Das Haus der tausend Räume - Diana Wynne Jones - E-Book
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Das Haus der tausend Räume E-Book

Diana Wynne Jones

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Beschreibung

Wer hat behauptet, dass es einfach wäre, das Haus eines Zauberers zu hüten? Zauberhaft, humorvoll und übersprudelnd vor Fantasie: der 3. Teil der Howl Saga Charmain Baker hätte es wirklich besser wissen müssen: Es kann keine einfache Aufgabe sein, das Haus eines Zauberers zu hüten! Seit sie die Tür zur scheinbar winzigen Hütte ihres Onkels geöffnet hat, stolpert Charmain von einer Katastrophe in die nächste. Ein extrem magischer streunender Hund, ein verwirrter Zauberlehrling und ein erboster Clan von kleinen blauen Kreaturen sind ihre geringsten Probleme, als der König eine wahrhaft furchterregende Zauberin zu Hilfe ruft, um einen sagenumwobenen Schatz zu finden: Denn wo die mächtige Sophie auftaucht, sind der Zauberer Howl und der Feuerdämon Calcifer nicht weit, das weiß jeder. Was Howl und Sophie allerdings schließlich entdecken, überrascht niemanden mehr als Charmain. Mit »Das Haus der tausend Räume« liegt der 3. Teil von Diana Wynne Jonesʼ humorvoller Fantasy-Reihe zum ersten Mal auf Deutsch vor. Die weiteren Bände der Howl Saga sind unter folgenden Titeln auf Deutsch erschienen: • »Das wandelnde Schloss« • »Der Palast im Himmel«

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Seitenzahl: 393

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Diana Wynne Jones

Das Haus der tausend Räume

Roman

Aus dem Englischen von Oliver Plaschka

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Charmain Baker hätte es wirklich besser wissen müssen: Es kann keine einfache Aufgabe sein, das Haus eines Zauberers zu hüten!

Seit sie die Tür zur scheinbar winzigen Hütte ihres Onkels geöffnet hat, stolpert Charmain von einer Katastrophe in die nächste. Ein magischer streunender Hund, ein verwirrter Zauberlehrling und ein erboster Clan von kleinen blauen Kreaturen sind dabei ihre geringsten Probleme, denn sie begegnet auch noch einer wahrhaft furchterregenden Zauberin, die einen sagenumwobenen Schatz sucht. Und wo die mächtige Sophie auftaucht, sind der Zauberer Howl und der Feuerdämon Calcifer nicht weit, das weiß jeder.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Leseprobe »Die verborgene Geschichte des Tom Lynn«

1. Kapitel

in dem beschlossen wird, dass Charmain als Freiwillige auf eines Zauberers Haus aufpassen soll

Charmain muss das machen, Punkt«, sagte Tante Sempronia. »Wir können Großonkel William doch nicht im Stich lassen.«

»Dein Großonkel William?«, fragte Mrs Baker. »Ist der nicht ein …« Sie senkte hüstelnd die Stimme, weil die Sache ihrer Ansicht nach etwas eher Unfeines war. »Ein Zauberer?«

»Ja sicher«, sagte Tante Sempronia. »Aber er hat da ein …« Jetzt senkte auch sie die Stimme. »Da wächst so etwas, du weißt schon, in ihm drin, und nur die Elfen können ihm helfen. Sie müssen ihn wegbringen, damit er wieder gesund wird, verstehst du, und irgendwer muss sich doch um das Haus kümmern. Zauber haben die Angewohnheit, auszubüxen, wenn man nicht auf sie aufpasst. Und ich bin ja viel zu beschäftigt dafür. Allein die Arbeit für meine Hundehilfe …«

»Ich genauso«, sagte Mrs Baker rasch. »Den Monat stehen uns die Hochzeitstortenbestellungen bis zum Hals. Gerade heute Morgen meinte Sam …«

»Dann bleibt nur Charmain«, verfügte Tante Sempronia. »Sie ist doch inzwischen sicher alt genug.«

»Äh …«, sagte Mrs Baker.

Beide schauten zur anderen Seite der Stube, wo Mrs Bakers Tochter saß, wie üblich in ein Buch vertieft; der lange, dünne Körper zu dem Sonnenlicht geneigt, das es an Mrs Bakers Geranien vorbeigeschafft hatte, das rote Haar zu einer Art Vogelnest hochgesteckt und die Brille auf der Nasenspitze. In der Hand hielt sie eine der saftigen Pasteten ihres Vaters und biss beim Lesen davon ab, wobei sie auf die Seiten krümelte und die Krümel mit der Pastete beiseitewischte, wenn sie bei der Lektüre störten.

»Äh … hast du gehört, Liebes?«, fragte Mrs Baker nervös.

»Nein«, sagte Charmain mit vollem Mund. »Was?«

»Dann wäre das ja geklärt«, sagte Tante Sempronia. »Du kannst es ihr ja dann erklären, Berenice, meine Liebe.« Sie erhob sich und schüttelte majestätisch die Falten aus ihrem steifen Seidenkleid und dann aus ihrem seidenen Sonnenschirm. »Ich hole sie morgen früh ab. Und jetzt gehe ich besser zum armen Großonkel William und sage ihm, dass Charmain sich um alles kümmert.«

Sie rauschte aus dem Zimmer, und Mrs Baker wünschte sich, die Tante ihres Mannes wäre weniger wohlhabend und herrschsüchtig. Zudem fragte sie sich, wie sie das alles Charmain erklären sollte, geschweige denn Sam. Sam erlaubte Charmain nie etwas, das nicht durch und durch ehrenwert war. Ebenso wenig wie Mrs Baker – es sei denn, Tante Sempronia hatte die Finger im Spiel.

Diese bestieg indes ihre hübsche kleine Kutsche und ließ sich von ihrem Knecht zum anderen Ende der Stadt hinausfahren, wo Großonkel William wohnte.

»Ich habe alles geklärt«, verkündete sie, während sie auf den magischen Wegen ins Arbeitszimmer segelte, wo Großonkel William bedrückt an seinem Schreibtisch saß. »Meine Großnichte Charmain kommt morgen her. Sie wird dich verabschieden und sich um dich kümmern, wenn du wiederkommst. In der Zwischenzeit passt sie aufs Haus auf.«

»Wie nett von ihr!«, sagte Großonkel William. »Das heißt dann also, sie kennt sich mit Magie gut aus?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Tante Sempronia. »Was ich aber weiß, ist, dass sie die Nase nie aus ihren Büchern nimmt, im Haushalt keinen Finger krümmt und von ihren Eltern wie ein heiliger Gegenstand behandelt wird. Es wird ihr guttun, zur Abwechslung mal etwas Normales zu machen.«

»Oje«, sagte Großonkel William. »Danke für die Warnung. Dann werde ich besser ein paar Vorkehrungen treffen.«

»Mach das«, sagte Tante Sempronia. »Und sieh am besten zu, dass genug zu essen im Haus ist. Ich habe noch nie ein Mädchen gesehen, das derart viel isst. Und trotzdem dünn wie ein Hexenbesen bleibt! Das will mir einfach nicht in den Kopf. Ich bringe sie dann morgen, ehe die Elfen kommen.«

Dann wandte sie sich um und ging. Großonkel William sandte ihrem steifen, raschelnden Rücken noch ein schwaches »Danke!« nach. »Meine Güte«, fügte er hinzu, als die Vordertür zuschlug. »Aber was will man machen? Man muss seinen Verwandten schließlich dankbar sein.«

 

Sonderbarerweise war auch Charmain Tante Sempronia durchaus dankbar. Nicht dass sie im Mindesten erfreut gewesen wäre, dass man sie als Freiwillige in die Dienste eines alten, kranken Zauberers stellte, den sie noch nie gesehen hatte. »Sie hätte mich wenigstens mal fragen können!«, erklärte sie – und das recht häufig – ihrer Mutter.

»Ich denke, sie wusste, dass du Nein sagen würdest, Liebes«, wandte Mrs Baker schließlich ein.

»Vielleicht schon.« Charmain lächelte. »Oder«, fügte sie geheimniskrämerisch hinzu, »vielleicht auch nicht.«

»Liebes, ich erwarte ja gar nicht, dass es dir Spaß macht«, sagte Mrs Baker furchtsam. »Es ist bestimmt nicht alles schön. Es wäre einfach nur wahnsinnig nett von dir …«

»Du weißt, dass ich nicht nett bin«, sagte Charmain und ging nach oben in ihr rüschchenweißes Zimmer, setzte sich an ihren feinen Tisch und starrte aus dem Fenster auf die Dächer, Türme und Schornsteine von Ober-Norland hinaus, dann auf die diesigen Berge dahinter. In Wahrheit war dies die Chance, auf die sie gehofft hatte. Sie hatte ihre ehrenwerte Schule gründlich satt und noch gründlicher ihr Zuhause, wo ihre Mutter sie behandelte wie eine Tigerin, von der niemand wusste, ob sie zahm war oder nicht, und ihr Vater ihr alles verbot, was nicht fein und sicher und gewöhnlich war. Das war ihre Chance, wegzugehen und etwas – genau das – zu tun, was Charmain sich immer gewünscht hatte. Sich dafür um das Haus eines Zauberers zu kümmern, war die Sache wert. Sie hoffte, dass sie auch den Mut aufbringen würde, den dazugehörigen Brief zu schreiben.

Ziemlich lange brachte sie keinerlei Mut auf. Sie saß bloß da und starrte die Wolken an, die sich über den Berggipfeln türmten, weiß und purpurn, in Gestalt fetter Tiere und schlanker, dahinsausender Drachen. Sie starrte, bis von den Wolken nichts als zarte Nebelschleier vor dem blauen Himmel geblieben waren. Dann sagte sie: »Jetzt oder nie.« Sie seufzte, setzte ihre Brille auf, die sie an einer Kette um den Hals trug, und nahm ihren guten Stift und ihr bestes Briefpapier zur Hand. Sie schrieb in ihrer schönsten Schrift:

Eure Majestät,

seit ich als kleines Kind zum ersten Mal von Eurer großen Bücher- und Handschriftensammlung erfuhr, verlangt es mich danach, in Eurer Bibliothek zu arbeiten. Obgleich ich weiß, dass Ihr Euch der langen und schwierigen Aufgabe, den Inhalt der Königlichen Bibliothek zu erfassen, unter Mithilfe Eurer Tochter, Ihrer Königlichen Hoheit Prinzessin Hilda, höchstpersönlich widmet, hoffe ich doch, dass Ihr meine Unterstützung vielleicht gebrauchen könnt. Da ich bereits das rechte Alter habe, möchte ich mich gern um die Stelle als Bibliotheksgehilfin bewerben. Ich hoffe, meine Bewerbung erscheint Eurer Majestät nicht zu vermessen.

Hochachtungsvoll

Charmain Baker

Kornstraße 12

Ober-Norland

Charmain lehnte sich zurück und las ihren Brief noch einmal durch. Nie und nimmer, dachte sie, konnte ein solcher Brief an den alten König etwas anderes als schiere Frechheit darstellen, aber sie war trotzdem der Ansicht, dass er ziemlich gut war. Das einzig Fragwürdige daran war das »Da ich bereits das rechte Alter habe«. Ihr war klar, dass man erst mit einundzwanzig – oder wenigstens achtzehn – volljährig war. Trotzdem fand sie, dass es nicht direkt eine Lüge war. Schließlich hatte sie nicht gesagt, wie recht ihr Alter genau war. Und sie hatte auch nicht geschrieben, dass sie immens erfahren oder qualifiziert wäre – weil sie wusste, dass dem nicht so war. Sie hatte nicht einmal behauptet, dass sie Bücher mehr als alles in der Welt liebe, obschon das absolut den Tatsachen entsprach. Sie musste sich wohl einfach darauf verlassen, dass ihre Liebe zu Büchern durchschien.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass der König den Brief einfach zerknüllen und ins Feuer werfen wird, dachte sie. Aber wenigstens habe ich es versucht.

Sie ging hinaus, warf den Brief ein und kam sich sehr kühn und trotzig dabei vor.

 

Am nächsten Morgen kam Tante Sempronia in ihrer Kutsche, um Charmain einzusammeln, dazu die schicke Teppichtasche voller Kleider, die Mrs Baker ihr gepackt hatte, und die sehr viel größere Tasche, die Mr Baker ihr gepackt hatte und die vor Pasteten und Leckerbissen, Brötchen, Kuchen und Törtchen beinahe platzte. So groß war diese zweite Tasche, und so kräftig roch sie nach köstlichen Kräutern, Soßen, Käse, Obst, Marmelade und Gewürzen, dass der Knecht, der die Kutsche lenkte, sich verblüfft umdrehte und schnüffelte. Selbst Tante Sempronias Nasenflügel blähten sich.

»Also verhungern wirst du sicher nicht, mein Kind«, sagte sie. »Fahr los!«

Doch der Knecht musste noch warten, bis Mrs Baker Charmain umarmt und gesagt hatte: »Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann, Liebes. Sei immer brav, ordentlich und vernünftig.«

Das ist eine Lüge, dachte Charmain. Sie vertraut mir kein bisschen.

Dann eilte Charmains Vater heran, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. »Wir wissen, dass du uns nicht enttäuschen wirst, Charmain.«

Noch eine Lüge, dachte Charmain. Du weißt, dass ich genau das tun werde.

»Und wir werden dich vermissen, Liebes«, sagte ihre Mutter fast in Tränen aufgelöst.

Das ist wohl keine Lüge, dachte Charmain überrascht. Ich wüsste nur zu gern, weshalb sie mich eigentlich mögen?

»Fahr los!«, sagte Tante Sempronia streng, und der Knecht gehorchte. Sobald das Pony ruhig durch die Straßen trabte, wandte sie sich an Charmain. »Ich weiß ja, dass deine Eltern dich immer nur mit dem Besten versorgt haben und du dich nie um irgendwas kümmern musstest. Bist du bereit, zur Abwechslung mal Verantwortung zu übernehmen?«

»Aber ja«, sagte Charmain aus tiefstem Herzen.

»Auch für das Haus und den armen alten Mann?«, hakte Tante Sempronia nach.

»Ich werde mein Bestes geben.« Charmain hatte Angst, dass Tante Sempronia umdrehen und sie schnurstracks zurück nach Hause fahren würde, wenn sie nicht zustimmte.

»Du hattest doch eine gute Schulbildung, oder?«

»Sogar Musikunterricht«, gab Charmain säuerlich zu, um rasch zu ergänzen: »Aber ich war nie sonderlich gut! Also erwarte bitte nicht, dass ich Großonkel William zur Beruhigung ein Lied spiele.«

»Ganz bestimmt nicht – da er ein Zauberer ist, kann er das wahrscheinlich selbst. Ich versuche lediglich zu ergründen, ob du solide magische Vorkenntnisse mitbringst. Das tust du doch, oder?«

Charmain fühlte sich, als würde ihr Magen tief nach unten rutschen und dabei das ganze Blut aus dem Gesicht mitziehen. Sie wagte nicht, einzugestehen, dass sie nicht das Geringste von Magie verstand. Ihre Eltern – insbesondere Mrs Baker – fanden Zauberei unfein. Und sie wohnten in einem derart ehrenwerten Viertel, dass Charmains Schule niemals irgendwem Zauberei beibrachte. Wenn man etwas so Vulgäres lernen wollte, musste man sich schon einen Privatlehrer suchen. Und Charmain war sich sicher, dass ihre Eltern solche Stunden nie bezahlt hätten. »Äh …«, hob sie an.

Zum Glück fuhr Tante Sempronia einfach fort. »In einem Haus voller Magie zu wohnen, ist kein Spaß, weißt du.«

»Oh, das hätte ich auch nie angenommen«, versicherte ihr Charmain.

»Gut«, sagte Tante Sempronia und ließ sich zurücksinken.

Das Pony klapperte voran. Sie klapperten über den Königsplatz, vorbei am Königlichen Palast mit seinem goldenen, in der Sonne blitzenden Dach, das sich gen Himmel reckte, und weiter zum Marktplatz, den Charmain nur selten besuchen durfte. Sehnsüchtig betrachtete sie die Stände und all die Leute, die dort plaudernd ihre Einkäufe erledigten, und schaute noch zurück, als sie schon die Altstadt erreichten. Dort waren die Häuser derart hoch und bunt und unterschiedlich – eines schien spitzere Giebel und schiefere Fenster zu haben als das andere –, dass sich in Charmain die Hoffnung regte, dass es in Großonkel Williams Haus vielleicht doch recht interessant zugehen könnte. Doch das Pony klapperte immer weiter: durch die schmuddeligen, ärmeren Viertel, dann an schlichten Hütten vorbei und schließlich hinaus auf die Felder, wo sich nur vereinzelt kleine Häuschen in den Hecken versteckten, während die imposanten Berge näher und näher rückten, bis sich eine hohe Steilwand über die Straße neigte. Charmain kam es so vor, als würden sie Ober-Norland ganz verlassen und sich in ein anderes Land begeben. Welches das wohl sein mochte? Strangia? Montalbino? Sie wünschte, sie hätte in Erdkunde besser aufgepasst.

Gerade als sie sich das wünschte, hielt der Knecht vor einem kleinen, mausgrauen Haus, das am Ende eines langen Vorgartens mit einem kleinen Eisentor saß. Bei seinem Anblick empfand Charmain tiefe Enttäuschung. Es war das langweiligste Haus, das sie jemals gesehen hatte. Beiderseits der braunen Tür war je ein Fenster, und das mausgraue Dach verlieh ihm einen mürrischen Ausdruck. Ein Obergeschoss schien es gar nicht zu geben.

»Hier wären wir«, sagte Tante Sempronia vergnügt. Sie stieg ab, stieß das klapprige Eisentörchen auf und schritt voran zum Eingang. Trübsinnig schlich Charmain ihr hinterher, während der Knecht die beiden Taschen trug. Der Garten beiderseits des Weges schien komplett aus Hortensien zu bestehen, blau, grün-blau und blasslila.

»Ich denke nicht, dass du dich um den Garten kümmern musst«, plauderte Tante Sempronia unbeschwert. Na hoffentlich nicht!, dachte Charmain. »Ich bin mir fast sicher, dass Onkel William einen Gärtner beschäftigt.«

»Ich will es hoffen«, sagte Charmain. Ihre Kenntnis von Gärten belief sich auf den Hinterhof ihrer Familie, in dem ein großer Maulbeerbaum und ein Rosenbusch wuchsen, dazu noch die Blumenkästen, in denen ihre Mutter Feuerbohnen zog. Sie wusste, dass unter den Pflanzen Erde war und dass es in der Erde Würmer gab. Sie schauderte.

An der braunen Tür klapperte Tante Sempronia lebhaft mit dem Klopfer und marschierte dann ins Haus. »Huhu!«, rief sie. »Ich habe Charmain mitgebracht!«

»Danke vielmals«, sagte Großonkel William.

Die Tür führte direkt in ein muffiges Wohnzimmer, wo Großonkel William in einem muffigen, mausgrauen Sessel saß. Daneben stand ein großer Lederkoffer, als wartete er nur auf den Aufbruch. »Schön, dich kennenzulernen, meine Liebe.«

»Guten Tag«, antwortete Charmain höflich.

Ehe irgendwer sonst etwas sagen konnte, verkündete Tante Sempronia: »Also dann, ich hab dich lieb und lass dich jetzt allein. Stell ihre Taschen da hin!«, wies sie den Knecht an. Der setzte Charmains Taschen gehorsam neben der Tür ab und ging wieder hinaus. Tante Sempronia folgte ihm so forsch nach, dass die teure Seide raschelte, und trällerte: »Auf Wiedersehen, ihr beiden!«

Dann schlug die Tür hinter ihr zu, und Charmain und Großonkel William sahen einander an.

Großonkel William war ein kleiner Mann und beinahe kahl, abgesehen von ein paar dünnen, silbrigen Strähnen, die er sich über den hochgewölbten Kopf gekämmt hatte. Seine Haltung wirkte starr, verkrümmt, zusammengesunken. Charmain nahm an, dass er eine Menge Schmerzen litt, und zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass er ihr leidtat; dennoch wünschte sie, er würde sie nicht so durchdringend ansehen. Sie kam sich ganz schuldig vor. Und die unteren Lider seiner müden blauen Augen hingen herab, sodass man das Innere sah, rot wie Blut. Charmain mochte Blut fast genauso wenig wie Regenwürmer.

»Nun, du scheinst mir ja eine sehr große, kompetente junge Dame zu sein«, sagte Großonkel William. Seine Stimme klang erschöpft und sanft. »Das rote Haar ist meiner Ansicht nach ein gutes Zeichen. Sehr gut. Denkst du, dass du hier zurechtkommst, solange ich weg bin? Ich fürchte, das Haus ist ein wenig in Unordnung.«

»Das will ich doch annehmen«, sagte Charmain. Auf sie wirkte das muffige Wohnzimmer recht aufgeräumt. »Was genau soll ich denn hier tun?« Ich hoffe mal, dass ich nicht lange hier bin, dachte sie bei sich. Sobald der König auf meinen Brief antwortet …

»Zu deiner Frage«, sagte Großonkel William. »Da wären die üblichen Haushaltsdinge, selbstverständlich, bloß magisch eben. Naturgemäß ist das meiste hier magisch. Da ich mir nicht sicher war, welchen Grad der Zauberei du schon gemeistert hast, habe ich gewisse Vorkehrungen …«

Ach du Schreck!, dachte Charmain. Er denkt wirklich, ich kenne mich mit Magie aus!

Sie wollte Großonkel William gerade unterbrechen, um ihm die Sache zu erklären, doch da wurden sie beide unterbrochen. Die Eingangstür schlug auf, und eine Prozession von großen, großen Elfen trat ruhigen Schrittes ein. Sie waren allesamt in reinstes Ärzteweiß gekleidet, und ihre schönen Gesichter zeigten nicht die leiseste Regung. Charmain starrte sie an, ganz und gar überfordert von ihrer Schönheit, ihrer Größe, ihrer Gefasstheit und vor allem ihrer völligen Lautlosigkeit. Einer von ihnen schob sie sachte beiseite. Sie blieb stehen, wo man sie hingestellt hatte, und kam sich wüst und unbeholfen vor, während die Elfen sich um Großonkel William scharten und die blendend blonden Häupter über ihn neigten. Charmain war sich nicht sicher, was sie taten, aber im Handumdrehen war Großonkel William in ein weißes Gewand gekleidet, und man hob ihn aus dem Sessel. Es machte den Anschein, als hätte man ihm drei rote Äpfel an den Kopf gesteckt. Charmain sah, dass er eingeschlafen war.

»Äh … habt ihr nicht seinen Koffer vergessen?«, fragte sie, als die Elfen ihn zur Tür trugen.

»Den wird er nicht brauchen«, sagte einer von ihnen und hielt den anderen die Tür auf, damit sie Großonkel William hinausbugsieren konnten.

Danach verschwanden sie den Gartenweg hinab. Charmain sprang zur offenen Tür und rief ihnen nach: »Wie lange wird er denn weg sein?« Plötzlich drängte es sie zu erfahren, wie lange sie eigentlich für das Haus zuständig sein würde.

»So lange wie nötig«, antwortete ein anderer Elf.

Und ehe sie das Gartentor erreichten, waren sie verschwunden.

2. Kapitel

in dem Charmain das Haus erkundet

Charmain starrte eine Weile den verlassenen Weg an. Dann knallte sie die Tür zu. »Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte sie das leere muffige Zimmer.

»Ich fürchte, du wirst die Küche putzen müssen, meine Liebe«, antwortete aus dem Nichts Großonkel Williams müde, freundliche Stimme. »Es tut mir leid, dass ich dir so viel Wäsche hinterließ. Weitere Instruktionen findest du in meinem Koffer.«

Charmain warf einen Blick auf den Koffer. Großonkel Williams hatte ihn also absichtlich hiergelassen. »Gleich«, sagte sie zum Koffer. »Ich habe selbst noch nicht ausgepackt.« Sie holte ihre beiden Taschen und marschierte mit ihnen zur einzigen anderen Tür. Diese befand sich am anderen Ende des Zimmers; und nachdem Charmain versucht hatte, sie mit der Hand zu öffnen, mit der sie ihre Essenstasche trug, dann noch einmal mit derselben Hand, aber mit beiden Taschen in der anderen, und schließlich mit beiden Händen und mit beiden Taschen auf dem Boden, stellte sich heraus, dass die Tür in die Küche führte.

Einen Moment glotzte sie einfach nur. Dann schleppte sie ihre beiden Taschen über die Schwelle, ehe die Tür sich wieder schloss, und glotzte weiter.

»Was für eine Schweinerei!«, sagte sie.

Es hätte eine gemütliche, geräumige Küche sein können. Warme Sonnenstrahlen fielen durch ein großes Fenster, das hinaus auf die Berge blickte. Unglücklicherweise lenkte das Sonnenlicht die Aufmerksamkeit auf die gewaltigen Stapel von Tellern und Tassen in der Spüle, auf dem Abtropfbrett und auf dem Boden neben der Spüle. Die Sonnenstrahlen wanderten weiter – und mit ihnen Charmains bestürzter Blick –, um ihr goldenes Licht über die beiden großen Wäschesäcke auszugießen, die an der Spüle lehnten. Sie waren so vollgestopft mit Schmutzwäsche, dass Großonkel William sie als Abstellfläche für einen Stapel dreckiger Pfannen, Töpfe und dergleichen benutzt hatte.

Charmains Augen wanderten von den Säcken zum Tisch in der Mitte des Raums. Hier schien Großonkel William seine Sammlung von ungefähr dreißig Tee- und ebenso vielen Milchkannen zu verwahren – ganz zu schweigen von den Soßenkännchen. An und für sich genommen, war ja alles durchaus liebenswert, fand Charmain, bloß sehr gedrängt und überhaupt nicht sauber.

»Schätze, er war wirklich sehr krank«, sagte sie widerwillig in den Raum hinein.

Diesmal gab es keine Antwort. Vorsichtig ging sie weiter zur Spüle – sie hatte das Gefühl, dass dort irgendetwas fehlte. Sie brauchte einen Moment, um zu merken, dass es keine Wasserhähne gab. Wahrscheinlich lag dieses Haus so weit außerhalb, dass gar keine Leitung verlegt war. Draußen vor dem Fenster konnte sie einen kleinen Hof und in der Mitte eine Pumpe erkennen.

»Ich soll also rausgehen, Wasser pumpen, es reinholen … und dann?«, fragte Charmain. Sie blickte zum dunklen, leeren Kamin. Es war Sommer, folglich gab es auch kein Feuer oder irgendwas Brennbares in Reichweite. »Ich mache Wasser heiß, vermutlich in einem dreckigen Topf, und … Da fällt mir ein: Wie soll ich mich eigentlich waschen? Kann ich denn nicht mal baden? Gibt es hier denn gar kein Schlafzimmer oder Bad?«

Sie eilte zu der kleinen Tür hinter dem Kamin und zerrte sie auf. Für alle Türen in Großonkel Willams Haus braucht man zehn Männer, um sie aufzustemmen, dachte sie ärgerlich. Fast konnte sie die Kraft der Zauber spüren, die sie geschlossen hielten. Dann bot sich ihr eine kleine Speisekammer dar. Auf den Regalen fand sich nichts als ein Butterkrug, ein alter Laib Brot und ein großer Beutel mit der mysteriösen Aufschrift Cibis Caninicus,der voller Seifenflocken zu sein schien. Und ganz hinten fand sie zwei weitere Wäschesäcke, genauso voll wie die in der Küche.

»Ich muss gleich schreien«, sagte Charmain. »Wie konnte Tante Sempronia mir das bloß antun? Wie konnte Mutter das zulassen?«

In diesem Augenblick der Verzweiflung fiel ihr als Ausweg nur das ein, was sie in Krisenmomenten immer tat: sich in Büchern zu verlieren. Sie schleppte ihre beiden Taschen zu dem vollgestellten Tisch und setzte sich auf einen der beiden Stühle. Dann öffnete sie die Schnallen der Teppichtasche, setzte sich die Brille auf die Nase und wühlte suchend in den Kleidern nach den Büchern, die sie Mutter zum Packen rausgelegt hatte.

Ihre Hände ertasteten nichts als weichen Stoff. Das einzig Harte in der Tasche stellte sich als das große Seifenstück bei ihren Waschsachen heraus. Charmain warf es durchs Zimmer in die kalte Feuerstelle und wühlte noch tiefer. »Ich fasse es einfach nicht!«, rief sie. »Sie muss sie als Erstes eingepackt haben, ganz unten.« Sie drehte die Tasche kopfüber und schüttete alles auf den Boden. Heraus fielen die sorgsam zusammengelegten Röcke, Kleider, Strümpfe, Blusen, zwei Strickjacken, Spitzenunterröcke und genug Unterwäsche für ein Jahr. Zuoberst auf den Wäschehaufen plumpsten ihre neuen Hausschuhe. Danach war die Tasche leer und platt. Trotzdem tastete Charmain das komplette Innere noch einmal ab, ehe sie die Tasche beiseitewarf, ihre Brille wieder an der Kette baumeln ließ und mit dem Gedanken spielte, einfach loszuweinen. Mrs Baker hatte doch tatsächlich vergessen, die Bücher einzupacken!

»Nun denn«, sagte sie nach einer Phase des Blinzelns und Schluckens. »Ich bin eben noch nie richtig von daheim weg gewesen. Nächstes Mal, wenn ich irgendwo hingehe, packe ich meine Tascheselbst, und zwar voll mit Büchern. Jetzt muss ich erst einmal das Beste daraus machen.«

Um das Beste daraus zu machen, wuchtete sie die zweite Tasche auf den vollgestellten Tisch. Dabei fegte sie vier Milch- und eine Teekanne zu Boden. »Und es ist mir ganz egal!«, kommentierte Charmain. Trotzdem war sie erleichtert, dass die Milchkannen sich als leer erwiesen und zwar auf dem Boden hüpften, aber nicht zerbrachen. Auch die Teekanne blieb ganz, aus ihr lief lediglich ein wenig Tee auf den Boden. »Das ist wohl der Vorteil an Magie«, überlegte Charmain und angelte verdrießlich nach der obersten Fleischpastete. Sie knüllte ihre Röcke zwischen die Knie, stützte die Ellbogen auf den Tisch und nahm als Trost einen großen, leckeren Bissen.

Etwas Kaltes, Bebendes berührte ihren nackten rechten Unterschenkel.

Charmain erstarrte, wagte es nicht einmal, zu kauen. In dieser Küche wimmelt es von großen magischen Schnecken!, dachte sie.

Das kalte Ding berührte eine andere Stelle ihres Beins. Und mit der Berührung erklang ein gehauchtes, kaum hörbares Winseln.

Ganz langsam zog Charmain Rock und Tischtuch beiseite und sah nach unten. Unter dem Tisch saß ein winzig kleiner und struppiger weißer Hund, der kläglich zu ihr aufsah und am ganzen Körper zitterte. Als er Charmains Blick gewahr wurde, hob er die ungleichen zerfransten weißen Ohren und schlug mit seinem kurzen, dürren Schwanz auf den Boden. Dann hauchte er ein weiteres Winseln hervor.

»Wer bist du denn?«, fragte Charmain. »Niemand hat mir was von einem Hund gesagt!«

Abermals ertönte Großonkel Williams Stimme aus dem Nichts. »Das ist Find. Sei bitte nett zu ihm. Er war herrenlos und scheint sich vor allem zu fürchten.«

Charmain hatte nie eine klare Meinung zu Hunden gehabt. Ihre Mutter sagte, Hunde seien schmutzig und würden beißen, und sie hätte niemals einen im Haus erlaubt, von daher war Charmain immer sehr nervös, wenn sie Hunden begegnete. Doch dieser hier war so klein. Er wirkte außerordentlich weiß und sauber. Und augenscheinlich hatte er viel mehr Angst vor Charmain als umgekehrt. Er bebte noch immer überall.

»Ach, hör doch auf zu zittern«, sagte Charmain. »Ich tu dir nichts!«

Find zitterte weiter und sah sie kläglich an.

Charmain seufzte. Sie brach ein großes Stück ihrer Pastete ab und hielt sie Find hin. »Hier«, sagte sie. »Das ist dafür, dass du keine Schnecke warst.«

Finds glänzende schwarze Nase tastete sich bebend an das Pastetenstück heran. Er schaute zu Charmain hoch, um sich zu vergewissern, dass sie es auch ernst meinte, dann nahm er das Stück ganz sachte und höflich in den Mund und aß es. Dann blickte er mit der stillen Bitte um noch etwas mehr erneut zu ihr auf. Charmain war fasziniert von seinem guten Betragen, brach ein weiteres Stück ab und dann noch eins. Am Ende teilten sie sich die Pastete.

»Das war alles«, sagte Charmain und schüttelte sich die Krümel vom Rock. »Diese Tasche muss uns eine Weile reichen, denn im Haus scheint es ja kein Essen zu geben. Jetzt zeig mir mal, was es als Nächstes zu tun gibt, Find.«

Find trottete umgehend zum Hinterausgang, wedelte mit dem dünnen Schwanz und hauchte ein ganz leises Winseln. Charmain öffnete die Tür – die genauso schwergängig war wie die anderen beiden – und folgte Find in den Hinterhof, in der Annahme, dass sie jetzt Wasser für die Spüle pumpen sollte. Find aber trottete an der Pumpe vorbei und stattdessen zu dem etwas kümmerlichen Apfelbaum. Dort hob er ein kurzes Beinchen und pinkelte an den Baumstamm.

»Verstehe«, sagte Charmain. »Aber das war, was du zu tun hattest, nicht ich. Und es sieht nicht danach aus, als ob es dem Baum gut bekommt, Find.«

Find warf ihr einen Blick zu und trottete nach hier und da, schnüffelte überall und hob sein Bein an verschiedenen Grasbüscheln. Man sah ihm an, dass er sich im Hof recht sicher fühlte. Und jetzt, als sie darüber nachdachte, erging es Charmain ebenso. Sie fühlte sich warm und aufgehoben, als ob Großonkel William einen zauberischen Schutz über den Ort gelegt hätte. Sie trat neben die Pumpe und sah über den Zaun hinweg zu den steil aufragenden Bergen. Eine sanfte Brise wehte von den Gipfeln herab und trug einen Duft von Schnee und neuen Blumen heran, der Charmain irgendwie an die Elfen erinnerte. Sie fragte sich, ob sie Großonkel William nach dort oben gebracht hatten.

Und sie brachten ihn besser bald wieder, dachte sie. Länger als ein Tag hier, und ich werde wahnsinnig!

In der Ecke neben dem Haus stand ein kleiner Schuppen. »Schaufeln wahrscheinlich und Blumentöpfe und so«, murmelte Charmain und ging ihn sich näher ansehen. Doch nachdem sie die widerspenstige Tür aufgestemmt hatte, fand sie einen großen Kupferkessel und eine Mangel und eine Feuerstelle unter dem Kessel. Sie starrte alles eine Weile an, so wie man ein seltsames Ausstellungsstück in einem Museum anstarrt, bis ihr einfiel, dass es in ihrem eigenen Hof daheim einen ähnlichen Schuppen gab. Der war ihr genauso mysteriös, weil man ihr verboten hatte hineinzugehen; doch sie wusste, dass einmal die Woche eine Wäscherin mit roten Händen und hochrotem Kopf eine Menge Dampf im Schuppen produzierte, aus dem dann rätselhafterweise saubere Kleider kamen.

Ah, eine Waschküche, dachte sie. Wahrscheinlich muss man die Wäschesäcke in den Kessel stellen und dann kochen. Aber wie? Ich fürchte, ich habe ein viel zu behütetes Leben geführt.

»Und das ist auch gut so«, sagte sie laut und dachte an die roten Hände der Wäscherin und ihr nicht minder rotes Gesicht.

Das hilft mir aber nicht beim Tellerwaschen, dachte sie. Oder mit dem Baden. Soll ich mich vielleicht selbst in dem Kessel kochen? Und wo soll ich um Himmels willen schlafen?

Sie ging zurück nach drinnen, wobei sie die Tür für Find offen ließ, vorbei an der Spüle, den Säcken mit Wäsche, dem vollgestellten Tisch und dem Haufen mit ihren Sachen. Dann zog sie die Verbindungstür am anderen Ende der Küche auf und stand wieder im muffigen Wohnzimmer.

»Das ist doch hoffnungslos!«, rief sie. »Wo sind die Schlafzimmer? Wo ist das Bad?«

Großonkel Williams müde Stimme erklang. »Um zu den Schlafzimmern und dem Bad zu gelangen, meine Liebe, wende dich nach links, sobald du die Küchentür öffnest. Und entschuldige bitte die Unordnung dort.«

Charmain blickte hinter sich durch die offene Tür in die Küche. »Ach ja? Das wollen wir doch mal sehen.« Vorsichtig lief sie rückwärts in die Küche und schloss die Tür vor ihrer Nase. Dann riss sie sie abermals auf, was den ihr schon vertrauten Aufwand erforderte, und bog entschlossen nach links in den Türrahmen ab, ehe sie Gelegenheit hatte, dies für unmöglich zu halten.

Sie fand sich in einem Flur mit einem offenen Fenster am Ende wieder. Die Brise, die durch das Fenster hereinwehte, war gesättigt vom Geruch nach Schnee und Bergblumen. Verblüfft erhaschte Charmain einen Blick auf eine grüne Wiese und die Ahnung ferner, blauer Horizonte, während sie schon den Knauf der nächsten Tür packte und mit dem Knie zustieß.

Diese Tür jedoch ließ sich recht einfach öffnen, so als würde sie häufig benutzt werden. Charmain taumelte in einen Geruch, der sie die Düfte aus dem Fenster umgehend vergessen ließ. Mit hoch erhobener Nase hielt sie inne und schnüffelte entzückt. Es war das köstliche, moderige Aroma alter Bücher. Hunderte Bücher, wie sie nun sah, als sie sich umschaute. Sie standen an allen vier Wänden auf Regalen, türmten sich auf dem Boden und stapelten sich auf dem Schreibtisch: alte, in Leder gebundene Bücher vor allem, aber auch ein paar neuere mit bunten Umschlägen. Dies war offensichtlich Großonkel Williams Arbeitszimmer.

»Oooh!«, sagte Charmain.

Sie ignorierte den Umstand, dass der Blick aus dem Fenster auf die Hortensien im Vorgarten fiel, und vertiefte sich stattdessen in die Bücher auf dem Tisch. Große, fette, duftende Bücher waren es, und manche wurden durch metallene Schließen zugehalten, als wären sie geöffnet zu gefährlich. Charmain hatte das erste Buch schon in den Händen, als ihr das schwere Blatt Papier auf dem Tisch auffiel.

»Meine liebe Charmain«, stand in zittriger Schrift darauf geschrieben, und sie ließ sich auf dem Polstersessel vor dem Tisch nieder, um den Rest zu lesen.

Meine liebe Charmain,

danke für dein liebenswertes Angebot, dich in meiner Abwesenheit um das Haus zu kümmern. Die Elfen sagen, dass ich etwa zwei Wochen lang weg sein dürfte. (Gott sei Dank!, dachte Charmain.) Oder vielleicht auch einen Monat, falls es Komplikationen gibt. (Oh.) Du musst die ganze Unordnung wirklich entschuldigen. Es geht mir schon seit einiger Zeit nicht mehr gut. Aber ich bin zuversichtlich, dass du eine findige junge Dame bist, die hier bestens zurechtkommen wird. Für den Fall der Fälle habe ich, wo immer es nötig erschien, gesprochene Anweisungen für dich hinterlassen. Du musst lediglich laut deine Frage stellen, und sie sollte beantwortet werden. Die Erklärung für komplexere Sachverhalten findest du im Koffer. Sei bitte lieb zu Find, der noch nicht lange genug bei mir ist, um sich sicher zu fühlen, und bediene dich gern bei den Büchern hier im Zimmer, abgesehen von denen auf dem Schreibtisch, die größtenteils zu mächtig und zu fortgeschritten für dich sind. (Pah. Als ob mich das kümmern würde!, dachte Charmain.) Zunächst jedoch wünsche ich dir einen angenehmen Aufenthalt und hoffe, dir schon bald persönlich danken zu können.

Herzlichst, dein angeheirateter Urgroßonkel

William Norland

»Er dürfte wirklich angeheiratet sein«, überlegte Charmain. »Eigentlich muss er Tante Sempronias Großonkel sein, und die hatte Onkel Ned geheiratet, Vaters Onkel, der jetzt aber tot ist. Wirklich schade. Ich hatte schon gehofft, ich könnte ein bisschen was von seiner Magie geerbt haben.« Dann sagte sie höflich in das leere Zimmer: »Danke vielmals, Großonkel William.«

Es gab keine Antwort. Charmain hatte auch nicht damit gerechnet. Schließlich war es keine Frage gewesen. Und so machte sie sich daran, die Bücher auf dem Tisch zu erkunden.

Das dicke Buch in ihrer Hand nannte sich Das Buch der Leere und des Nichts. Sie schlug es auf – wenig überraschend waren seine Seiten unbeschrieben. Doch sie spürte, wie sich jede einzelne von ihnen unter ihren Fingern vor lauter versteckten Zaubern wand und schnurrte. Sie legte es schnell wieder weg und nahm dafür eines namens Walls Handbuch der Astromantie. Dieses war etwas enttäuschend, da es vorwiegend Diagramme mit schwarzen, gepunkteten Linien und vielen roten Markierungen in vielfältigen Mustern enthielt, aber praktisch nichts zu lesen. Dennoch studierte Charmain es weitaus länger als erwartet. Die Diagramme mussten etwas Hypnotisches haben. Schließlich gab sie sich einen Ruck, legte es weg und widmete sich stattdessen den Weiterführenden Fundamenten der Hexerei, die sie überhaupt nicht ansprachen. Das Buch war eng bedruckt mit langen Absätzen, die meist folgendermaßen begannen: »Ausgehend von den Resultaten meines früheren Werks, sehen wir uns nun bereit, eine Erweiterung der paratypischen Phänomenologie anzugehen …«

Nein, dachte Charmain. Ich denke nicht, dass wir dazu bereit sind.

Sie legte auch diesen Wälzer beiseite und hob das schwere, kantige Buch am Rand des Tisches auf. Es nannte sich Der Almanach der Zauberey und war in einer fremden Sprache geschrieben. Wahrscheinlich in der, die sie in Ingari sprachen, vermutete Charmain. Interessanterweise hatte dieses Buch als Beschwerer für einen Stapel von Briefen gedient, Schreiben aus der ganzen Welt. Charmain nahm sich Zeit, den Stapel neugierig durchzusehen, und dabei stieg Großonkel William immer mehr in ihrer Achtung. Fast alle Briefe stammten von anderen Zauberern, die um seine Meinung zu irgendwelchen Feinheiten der Magie baten – offenkundig hielten sie ihn für einen großen Experten – oder ihm zu seinen jüngsten magischen Entdeckungen gratulierten. Praktisch alle hatten sie eine furchtbare Klaue. Charmain runzelte finster die Stirn und hielt den schlimmsten Brief mehr ins Licht.

Lieber Zauberer Norland (stand da, soweit sie es entziffern konnte),

Ihr Buch Ein guter Trick zur rechten Zeit war mir eine große Hilfe bei meiner Arbeit mit Dimensionen (oder heißt das Dementen?, fragte sich Charmain), doch ich möchte Ihre Aufmerksamkeit gern auf eine kleine Entdeckung meinerseits richten, die zu Ihrem Abschnitt über Murdochs Ohr passt (Merlins Arm? Murphys Gesetz? Ich gebe auf!, dachte Charmain). Vielleicht könnten wir uns austauschen, wenn es mich das nächste Mal nach Ober-Norland verschlägt?

Andeutungsvoll (anbetungsvoll? antibakteriell? anderenfalls? Gott, was für eine Schrift!, dachte Charmain)

Zauberer Howl Pendragon

»Meine Güte! Der schreibt wohl mit einem Schürhaken!«, sagte Charmain und sah sich den nächsten Brief an.

Dieser stammte vom König persönlich, und dessen Handschrift, obgleich altmodisch und schnörkelig, war sehr viel leichter zu lesen.

Lieber Wm (las Charmain mit wachsender Ehrfurcht und Staunen),

 

Wir haben Unsere Große Arbeit nun schon zur Hälfte vollendet und sind nicht weiser als zuvor. Wir zählen auf Sie. Es ist Unsere innige Hoffnung, dass es den Elfen, die Wir Ihnen schicken, gelingt, Ihre Gesundheit wiederherzustellen, und dass Wir schon bald erneut von Ihrem unschätzbaren Rat und Ihrer Ermutigung profitieren werden. Unsere besten Wünsche begleiten Sie.

In aufrichtiger Hoffnung

Adolphus Rex Ober-Norland

Also hatte der König diese Elfen geschickt! »Meine Güte«, murmelte Charmain und blätterte sich durch einen letzten Stapel. Jeder dieser Briefe war auf seine Weise in jemandes bester Schrift verfasst. Und alle schienen sie auf ihre Weise dasselbe zu sagen: »Bitte, Zauberer Norland, ich würde so gern Ihr Lehrling sein. Nehmen Sie mich auf?« Manche boten Großonkel William sogar Geld an. Einer wollte ihm einen magischen Diamantring schenken, und in einem weiteren Brief, wahrscheinlich von einem Mädchen, hieß es recht jämmerlich: »Ich bin zwar nicht besonders hübsch, aber meine Schwester schon, und sie sagt, sie würde Sie heiraten, wenn Sie mich ausbilden!«

Charmain schüttelte sich und sah den Rest des Stapels nur noch flüchtig durch. Die Briefe erinnerten sie so sehr an ihren eigenen Brief an den König. Und genauso nutzlos waren sie wohl auch. Es erschien ihr offensichtlich, dass ein berühmter Zauberer auf solche Briefe umgehend mit »Nein« antworten würde. Sie stapelte sie alle wieder unter dem Almanach der Zauberey und sah sich die übrigen Bücher auf dem Schreibtisch an. Weiter hinten stand eine ganze Reihe großer, dicker Bände, die alle mit Res Magica beschriftet waren. Sie nahm sich vor, sich diese später anzusehen. Zwei weitere nahm sie wahllos zur Hand. Eines hieß Mrs Pentstemmons Methode: Wegweiser zur Wahrheit, was ihr ein wenig zu moralisierend vorkam. Sie öffnete die Schließen des anderen mit den Daumen und schlug die erste Seite auf. Es handelte sich um das Buch der Palimpseste. Charmain blätterte weiter und stellte fest, dass jede Seite einen Spruch enthielt – einen eindeutigen Spruch, mit einem Titel, der erklärte, was er tat, darunter eine Liste von Ingredienzen und schließlich eine durchnummerierte Beschreibung, was man zu tun hatte.

»Das ist doch schon eher was!«, sagte Charmain und setzte sich zum Lesen hin.

Sehr viel später, während sie sich noch zu entscheiden versuchte, was sie nun nützlicher fand – »Ein Spruch, um Freund von Feind zu unterscheiden« oder »Ein Spruch, um den Geist zu erweitern« oder vielleicht sogar »Ein Spruch zum Fliegen« –, wurde sich Charmain plötzlich ihres dringenden Bedürfnisses nach einem gewissen Örtchen bewusst. Das passierte ihr öfter, wenn sie in ein Buch vertieft war. Sie sprang auf, kniff die Knie zusammen und erkannte, dass das gewisse Örtchen zusammen mit dem Bad ein Ort war, den sie noch immer nicht gefunden hatte.

»Oh, wie finde ich von hier das Bad?«, rief sie laut.

Zu ihrer Erleichterung erklang sogleich Großonkel Williams freundliche, gebrechliche Stimme. »Wende dich auf dem Flur nach links, meine Liebe, dann ist das Bad die erste Tür rechts.«

»Danke!«, keuchte Charmain und rannte los.

3. Kapitel

in dem Charmain mehrere Zauber auf einmal wirkt

Das Bad war ähnlich beruhigend wie Großonkel Williams freundliche Stimme. Es hatte alte grüne Fliesen und ein kleines Fenster, in dem eine grüne Gardine flatterte. Dazu gab es alles an Einrichtung, was Charmain von daheim kannte. Und nichts ist besser als daheim, dachte Charmain. Es gab sogar Wasserhähne und eine funktionierende Toilettenspülung. Zugegeben, Badewanne und Hähne waren merkwürdig knollenförmig, so als ob, wer auch immer sie eingebaut hatte, unentschlossen gewesen wäre, was sie eigentlich darstellen sollten; doch als Charmain die Hähne versuchsweise aufdrehte, kam kaltes und heißes Wasser, genau wie es sich gehörte, und an einer Stange unter dem Spiegel hingen warme Handtücher.

Vielleicht könnte ich ja einen dieser Wäschesäcke in die Wanne legen, überlegte Charmain. Aber wie krieg ich die Sachen dann wieder trocken?

Dem Bad gegenüber erstreckte sich entlang des Ganges eine Reihe von Türen, die sich in der Ferne verlor. Charmain stieß die erste auf, in der Annahme, dass sie ins Wohnzimmer führte. Stattdessen blickte sie in ein kleines Schlafzimmer, der Unordnung nach zu urteilen das von Großonkel William. Die weißen Decken waren vom zerwühlten Bett fast bis auf den Boden gerutscht, auf dem mehrere gestreifte Nachthemden herumlagen. Aus den Schubladen quollen Hemden, Socken und anscheinend auch lange Unterwäsche, und im offenen Kleiderschrank hing eine Art muffige Uniform. Unter dem Fenster lagen zwei weitere Säcke mit Wäsche.

Charmain stöhnte laut. »Er war wohl wirklich schon eine Weile lang krank«, sagte sie und übte sich in Nachsicht. »Aber bei allem, was recht ist, wieso muss das jetzt mein Problem sein?«

Das Bett zuckte.

Charmain fuhr herum. Das Zucken kam von Find, der es sich in einer Mulde aus Bettzeug gemütlich gemacht hatte und sich kratzend nach Flöhen absuchte. Als er Charmain entdeckte, wedelte er mit dem dünnen Schwanz und legte wimmernd die zerfransten Ohren an. Mit einem flehentlichen Winseln schaute er sie an.

»Du dürftest eigentlich gar nicht hier sein, was? Schon gut. Ich sehe doch, dass du’s gemütlich hast – und davon abgesehen will ich da ganz bestimmt nicht drin schlafen.«

Sie marschierte aus dem Zimmer und öffnete die nächste Tür. Zu ihrer Erleichterung lag dahinter ein weiteres Schlafzimmer, beinahe identisch mit dem von Großonkel William, bloß aufgeräumter. Das Bett war sauber und ordentlich gemacht, der Schrank geschlossen, und als sie in den Schubladen nachschaute, stellten sich diese als leer heraus. Charmain bedachte das Zimmer mit einem zustimmenden Nicken und öffnete die nächste Tür im Flur. Dahinter lag ein weiteres ordentliches Schlafzimmer und daneben noch eins, alle absolut identisch.

Ich breite mich in meinem Zimmer am besten erst mit meinen Sachen aus, dachte sie. Sonst finde ich es niemals wieder.

Zurück im Flur, sah sie, dass Find das Bett verlassen hatte und mit beiden Vorderpfoten an der Badezimmertür kratzte. »Da willst du nicht rein«, sagte Charmain. »Damit kannst du nichts anfangen.«

Doch irgendwie öffnete sich die Tür, noch ehe Charmain sie erreichte, und dahinter lag die Küche. Unbekümmert trottete Find hinein. Charmain stöhnte abermals. Das Chaos war nicht verschwunden – da waren das schmutzige Geschirr und die Wäschesäcke, dazu nun die Teekanne in einer Teelache und Charmains Kleider in einem Haufen neben dem Tisch, außerdem ein großes grünes Seifenstück in der Feuerstelle.

»Das hatte ich schon ganz vergessen.«

Find stützte die Vorderpfoten auf die untere Sprosse des Stuhls und richtete sich bettelnd zu seiner vollen, wenn auch sehr geringen Größe auf.

»Du hast wieder Hunger«, lautete Charmains Diagnose. »Und ich auch.«

Sie setzte sich auf den Stuhl, und Find setzte sich auf ihren linken Fuß, und sie teilten sich eine weitere Pastete. Dann teilten sie sich ein Obsttörtchen, zwei Krapfen, sechs Schokoladenbiskuits und einen Karamellpudding. Danach tapste Find recht schwerfällig zur Verbindungstür zurück, die sich ihm öffnete, kaum dass er daran kratzte. Charmain sammelte ihren Kleiderhaufen auf und folgte ihm, um ihre Sachen ins vordere freie Schlafzimmer zu legen.

Doch an dieser Stelle ging etwas ein wenig schief. Charmain stieß die Tür mit dem Ellbogen auf und wandte sich gedankenlos nach rechts. Statt im Flur mit den Schlafzimmern fand sie sich in kompletter Dunkelheit wieder. Fast augenblicklich stieß sie gegen eine weitere Tür und schlug sich den Ellbogen knallend am Türknauf an.

»Autsch!«, rief sie, tastete nach dem Knauf und öffnete die Tür.

Die Tür schwang majestätisch auf. Charmain betrat einen großen, ringsum von hohen Fenstern erhellten Raum und atmete feuchte, stickige, ledrige Luft. Der Geruch zeugte von Vernachlässigung und schien von den ältlichen Lederbezügen der antiken Stühle herzurühren, die den nicht minder antiken Holztisch umstanden, welcher den Großteil des Raums einnahm. An jedem Platz lag eine lederne Unterlage auf dem Tisch und darauf ein alter, vergilbter Bogen Löschpapier. Nur vor dem großen Stuhl am anderen Ende mit dem in die Lehne geschnitzten Wappen Ober-Norlands lag statt einer Unterlage ein kleiner, dicker Stab auf dem Tisch. Stühle, Tisch und Unterlagen waren allesamt von Staub bedeckt, und in den Winkeln der zahlreichen Fenster hingen Spinnweben.

Charmain sah sich mit großen Augen um. »Soll das vielleicht das Esszimmer sein? Wie komme ich von hier zu den Schlafzimmern?«

Großonkel Williams Stimme erklang, sehr leise, wie aus weiter Ferne. »Du bist in den Konferenzraum geraten. Wenn du dich dort befindest, hast du dich ganz schön verlaufen, meine Liebe, also pass gut auf: Dreh dich einmal im Uhrzeigersinn und öffne nur mit deiner linken Hand die Tür, während du dich weiter im Uhrzeigersinn drehst. Tritt durch die Tür und warte, bis sie sich hinter dir schließt. Dann mach zwei lange Schritte seitwärts nach links. Das bringt dich zurück neben das Bad.«

Wollen wir’s hoffen!, dachte Charmain und gab ihr Bestes, die Anweisungen zu befolgen.

Alles ging gut – bis auf den Moment der Dunkelheit, als die Tür sich hinter ihr schloss und Charmain auf einen ihr völlig unbekannten steinernen Flur hinausstarrte. Ein alter, gebeugt gehender Mann schob einen Servierwagen mit einem dampfenden silbernen Teekessel, mehreren Kännchen, Stövchen und einem Stapel Pfannkuchen vor sich her. Sie blinzelte, beschloss, dass sie weder ihr noch dem alten Mann einen Gefallen tat, wenn sie ihn ansprach, und machte stattdessen zwei lange Schritte nach links. Dann fand sie sich zu ihrer großen Erleichterung neben dem Badezimmer wieder und sah Find, der sich wieder und wieder auf Großonkel Williams Bett im Kreis drehte, um es sich bequem zu machen.

»Puh!«, sagte Charmain, ging ins benachbarte Zimmer und warf ihre Kleider auf die Kommode.

Danach lief sie den Flur hinunter zum offenen Fenster, wo sie ein paar Minuten auf die sonnenbeschienene Bergwiese hinaussah und die frische, kühle Luft einatmete. Man könnte hier problemlos rausklettern, überlegte sie – oder hinein. Doch sie nahm die Wiese gar nicht richtig wahr, auch nicht die frische Luft. Stattdessen weilten ihre Gedanken bei dem verführerischen Zauberbuch, das sie aufgeschlagen auf Großonkel Williams Schreibtisch hatte liegen lassen. Noch nie hatte ihr so viel Magie zur Verfügung gestanden. Es war schwer, da zu widerstehen. Ich schlage einfach irgendeine Seite auf und probiere den ersten Spruch, den ich finde, dachte sie. Nur einen.

Im Arbeitszimmer präsentierte das Buch der Palimpseste nun aus irgendeinem Grund den »Zauber, mit dem man einen stattlichen Prinzen findet«. Charmain schlug es kopfschüttelnd zu. »Wer braucht schon einen Prinzen?« Dann schlug sie das Buch wieder auf, wobei sie sich Mühe gab, eine andere Seite zu erwischen. Auf dieser stand: »Ein Zauber zum Fliegen.« »O ja!«, rief Charmain. »Das ist viel besser.« Sie setzte ihre Brille auf und studierte die Liste von Zutaten.

 

»Ein Blatt Papier, ein Federkiel (einfach, liegt schon beides auf dem Tisch), ein Ei (Küche?), zwei Blütenblätter – eines rosa, das andere blau –, sechs Tropfen Wasser (Bad), ein rotes Haar, ein weißes Haar und zwei Perlmuttknöpfe.«

 

»Gar kein Problem«, sagte Charmain, setzte ihre Brille ab und begab sich auf die Jagd nach den Zutaten. Sie eilte in die Küche, indem sie die Badezimmertür öffnete und nach links abbog, merkte vor lauter Aufregung aber kaum, dass sie es richtig gemacht hatte. Dort angekommen, fragte sie: »Wo finde ich Eier?«

Großonkel Williams freundliche Stimme gab zur Antwort: »Eier sind in einer Schale in der Speisekammer, meine Liebe. Ich glaube, hinter den Wäschesäcken. Es tut mir leid, dass ich dir eine solche Unordnung hinterlassen habe.«

Charmain ging in die Speisekammer, bückte sich über die Wäschesäcke und fand dort tatsächlich eine alte Tonschale mit einem halben Dutzend brauner Eier. Vorsichtig trug sie eines davon zurück ins Arbeitszimmer. Da ihre Brille wieder an der Kette baumelte, bemerkte sie nicht, dass das Buch der Palimpseste nun bei »Ein Zauber, um versteckte Schätze zu finden« aufgeschlagen war. Sie eilte weiter ans Fenster, wo die Blütenblätter einer Hortensie verfügbar waren, welche zur Hälfte rosa, zur anderen Hälfte blau waren. Sie legte die Blätter neben das Ei und rauschte ins Bad, um die sechs Tropfen Wasser in einem Zahnbecher zu sammeln. Auf dem Rückweg machte sie einen Abstecher über Großonkel Williams Schlafzimmer, wo Find zusammengerollt wie ein Baiser auf den Decken lag. »Entschuldige bitte«, sagte Charmain und fuhr ihm mit den Fingern über den zerzausten Rücken. Dabei angelte sie gleich mehrere weiße Haare, von denen sie eins neben die Blütenblätter legte, zusammen mit einem roten von ihrem eigenen Kopf. Was die Perlmuttknöpfe betraf, so riss sie sich einfach zwei von der Bluse.

»Also dann«, sagte sie und setzte begierig die Brille wieder auf, um die Anweisungen zu studieren. Das Buch der Palimpseste