nicht. Ich will nach Hause. Warum sagst du so schlimme Sachen?“ Tränen brannten in ihren Augen.

Tracy sah sie ernst an. „Damit du Bescheid weißt.“

Dienstag, 3. März

 

Andrea schloss das Dokument mit einem Seufzer. Wenn sie eins hasste, dann war es das Verfassen von Berichten. Und sie verfasste ständig Berichte. Gesprächsprotokolle, Gutachten in Missbrauchsfällen, Beurteilung der Schuldfähigkeit eines Angeklagten oder seiner Reife ...

Manchmal fragte sie sich wirklich, was genau sie eigentlich so an ihrer Arbeit mochte. Es war frustrierend. Regelmäßig blickte sie auf die Scherben eines Lebens und musste ein paar nüchterne Worte darüber verlieren. Wenigstens fiel ihr das auf Englisch nicht mehr schwer. Wie der Text eines Muttersprachlers würden ihre Berichte zwar nie ganz aussehen, aber es hatte noch niemanden gestört. Für ihre Arbeit spielte ihre Herkunft keine Rolle.

Im Radio begannen die Nachrichten. Katherine Archer hatte immer noch kein Wort gesprochen. Ihr Auftauchen lieferte weiterhin Top-Schlagzeilen. Inzwischen war ihre Mutter bei ihr und Polizisten und Psychologen taten ihr Möglichstes, um Katherine zum Sprechen zu bringen. Eine erste Untersuchung hatte ergeben, dass sie jahrelang missbraucht worden war. Wunden und Narben an ihren Handgelenken hatten den Ärzten verraten, dass sie angekettet gewesen war.

Andrea fuhr sich durchs Haar. Katherine war dem Schlund der Hölle entronnen. Einer Hölle, die Andrea selbst jahrelang in ihren Alpträumen erschienen war.

„Das ist ja was“, riss Christophers Stimme sie plötzlich aus ihren Gedanken. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie er in der Tür erschienen war.

„Hast du mich erschreckt“, sagte sie und lachte.

„Entschuldige. Ich musste nur gerade daran denken, dass dieses Mädchen wahrscheinlich ein Fall für euren Supertherapeuten ist.“

„Keine Ahnung“, erwiderte Andrea achselzuckend, obwohl ihr der Gedanke auch schon gekommen war. „Ich weiß nicht, ob Gordon hinzugezogen wird.“

„Hast du den Bericht wegen Martha Hill fertig?“

Andrea nickte. Martha Hill war eine Frau, die ihrem trinkenden und prügelnden Mann davongelaufen war. Nur in Andreas Beisein hatte sie eine Aussage gemacht.

„Ich soll euch von Sarah fragen, ob ihr am Freitag kommen werdet.“ Christophers grüne Augen blickten neugierig.

„Klar“, sagte Andrea.  

„Perfekt. Ich freue mich schon.“

„Ja, danke für die Einladung.“ Sie lächelte.

Damit verschwand Christopher wieder in seinem Büro. Als Andrea wieder auf ihren Computerbildschirm schaute, musste sie grinsen. Am Rand klebte immer noch Christophers Klebezettel mit der Aufschrift Die Extreme. Irgendwann hatte er Andrea diesen Spitznamen in Anlehnung an den Film Twister verpasst. Zu gern hätte sie es unpassend genannt, aber leider hatte er Recht. Sie war extrem. Genauso extrem wie der Tornadojäger, dem man im Film eigentlich diesen Namen verliehen hatte.

Bevor sie Feierabend machte, druckte sie Christopher noch den Bericht über Martha Hill aus. Anschließend verabschiedete Andrea sich und fuhr zum Kindergarten, um Julie abzuholen. Schon in einem Jahr kam ihre Tochter in die Schule. Das war unglaublich. Es ging viel schneller, als Andrea erwartet hatte. Und schneller, als ihr lieb war.

Julie war bestens gelaunt, als Andrea am Kindergarten eintraf und ihre Tochter unter den wachen Blicken der Erzieherinnen abholte. Fröhlich plapperte sie drauflos, während sie das letzte Stück nach Hause fuhren.

Schon als sie in die Straße einbog, konnte Andrea sehen, dass vor ihrer Haustür jemand auf der Treppe saß. Zuerst erschrak sie, doch beim Näherkommen bemerkte sie, dass es eine kleine Person war, ein Kind. Andrea sah einen blonden Zopf und stutzte. Ohne das Mädchen aus den Augen zu lassen, brachte sie den Wagen zum Stehen und stieg rasch aus. Das Mädchen stand auf.

„Hallo“, sagte Andrea und hielt inne. Blonde Locken wie ein Rauschgoldengel. Blaue Augen. Obwohl sie das Kind seit Jahren nicht gesehen hatte, erkannte Andrea das Mädchen sofort. Das Alter stimmte auch.

Verlegen sah das Mädchen Andrea an und erwiderte schüchtern: „Hallo.“

„Vicky?“, fragte Andrea aus einem Impuls heraus.

Die Kleine war überrascht, regelrecht geschockt. Mit großen Augen sah sie Andrea an. „Sie kennen meinen Namen?“

„Augenblick“, sagte Andrea und holte schnell Julie aus dem Auto. Sie winkte Vicky fröhlich.

„Haben wir Besuch, Mami?“, fragte Julie.

„Sieht so aus.“

Vicky war irritiert. „Das war Deutsch, oder?“

Andrea nickte. „Mit mir spricht sie meistens Deutsch. Hat dein Vater dir gesagt, dass ich aus Deutschland komme?“

„Nein.“ Vicky schüttelte den Kopf. „Aber ich habe das schon mal gehört.“

Andrea verriegelte das Auto und ging auf Vicky zu. Unentwegt musterte sie das Mädchen. Carolines Tochter war wunderschön und ihrer Mutter erschreckend ähnlich. Sie war klein und zierlich, wirkte aber sehr aufgeweckt.

„Wie alt bist du jetzt?“, fragte Andrea, während sie die Haustür aufschloss. „Zehn?“

„Fast elf“, präzisierte Vicky.

„Komm rein.“ Andrea wandte sich zu Julie. „Schuhe aus, junge Dame. Kannst du gleich in dein Zimmer gehen und etwas spielen?“

„Okay.“ Mehr sagte Julie nicht dazu, ehe sie verschwand.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragte Andrea Vicky.

„Gern.“

Als Andrea aus der Küche kam, fand sie Vicky mitten im Wohnzimmer. Neugierig schaute das Mädchen sich um und nahm Andrea erneut in Augenschein.

„Erinnerst du dich an mich?“, fragte Andrea und bot ihr einen Platz auf dem Sofa an.

„Nein. Aber Sie kennen mich.“

„Ja. Du warst damals vier. Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass du mich noch erkennst. Aber trotzdem bist du hier.“

Vicky nickte und legte die Hände um das Glas, das Andrea ihr hingestellt hatte. „Ja. Es geht um meine Mutter.“

„Das habe ich mir gedacht. Wie kann ich dir helfen?“

Vicky zog die Schultern hoch und kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Das ist jetzt bestimmt total unverschämt von mir.“

„Nein. Ehrlich gesagt bin ich nicht überrascht, dass du hier bist. Ich dachte mir, dass du irgendwann zu mir kommen könntest. Ich habe nur jetzt noch nicht damit gerechnet. Du bist noch so jung.“

„Das hat Dad auch gesagt.“ Es klang wenig begeistert. „Ich verstehe nicht, warum er das meint. Ich dachte, Sie reagieren vielleicht anders.“

Andrea lächelte verständnisvoll. „Hattet ihr Streit?“

„Ja. Ich weiß einfach nicht, was das soll. Warum sagt er mir nicht, was mit meiner Mum passiert ist?“, begehrte Vicky auf, traurig und verzweifelt zugleich.

„Was hat er dir überhaupt je über sie gesagt?“, fragte Andrea.

„Dass sie tot ist. Ich erinnere mich noch an sie, manchmal ... und daran, wo wir gewohnt haben. Wie mein Zimmer aussah. Irgendwann war ich dann bei Dad. Ich habe immer nach Mum gefragt und er sagte mir, dass sie gestorben ist. Da war ich noch klein. Ich wusste am Anfang gar nicht, was das heißt.“ Sie blickte auf.

„Aber jetzt schon“, sagte Andrea.

„Ja. Klar. Sie war siebenundzwanzig, als sie starb. Das weiß ich. Aber ich weiß nicht, warum sie gestorben ist. Irgendwann habe ich ihn gefragt, ob sie krank war. Dad hat Nein gesagt. Oder ob sie einen Unfall hatte, wollte ich wissen. Da hat er auch Nein gesagt. Wissen Sie, da ist jemand in meiner Klasse, dessen Mutter einen Unfall hatte, deshalb dachte ich ...“ Hilflos zuckte sie mit den Schultern.

„Welchen Grund hat er dir denn genannt?“

„Es war ganz seltsam, als er versucht hat, es mir zu erklären. Er hat mir gesagt, dass jemand sie umgebracht hat.“

Ihrem Blick entnahm Andrea, dass sie das nicht recht glauben wollte. Sie hoffte auf eine Antwort von Andrea.

„Da hat er Recht“, sagte sie deshalb.

Zwar versuchte Vicky, sich den Schreck nicht anmerken zu lassen, doch es gelang ihr nicht ganz. Sie hatte eigentlich gehofft, dass Andrea ihre Befürchtungen entkräftete.

„Sie waren mit ihr befreundet, oder?“, fragte Vicky, als sie sich gesammelt hatte.

„Ja, das stimmt. Leider nicht sehr lang.“

„Ich wollte von Dad wissen, warum sie umgebracht wurde. Ich frage ihn immer wieder danach, aber er will es mir nicht sagen.“

„Und deshalb hoffst du, dass ich es dir sage“, folgerte Andrea.

„Ja. Warum will Dad es mir nicht sagen?“

Andrea holte tief Luft. „Es wird nicht leicht, dir das zu erklären, aber dass du hier bist, zeigt mir, dass du es unbedingt wissen willst. Und wenn ich es dir nicht sage, findest du es anderweitig heraus.“

Vicky nickte entschlossen. „Ich habe auch ein bisschen Schiss.“

„Das verstehe ich gut. Ich weiß auch nicht, wie ich es dir erklären soll, ohne dich zu Tode zu erschrecken.“

Vicky runzelte fragend die Stirn. „So schlimm?“

„Ja. Vor allem hat dein Dad Recht – eigentlich kannst du das wirklich noch nicht verstehen. Aber ich will es versuchen.“

„Ehrlich?“ Die Augen des Mädchens leuchteten hoffnungsvoll.

„Ja. Besser du hörst es von mir, als dass du es in einem nüchternen Zeitungsbericht liest.“

„Okay.“

Trotzdem war es nicht leicht für Andrea, einer Zehnjährigen das zu erklären.

„Dein Dad hat dir bestimmt mal gesagt, dass du nicht mit Fremden reden sollst“, begann Andrea.

„Klar.“

„Weißt du, warum?“

„Er hat mir gesagt, dass manche Menschen böse Dinge mit Kindern machen.“

„Genau. Das ist leider so. Aber solche Dinge passieren auch, wenn man schon erwachsen ist.“

Vicky verzog das Gesicht. „Ehrlich?“

„Du hast bestimmt schon in der Schule gehört, wie das alles funktioniert, wenn Männer und Frauen sich verlieben. Wie das mit dem Kinderkriegen funktioniert.“

Vicky grinste verlegen. „Ja. Aber was hat das damit zu tun?“

Andrea hoffte, nicht zu viel zu zerstören. Sie musste es so erklären, dass Vicky es verstand, aber Angst durfte sie ihr auch nicht machen. Wenigstens hatte sie sich schon tausendmal überlegt, wie sie es Julie einmal erklären wollte.

„Das hat damit sehr viel zu tun“, fuhr Andrea fort. „Es kann passieren, dass Männer Dinge tun wollen, die Frauen nicht wollen.“

„Solche Dinge?“ Vicky traute sich keine andere Formulierung zu.

„Genau. Solche Dinge. Kannst du dir das ungefähr vorstellen?“

„Hm. Ja. Denke schon.“

„Damals, als du noch klein warst, gab es hier einen solchen Mann. Er hat Frauen überfallen und ihnen weh getan.“ Vorsichtig studierte Andrea Vickys Gesichtsausdruck, doch sie nahm es gelassen auf.

„Klingt gruselig.“

„Das war es auch. Und eines Abends ist das deiner Mum passiert.“

Das schockierte Vicky dann doch. „Oh Gott.“

„Ich war in der Nähe und habe es gehört, deshalb habe ich die Polizei angerufen und diesen Mann verjagt.“

„Oh. Das ist aber mutig.“

Andrea zuckte mit den Schultern. „In diesem Moment habe ich nicht nachgedacht. Aber so habe ich deine Mum kennengelernt. Wir haben uns angefreundet und deshalb kenne ich auch dich.“

„Okay. Und dann?“ Angespannt beugte Vicky sich vor und studierte Andreas Gesichtsausdruck.

„Dieser Mann hat weitergemacht. Er hat Frauen entführt und sie umgebracht“, fuhr Andrea fort.

Vickys Gesichtszüge froren ein. „Ich glaube, davon habe ich schon mal gehört.“

„Gut möglich.“

„Und dieser Mann ... hat meine Mum umgebracht?“, folgerte Vicky leise.

Es fiel Andrea schwer, zu antworten. „Ja. Er war wütend auf sie und mich, weil ich ihn an diesem Abend vertrieben hatte. Dann hat er uns gesucht ... und er wollte uns beide umbringen.“

Vicky knetete ihre Finger. „Er hat meine Mum entführt?“

„Ja. Erst deine Mum und dann mich.“

Nun sagte Vicky nichts mehr.

„Er hatte sich überlegt, sie zuerst umzubringen und mich danach. Nur deshalb lebe ich noch“, sagte Andrea.

Vicky war vollkommen angespannt. „Das ist furchtbar ...“

„Die Polizei kam zu spät, um deiner Mum noch zu helfen.“

„Warum hat er das getan?“, fragte Vicky mit feucht glänzenden Augen.

„Ich weiß es nicht, Vicky. Ich kann es nur vermuten. Er war böse. Wirklich sehr böse.“ Andrea seufzte, sie fühlte sich so hilflos. „Zwar könnte ich dir genau erklären, warum er so war, aber das möchte ich jetzt nicht. Lieber, wenn du älter bist, denn das geht definitiv zu weit.“

„Ja. Okay.“ Vicky nickte hastig; das glaubte sie auf Anhieb. „War das sehr schlimm? Ich meine ... was war mit meiner Mum?“

Andrea wusste, was sie wissen wollte, aber sie redete sich heraus. „Wir waren zusammen, bevor sie gestorben ist. Sie hat nur von dir gesprochen.“

Vicky schluckte hart. „Aber wie hat er sie denn entführt?“

„Das weiß ich nicht genau. Er ist in eure Wohnung eingebrochen.“

„Wer war dieser Mann? Ist er im Gefängnis?“

„Er ist tot“, antwortete Andrea mit einem Kopfschütteln. „Er ist erschossen worden, als er mich auch umbringen wollte. Sein Name war Jonathan Harold.“

„Und der hat meine Mum umgebracht?“, fragte Vicky wieder. Ihre Stimme zitterte.

„Ja. Ich war dabei. Deine Mum war nicht allein, verstehst du?“

„Mhm“, machte Vicky. Eine Träne kullerte ihr über die Wange.

„Alles okay?“, fragte Andrea.

„Ja. Es ist nur ... das ist schlimm. Ich wusste nicht, dass so ein böser Mensch meine Mum umgebracht hat. Das ist alles.“ Sie sagte das auf eine schrecklich altkluge Art. „Aber jetzt weiß ich, warum mein Dad meinte, ich verstehe das noch nicht.“

„Mehr solltest du auch jetzt nicht darüber hören.“

„Ja.“ Das Mädchen schniefte und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ab, ehe Andrea protestieren konnte. „Aber jetzt weiß ich es wenigstens. Ist doch egal, wie alt ich bin, ich meine ... ich hätte das immer schlimm gefunden.“

„Wahrscheinlich“, stimmte Andrea zu.

„Aber wenigstens hat er Sie nicht umgebracht.“

Andrea lächelte verhalten. „Das war mir immer ein schwacher Trost, weißt du.“

„Mhm. Ja.“ Vicky zog die Ärmel über ihre Hände. „Aber nur deshalb haben Sie jetzt Ihre Tochter. Sie ist total süß.“

„Sie heißt Julie und ist jetzt ungefähr so alt wie du damals.“

Vicky lächelte schief. In diesem Moment schaute Andrea auf, weil die Haustür geöffnet wurde. Es war Greg. Neugierig kam er ins Wohnzimmer, weil er Vicky von hinten gesehen hatte.

„Besuch?“, fragte er.

„Ja. Sieh mal. Erinnerst du dich noch?“, fragte Andrea.

Er kam ums Sofa herum und musterte Vicky. „Natürlich. Gott, ist das lang her!“

Das Mädchen erwiderte seine neugierigen Blicke auf die gleiche Weise. Plötzlich stand Vicky auf und blieb vor ihm stehen. „Ich kann mich an Sie erinnern.“

„Tatsächlich?“, staunte Greg.

„Ja. Sie haben damals mit mir gespielt.“

„Das stimmt.“

Andrea war verblüfft. Damals hatte Vicky Gregory regelrecht angehimmelt, aber Andrea hätte niemals damit gerechnet, dass sie ihn noch erkannte.

„Vicky wollte wissen, warum ihre Mutter gestorben ist“, erklärte sie ihrem Mann.

„Oh“, machte Greg.

„Jetzt weiß ich es wenigstens“, murmelte Vicky.

„Du bist richtig groß geworden“, sagte Greg, um der Situation die Verfänglichkeit zu nehmen.

Vicky grinste. „Klar. Bin jetzt auch doppelt so alt.“

„Deine Mum wäre verdammt stolz“, sagte Andrea. „Sie hat dich sehr geliebt.“

„Hm“, machte Vicky und schob sich an Greg vorbei zur Tür. „Ich muss wieder nach Hause. Aber danke, dass Sie mir das erzählt haben.“

Sie wollte allein sein, um zu verarbeiten, was Andrea ihr gerade erzählt hatte. Das war Andrea vollkommen klar. Dabei würde das böse Erwachen erst kommen, wenn Vicky älter war und wirklich verstand, was damals geschehen war. Bestimmt würde sie sich irgendwann genauer über den Campus Rapist von Norwich informieren, den Vergewaltiger und Serienmörder, der die Stadt monatelang in Atem gehalten hatte.

Nur hoffentlich fand Vicky nie heraus, wie sehr er ihre Mutter gefoltert hatte. Ihre Mutter – und Andrea.

„Du kannst gern wieder zu mir kommen, wenn du etwas wissen willst“, sagte Andrea dennoch.

„Klar. Danke.“

Andrea brachte das Mädchen zur Tür, wo Vicky sich scheu verabschiedete. Das konnte Andrea ihr nicht verübeln. Was wirklich dahinterstand, konnte die Kleine noch nicht verstehen.

Nachdem Andrea die Tür geschlossen hatte, blickte sie seufzend zu Greg.

„Wie hat sie es aufgenommen?“, fragte er.

„Ganz gut. Sie hat ungefähr das zu hören bekommen, was ich Julie irgendwann erklären werde.“

„Oh, natürlich ... das wird auch ... toll.“ Ihm troff der Sarkasmus aus der Stimme.

„Ich wünschte, ich könnte ihr das ersparen. Aber sie wird es erfahren.

---ENDE DER LESEPROBE---