Das Haus an der Elbchaussee - Gabriele Hoffmann - E-Book
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Das Haus an der Elbchaussee E-Book

Gabriele Hoffmann

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Beschreibung

Gabriele Hoffmann arbeitet als Journalistin und Schriftstellerin. Sie ist promovierte Historikerin und hat bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht. Sie lebt in Bremen.

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© Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: Büro Hamburg

Stefanie Oberbeck, Katrin Hoffmann

Covermotiv: Max Liebermann

(»Das Godeffroy’sche Landhaus im Hirschpark

von Nienstedten an der Elbe«, 1902, Ausschnitt.

© VG Bild-Kunst, Bonn 2008. Foto: Elke Walford/Fotowerkstatt Hamburger Kunsthalle)

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Einführung

Vorwort: Das Landhaus

»Mögest Du das Vorbild Deiner Mitbürger werden und der Ruhm Deiner Eltern«

Der Erbe

Die Stadt

Das Haus am Alten Wandrahm

Die Gesellschaft am Fluß

Die Aufgabe

Erziehung eines Kaufmanns

Schule

Lehre

Volontariat

Ein Gentleman

Die Probe

»Zur Ehre des hochgestellten Namens«

»O, Adolph, welche Aussicht für Dich und mich!«

»Meinem lieben Sohne Johan Cesar«

»Der geliebte Papa«

»Endlich, mein guter Gustav, scheint Dein Glücksstern wieder aufzugehen«

»Zur Gründung Deines Glücks, mein lieber Alfred«

Wettfahrt um die Welt

Auftakt

Die Revolution

Der Falke

Die Goldländer

Sovereign of the Seas – Herrscher der Meere

Der größte Reeder der Stadt

»Gentlemen’s seat auf ewige Zeiten«

Neue Ideen

Die erste Krise

Das Geflecht der Macht

»Volk wäre hier doch wohl Börsenaristokratie«

»Ihr Ehrenhaus«

Das Wunderbare

»Ich gebe das Fest nicht, man giebt es mir«

Die Herren des Staats

Das Stahlwerk

Das neue Land

Berichte aus der Südsee

Zwei Kriege

Stahl und Kohle

Vier Kaufleute

Der König der Südsee

Die zweite Krise

»furor consularis« – die Wut der Konsuln

Konkurrenz aus Hamburg

»Was wird unter Kohlenstation verstanden?«

Die dritte Krise

Der Credit

Die Hundemarke

»Überhaupt und zur Ehre Deutschlands«

»Trommelschlag und Trompetenschall«

»Das Funkeln im Licht nur ein Traum«

Anhang

Notizen für Historiker

Anmerkungen

Archivalien und Literatur

Bildteil

 

»Welch Leben, mein Guter! Wenn wir das leben könnten; wenn nicht Lust reich zu sein uns in ein Joch spannte, das Geisteskräfte niederdrückt.«[1]

Kaufmann Caspar Voght an seinen Compagnon Georg Heinrich Sieveking über das Leben von Wissenschaftlern und Schriftstellern

[1]Krogmann, S. 208

Einführung

Die Familie Godeffroy spricht ihren Namen »Góddefroa« aus. Freunde der Familie sagen auch »Góhd’froah«.

Die tausend Werftarbeiter am Reiherstieg meinten früher, sie arbeiteten »bi Goodefroo«[2]. Die Kapitäne und Matrosen auf den Segelschiffen der Firma, noch einmal fünfhundert Mann, arbeiteten auch »bi Goodefroo«.

Heute sagen viele Hamburger schlicht und einfach »Gódefroi« und »Gódefroistraße«.

Ich sage »Gódefroa«. Warum? So ist es mir am bequemsten.

[2]Kresse, Reiherstieg, S. 24

Vorwort: Das Landhaus

Das Haus Elbchaussee N° 499 in Blankenese hält die Erinnerung an den Namen Godeffroy wach. Der Staat Hamburg strich ihn unter einem Vorwand aus der Geschichte. Cesar Godeffroy ist seitdem nur noch der Südseekönig, der Kokosnüsse auf Segelschiffen importierte – alles andere ist vergessen.

Schon der Bau des Hauses war eine Sensation. Er machte Bauherrn und Architekten vor zweihundert Jahren berühmt. Andere reiche Überseekaufleute ließen sich von Christian Frederik Hansen eilig auch ein weißes Landhaus mit Säulen hoch über dem Ufer der Elbe bauen. Sie verwandelten den sandigen Fahrweg am Fluß in eine der großen Prachtstraßen der Welt. Ein Besitz an der Elbchaussee wurde zum Gradmesser kaufmännischen Erfolgs.

Die Geschichte des Hauses ist die Geschichte eines ungeheuren Familienehrgeizes. Ende des 18. Jahrhunderts waren die Godeffroys Außenseiter in Hamburg – Ausländer, Andersgläubige, Neureiche. Hundert Jahre später galt der Enkel des Bauherrn als der »eigentliche Repräsentant[3] hanseatischen Bürgerstolzes«.

Ich erzähle, wie Cesar Godeffroy mit seinen drei Brüdern die Welt erobern wollte und zum Inbegriff des hanseatischen Kaufmanns und Reeders wurde. Er schickte seine Segelschiffe mit dem goldenen Falken in der Reedereiflagge um den Globus. Seine Brüder kämpften in Havanna, Valparaiso, San Francisco, in Australien, Afrika und Asien mit den Konkurrenten aus der Stadt, mit denen sie aufgewachsen waren. Cesar wurde der größte Reeder Hamburgs, vielleicht der größte Segelschiffsreeder der Welt, und Eigner des berühmten Clippers sovereign of the seas. Er baute die modernste Werft an der Elbe und in Osnabrück das modernste Stahlwerk Deutschlands.

Er wurde in und mit Hamburg groß. In der Regierung des Stadtstaates, in der Selbstverwaltung, im Parlament – überall saß schließlich ein Godeffroy. Die Brüder kontrollierten Banken und Zeitungen. Sie wollten auch in und mit dem neuen Deutschen Reich groß werden. Dabei gerieten sie in den Kampf zwischen Bismarck und dem liberalen Bürgertum. Einer spektakulären Zahlungseinstellung – Rettungsversuch Bismarcks, monatelange Kontroversen in den deutschen Zeitungen, erregte Reichstagsdebatten – folgte der Sturz aus der Gesellschaft und aus der Geschichte.

Ich kenne das Säulenhaus im Hirschpark seit meiner Kindheit, aber der Name Godeffroy hat mich erst beschäftigt, als ich auf einem Kopraschiff zu den Lau-Inselny Fidschi, fuhr. Ich hatte auf Samoa bei einer samoanischen Familie in einem Haus ohne Wände gelebt und war in den alten Godeffroysehen Plantagen spazierengegangen. Nun stieß ich in den langen Stunden auf der grauen Koro-See im Pacific Island Yearbook immer wieder auf Godeffroys, the South Sea Kings, die Könige der Südsee. Das Haus an der Elbchaussee steht vor einem farbigdüsteren Hintergrund aus Geschichten von Waffenhändlern, Perlentauchern, Kannibalen und Blackbirdern, weißen Männern, die auf der Jagd nach schwarzen Vögeln – Arbeitern für die Plantagen – ganze Inseln entvölkerten. Der Kontrast zwischen den Inseln und Atollen der Südsee, die das Kopraschiff nur zwei-, dreimal im Jahr anläuft, um Kerosinfässer; Zementsäcke, Mehl, Zucker, Baumwollstoffe zu liefern und Kopra zu laden, und den weißen Landhäusern einer exclusiven europäischen Oberschicht machte mich neugierig: Was ist eigentlich ein hanseatischer Kaufmann?

Mit Hilfe einer Freundin, deren Ururgroßmutter zu dieser Oberschicht gehört hatte, fand ich das Familienarchiv Godeffroy. Es galt in der Forschung als verloren, sechzig Jahren hat es niemand mehr benutzt. Briefe der Großmutter Cesar Godeffroys über den idealen Bürger sind erhalten, Instruktionen seines Vaters über die Handlungsweise eines hanseatischen Kaufmanns, Briefe des Bruders Adolph, der Direktors der Hapag – ich habe Briefe von fünf Generationen von Kaufleuten und ihren Frauen gefunden und Antwort auf zahlreiche Fragen: Wie bauten sie die Firma aus, wie kämpften sie um einen Platz in der ersten Reihe der Gesellschaft und in der Politik, wie lebten sie in den Wintern in ihrem barocken Kontorhaus am Alten Wandrahm – heute steht dort die berühmte Speicherstadt – und in den Sommern an der Elbchaussee? Das Archiv hat große Lücken, vieles verbrannte im letzten Krieg. Doch deutlich wird: Cesar Godeffroy vertritt exemplarisch einen Typ von Kaufmann und Bürger, dessen große Zeit die Jahre zwischen Napoleon und Bismarck waren, der aber, zumindest als Ideal, als corporate identity der Hansestädte, bis heute weiterlebt und gepriesen wird.

Im Staatsarchiv Bremen fand ich die Berichte eines Wirtschaftsspions und die Lösung einer Frage, über die in der Kolonialliteratur viel gerätselt wurde: Wie kam es, daß ein Tycoon wie Godeffroy seine Zahlungen einstellen mußte?

Cesar Godeffroy war ein Abenteurer in Frack und Zylinder. Als er zur Welt kam, 1813, sah es so aus, als wären die Godeffroys am Ende: Sein Vater und sein Großvater liquidierten die Firma Joh. Ces. Godeffroy & Sohn.

[3]R. Hertz, S. 56

»Mögest Du das Vorbild Deiner Mitbürger werden und der Ruhm Deiner Eltern«[4]

Der Erbe

1.

Die junge Madame Godeffroy ist im achten Monat schwanger, als an der Hamburger Börse die Nachricht eintrifft, daß die dänischen Verbündeten zu den anrückenden Franzosen übergehen: Napoleons Soldaten werden die Stadt in wenigen Stunden zum zweiten Mal besetzen.

Der junge Cesar Godeffroy läßt die Leinenvorräte der Firma auf Lastwagen verladen und holt die Silberbarren aus der Bank. Mit seiner schwangeren Frau und den Kindern, seinen Eltern – der alte Cesar Godeffroy ist über siebzig –, mit Bedienten, Jungfern, Kindermädchen und Koch flieht er aus der Stadt.

Die junge Madame Godeffroy bringt am 1. Juli 1813 in Kiel einen Sohn zur Welt. Der Pastor tauft ihn auf die Namen Johan César. Seine Paten sind sein Großvater Johan César, seine Großmutter Antoinette und sein Vater Johan César.

Zahlreiche Kaufleute und ihre Familien sind aus Hamburg nach Kiel geflohen und bei Verwandten und Geschäftsfreunden in schon überfüllten Häusern untergekommen. Man macht täglich Besuch, von zwölf bis zwei, und die Herren treffen sich später am Tag noch einmal im Club Harmonie, um noch einmal jede Neuigkeit aus Hamburg zu besprechen. Die Franzosen haben der Stadt eine Strafe von 48 Millionen Francs auferlegt und dreißig Kaufleute als Geiseln verhaftet.

»Ich ziehe vor, die Hamburger bezahlen zu lassen«[5], soll Napoleon gesagt haben, »das ist die beste Art, Kaufleute zu bestrafen.« Bestrafen wofür, fragen die Herren in der Harmonie entrüstet, dafür, daß wir frei sein wollen?

Joh. Ces. Godeffroy & Sohn bezahlen von Kiel aus ihren Anteil an einer zweiten Straf-Contribution von 500 000 Francs, die Napoleon fordert: Der Großvater will sein Wohn-und Kontorhaus am Alten Wandrahm in Hamburg schützen. Sein Landhaus liegt an der Elbe im Dörfchen Dockenhuden bei Blankenese und damit in Dänemark, aber niemand weiß, wie lange das Haus noch vor den Franzosen sicher ist. Der Bruder des Großvaters, Pierre Godeffroy, wohnt im angrenzenden Park in seinem Weißen Haus und mußte Marschall Davout zum Dankgottesdienst begleiten und sich anhören, was der französische Pfarrer über »peuble rebelle«[6] zu sagen hatte.

Pierre Godeffroy schreibt besorgte Briefe an seinen Bruder in Kiel und seine Töchter in England. Susanne ist mit Mann, Kindern und ihrer Schwester Charlotte in einem kleinen Segelboot, unter der Ladung versteckt, nach Helgoland und weiter nach London geflohen. Pierres Söhne Peter und Jacques sind Kavalleristen in der Hanseatischen Legion, die Hamburg befreien will und bei den russischen Truppen in Mecklenburg steht. Peter gehört auch dem Hanseatischen Direktorium an, der Exilvertretung der Republiken Hamburg, Bremen und Lübeck. Cesars Vater hat 150 Hamburger Bankomark für die Legion bezahlt und 800 für die Ausrüstung seiner Cousins.

Die Flüchtlinge in Kiel sehnen sich nach Hause. Sophie Godeffroy hat den kleinen Sohn Cesar entwöhnt und füttert ihn mit dem Löffel.

Napoleon verliert am 18. Oktober 1813 eine große Schlacht bei Leipzig. Doch im Norden bleibt der Krieg unentschieden. Jacques Godeffroy ist in Mecklenburg gefallen.

Marschall Davout baut Hamburg zur Festung aus. Er beschlagnahmt Pierre Godeffroys Holzlager für eine Elbbrücke. Im Dezember läßt er die Stadttore schließen: Er verbarrikadiert sich mit 40 000 Soldaten und 100 000 Einwohnern.

Der russische General Bennigsen schließt Hamburg mit 30 000 Mann ein.

Aus der belagerten Stadt dringen Nachrichten bis in den Club Harmonie in Kiel. Das Wohn- und Kontorhaus von Joh. Ces. Godeffroy & Sohn ist jetzt Militärhospital. Die großen Kirchen und die Börse sind Pferdeställe. Einwohner und Soldaten frieren und hungern. 8 000 sterben an Typhus, man wirft sie in Massengräber.

Pierre Godeffroy nennt Napoleon nur noch »Canaille«[7] und »Scheusahl[8] des menschlichen Geschlechts« und will nie wieder französisch sprechen. Die Landhäuser an der Elbe sind überfüllt mit Kranken und Alten, die zu schwach sind, um nach Holstein weiterzufliehen, und mit Kindern, die ihre Eltern verloren haben. Pierre hat russische Einquartierung, muß fünfzig Kosaken ernähren, hundert Pferde füttern. An seinem Frühstückstisch sitzen zehn bis zwölf Offiziere, unter dem Tisch ihre Hunde. Im Haus sieht es schlimmer aus als in seinen Schweineställen, »meine unterste Etage[9], besonders der gelbe Saal, die Diele und vier fordersten Cabinetter mit den darin stehenden Betten und Möblen sind total ruinirt – der unterste Theil meines Hauses ist unkennbar«, klagt er seinen Töchtern. Es sei ihm lieb, »daß mein Bruder in Kiel geblieben, denn mit Gleichgültigkeit war es nicht zu ertragen«[10].

In Kiel spricht Cesars Großmutter davon, im Frühling eine Reise ins Bad zu machen und ihren jüngsten Sohn August und seine Frau in Wien zu besuchen.

Der Winter wird lang und kalt.

Am 31. März 1814 ziehen der Zar und der König von Preußen in Paris ein. Napoleon ist geschlagen.

»Gottlob, daß man wieder frei wird denken, frei wird handeln können«[11], schreibt Cesars Großvater an Eichborn & Co., Leinenhändler in Breslau, von denen er so lange nichts gehört hat, und sein Bruder schreibt den Töchtern: »Gott sei ewig Dank – ich bin wie besoffen vor Freude.«[12]

2.

Ein Freudenfest folgt dem andern: Diners und Bälle in Cesars Elternhaus an der Binnenalster, bei Großonkel Pierre im Weißen Haus, bei Onkel und Tanten. Cesar wächst mit Geschichten aus der Franzosenzeit und dem Sommer der Befreiung auf.

 

Wie das Haus an der Binnenalster aussah und ob Cesars Eltern es gekauft oder gemietet hatten, habe ich nicht herausgefunden. Es lag ungefähr an der heutigen Ecke Jungfernstieg/Ballindamm. Ein Enkel Cesars berichtet in Aufzeichnungen für die Familie, daß Cesars Vater nach Abzug der Franzosen für die Einrichtung seines Hauses »ohne Leinenzeug«[13] 16 000 Bankomark – Mark der Hamburger Bank – ausgab: Auch dieses Haus hat, wie das Wohn- und Geschäftshaus der Großeltern, unter der französischen Besatzung gelitten.

 

Cesars Großeltern sind, während Handwerker ihr Landhaus an der Elbe renovieren, in Wien, wo die Staatsmänner Europas auf einem Friedenskongreß über eine Neuordnung des Kontinents verhandeln. Cesars Vater schenkt der Mutter einen weißen Kaschmirschal, ein Paar Brillantringe und ein Halsband mit 140 echten Perlen »zur Erinnerung an unsere in diesem Jahre glücklich erfolgte Befreyung«[14], wie er im Hausstandskonto einträgt, Kosten: 4 390 Bankomark.

Gemeinsam mit den Kaufleuten Johan Hinrich Gossler und Heinrich Johann Merck bittet er den Senat, die beschlagnahmten Kontorhäuser am Alten Wandrahm zurückzugeben: Eine Beförderung des Handels müsse die vornehmste Aufgabe in der befreiten Vaterstadt sein. Sie erwarteten gerade jetzt bedeutendere Geschäfte zu machen als in ruhigeren Zeiten.

Cesars Vater hat wenig eigenes Kapital, aber er will die Geschäfte wiederaufnehmen und durch Erfolge den Großvater umstimmen: Der Großvater soll seine Entscheidung, die Firma Joh. Ces. Godeffroy & Sohn aufzulösen, rückgängig machen.

Der Großvater hat den Vater Anfang 1806 als Teilhaber in die Firma aufgenommen, doch Ende des Jahres besetzten die Franzosen Hamburg zum ersten Mal. Napoleon verbot jeden Handel mit England, befahl dem Kontinent Europa eine Handelssperre. Die Geschäftsstille brachte Joh. Ces. Godeffroy & Sohn Verluste, die sie mit Schmuggel nicht ausgleichen konnten. Als Napoleon Hamburg 1810 zu einem Teil des Kaiserreichs machte, begann der Großvater seine »Handlungs Geschäfte«[15] zu beenden: Er verlieh den größten Teil seines Kapitals an solide Häuser in London und machte »Im Namen Gottes«[16] sein Testament. Seine Söhne Johan César und August sollen zu gleichen Teilen erben. Wenn der Großvater jedoch vor der Großmutter stirbt, soll sie Alleinerbin sein. Er überläßt es ihrem Gutdünken, Cesars Vater die Weiterführung der Firma mit einem kleinen Kapital zu ermöglichen. Der Bediente des Großvaters soll eine Geldsumme bekommen und »meine sämtlichen Kleidungsstücke und Leibwäsche«.

Cesars Vater ist ein lebhafter, tätiger Mann Anfang Dreißig. Doch wieder sieht es so aus, als würde Cesar niemals Erbe von Joh. Ces. Godeffroy & Sohn werden: Im Frühjahr 1815 verläßt Napoleon die Insel Elba und zieht in Paris ein. Wieder marschieren Armeen, wieder herrscht Geldmangel und die Geschäfte stocken. Trotzdem tritt Hamburg am 8. Juni 1815 in einen neuen Deutschen Bund ein, dem 34 souveräne Fürsten und vier freie Städte angehören: Hamburg, Bremen, Lübeck und Frankfurt am Main. Zehn Tage später besiegen die Preußen unter Blücher und die Engländer unter Wellington Napoleon bei Waterloo, südlich von Brüssel, endgültig.

»Hier ist die Freude[17], der Jubel unbeschreiblich«, berichten Joh. Ces. Godeffroy & Sohn, Hamburg, Eichborn & Co. in Breslau. »Der Donner der Kanonen, das Geläute der Glocken, das Flaggen aller Schiffe im mastenreichen Hafen ist ein imposanter, rührender Anblick! aufs Neue, und hoffentlich auf lange Zeit ist also der Welt der Friede wiedergegeben!«

Cesars Vater kauft das Vollschiff Jenny – vier Jahre alt, dreißig Meter lang, Rahsegel an drei Masten –, nennt es nach seiner Frau Sophie und schickt es mit Leinen nach Havanna. Die Frachtraten schnellen nach dem Sieg über Napoleon in die Höhe. Cesars Vater erzielt 1815 den beachtlichen Reingewinn von 141 883 Bankomark. Er schließt seine Bilanz mit dankbarem Herzen gegen Gott ab und bittet in seinem Geschäftsbuch »den Höchsten um seinen ferneren Segen, die mir obliegenden mancherley Lasten ohne Sorgen zu tragen«[18]. Er kauft ein zweites Schiff, die Brigg Ariadne, und läßt sich und seine Frau von Friedrich Gröger malen, von dem man sich malen läßt.

 

Cesars Vater ist auf dem Porträt ein leichtgebauter braunhaariger Mann mit einem großflächigen ovalen Gesicht, hoher Stirn und hochgeschwungenen Augenbrauen. Er sieht den Betrachter mit hellen braunen Augen konzentriert und forschend an. Er trägt Frack und Spitzenjabot, ist gepflegt und selbstbewußt. Trotz eines kleinen verbindlichen Lächelns sieht er angespannt aus. Er hat die Arme vor dem Körper verschränkt wie jemand, der nicht leicht aus sich herausgeht.

Cesars Vater hat Sorgen. Seine Geschäfte und das Wohlergehen vieler Menschen lasten auf ihm. Seine Eltern beanspruchen ihn, sein Bruder mit Frau und Kindern. Seine Schwiegermutter und seine Schwägerin Dorette bekommen ihren Lebensunterhalt von ihm, zwei jüngere Geschwister seiner Frau, Ida und Wilhelm, wachsen bei ihm auf. Er hat jetzt drei Kinder: Helene, seine Älteste, Cesar und Adolph, der am 28. November 1814 zur Welt kam.

Cesars Mutter ist zierlich, hat eine hohe breite Stirn und gerade dunkle Augenbrauen. Sie läßt sich in einem eleganten schmalen Kleid aus schwarzem Seidensamt malen. Ihr schweres dunkles Haar hängt in Locken auf die Schultern und auf ihrem Scheitel liegt, wie ein Diadem, ein dicker Zopf. Sie ist eine schöne, etwas herbe, sehr anmutige Frau, doch keine unbeschwerte. Sie sieht ernsthaft und verletzlich aus, auch eigensinnig.

Sophie Lucie Godeffroy ist 1786 in Lindhorst geboren, südlich von Hamburg, als Älteste des Oberlandes-Oeconomie-Commissairs in Celle Johann Friedrich Meyer und seiner Frau Victoria Brauns. Ihr Vater, jüngster Sohn des Müllers in Lindhorst, hatte es durch Fleiß, Bildung und Leistung weit gebracht im fürstlichen Beamtentum. Sophie heiratete mit zwanzig einen Hofrat der Justizkanzlei in Celle, Adolph August Hieronymus von Witzendorff. Er starb sieben Monate nach der Hochzeit an Schwindsucht. Drei Monate später bekam die Witwe einen Sohn, den sie Adolph nannte.

Der junge Cesar Godeffroy und Sophie von Witzendorff haben im November 1810 geheiratet. Es war eine Liebesheirat, Sophie, Tochter eines Beamten und Witwe eines Beamten, war arm.

Der kleine Adolph von Witzendorff ist fünfjährig im Februar 1813 gestorben, vier Monate, ehe Cesar zur Welt kam. Cesars Vater hört es nicht gern, wenn die Kinder darüber sprechen. Doch Cesars jüngerer Bruder Adolph wird ein robustes gutgelauntes Kind und scheint sich später wenig darum zu kümmern, daß er einen toten Jungen vertreten soll.

 

1817, am 8. Januar, kommt Cesars Bruder Gustav zur Welt.

Der Großvater will nun die Handlungsgeschäfte mit seinem Sohn fortsetzen – »auf unbestimmte Zeit«[19]. Er ändert sein Testament. Augusts Erbteil darf nicht mehr sofort aus der Firma gezogen werden, der ältere Bruder soll dem jüngeren, der keine tätige Natur ist, jedes Jahr 50 000 Bankomark auszahlen und den stehenden Rest mit vier Prozent verzinsen. Weitere Änderung: In den Kleidungsstücken für den Bedienten »ist meine goldene Taschen Uhr nicht mit begriffen«[20].

Cesars Vater kauft ein drittes Schiff und nennt es Cesar.

Der Vater lehrt Cesar, was er selbst von seinen Eltern gelernt hat: Was es heißt, ein Kaufmann zu sein und ein Bürger.

Die Stadt

Mittelpunkt der Familie Johan Cesar Godeffroy ist der Ort, an dem das Geschäft liegt: das Wohn- und Kontorhaus der Großeltern am Alten Wandrahm. Wenn Cesar und seine Geschwister die Großeltern besuchen, lenkt Kutscher Johann den Wagen von der Alster an die Elbe quer durch die Stadt – durch die Welt, in die Cesar hineinwächst und in der sein Platz schon vorherbestimmt ist.

Die Kutschfahrt beginnt am Jungfernstieg an der Alster, einer schönen breiten Promenade, auf der die feine Welt unter Linden spazierengeht. Ammen vom Land schieben Kinderwagen und halten Kinder an der Hand. Ein Café ist in die Alster hineingebaut, und es gibt ein Badeschiff, in dem Damen und Herren kalte und heiße Bäder nehmen und schwimmen lernen können.

Im Innern der Stadt sind die Straßen eng und düster. Über hunderttausend Menschen leben hier mit Tausenden von Pferden, Kühen, Hühnern in den Hinterhöfen der Fachwerkhäuser – Schweine hat der Senat kürzlich verboten. Hohe vierspännige Lastwagen rasseln über das schlechte Pflaster, die Fuhrleute gehen nebenher und knallen unablässig mit langen Peitschen. Fußgänger weichen klappernden Kotwagen aus, die den Inhalt der Toiletteneimer in den Häusern abholen, und hellblauen Tonnenwagen, die frisches Wasser bringen. Bäcker mit Tragkorb, Schlachter mit einer Holzmulde voll Fleisch auf der Schulter, Milchfrauen mit zwei roten Deckeleimern an einer Tragstange rufen und singen ihre Waren aus. Ratsdiener stolzieren zwischen den Straßenverkäufern einher, in schwarzer spanischer Tracht mit großer weiße Halskrause, unterm Arm einen Regenschirm aus roter Baumwolle.

Die Milchfrauen von den Elbinseln, die Fischhändler von Helgoland, die Obstverkäufer vom Südufer der Elbe sind in Ewern mit roten Segeln frühmorgens in die Stadt gekommen. Cesar kann von den Brücken aus durch das Kutschfenster in die Wasserstraßen Hamburgs sehen. Frachtewer und Schuten schieben sich in den Fleeten aneinander vorbei, die Ewerführer brüllen und fluchen. Sie haben Waren von den Schiffen geholt, die auf der Elbe liegen, und staken nun zu den Speichern an den Rückseiten der Wohn- und Geschäftshäuser. Viele Fachwerkspeicher sind im weichen Untergrund eingesunken, stützen sich schief und krumm aneinander. Sie haben kaum Fenster und in jedem Stockwerk eine Tür: Hoch oben stehen Speicherarbeiter und ziehen Warenballen und Fässer über Winden hinauf.

Von den Seeschiffen bringen die Ewerführer Zucker, Kaffee, Wein, Orangen aus Spanien und Eisenwaren aus England, von den Binnenschiffen, die vom Oberlauf der Elbe in die Stadt kommen, bringen sie Getreide, Wolle und auch das Leinen, das Cesars Vater nach Kuba und Mexiko weiterverkauft. Der Zwischenhandel macht Hamburg reich. Was man hier nicht findet, gibt es in Europa kaum zu kaufen. Die Stadt ist ein Markt, ein Markt der ganzen Welt. Jeden Tag geht der Vater in Frack und Zylinder zur Börse: Eine Versammlung von Kaufleuten und Maklern lenkt die Warenströme. Börse, Bank und Rathaus liegen in der Mitte der Stadt, Handel und Politik gehören zusammen – eine geheimnisvolle Welt, die auf Cesar wartet.

Die Kutsche rollt von der letzten Brücke, und Johann lenkt die Pferde nach links. Der Alte Wandrahm ist die vornehmste Straße Hamburgs. Früher einmal standen hier die Gestelle, in die die Färber das Tuch zum Trocknen und Glätten einspannten. Doch dann baute man eine aufsehenerregend breite Straße, elf Meter, und prachtvolle Häuser aus rotem Backstein, verzierte die Fenster mit weißen Stuckrahmen wie in Holland und die Portale mit Girlanden und Blütenbüscheln aus Sandstein, pflanzte Linden und Kastanien.

Großpapas Haus hat nur runde Steinschnecken auf beiden Seiten des Giebels und sieht streng aus. Der große Speicher auf der andern Straßenseite gehört ebenfalls dem Großpapa, mit Pferdestall und Wagenremise und Wohnungen für Kutscher und Angestellte der Firma.

Joh. Ges. Godeffroy & Sohn heißt die Firma, und Johan César Godeffroy heißen der Großpapa, der Papa und er selbst, Cesar. Auch die Brüder Adolph und Gustav fühlen sich bedeutend von klein auf, und doch ist ein Unterschied zwischen ihnen und Cesar: Er wird der Sohn im Firmenschild sein und eines Tages der Chef. Die Buchstaben J. C. G. & S. stehen auf der Reedereiflagge, die die Schiffe der Firma am Großmast führen, J. C. G. ist in Visitenkarten, Briefbögen und Menükarten der Eltern eingeprägt. Familie und Firma sind eine Einheit, lehrt der Vater, und eines Tages wird Cesar diese Einheit vertreten. Es gibt einen besonderen Ausdruck für das Gebilde aus Familie und Firma: der Name. Cesar muß einmal bedeutende Geschäfte in fernen Ländern machen, damit zu Hause der Name der Erste wird unter den anderen Namen in der Stadt.

Das Haus am Alten Wandrahm

1.

»Eine Treppe mit blanken Messing-Handstangen führte zum Windfang, den ein Diener öffnete …«[21]

 

So beginnt Cesars Enkelin Emmy Wehl, die für die Familie niederschrieb, wie es im Haus aussah, als ihr Großvater König der Südsee war. Wie es in seiner Kindheit aussah, ist nicht überliefert. Doch auch andere Enkelkinder großer Kaufleute, älter als Emmy Wehl, haben von Besuchen bei ihren Großeltern in den alten weitläufigen Häusern berichtet, die für sie aufregende Spielplätze waren. Cesar und seine Geschwister lebten ab 1818 selbst am Alten Wandrahm. Ich verwische das Umzugsdatum in meiner Rekonstruktion des Hauses, unterscheide nicht streng zwischen Cesar als Besucher – bis zum Alter von fünf Jahren – und Cesar zu Hause.

 

Vom Windfang geht man auf die Diele – das ist eine zweigeschossige Halle mit einer Glastür zum Innenhof. Eine Hamburger Diele ist vornehm eingerichtet. Große Schränke stehen auf den weißen und schwarzen Marmorfliesen und eine Uhr, deren Stundenschlag durchs ganze Haus dröhnt. Es gibt viel Platz für Fässer und Kisten, die der Hausknecht mit einer Winde auf die Speicherböden in den Dachgeschossen hochziehen kann. Wenn die Kinder beim Spielen auf der Diele zuviel Lärm machen, kommen die Herren aus dem Kontor.

Im Kontor, gleich rechts neben der Haustür, arbeiten Commis und Lehrlinge an hohen Doppelpulten. Gewehre und Säbel für die Schiffsleute hängen an den Wänden, und auf den Regalen liegen Seekarten und Warenproben. Vormittags kommen Makler, Ewerführer und Quartiersleute, die das Einlagern von Waren im Speicher übernehmen, Bäcker- und Schlachtermeister, die über Schiffsproviant verhandeln wollen, und – seltene und besondere Erlebnisse für Cesar – Kapitäne, die der Vater ins Privatkontor bittet und mittags zum Essen mit der Familie und den Leuten vom Kontor mitbringt.

Das tägliche Eßzimmer für sechzehn Personen liegt bei Godeffroys im Zwischengeschoß, am ersten Absatz der Dielentreppe. Was die Kinder fesselt: Nach dem Tischgebet holt der livrierte Diener das Essen aus einer Klappe in der Wand. Die Küche ist im Souterrain, und Hausmädchen haben die Schüsseln über eine verborgene Wirtschaftstreppe hochgetragen.

Die breite weißlackierte Dielentreppe führt zu den Salons im ersten Stock und zum Saal, der in den Speicher im Mittelhaus hineingebaut ist.

Abends, wenn die Kerzen auf den Kronen und Wandleuchtern brennen, sieht der Saal freundlich und festlich aus. Zu großen Essen decken die Diener Tischtücher aus schlesischem Leinen auf, das Tafelservice aus englischer Fayence und das Silberzeug aus Paris, das Cesars Eltern sich nach einem besonders erfolgreichen Geschäftsjahr gekauft haben. In den Ecken des Saals schimmern runde weiße Porzellanöfen, und auf einer Seite gibt es eine Estrade für die Musiker, die bei Bällen für Schwung sorgen. Wenn die Gäste eintreffen, stehen Cesar und seine ältere Schwester Helene, später auch die kleinen Brüder, neben den Eltern: Man legt in Hamburg Wert darauf, daß Kinder frühzeitig lernen, sich ungezwungen zu benehmen und den Namen zu vertreten.

Die Wohnräume liegen bei Godeffroys im zweiten Stock, zur Straße hin. Im Wohnzimmer sitzt am Fenster erst die Großmutter, später die Mutter mit ihrer Handarbeit. Es gibt einen runden Familientisch, ein gewaltiges Sofa und gepolsterte Roßhaarstühle. Die Fenster sind im Winter mit schweren Woll- und Damastvorhängen gegen die Kälte verwahrt.

Für Holz und Torf bezahlt der Vater 1 300 Bankomark im Jahr – genausoviel wie für Lohn, Kost und Logis von neun Bediensteten: zwei Diener, ein Hausknecht, zwei Hausmädchen, eine Jungfer, ein Koch, eine Unterköchin, eine Magd. Vaters Weinkeller kostet jährlich doppelt soviel wie die Dienerschaft: 2 500 Bankomark – die beiden Kutscher, die Nachtwächter und die Gärtner im Landhaus an der Elbe dabei nicht mitgerechnet – und die Loge im Theater halb soviel: 650 Mark. Für einen Ball geben die Eltern 1400 Mark aus, für Weihnachten 1 600 und für ihre Kinder 3 200 im Jahr: Kleidung, Spielsachen, Privatlehrer und Gouvernanten.

Die Kinder haben ihre Zimmer im Mittelhaus, wo auch unverheiratete Angestellte wohnen. Lange Korridore führen vom Mittelhaus zum Speicher am Fleet. Dort gibt es das für alle Kinder Aufregendste im ganzen großen Haus: einen schwindelnden Blick durch die Holzröhre.

Die Röhre führt durch sämtliche Stockwerke hindurch bis zum Wasser des Fleets. In die Röhre leeren die Hausmädchen, was ein Geschäftsfreund des Großvaters in seinem Testament so beschreibt: »Mahagony Lenstuhl zur Commodität mit Pferdehaaren und kattunenem Überzug und zinnernen Topf.«[22] Auf dem Fleet schwappen Unrat und tote Hunde mit Ebbe und Flut am Haus vorbei. Bei Ebbe läuft das Fleet fast leer, Ratten kommen und der »Fleetenkieker«[23], der mit seinem Haken den Boden nach Wertvollem absucht, das aus den Ewern oder den Speichern ins Wasser gefallen ist.

Cesar und seine Brüder laufen nach den Unterrichtsstunden auf schmalen, steilen Holztreppen von einem Speicherboden zum nächsten bis ganz nach oben, wo es dunkel und unheimlich ist. Sie klettern über Säcke und Kisten, spielen Versteck und naschen mit den Lehrlingen Rosinen. Es riecht nach Leinen, Kaffee, Zucker und Tabak, auch nach Tee und Indigo, die der Vater für Geschäftsfreunde in Philadelphia in Kommission verkauft, nach Mäusen und dem Kater des Hausknechts.

Mit den Quartiersleuten, die Zylinder und Schurzfell tragen, und den »Lüd von de Eck«[24], die der Hausknecht holt, wenn viel im Speicher zu tun ist, sprechen die Kinder plattdeutsch. Diese starken Männer sehen in Cesar den Erben, den künftigen Chef, und auch die Brüder richten sich nach ihm.

2.

Wichtigste Person im Haus am Alten Wandrahm ist bis zu seinem Tod der Großpapa. Er ist ein kleiner wohlgenährter Mann mit schwerem Kinn, großer Nase und einem halben Lächeln. Er hat den Sprung geschafft vom unbedeutenden Anfänger zum Millionär, hat den Namen gemacht.

Die Godeffroys sind Hugenotten aus La Rochelle in Frankreich, waren dort wohlhabende Kaufleute. Ein jüngerer Sohn wanderte aus, als Ludwig XIV. die Hugenotten – ein alter Spottname für Protestanten – 1685 verfolgen ließ, zog zum Kurfürsten von Brandenburg nach Müncheberg bei Frankfurt an der Oder. Seine Nachkommen wanderten zurück nach Westen – nach Berlin und weiter nach Hamburg, wo der Großpapa 1742 zur Welt kam. Sein Vater war nur ein Commis, ein angestellter Handlungsgehilfe, der mit der Gänsefeder an einem Doppelpult schrieb und rechnete für den reichsten Hugenotten Hamburgs, Pierre Boué, bis er sich endlich mit einem kleinen Weinhandel selbständig machen konnte. Als er starb, war der Großpapa sechzehn. Er erbte 3 000 Bankomark.

Als er vierundzwanzig war, 1766, gründete er mit einem Kompagnon die Firma Joh. Ces. Godeffroy & Co. Drei Jahre später konnte er das große Bürgerrecht erwerben. Dafür mußte er ein Erbe besitzen – ein Grundstück in Hamburg mit einem oder mehreren Gebäuden, das über eine bestimmte Summe hinaus nicht beliehen sein durfte –, er mußte ein Wappen vorweisen – als Wappentier wählte er einen Falken – und 150 Mark Species bezahlen. Als Großbürger durfte er ein Konto bei der Hamburger Bank eröffnen, Leinen zollfrei in Hamburg ein- und ausführen und die große Waage neben der Börse benutzen.

Er exportierte Leinen aus Schlesien und Westfalen in gechartertem Schiffsraum nach Frankreich und Spanien, importierte Wein und Rosinen, Kupfer aus Cádiz und Zucker und Kaffee. Die Kolonialmächte hinderten ausländische Kaufleute am direkten Handel mit ihren Kolonien, und Hamburger mußten Kolonialwaren in England, Frankreich und Spanien einkaufen. Der Großpapa heiratete Marie Emilie Boué, eine Verwandte des früheren Chefs seines Vaters. Nach neunjähriger kinderloser Ehe starb sie. Damals schätzte der jüngere Bruder des Großpapas, Pierre, seinen Besitz auf höchstens 3000 Bankomark, sein Erbteil, und der Großpapa, nun 36 Jahre alt, besaß auch noch nicht viel mehr.

Doch dann zeigte sich zum ersten Mal das Glück der Godeffroys. Onkel Isaac starb, ein Bruder von Cesars Urgroßvater, des Commis. Onkel Isaac war in jungen Jahren nach Surinam gegangen, dem Land zwischen Amazonas und Orinoco, und hinterließ nun seinen vier Neffen und fünf Nichten die Plantage Marienbos bei Paramaribo und 374 Sklaven. Als Land und Menschen verkauft waren, erhielt der Großpapa 42 571 holländische Florins. Dann starb sein Stiefbruder Jean Jacques, der auch in Surinam zu Wohlstand gekommen war, und Großpapa und Großonkel Pierre erbten jeder noch einmal 20 000 Florins.

Der Großvater heiratete im November 1779 die siebzehnjährige Antoinette Magdalena Matthiessen, Tochter von Hieronymus Matthiessen in Firma Hieronymus Matthiessen & Sohn, später Matthiessen, Sillem & Co., Neuer Wall.

Er war zu einem denkbar günstigen Zeitpunkt durch Erbschaft zu Vermögen gekommen und durch Heirat zu Bekanntschaft. Hamburg stand am Beginn eines nie erlebten Wirtschaftsaufschwungs. Die Welt geriet in Revolutionskriegen durcheinander, und alte Handelsverbote galten nicht mehr. Die englischen Kolonien in Nordamerika hatten ihre Unabhängigkeit erklärt, und Hamburger Kaufleute rüsteten Schiffe nach New York, Boston, Philadelphia aus.

Cesars Großvater und sein Großonkel Pierre gehörten zu den ersten, die sich an der Finanzierung von Überseegeschäften beteiligten und schließlich eigene Schiffe nach Übersee schickten. Die Brüder Godeffroy, Senator Graepel, mit dem der Großvater in der Tischgesellschaft Einigkeit Karten spielte, und Berckemeyer vom Alten Wandrahm machten 1780 mit kleinen elenden Schiffen ihre erste Expedition nach Westindien. Als die Schiffe zurückkehrten, konnte der Großvater sein erstes Haus am Alten Wandrahm kaufen: den großen Speicher mit Wohnungen und Pferdestall, 1781, in dem Jahr, in dem Cesars Vater am 15. Oktober zur Welt kam.

Die Brüder Godeffroy beteiligten sich an einer Reise des Rohlap nach Surinam und Martinique, eines Schiffes, das den Leinen- und Seidenhändlern Caspar Voght und Georg Heinrich Sieveking gehörte, Freunden von Conrad Matthiessen, dem Bruder von Cesars Großmutter Antoinette. Es kam mit Kaffee zurück, Zucker, Vanille. Weitere Beteiligungen folgten. Caspar Voght holte nun Tabak aus Baltimore, Gummiarabicum aus Afrika, Kaffee aus Mokka am Roten Meer. Der Großvater konnte 1786 das Wohn- und Kontorhaus am Alten Wandrahm und den größten Landbesitz an der Elbe kaufen. Er hatte jetzt einen Hofmeister, einen »Laquai«[25], einen Kutscher, vier Mägde und einen Stallburschen. Kein Hugenotte in Hamburg unterstützte die französisch-reformierte Kirche großzügiger als er.

Mit der französischen Revolution kamen Flüchtlinge und Kapital nach Hamburg. Der Stadtstaat wurde zum führenden Finanzplatz Europas, als französische Soldaten Holland besetzten und damit die Amsterdamer Börse ausschalteten. Die Brüder Godeffroy und ihre Freunde spekulierten mit Waren und mit Geld. Sie kauften billig Möbel in Frankreich ein, Kleider, Gemälde, Porzellan, Uhren, Tapeten. Kupferstiche kamen in ganzen Schiffsladungen nach Hamburg, bis die Preise fielen, weil kaum noch jemand Platz an seinen Wänden hatte. Conrad Matthiessen fuhr nach Paris, um das Geschäft mit den Assignaten zu studieren, dem Papiergeld der Revolution. Wer gute Verbindungen hatte, konnte in Paris Assignaten billig einkaufen und sie in der Provinz teuer verkaufen. Matthiessen und die Godeffroys verstanden es, politische Gerüchte zu nutzen, und machten ein großes Geschäft.

Großonkel Pierre wurde noch reicher als der Großvater – vielleicht, weil er mehrere Schiffe kaufte für Reisen nach Havanna, Venezuela, zu den La-Plata-Ländern, rund um Kap Horn nach Lima und nach Kalkutta, Indien. Der Großvater kaufte 1797 die Providentia, ein Schiff mittlerer Größe, und schickte sie nach Havanna und Veracruz. Bei allem Familienzusammenhalt gab es auch Eifersucht und Neid zwischen den Brüdern und ihren Familien.

Für reich hielt sich in Hamburg, wer eine Million Bankomark besaß – wenig im Vergleich zu dem, was in Frankfurt am Main, Amsterdam, London als großes Kaufmannsvermögen galt. Typisch für Hamburg war der rasche Aufstieg neuer Männer, die durch Spekulationen schnelles Geld verdienten und deren Nachkommen langsam wieder untergingen.

Der Spekulationsrausch brach 1799 zusammen. 152 Firmen mußten ihre Zahlungen einstellen. Cesars Großvater kaufte mit einer Erbschaft seiner Frau noch ein Haus am Alten Wandrahm.

Zu Beginn der Franzosenzeit, 1806, schätzte der Versicherungsmakler Grasmeyer Johan Cesar Godeffroy auf zwei Millionen Bankomark. Sieben Kaufleute waren reicher als Godeffroy, vier genauso reich. Zum Vergleich: Damals veranschlagte die Armenanstalt das Existenzminimum für einen Erwachsenen auf 358 Mark 5 Schilling im Jahr. 80 % der Erwerbstätigen in Hamburg verdienten weniger als 400 Mark im Jahr.

3.

Reichtum allein besagt wenig über das Ansehen eines Kaufmanns, lernt Cesar. Ansehen gewinnt, wer als erster eine neue Geschäftsidee hat und etwas unternimmt, was noch keiner gewagt hat. Ansehen gewinnt, wer sich bei seinen »mercantilischen Handlungen«[26], wie der Vater sagt, von Grundsätzen lei läßt.

Cesars Großvater und seine erfolgreichsten Freunde haben versucht, Regeln für vernünftiges kaufmännisches Verhalten zu erkennen. Sie wollten ihr Schicksal nicht länger Fortuna anheimgeben, der Glücksgöttin, sondern den Lauf ihrer Glückskugel mit Vernunft und Überlegung beeinflussen.

Zu den Regeln, die sie ihren Nachfolgern einschärfen, gehören Verhaltensweisen, die sich bei den großen Kaufleuten in Holland und England längst durchgesetzt haben, zumindest als Norm, die bei den Kaufleuten in den Ländern rings um die Ostsee aber und im deutschen Binnenland keineswegs üblich sind: Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit. Ein Geschäftspartner muß sich auf das Wort des anderen verlassen können, sonst bricht jedes längerfristige Geschäft – und die Im- und Exportunternehmen von und nach Übersee sind sehr langfristig – zusammen.

Cesar und seine Brüder hören immer wieder die Geschichte, wie Großonkel Pierre sein berühmtes Haus am Jungfernstieg einem Herrn von außerhalb für lächerliche 50 000 Bankomark anbot. Der glaubte ihm nicht und lachte, nahm aber schließlich auf Drängen eines Freundes zum Spaß das Angebot an. Pierre verkaufte ihm tatsächlich das Haus und kaufte es für viel Geld zurück: Er wollte dem anderen beweisen, daß sein Wort gilt. Gleich wie widersinnig eine Zusage erscheinen mag – ein großer Kaufmann hält sein einmal gegebenes Wort.

Cesar, Adolph und Gustav müssen schon als Kinder Anfangsregeln für eine erfolgreiche Berufstätigkeit einüben: Aufmerksamkeit, Fleiß und Ordnung. Durch Ordnung habe er sein großes Vermögen verdient, behauptet Großonkel Pierre. Er hat armen Flüchtlingen während der Franzosenzeit großzügig geholfen, sich aber aufgeregt, wenn ein Kosak einen Hering stahl. Er hat seinen Töchtern auf kostspieligen Schmuggelwegen nach England geschrieben und sie gefragt, wo zwei Laken geblieben seien.

Der Großpapa und seine Freunde vergleichen ein Geschäft mit einer großen Maschine, bei der ein Teil ins andere greift und keines stocken darf, weil sonst alle durcheinandergeraten, Warenströme und Geldkreisläufe. Eine Firma beweise, wie eine einmal aufgezogene Maschine, die Geschicklichkeit des Menschen, meint John Parish. Parish hat mit Getreidehandel, Wechselgeschäften und Truppentransporten über See ein Riesenvermögen verdient und als reichster Mann an der Elbe die Firma seinen Söhnen überlassen und seine Geschäftsmemoiren geschrieben. Die Maschine Firma läuft in einem sehr störbaren Gleichgewicht, und damit sie leicht und leise läuft und doch mit geringstem Aufwand – sprich Kapital – ist das wichtigste der »Credit«[27] des Kaufmanns.

Der Credit ist etwas Kompliziertes, und doch kann auch ein Junge sein Wesen schon verstehen: Der Credit ist das Zutrauen, das andere in seine, Cesars, Fähigkeiten haben.

Der Credit ist der Gradmesser des Vertrauens, das ein Kaufmann an der Börse genießt. Wer Credit hat, kann mit weniger eigenem Kapital mehr und größere Geschäfte machen als andere. Der Credit sei das unschätzbare Juwel des Kaufmanns, das er sorgsam behüten müsse, hat John Parish gesagt. Die Wechsel eines Kaufmanns – seine schriftlichen Zahlungsversprechen – seien an der Börse geschätzt nicht aus Vertrauen in seine Zahlungsfähigkeit, sondern aus Vertrauen in seine Urteilsfähigkeit. Der Credit ist die Ehre des Kaufmanns.

Die Gesellschaft am Fluß

1.

Cesar und seine Geschwister leben von Mai bis November im Landhaus an der Elbe, und in jedem Frühjahr ist es eine spannende Frage, an welchem Tag die Familie hinauszieht. Koch und Unterköchin ziehen mit um, Mamas Jungfer, Kindermädchen und Hauslehrer. Am Alten Wandrahm bleiben nur einige Bediente, die von montags bis freitags für den Papa sorgen, der dann nach der Börse mit seinem Diener hinausfährt.

Die Pferde vor der Kutsche mit den Kindern traben zum Stadttor hinaus und über den Hamburger Berg, wo man Seiltänzerinnen sehen kann, Messerwerfer und Schlangen, die Matrosen mitgebracht haben. Am Zollamt in Ottensen, gegenüber der Christianskirche, muß Johann halten und mit mißtrauischen dänischen Zollbeamten verhandeln, die die Kutsche nach Kaffee und Zucker durchsuchen wollen, die Kinder kriegen vor Aufregung ganz blanke Augen.

Sie fahren oben am Elbufer entlang, rechts liegen Felder und Wiesen, reetgedeckte Bauernhöfe und Windmühlen, links, tief unten, die Fischerdörfer. Die Kinder können weit über den glänzenden Fluß und seine Inseln sehen, die Segel der Schiffe stehen dunkel vor der Sonne. Langsam und lautlos mahlen die Räder im Sand. Ab Teufelsbrück führt der Weg unten am Wasser entlang, läuft später wieder über freies Feld. Prustend und schweifwedelnd gehen die müden Pferde Schritt. Dann sieht Cesar die Wipfel der alten Lindenallee, Johann knallt mit der Peitsche und die Pferde traben durch die beiden Torpfeiler zum Großen Haus. Hoch über dem Eingang steht »Der Ruhe weisem Genuß«.

Im Großen Haus wohnen, als Cesar noch klein ist, die Großeltern, später die Eltern. Man geht die Stufen zwischen den dicken beiden Säulen hoch und kommt in die weißgetäfelte Halle, die oben an den Wänden mit weißen Figuren geschmückt ist, die aus Italien oder Griechenland kommen und Reliefs heißen. Die Tür zum Gartensaal ist offen, und so geht man gleich weiter. Der Gartensaal ist oval, goldene Stühle stehen an der Wand und durch drei Fenster sieht man den Fluß. Zu beiden Seiten des Gartensaals liegen Salons, durch den rechten kommt man zum Speisesaal im rechten Flügel des Hauses. Auch er ist weiß und an Wänden und Decke mit Blumenranken verziert, und sein Parkett glänzt so stark, daß die Kinder auf Zehenspitzen große Schritte machen.

Im linken Flügel liegt, mit Blick auf den Park, das Schlafzimmer der Eltern. Ein riesiges Himmelbett steht darin, und ein Kamin wärmt es gemütlich, wenn Mama sich für Gesellschaften anzieht. Zur Elbseite hin liegen Mamas Schreibkabinett und Papas Ankleidezimmer. Über eine verborgene Treppe bringen Mamas Jungfer und Papas Diener heißes Wasser in Kannen und Schüsseln aus der Küche im Keller.

Im Keller sind die Wirtschaftsräume, die Wäsche- und Vorratskammern, der Weinkeller. In der Küche herrscht der Koch über blankes Kupfergeschirr, riesige Messer und einen Hackblock und läßt nicht jeden herein, vor allem nicht an den Wochenenden, wenn er zahlreiche Hilfskräfte aus dem Dorf dirigiert. In der Milchkammer gießt die Unterköchin nach dem Melken die Milch in große Satten, von denen sie später den Rahm abschöpft, und in kleine Satten für Dickmilch, die die Kinder mit Schwarzbrotkrümeln und Zucker essen. Wasser holen die Hausmädchen von der grüngestrichenen Pumpe, die links vor dem Großen Haus steht, umgeben von Fichten – ein Hauptversteck der Kinder.

Cesar und seine Geschwister wohnen im Kavaliershaus im Park, dem reetgedeckten alten Gutshaus. Die Eltern im Großen Haus benutzen einen Nachtstuhl, Kinder und Gäste im Kavaliershaus haben ein Außenklo, ein Plumpsklo. Natürlich könnte die Mama Wasserleitungen legen und ein water closet einbauen lassen, aber die Eltern meinen, dergleichen passe nicht zum Leben auf dem Lande. Außentoiletten sind jetzt modern und kalte Bäder. Laut englischen Geschäftsfreunden stärke und belebe es den Körper, einmal in der Woche kalt zu baden, und auch Godeffroys haben im Park ein Kaltes Bad, ein kleines Haus mit Badebecken und Umkleideraum.

Hinter dem Kavaliershaus ist der Wirtschaftshof. Im Stall stehen Pferde und Kühe, es gibt zwei Schweine, Hühner, Enten, Truthähne. Wiesen und Felder sind in manchen Jahren verpachtet, in anderen läßt Cesars Mutter Roggen, Kartoffeln, Buchweizen anbauen. Sie meint, Ruhe auf dem Lande heiße keineswegs Faulheit. Sie fühlt sich beengt im Stadthaus zwischen Straße und Fleet, fühlt sich leichter an der Elbe. Sophie Godeffroy ist eine passionierte Reiterin und liebt die »Gesellschaft muthiger Rosse«[28], wie sie sagt. Wenn sie einmal nicht reiten kann, fährt sie mit Helene in einem kleinen Wagen, den eine Eselin zieht, durch den Park. Sie leitet den Gutshof, sie läßt im Park Bäume auslichten und neue pflanzen. Cesars Vater sagt, sie sei die eigentliche Schöpferin von Dockenhuden.

Die Kinder laufen auf schmalen Pfaden durch das Korn, stehen unter der Windmühle und hören auf das Sausen der Flügel. Sie lernen in der Elbe schwimmen und sehen dem Dampfer nach, der nach England fährt. Solange sie klein sind, sammeln sie Muscheln im Sand, später schießen sie Möwen, reiten mit der Mama aus und gehen mit dem Papa auf die Jagd.

An den Wochenenden kommen Nachbarn, Freunde, Verwandte zu Besuch – Onkel Richard Parish mit Tante Susanne née Godeffroy und den Kindern Charles, Oscar und George, die Sillems, die Thierrys und Onkel Peter Godeffroy mit Tante Susette née von Oertzen und der kleinen Antonie. Caspar Voght fährt vor, ein kinderloser alter Herr, und manchmal kommen imposante alte Damen, Jugendfreundinnen der Großmama, wie Caroline Hanbury née Bohn mit Hannchen Sieveking née Reimarus. Ihr Vater war der berüchtigte Dr. Hermann Samuel Reimarus, lutherischer Theologe und Philosoph, der die Bibel und das Leben Jesu mit der Vernunft des Historikers nachprüfen wollte, was in Hamburg lange als unerhörte Gotteslästerung galt. Caroline Hanbury ist die Tochter des Buchhändlers Bohn, des Verlegers der Dichter Hagedorn und Klopstock. Ihr Sohn ist der beste Freund von Cesars Vater. Onkel Frederick Hanbury bringt seinen Sohn Frederick und die kleine Emmy mit.

Die Herren tragen Fräcke aus bunten Wollstoffen, helle Westen und um den Hals ein weißes Tuch. Sie tragen Baumwollhosen, strapazierfähig und waschbar, bequeme Schaftstiefel und hohe Zylinder. In der Stadt laufen noch alte Herren herum, die sich von der französischen Mode nicht trennen können: mit seidenen Kniehosen, silbernen Schuhschnallen und weißgepuderten Perücken. Aber Kaufleute wie die Godeffroys und ihre Freunde kleiden sich modern: englisch und bürgerlich.

Auch die Damen ziehen Baumwolle vor, ganz einfache Musselinkleider, die unter der Brust gerafft sind, ohne Ärmel, ohne Kragen – eine ungezwungene Sommermode. Allerdings sind diese Kleider sehr teuer, die dazugehörigen Kaschmirschals kostbar, und selbstverständlich trägt eine Dame, bei aller Liebe zur Natur, ein Korsett.

Wenn die Gäste vollzählig sind, gibt es ein kleines Mittagessen im Saal. Die Hamburger Tafeln sind berühmt, Reiseschriftsteller staunen, »daß man in den guten Häusern hier zu jeder Speise einen besonderen Wein giebt«[29]. Zu jungen Bohnen und neuen Heringen trinke der Hamburger gewiß keinen anderen als Malagawein, zu neuen grünen Erbsen nur Burgunder, und Austern müßten in Champagner schwimmen.

Nach dem Tee schlendert die Gesellschaft durch den Park und bewundert neue Ausblicke auf den Fluß, die Sophie und die Gärtner angelegt haben, besucht die Obst- und Küchengärten und die Gewächshäuser, in denen Orangen und Ananas wachsen.

Cesar und seine Geschwister begleiten die Eltern zu Gegenbesuchen. Die Familien an der Elbe wetteifern miteinander, ihre Häuser und ihre Parks zu verschönern. Man geht durch Rosengärten, Glashäuser für Palmen und Orchideen, besieht die luxuriöse neue Welt, die Cesars Großeltern und ihre Freunde auf kargem Bauernland geschaffen haben – um sich daran zu erfreuen und um einflußreiche Hamburger zu übertrumpfen.

Die Godeffroys und ihre Freunde sind angesehene Kaufleute und doch eine Gesellschaft für sich: Sie gehören in Hamburg nicht wirklich dazu. Sie sind Bürger ohne politische Rechte. Cesars Großvater und Cesars Vater sind in der Republik der Kaufleute als Calvinisten von Mitsprache ausgeschlossen.

2.

Cesars Großvater war siebenundvierzig, die Großmutter siebenundzwanzig Jahre alt, als sie den aufsehenerregenden Lebensstil der Überseekaufleute an der Elbe begründeten.

Die großen Außenseiter trumpften im Westen der Stadt auf – die Erfolgreichen, die Neureichen, deren Eltern oder Großeltern aus England, Holland, Frankreich gekommen waren, Reformierte und Anglikaner zumeist, auch Mennoniten. Die meisten Außenseiter gehörten zu den ersten Kaufleuten, die Überseegeschäfte riskierten. Sie bauten sich ihre Landhäuser auf den Hügeln hoch über dem Fluß – sie wollten ihre Schiffe sehen und sie wollten gesehen werden.

Die lutherischen deutschen Kaufleute bauten im Osten der Stadt, in Hamm, Horn, Billwerder, und im Norden in den Walddörfern – den traditionellen Landhausgegenden auf hamburgischem Gebiet.

Es gibt Ausnahmen in dieser sommerlichen Trennung der Kaufleute nach Glauben, Herkunft und politischen Rechten, aber sie sind selten. Es hat auch schon früher Landsitze im Westen der Stadt gegeben. Aber die große Zeit an der späteren Elbchaussee begann mit den Außenseitern, die im Wirtschaftsboom am Ende des 18. Jahrhunderts reich geworden sind.

Cesars Großvater hat anfangs versucht, sich den Lutheranern anzuschließen, und im Osten Land gekauft, in Hamm, doch als 1786 der größte Besitz am Fluß zur Auktion kam, das Landgut des niederländischen Kaufmanns Berend Johann Rodde, ersteigerte er ihn für 33 100 Courantmark oder 22 000 Bankomark. Selbst die reichsten Kaufleute, sogar John Parish, bewohnten nur umgebaute Bauernhäuser. Cesars Großeltern aber beauftragten den dänischen Landesbaumeister Christian Frederik Hansen 1789 mit dem Bau eines neuen Hauses.

Hansen war damals noch ein unbekannter Mann, 33 Jahre alt. Dies war sein erster Privatauftrag. Er baute ein Landhaus mit wuchtigen Säulen auf einer breiten Eingangstreppe, klar und ruhig in der Komposition und nicht sehr groß, aber mit einer Ausstrahlung von gesammelter Kraft und Würde.

Das Haus machte ordentlich Sensation, wie die Godeffroys es lieben. Wer so baute, wußte Bescheid über die Demokratien im antiken Griechenland und Rom. Hansen hatte in Italien die Antike durch einen früheren Aufbruch der Bürger kennengelernt: durch die Landhäuser, die der Baumeister Andreas Palladio im 16. Jahrhundert für reiche Kaufleute aus Venedig baute. Architekten in England, Holland und Frankreich studierten Palladios Lehrbücher, und Politiker in Nordamerika, die für Menschenrechte, Demokratie und Republik kämpften, bauten sich Säulenhäuser nach dem Vorbild der Bürger der Antike auf ihren Plantagen an den Ufern des Potomac und am James River in Virginia.

Im gleichen Jahr, in dem Hansen mit dem Bau des Landhauses für Cesars Großeltern begann, brach in Frankreich die Revolution der Bürger gegen die Herrschaft des Adels aus. Hansen bekam aus dem Freundes- und Bekanntenkreis von Cesar und Antoinette Godeffroy einen Auftrag nach dem andern und konnte in dem Jahr, in dem das Godeffroyhaus fertig wurde, 1792, heiraten.

Für Pierre Godeffroy baute er ebenfalls mit Säulen, aber ohne Seitenflügel. Cesars Großonkel hatte für sich, seine Frau Catharina née Thornton und die zehn Kinder das Nachbargrundstück in Dockenhuden für 12 000 Courantmark gekauft. Die Baukosten für sein Weißes Haus betrugen angeblich nur 40 000 Bankomark: Wollten die neuen Leute auch großartig auftreten, so sollte es doch möglichst billig kommen. Damals strandete auf den Sänden vor Blankenese im Sturm ein Schiff aus Italien mit einer Ladung für den König von Preußen. Dessen Innenarchitekt Langhans hatte für das neue Marmorpalais in Potsdam Statuen und Reliefs in Gips abformen lassen. Blankeneser Fischer retteten die Kisten aus dem Wrack, doch Langhans meinte, ihr Inhalt sei unter Wasser verdorben, und sie kamen zur Auktion nach Altona. Aber niemand bot auf weiße Bilder von unbekannten Personen, die Abenteuer erlebten, von denen keiner je gehört hatte. Hansen bezahlte für sie kaum mehr als den Gipspreis, und Pierre Godeffroy bekam billig die Reliefs des Königs von Preußen in sein Haus.

Für den englischen Kaufmann John Blacker baute Hansen auf dem Krähenberg im Fischerdorf Blankenese ein Sommerhaus nach dem Vorbild des Parthenons in Athen, des Tempels der Göttin der Städte, der Wissenschaft und der Künste: Säulen ringsum und an den Schmalseiten Tempelgiebel. Auch Blacker wollte großartig, aber preiswert bauen, und so sind die Säulen, die von Ferne wie Marmor aussehen, in Wirklichkeit Baumstämme, an die Hansen Stroh nageln ließ, das die Maurer mit Putz überzogen.

Hansen baute für Balthasar Elias Abbéma, den Gesandten der Niederlande, und für John Thornton, dessen Stallgebäuden er die Form eines Halbmonds gab. Er baute für die Kaufleute und Konferenzräte Lawaetz und Baur aus dem dänischen Altona und Kaufmann Böhl, Lutheraner aus Hamburg. Der König holte Hansen nach Kopenhagen zurück, ernannte ihn zum Oberbaudirektor und später zum Direktor der Kunstakademie – eine große Karriere folgte den weißen Säulenhäusern am Fluß.

Die Kaufleute engagierten schottische, englische und französische Gärtner, ließen sich mit Ewern fruchtbaren Marschenboden vom Südufer der Elbe bringen und begannen, ihre baumlosen Hügel und kargen Wiesen in einen Landschaftspark zu verwandeln.

 

Über Cesars Großvater gehören die Godeffroys zu den Aufsteigern in der Stadt, den ehrgeizigen und erfolgreichen Überseekaufleuten. Über Cesars Großmutter gehören sie zu den Kaufleuten und ihren Frauen, die über eine Gesellschaft nachdenken, in der Vernunft und Toleranz die alte Ordnung nach Geburtsständen und Religionszugehörigkeit ersetzen.

Antoinette Godeffroy ist eine kleine Frau, die Spitzenkragen trägt und große Spitzenhauben, unter denen auf der Stirn schwarze Sechserlocken hervorgucken. Ihr geht viel im Kopf herum, sie hat vielleicht keine gute Zeiteinteilung, aber sie ist ein liebevoller großzügiger Mensch. Sie ist praktisch und realistisch, und zugleich kann sie sich hinreißen lassen von einer Idee. Sie ist fromm, ohne betulich zu sein, denkt nach, argumentiert – ein Kind des philosophischen Zeitalters. Ihr Bruder Conrad und sie sind lutherisch getauft wie ihr Vater, doch ihre Mutter war eine calvinistische Hugenottin: Auch der reiche Conrad Matthiessen ist von politischen Ämtern ausgeschlossen.

Die Verfassung ist der Stolz des Stadtstaates. Die höchste Gewalt liegt gleichermaßen beim Rat und der Erbgesessenen Bürgerschaft[30]. Zum Rat gehören vier Bürgermeister und vierundzwanzig Ratsherrn. Zur Bürgerschaft gehören nur drei bis viertausend der hunderttausend Einwohner: Mitreden darf in Hamburg nur, wer ein Erbe – Grundstück und Vermögen – besitzt, wer männlich ist und wer der lutherischen Kirche angehört. Der Weg in die Kollegien der Politik führt durch die Kirchspiele, und so kann nur ein braver Lutheraner mitbestimmen, der seinen Pastor erfreut.

Mit dem Ausbruch der Revolution 1789 schienen die alten Hoffnungen der Aufklärer politische Wirklichkeit werden zu können. In Hamburg las man die Zeitungsberichte über die Revolution mit Wohlwollen. Die Franzosen wünschten sich nur, was die Hamburger schon lange hatten: eine Verfassung, die zum Besten des bürgerlichen Handels eingerichtet ist. Adlige durften in Hamburg kein Grundstück kaufen und waren damit von der Politik ausgeschlossen. Nun hieß es in der Stadt sogar, ein Handelsmann von Credit und Ansehen, der ehrlich sei und zuverlässig, habe größere Ehre und besitze mehr vom wahren Adel als ein verschwenderischer Junker. Der eigentliche Adel der Stadt sei der Kaufmann, verkündete der Schriftsteller Jonas Ludwig von Heß. Der höchste Adel aber sei ein von seinen Mitbürgern gewähltes Mitglied des Rats oder der Selbstverwaltung.

»Ich suche nichts als das sanfte Gefühl zum allgemeinen Besten nach meinen Kräften mitzuwirken«[31], schrieb Onkel Conrad an Caspar Voght. Caspar Voght hatte die erste Armenanstalt in Hamburg gegründet, die den Armen Arbeit verschaffte, und erzählte als alter Herr: »der Wunsch der Gemeinnützigkeit verzehrte mich«[32]. Doch er und Georg Heinrich Sieveking wollten keine politischen Ämter in dieser bezopften Stadt haben. Erst sollten die Verhältnisse anders werden. Sie wünschten eine Trennung von Staat und Kirche. Sieveking gab zum Jahrestag der Erstürmung der Bastille für seine Freunde ein fröhliches Sommerfest in seinem Garten in Harvestehude an der Außenalster.

Im Januar 1793 ließen die Jakobiner den König in Paris enthaupten. Ganz Europa war empört. Von Sieveking hieß es nun in der Stadt, er sei ein Jakobiner und Verschwörer. Auch Caspar Voght wurde angegriffen und reiste nach England. Sieveking lebte von nun an im Sommer mit Frau und Kindern bei den Außenseitern an der Elbe. Er kaufte gemeinsam mit Conrad Matthiessen und Piter Poel, dem Besitzer der Zeitung Altonaischer Mercurius, einen Garten am Fluß, in Neumühlen.

Schließlich entspannten sich die Verhältnisse in Frankreich. Caspar Voght ging wieder ins Kontor und widmete sich in seinen Mußestunden seinem Park und der Gemeinnützigkeit. Er hatte in England eine »ornamented farm«[33] kennengelernt, einen Bauernhof als Landschaftsgarten. Er begann, Landschaften für jede Jahreszeit zu schaffen, und ließ seinen Kühen klanglich zusammenpassende Glocken umhängen. Er wollte das Schöne mit dem Nützlichen verbinden, den Armen Arbeit in der Natur geben und damit ihre Not lindern, um so selbst zum wahren Glück des Lebens zu gelangen.

Als der Kaiser Voght für seine Verdienste um das Armenwesen in Wien einige Jahre später zum Reichsfreiherrn ernannte, hatte Onkel Conrad Probleme mit dem Adelstitel eines Kaufmanns, glaubte aber zu verstehen, weshalb Voght ihn angenommen hatte. Conrad fand die Mehrzahl der Kaufleute im Binnenland ungebildet und grob: »Wenn ich gleich ein guter Bürger bin und als Bürger leben und sterben werde, so gestehe ich, daß der Umgang mit Bürgern in Deutschland, sehr wenige Städte ausgenommen, wohl nicht zu den angenehmen gehören kann.«[34]

Doch mehr und mehr regte sich im Binnenland ein neues Bürgertum. Journalisten wurden auf die Außenseiter an der Elbe aufmerksam. Die Brüder Godeffroy galten als Beispiele neuer Bürger, die den Adel in Leistung und Lebensführung übertrafen. Über ihre Landhäuser urteilten die Gemeinnützigen Unterhaltungsblätter in Leipzig: »Es sind Palläste, denen unter den Residenzschlössern der kleinen deutschen Fürsten wenige zu vergleichen sind.«[35]

Großmama Antoinette schrieb Cesars Vater zum 15. Oktober 1806, er wurde 25 Jahre alt, einen Brief. Sie schrieb französisch, in der Sprache der eleganten Welt, die auch der Vater mit anderen jungen Kaufleuten bei einem Lehrer gelernt hat: »Mögest Du das Vorbild Deiner Mitbürger werden und der Ruhm Deiner Eltern, so wie Du ihre Freude bist und ihr Glück.«[36]

Diesen Brief hat der Vater für Cesar aufgehoben.

 

Der ideale Bürger ist tätig und handelt gemeinnützig, lernt Cesar. Der einzelne hat die Pflicht, zu seinem eigenen Wohl tätig zu sein und zum Wohl der bürgerlichen Gesellschaft. Der Wert des Reichtums liegt nicht im Vergnügen, Geld anzuhäufen, sondern darin, es auszugeben. Geld recht gebrauchen ist vernünftig. Recht gebrauchen heißt: den Reichtum genießen und der Allgemeinheit mit nützlichen Unternehmen dienen.

Nirgends klaffen Ideal und Wirklichkeit so weit auseinander wie beim Geld.

Sophie Godeffroy versorgt arme Fischersfrauen in Blankenese mit Flachs, damit das Spinnen ihnen wenigstens etwas Verdienst gibt – aber 120 Bankomark im Jahr für die Armen finden Cesars Eltern ausreichend. In den Landhäusern versanden Gespräche über Gemeinnützigkeit, wenn die Hausfrau zum Essen bittet und der Hausherr nach dem Essen an den Spieltisch – die Kaufleute spielen leidenschaftlich und hoch, Cesars Vater gewinnt und verliert Zehntausende.

Auch die Bewegung für eine Verfassungsreform ist in Hamburg erlahmt. Napoleons Beamte hatten 1810, als Hamburg französisch wurde, Staat und Kirche, Gerichtsbarkeit und Verwaltung getrennt und Calvinisten, Juden und Katholiken die gleichen politischen Rechte wie lutherischen Bürgern gegeben. Pierre Godeffroy war Municipalrat und sein Sohn Peter Mitglied der Handelskammer. Doch auf dem Wiener Kongreß haben die Fürsten die Welt auf ihren alten Platz zurückgedreht, die alte Obrigkeit ist wieder im Amt. Godeffroys sind wieder Außenseiter, gehören nicht dazu. Juden sind ganz ausgeschlossen, christliche Religionsverwandte – Reformierte, Mennoniten – dürfen immerhin seit 1814 die Versammlungen der Bürgerschaft besuchen und sich anhören, was andere zu sagen haben. 1819 beschließt der Rat, den christlichen Religionsverwandten die Ratsfähigkeit zu geben, doch dürfen sie den Kolegien, in denen die Entscheidungen fallen, nicht angehören. Bürgerlichen Gemeingeist hält der Rat für Schwindel. Onkel Conrad lebt seit Jahren in Paris.

3.

In Cesars Kindheit sind die reichen Außenseiter an der Elbe noch weitgehend unter sich. Während der Franzosenzeit ist wenig im Grundstückshandel am Fluß geschehen – 1808 hat Salomon Heine sich einen Besitz gekauft, ein jüdischer Wechselmakler und Bankier, der zu den Herren gehört, mit denen Cesars Vater sich zum Kartenspiel trifft. Erst als Hamburg wieder frei war, sind neue Familien an die Elbe gezogen. Der Kaufmann Daniel Ross aus Schottland hat den Parthenontempel von Blacker gekauft, der Konkurs machte. 1817 ist Wilhelm Brandt gekommen, ein Niederländer, der von Archangelsk und St. Petersburg aus die Kontinentalsperre durchbrach und sich nun von seinen Schmuggelmillionen ein Säulenhaus von Hansens Neffen Matthias Hansen bauen läßt. 1819 hat der jüdische Bankier Heckscher das Haus mit dem Halbmond gekauft, als Onkel John Thornton seine Firma auflöste und ins ruhige Lübeck zog, und 1820 kaufte Etatsrat Donner, Kaufmann in Altona, das alte Sieveking-Poel-Matthiessen-Haus in Neumühlen. Die Firma Sieveking hat die Franzosenzeit nicht überlebt, Papas Freund Karl Sieveking ist Jurist geworden. Neue Namen sind also an die Elbe gekommen, doch von wenigen Ausnahmen abgesehen immer noch aus den gleichen Kreisen: Nichtlutheraner, meist Reformierte und Juden, und dänische Etats- oder Konferenzräte aus Altona.

Den deutschen Staaten im Binnenland gegenüber aber rücken Hamburger Kaufleute zusammen. Die katholische Kirche hat lange das Streben nach Gewinn verurteilt und Kaufleute verachtet, und die alte Polemik gegen Zwischenhändler, die nur die Waren verteuerten, hört nicht auf. Zwar steht im neuen Brockhaus nun Erfreuliches über Kaufleute: Dieser »Stand gehört zu den nützlichsten und nothwendigsten in jedem Staate, der zu irgend einem Nationalwohlstande gelangen will«[37]. Doch 1820 erscheint ein »Manuscript[38] aus Süd-Deutschland«, vermutlich auf Veranlassung des württembergischen Königs, in dem es heißt, das Interesse der Hansestädte als englische Faktoreien sei auf Plünderung des übrigen Deutschlands und auf die Vernichtung seiner Industrie gerichtet. Die Vorwürfe, die früher dem einzelnen Kaufmann galten, kommen nun im neuen nationalen Gewand an alle gerichtet daher, und die Absicht wird auch gleich kundgetan: Die drei Küstenstädte Hamburg, Bremen und Lübeck müßten in einen deutschen Zollverband eingeschlossen werden, denn den Kaufleuten sei Deutschlands »allgemeines Interesse«[39] fremd.

Die Hansestädter fühlen sich in ihrer staatlichen Freiheit bedroht und kontern: Sie führen die Produkte dem Verbraucher zu; die Produzenten im Binnenland kennen die Bedürfnisse der Kunden im Ausland nicht; der hanseatische Kaufmann zeige ihnen den internationalen Standard, der auf dem Weltmarkt gefragt sei.

Immer mehr Hamburger setzen Angriffen aus dem Binnenland einen Stolz auf die großen Kaufleute entgegen, die ihre Schiffe über die Ozeane schicken. Sie beginnen, mit Weitläufigkeit und Reichtum aufzutrumpfen – wie die Außenseiter an der Elbe.

Die Parkbäume wachsen heran. Das kahle Ufer verwandelt sich in eine märchenhafte Landschaft mit Ausblicken auf den Fluß und die Schiffe, die mit der Flut hereinziehen. An den Wochenenden kommen die Hamburger und staunen.

Wer Glück hat, erlebt, wie die Kanone des Konferenzrates Baur eines seiner Schiffe mit Böllerschüssen begrüßt. Der Konferenzrat hat in Blankenese einen Garten mit Kanonenberg, chinesischer Pagode und künstlicher Ruine angelegt, der seinerzeit großes Aufsehen erregte, aber nun schon etwas aus der Mode ist. Trotzdem zieht er immer noch zahlreiche Besucher an, die sonntags für vier Schilling – für die Armen – auf die Pagode klettern. Die neuesten Reiseführer empfehlen einen Besuch der prachtvollen Gartenanlagen der Brüder Cesar und Pierre Godeffroy, wo jedem anständig Gekleideten der Eintritt gegen ein Trinkgeld an die Gärtner erlaubt sei. Die Besitzer wollen zeigen, was sie geschaffen haben, und andere erfreuen, ihnen den Anblick der Schönheit gönnen, der sie moralisch bessern und zu Gott führen wird.

Die Aufgabe