Das wandelnde Schloss - Diana Wynne Jones - E-Book
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Das wandelnde Schloss E-Book

Diana Wynne Jones

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Beschreibung

Nach "Fauler Zauber" ein weiterer Fantasy-Klassiker von Diana Wynne Jones im neuen Gewand Die Romanvorlage für "Das wandelnde Schloss", verfilmt von Oscar-Preisträger Hayao Miyazaki. Sophie hat das große Unglück, die älteste von drei Töchtern zu sein. Jeder in Ingari weiß, dass die Älteste dazu bestimmt ist, kläglich zu versagen, sollte sie jemals ihr Zuhause verlassen, um ihr Glück zu suchen. Und so geschieht, was geschehen muss: Sophie zieht den Zorn einer Hexe auf sich und wird verflucht. Ihre einzige Rettung liegt im wandelnden Schloss. Dort wohnt der mächtige, aber herzlose Zauberer Howl, der sie von ihrem Fluch erlösen könnte. Wenn Sophie ihm nur davon erzählen könnte, doch das verhindert der Zauber, der auf ihr liegt. Also wird Sophie die Hausdame des wandelnden Schlosses und versucht zwischen zynischen Feuerdämonen und magischen Welten, ihre alte Gestalt zurückzuerlangen. Der Klassiker des Fantasy-Urgesteins Diana Wynne Jones in Neuausstattung

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Seitenzahl: 420

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Diana Wynne Jones

Das wandelnde Schloss

Roman

Aus dem Englischen von Gabriele Haefs

Knaur e-books

Über dieses Buch

Sophie hat das große Unglück, die älteste von drei Töchtern zu sein. Jeder in Ingari weiß, dass die Älteste dazu bestimmt ist, kläglich zu versagen, sollte sie jemals ihr Zuhause verlassen, um ihr Glück zu suchen. Und so geschieht, was geschehen muss: Sophie zieht den Zorn einer Hexe auf sich und wird verflucht. Ihre einzige Rettung liegt im wandelnden Schloss. Dort wohnt der mächtige, aber herzlose Zauberer Howl, der sie von ihrem Fluch erlösen könnte. Wenn Sophie ihm nur davon erzählen könnte, doch das verhindert der Zauber, der auf ihr liegt.

Also wird Sophie die Hausdame des wandelnden Schlosses und versucht zwischen zynischen Feuerdämonen und magischen Welten, ihre alte Gestalt zurückzuerlangen.

Inhaltsübersicht

WidmungDank1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. KapitelCalcifers LiedLeseprobe »Der Palast im Himmel«
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Dieses Buch ist für Stephen.

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Die Idee zu diesem Buch bekam ich von einem Jungen bei einer Schullesung. Er schlug vor, ich sollte ein Buch namens »The Moving Castle« schreiben.

 

Ich hatte mir seinen Namen notiert und den Zettel an einem so sicheren Ort aufbewahrt, dass ich ihn seither nicht mehr wiederfinden kann.

 

Ich möchte mich bei ihm ganz herzlich bedanken.

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1. Kapitel

in dem Sophie mit Hüten spricht

Im Lande Ingari, wo es Dinge wie Siebenmeilenstiefel und Tarnkappen wirklich gibt, gilt es als großes Pech, als ältestes von drei Geschwistern geboren zu werden. Denn wie jedermann weiß, versagt das älteste Kind als erstes und am schlimmsten, wenn die drei sich aufmachen, um ihr Glück zu suchen.

Sophie Hatter war die älteste von drei Schwestern. Wäre sie das Kind eines armen Holzfällers gewesen, hätte sie vielleicht doch Hoffnung auf Erfolg haben können, aber das war sie nicht. Ihr Vater war wohlhabend und betrieb im reichen Ort Market Chipping einen Laden für Damenhüte. Sophies Mutter war gestorben, als Sophie erst zwei und ihre Schwester Lettie ein Jahr alt gewesen waren, und ihr Vater hatte seine jüngste Verkäuferin geheiratet, ein hübsches blondes Mädchen namens Fanny. Bald darauf brachte Fanny die dritte Schwester zur Welt, Martha. Damit hätten Sophie und Lettie eigentlich zu bösen und hässlichen Stiefschwestern werden müssen, aber alle drei Mädchen waren äußerst hübsch, wobei Lettie allgemein als die Schönste galt. Fanny war zu allen gleich liebevoll und zog Martha in keiner Weise vor.

Mr Hatter war stolz auf seine drei Töchter und schickte sie auf die besten Schulen der Stadt. Sophie lernte am eifrigsten. Sie las sehr viel und erkannte bald, wie gering ihre Aussicht auf eine interessante Zukunft war. Das war zwar eine Enttäuschung, aber sie war trotzdem recht zufrieden mit ihrem Leben. Sie kümmerte sich um ihre Schwestern und bereitete Martha darauf vor, dereinst auszuziehen und ihr Glück zu suchen. Da Fanny immer im Laden zu tun hatte, musste Sophie auf die jüngeren Schwestern aufpassen. Zwischen den beiden kam es immer wieder zu lauten Streitereien, bei denen sie sich gegenseitig an den Haaren zogen. Lettie wollte sich durchaus nicht damit abfinden, nach Sophie diejenige mit den geringsten Erfolgsaussichten zu sein.

»Das ist nicht fair!«, schrie Lettie oft. »Warum kriegt Martha das Beste, nur weil sie die Jüngste ist? Ich werde einen Prinzen heiraten, da habt ihr’s!«

Worauf Martha antwortete, dass sie widerlich reich werden wollte, ohne dafür irgendwen heiraten zu müssen.

Sophie musste die beiden dann immer trennen und ihre Kleider flicken. Mit der Nadel besaß sie großes Geschick. Später nähte sie für ihre Schwestern auch Kleider. Für den letzten Maifeiertag vor dem eigentlichen Beginn unserer Geschichte nähte sie für Lettie ein tiefrosa Kleid, das laut Fanny aussah, als stamme es aus dem teuersten Laden in ganz Kingsbury.

Um diese Zeit fing alle Welt an, wieder über die Hexe der Wüste zu reden. Es hieß, die Hexe habe der Königstochter den Tod angedroht und der König habe seinen Leibzauberer, den Hexenmeister Suliman, in die Wüste geschickt, wo er sich die Hexe vorknöpfen sollte. Aber offenbar hatte Hexenmeister Suliman es nicht nur nicht geschafft, sich die Hexe vorzuknöpfen, er hatte sich zu allem Überfluss auch noch von ihr umbringen lassen.

Als dann einige Monate später auf den Hügeln oberhalb von Market Chipping plötzlich ein hohes schwarzes Schloss auftauchte, aus dessen vier dünnen, hohen Türmen schwarze Rauchwolken quollen, ging alle Welt davon aus, dass die Hexe die Wüste wieder verlassen hatte, um wie vor fünfzig Jahren das ganze Land zu terrorisieren. Deshalb hatten alle schreckliche Angst. Niemand wagte sich allein aus dem Haus, schon gar nicht nachts. Was die Sache noch unheimlicher machte, war, dass das Schloss nicht an derselben Stelle blieb. Manchmal bildete es einen langen schwarzen Fleck über den Mooren im Nordwesten, manchmal ragte es über den Felsen im Osten auf, und manchmal kam es einfach die Hügel herab, um sich gleich hinter dem letzten Hof im Norden auf der Heide häuslich niederzulassen. Manchmal konnte man sogar sehen, wie es sich bewegte und wie die Türme dabei schmutzig graue Rauchfetzen ausstießen. Eine Zeit lang herrschte die Überzeugung, dass das Schloss bald ins Tal herunterkommen würde, und der Bürgermeister sprach schon davon, dass er den König um Hilfe bitten wollte.

Aber das Schloss trieb sich weiterhin in den Hügeln herum, und schließlich kam heraus, dass es nicht der Hexe gehörte, sondern dem Zauberer Howl. Und der war schlimm genug. Obwohl dieser offenbar nicht vorhatte, die Hügel zu verlassen, war doch allgemein bekannt, dass er leidenschaftlich gerne junge Mädchen sammelte, um ihnen die Seele auszusaugen. Manche behaupteten auch, er verzehre ihre Herzen. Er war ein durch und durch kaltblütiger und herzloser Zauberer, und kein junges Mädchen war vor ihm sicher, wenn es ihm allein über den Weg lief. Sophie, Lettie und Martha wurde, wie allen anderen jungen Mädchen in Market Chipping, eingeschärft, dass sie niemals allein aus dem Haus gehen durften, was sie schrecklich ärgerte. Sie hätten gern gewusst, was Zauberer Howl mit all seinen gesammelten Seelen machte.

Schon bald hatten sie jedoch ganz andere Sorgen, denn Mr Hatter starb plötzlich, gerade als Sophie alt genug war, um von der Schule abzugehen. Und dann kam heraus, dass Mr Hatter viel zu stolz auf seine Töchter gewesen war. Die Schulgebühren, die er bezahlt hatte, hatten dem Hutladen eine große Schuldenlast beschert. Nach der Beerdigung setzte Fanny sich ins Wohnzimmer und erklärte den Mädchen die missliche Lage.

»Ihr könnt alle drei nicht mehr zur Schule gehen, fürchte ich«, sagte sie. »Ich habe kreuz und quer und vor und zurück alles durchgerechnet, aber ich kann den Laden nur behalten und mich zugleich um euch kümmern, wenn ich euch alle drei irgendwo in die Lehre gebe. Ihr könnt nicht alle hier im Laden bleiben. Das kann ich mir nicht leisten. Also habe ich Folgendes beschlossen: Als Erstes Lettie …«

Lettie schaute auf. Sie strotzte vor Gesundheit und Schönheit, und nicht einmal Trauer und schwarze Kleider konnten das überdecken. »Ich möchte weiter lernen«, sagte sie.

»Das wirst du auch, Liebes«, sagte Fanny. »Du kommst in die Lehre zu Cesari, dem Zuckerbäcker am Marktplatz. Der ist dafür berühmt, dass die Lehrlinge wie Könige und Königinnen behandelt werden, also wirst du dich da sicher sehr wohlfühlen und dabei auch noch ein nützliches Handwerk lernen. Mrs Cesari ist eine gute Kundin und eine gute Freundin, und sie hat sich bereit erklärt, dich aufzunehmen, um mir einen Gefallen zu tun.«

Lettie lachte auf eine Weise, die verriet, dass diese Lösung ihr durchaus nicht passte. »Na, danke«, sagte sie. »Was für ein Glück, dass ich gern koche, was?«

Fanny machte trotzdem ein erleichtertes Gesicht. Lettie konnte bisweilen unangenehm starrköpfig sein. »Und jetzt zu Martha«, sagte sie dann. »Ich weiß, dass du viel zu jung bist, um arbeiten zu gehen, und deshalb habe ich mir den Kopf zerbrochen, dass ich dir eine lange, geruhsame Lehre finde, die dir nützen wird, egal, was du danach machen willst. Du erinnerst dich doch an meine alte Schulfreundin Annabel Fairfax?«

Martha, die schlank und blond war, richtete ihre großen grauen Augen auf fast so starrköpfige Weise auf Fanny wie zuvor Lettie. »Du meinst die, die so viel redet«, sagte sie. »Ist das nicht eine Hexe?«

»Ja, und sie hat ein wunderschönes Haus und überall im Folding Valley Kundschaft«, sagte Fanny eifrig. »Sie ist eine liebe Frau, Martha. Sie wird dir alles beibringen, was sie weiß, und wahrscheinlich wird sie dich auch den feinen Leuten vorstellen, die sie in Kingsbury kennt. Wenn du bei ihr fertig bist, werden dir sämtliche Türen offen stehen.«

»Sie ist wirklich nett«, gab Martha zu. »Na gut.«

Sophie hatte beim Zuhören das Gefühl, dass Fanny alles ganz richtig gemacht hatte. Lettie konnte als zweite Tochter nicht viel vom Leben erwarten, und deshalb hatte Fanny ihr eine Lehrstelle gesucht, bei der sie einen gut aussehenden jungen Lehrling kennenlernen und glücklich bis ans Ende ihrer Tage sein konnte. Martha, die irgendwann losziehen und ihr Glück suchen musste, hätte dann Zauberei und reiche Freunde zu ihrer Verfügung. Was Sophie selbst anging, so wusste sie genau, was auf sie zukam. Es war also keine Überraschung für sie, als Fanny sagte: »Und du, liebe Sophie, was dich betrifft, so finde ich es nur recht und billig, dass du den Hutladen erbst, wenn ich in Pension gehe, schließlich bist du die Älteste. Deshalb werde ich dich selbst in die Lehre nehmen, damit du dich mit dem Handwerk vertraut machen kannst. Was sagst du dazu?«

Sophie konnte schlecht sagen, dass ihr ja kaum etwas anderes übrig blieb. Deshalb dankte sie Fanny herzlich.

»Damit ist alles abgemacht«, sagte Fanny.

Am nächsten Tag half Sophie Martha, ihre Kleider in einen Karton zu packen, und am folgenden Morgen winkten ihr alle hinterher, als sie auf dem Wagen des Fuhrmanns davonfuhr. Sie sah klein und aufrecht und ängstlich aus. Denn der Weg nach Upper Folding, wo Mrs Fairfax lebte, führte durch die Hügel und vorbei an dem fliegenden Schloss von Zauberer Howl. Es war also kein Wunder, dass Martha sich fürchtete.

»Der passiert schon nichts«, sagte Lettie. Lettie wollte sich beim Packen nicht helfen lassen. Als der Wagen des Fuhrmanns nicht mehr zu sehen war, stopfte Lettie ihr gesamtes Hab und Gut in einen Bettbezug und bezahlte dem Laufburschen des Nachbarn sechs Pence dafür, dass er ihn in einer Schubkarre zur Bäckerei Cesari am Marktplatz brachte.

Lettie marschierte hinter der Schubkarre her und sah viel fröhlicher aus, als Sophie erwartet hatte. Sie schien den Staub des Hutladens regelrecht von ihren Füßen zu schütteln.

Der Laufbursche brachte eine von Lettie gekritzelte Nachricht zurück, dass Lettie sich im Schlafsaal der Mädchen eingerichtet hatte und dass es bei Cesaris lustig zuging. Eine Woche darauf brachte der Fuhrmann einen Brief von Martha, in dem es hieß, dass Martha heil angekommen war und dass Mrs Fairfax »ein totaler Schatz ist, die zu allem Honig nimmt. Sie hat Bienen.« Für lange Zeit war das alles, was Sophie von ihren Schwestern hörte, denn an dem Tag, an dem Martha und Lettie das Haus verlassen hatten, trat sie ihre eigene Lehre an.

Natürlich kannte Sophie die Hutmacherei bereits ziemlich gut. Schon als kleines Kind war sie in der großen Werkstatt im Hinterhof ein und aus gelaufen. Dort wurden die Hüte gedämpft und auf Holzrahmen geformt, und aus Wachs und Seide wurden Blumen, Früchte und andere Verzierungen hergestellt. Sophie kannte die Leute, die dort arbeiteten. Die meisten waren schon dort gewesen, als ihr Vater noch ein Junge gewesen war. Sie kannte Bessie, die einzige verbliebene Verkäuferin. Sie kannte die Kundinnen, die die Hüte kauften, und den Fuhrmann, der unbearbeitete Strohhüte vom Land holte, damit sie auf den Holzrahmen geformt werden konnten. Sie kannte die anderen Lieferanten und wusste, wie Filzhüte für den Winter hergestellt wurden. Es gab wirklich nicht viel, was Fanny ihr noch beibringen konnte, außer vielleicht, wie man eine Kundin zu einem Hutkauf überredet.

»Ganz allmählich führst du sie zu dem passenden Hut, Herzchen«, sagte Fanny. »Zeig ihnen erst Hüte, die nicht so ganz infrage kommen, damit sie den Unterschied merken, sobald sie den richtigen Hut aufsetzen.«

Aber in Wirklichkeit verkaufte Sophie nur selten etwas. Nachdem sie einen oder zwei Tage in der Werkstatt zugesehen und mit Fanny die Lieferanten für Tuch und Seide besucht hatte, saß Sophie nur noch in einem kleinen Alkoven hinten im Laden und nähte Rosen auf Hauben und Schleier an Velourshüte, befestigte seidene Borten und fertigte elegante Arrangements aus Wachsfrüchten und Bändern an. Das machte sie gut. Die Arbeit gefiel ihr. Aber sie fühlte sich einsam und fand ihr Leben ein wenig langweilig. Die Leute in der Werkstatt waren zu alt, um mit ihnen Spaß zu haben, und außerdem behandelten sie sie nicht wie ihresgleichen. Schließlich würde Sophie eines Tages den Laden erben. Auch Bessie verhielt sich so. Sie sprach ohnehin nur von dem Bauern, den sie nach dem Maifeiertag heiraten wollte. Sophie beneidete Fanny sehr, denn die konnte jederzeit losziehen, um mit dem Seidenhändler über die Preise zu sprechen.

Das Interessanteste an der Arbeit waren die Gespräche mit den Kundinnen. Niemand kann einen Hut kaufen, ohne dabei zu klatschen. Während Sophie in ihrem Alkoven saß und nähte, hörte sie, dass der Bürgermeister niemals grünes Gemüse aß und dass das Schloss von Zauberer Howl schon wieder zu den Klippen geflogen sei, also wirklich, dieser Kerl, flüster, flüster, flüster … immer wenn die Rede auf Zauberer Howl kam, wurden die Stimmen gesenkt, aber Sophie bekam trotzdem mit, dass er im vergangenen Monat unten im Tal ein Mädchen eingefangen hatte. »Blaubart«, tuschelten die Flüsterstimmen, und dann schwollen sie wieder zu normalen Stimmen an, die verkündeten, dass Jane Farriers Frisur einfach eine Schande sei. Die würde ja nicht einmal Zauberer Howl bezirzen können, von einem ehrenwerten Mann ganz zu schweigen. Und dann wurde kurz und ängstlich etwas über die Hexe der Wüste geraunt. Nach und nach kam Sophie zu der Überzeugung, dass Zauberer Howl und die Hexe der Wüste sich zusammentun sollten.

»Die sind wie füreinander geschaffen. Irgendwer sollte eine Ehe arrangieren«, teilte sie dem Hut mit, den sie gerade verzierte.

Aber gegen Ende des Monats drehte sich der Klatsch im Laden plötzlich nur noch um Lettie. Die Bäckerei Cesari war offenbar von früh bis spät von Herren gefüllt, die massenhaft Kuchen kauften und nur von Lettie bedient werden wollten. Sie hatte schon zehn Heiratsanträge bekommen, vom Sohn des Bürgermeisters bis hin zum Straßenkehrer, und sie hatte alle abgewiesen, mit der Begründung, sie sei noch zu jung, um sich zu entscheiden.

»Das nenne ich mal vernünftig«, sagte Sophie zu einer Haube, in die sie gerade ein Seidenband einflocht.

Fanny hörte diese Nachrichten gern. »Ich hab ja gewusst, dass es das Richtige für sie ist!«, sagte sie. Sophie hatte das Gefühl, dass Fanny sich darüber freute, dass Lettie aus dem Haus war.

»Lettie ist nicht gut für die Kundschaft«, erzählte sie der Haube und flocht weiter die champignonbraune Seide. »An ihr würdest sogar du sensationell aussehen, du schäbiger Deckel. Die Damen, die Lettie anschauen, verzweifeln.«

Im Laufe der Wochen redete Sophie immer häufiger mit Hüten. Sie hatte ja sonst niemanden, mit dem sie sprechen konnte. Fanny besuchte die Lieferanten oder versuchte, Kundschaft in den Laden zu locken, und Bessie musste bedienen und aller Welt von ihren Hochzeitsplänen erzählen. Sophie machte es sich zur Gewohnheit, jeden fertigen Hut auf ein Gestell zu setzen, wo er fast wie ein Kopf ohne Körper aussah. In den Pausen erzählte sie dem Hut dann, welcher Körper unter ihn gehörte. Sie schmeichelte den Hüten ein wenig, weil es sich immer empfiehlt, der Kundschaft um den Bart zu gehen.

»Du hast eine geheimnisvolle Anziehungskraft«, teilte sie einem Hut mit, aus dessen vielen Schleiern es verborgen herausfunkelte. Einem breiten, cremefarbenen Hut mit Rosen unter der Krempe sagte sie: »Du wirst Geld heiraten müssen«, während ein raupengrüner Strohhut mit geschwungener grüner Feder sich anhören musste: »Du bist so jung wie ein Frühlingsblatt.« Sie teilte rosa Hauben mit, sie besäßen Charme mit Grübchen in den Wangen, und eleganten Hüten mit Samtverzierungen, sie seien geistreich. Zu der Haube mit dem Pilzband sagte sie: »Du hast ein goldenes Herz, und eine hoch stehende Persönlichkeit wird das erkennen und sich in dich verlieben.« Das sagte sie, weil gerade diese Haube ihr leidtat. Sie sah so hausbacken und schlicht aus.

Am nächsten Tag kam Jane Farrier in den Laden und kaufte sie. Ihre Frisur war wirklich ein wenig seltsam, dachte Sophie, die aus ihrem Alkoven lugte. Als habe Jane ihre Haare um eine Reihe von Schürhaken gewickelt. Sophie fand es schade, dass Jane sich diese Haube ausgesucht hatte. Aber alle Welt schien sich um diese Zeit Hüte und Hauben zuzulegen. Vielleicht lag es an Fannys Überredungskünsten oder am nahenden Frühling, jedenfalls erlebte der Huthandel ganz deutlich einen Aufschwung. Fanny sagte jetzt einige Male mit einem Anflug von schlechtem Gewissen: »Vielleicht hätten wir es nicht so eilig damit haben sollen, Martha und Lettie wegzugeben. Wenn die Geschäfte so weitergehen, könnte es für uns alle reichen.«

Als der Maifeiertag näher rückte, kam so viel Kundschaft, dass Sophie ein züchtiges graues Kleid anziehen und ebenfalls im Laden aushelfen musste. Aber die Nachfrage war so groß, dass sie zwischendurch immer wieder neue Hüte dekorieren musste, und jeden Abend nahm sie einige mit hinüber in das Haus nebenan, wo sie bis tief in die Nacht hinein bei Lampenlicht arbeitete, um auch am nächsten Tag noch Ware anbieten zu können. Raupengrüne Hüte wie der, den die Frau des Bürgermeisters trug, waren sehr gefragt, ebenso wie rosa Hauben. In der Woche vor dem Maifeiertag kam eine Kundin in den Laden und bat um eine Haube mit Pilzplissee, wie die, die Jane Farrier getragen hatte, als sie mit dem Grafen von Catterack durchgebrannt war.

Als Sophie an diesem Abend über ihrer Näharbeit saß, musste sie sich eingestehen, dass ihr Leben ziemlich öde war. Statt mit den Hüten zu reden, probierte sie sie an, wenn sie fertig waren, und schaute dabei in den Spiegel. Das war ein Fehler. Das bescheidene graue Kleid stand Sophie nicht, vor allem nicht, wenn ihre Augen vor Müdigkeit rot waren, und da ihr Haar eine rötliche Strohfarbe aufwies, schmeichelten ihr weder Raupengrün noch Rosa. Mit der Pilzplisseehaube sah sie einfach nur verhärmt aus. »Wie eine alte Jungfer!«, sagte Sophie. Nicht, dass sie gern mit einem Grafen durchgebrannt wäre wie Jane Farrier oder von der halben Stadt Heiratsanträge gewollt hätte, so wie Lettie. Sie wollte etwas erleben, sie wusste nicht so recht, was – aber etwas Interessanteres, als immer nur Hüte zu verzieren. Sie nahm sich vor, sich am nächsten Tag die Zeit für einen Besuch bei Lettie zu nehmen.

Aber dann ging sie doch nicht. Entweder fehlte die Zeit oder ihr fehlte die Energie oder es war ein zu weiter Weg bis zum Marktplatz. Oder ihr fiel ein, dass ihr, wenn sie allein war, der Zauberer Howl gefährlich werden könnte – jedenfalls erschien es ihr mit jedem Tag schwieriger, diesen Besuch bei ihrer Schwester zu machen. Das war wirklich seltsam. Sophie hatte sich immer für ähnlich dickköpfig wie Lettie gehalten. Aber jetzt stellte sie fest, dass sie einige Dinge nur dann tun konnte, wenn es wirklich keine Ausreden mehr gab. »Das ist absurd«, sagte Sophie. »Der Marktplatz ist nur zwei Straßen weiter. Wenn ich renne …« Und dann schwor sie sich, in die Bäckerei zu gehen, wenn der Hutladen am Maifeiertag geschlossen hatte.

Inzwischen wurde neuer Klatsch in den Laden getragen. Der König hatte sich mit seinem Bruder, Prinz Justin, zerstritten, hieß es, worauf der Prinz sich ins Exil begeben hatte. Den Grund für diesen Streit kannte niemand so recht, aber der Prinz war einige Monate zuvor verkleidet durch Market Chipping gereist, und niemand hatte es gewusst. Der Graf von Catterack war vom König losgeschickt worden, den Prinzen zu suchen, und dabei war ihm Jane Farrier über den Weg gelaufen. Sophie hörte sich das alles an und wurde traurig. So viele interessante Dinge passierten, aber sie passierten nur den anderen. Immerhin war es ganz nett, dass sie Lettie sehen würde.

Der Maifeiertag kam. Vom Morgengrauen an herrschte ausgelassene Stimmung auf den Straßen. Fanny ging früh aus dem Haus, aber Sophie musste noch einige Hüte fertig machen. Sie sang bei der Arbeit. Schließlich arbeitete auch Lettie. An Feiertagen hatte die Bäckerei bis Mitternacht geöffnet. »Ich werde mir ein Stück Sahnetorte kaufen«, entschied Sophie. »Ich hab schon seit einer Ewigkeit keine mehr gegessen.« Sie sah, wie sich Leute in Sonntagskleidern am Ladenfenster vorbeidrängten, manche verkauften Andenken oder liefen auf Stelzen, und Sophie fand das alles sehr aufregend.

Aber als sie dann endlich ein graues Tuch über ihr graues Kleid warf und hinaus auf die Straße ging, war Sophie nicht mehr aufgeregt. Sie war überfordert. Viel zu viele Leute eilten vorbei, sie lachten und riefen, es war zu laut, zu viel Geschiebe.

Sophie hatte das Gefühl, dass die vergangenen Monate, in denen sie über ihrer Näharbeit gesessen hatte, sie zu einer alten Frau oder einer Halbinvaliden gemacht hatten. Sie zog ihr Tuch fester um sich und drückte sich eng an die Hauswände, um nicht von den Sonntagsschuhen der Leute getreten oder von Ellbogen in herunterhängenden Seidenärmeln angestoßen zu werden. Als sie dann plötzlich von irgendwo oben eine Salve von Schüssen hörte, glaubte Sophie, in Ohnmacht fallen zu müssen. Sie schaute hoch und sah das Schloss vom Zauberer Howl auf dem Hügel oberhalb der Stadt, so nah, dass es auf den Hausdächern zu hocken schien. Flammen loderten aus allen vier Schlosstürmen und schleuderten blaue Feuerkugeln hoch, die in der Luft mit schrecklichem Lärm explodierten. Zauberer Howl schien sich durch die Maifeiern beleidigt zu fühlen. Oder vielleicht wollte er sich auf seine Weise daran beteiligen. Sophie hatte zu große Angst, sich darüber Gedanken zu machen. Sie wäre beinahe wieder nach Hause gegangen, aber nun war sie schon auf halbem Weg zur Bäckerei. Deshalb nahm sie die Beine in die Hand.

»Wie konnte ich mir nur ein interessantes Leben wünschen?«, fragte sie sich im Laufen. »Ich hätte doch viel zu große Angst. Das kommt davon, dass ich die Älteste von drei Geschwistern bin.«

Als sie den Marktplatz erreichte, wurde alles noch schlimmer. An diesem Platz lagen die meisten Wirtshäuser. Scharen von jungen Männern in Umhängen und mit langen Ärmeln stolzierten bierselig herum und stampften mit ihren Schnallenstiefeln auf, die sie an einem Arbeitstag nicht im Traum angezogen hätten. Sie grölten laut und quatschten Mädchen an. Die Mädchen in ihren Sonntagskleidern spazierten paarweise herum und wollten gerne angequatscht werden. An einem Maifeiertag war das ganz normal, aber Sophie fürchtete sich auch hier. Und als ein junger Mann in einem fantastischen blauen und silbernen Anzug sie entdeckte und auch sie anquatschen wollte, zog Sophie sich in den Eingang eines Ladens zurück und versuchte, sich zu verstecken.

Der junge Mann musterte sie überrascht. »Ist schon gut, kleine graue Maus«, sagte er und lachte einigermaßen mitleidig. »Ich wollte dich doch nur zu einem Glas einladen. Mach nicht so ein ängstliches Gesicht.«

Angesichts des mitleidigen Blicks schämte Sophie sich fürchterlich. Der Mann war aber auch eine umwerfende Erscheinung – mit einem hageren, vornehmen Gesicht. Er war schon etwas älter, bestimmt über zwanzig, und hatte sorgfältig frisierte blonde Haare. Seine Ärmel hingen tiefer als alle anderen auf dem Platz, ihre Ränder waren reich verziert, und sie waren mit Silber gefüttert.

»Ach nein, danke, bitte nicht, Sir«, stammelte Sophie. »Ich – ich will meine Schwester besuchen.«

»Dann solltest du das unbedingt tun«, lachte der vornehme junge Mann. »Wer bin ich, dass ich eine hübsche Dame von ihrer Schwester fernhalten würde? Soll ich dich begleiten, wo du doch solche Angst hast?«

Das war nett gemeint, weshalb Sophie sich umso mehr schämte. »Nein. Nein, danke, Sir«, keuchte sie und floh an ihm vorbei. Er benutzte offenbar Parfüm. Der Duft von Hyazinthen begleitete sie auf ihrer Flucht. Was für ein eleganter Mann!, dachte Sophie, als sie sich zwischen den kleinen Tischen hindurchdrängte, die vor der Bäckerei aufgestellt waren.

Die Tische waren voll besetzt. Der Laden war genauso überfüllt und laut wie der Platz. Sophie entdeckte Lettie zwischen den vielen Verkäuferinnen hinter dem Tresen, weil eine Gruppe von Bauernsöhnen dort ihre Ellbogen aufstemmte und ihr Komplimente zubrüllte. Lettie, hübscher denn je und vielleicht ein bisschen dünner, steckte, so schnell sie konnte, Kuchen in Tüten, drehte jede Tüte mit einer knappen, geschickten Handbewegung zu, und jedes Mal schaute sie sich mit einem Lächeln und einer netten Antwort um. Es wurde viel gelacht. Sophie musste sich ihren Weg zum Tresen erkämpfen.

Lettie bemerkte sie. Für einen Moment wirkte sie entsetzt. Dann wurden ihre Augen groß und ihr Lächeln breit, und sie rief: »Sophie!«

»Kann ich mit dir reden?«, brüllte Sophie. »Irgendwo«, schrie sie ein wenig hilflos, während ein breiter, elegant gekleideter Ellbogen sie vom Tresen zurückstieß.

»Moment noch«, schrie Lettie zurück. Sie drehte sich zu dem Mädchen neben ihr um und flüsterte mit ihr. Die andere nickte, grinste und trat an Letties Platz.

»Ihr werdet euch mit mir zufriedengeben müssen«, sagte sie an die Menge gerichtet. »Wer ist an der Reihe?«

»Aber ich will mit dir reden, Lettie!«, brüllte ein Bauernsohn.

»Sprich mit Carrie«, sagte Lettie. »Ich will mich mit meiner Schwester unterhalten.« Dagegen hatte niemand etwas einzuwenden. Die Kunden schoben Sophie an das Ende des Tresens, wo Lettie ihr winkte und eine Klappe öffnete. Man rief ihr zu, sie solle Lettie nicht den ganzen Tag aufhalten. Als Sophie sich durch die Klappenöffnung hindurchgezwängt hatte, packte Lettie sie beim Handgelenk und zerrte sie nach hinten, in einen Raum voller Holzregale, die allesamt mit Kuchen gefüllt waren. Lettie zog zwei Schemel hervor. »Setz dich«, sagte sie. Mit zerstreuter Miene schaute sie auf das nächststehende Regal und gab Sophie daraus ein Stück Sahnetorte. »Das brauchst du vielleicht«, sagte sie.

Sophie ließ sich auf den Schemel sinken, nahm den wunderbaren Kuchenduft in sich auf und hätte ein wenig weinen mögen. »Ach, Lettie«, sagte sie. »Es ist so gut, dich zu sehen.«

»Ja, und es ist auch gut, dass du sitzt«, sagte Lettie. »Denn schau, ich bin nicht Lettie. Ich bin Martha.«

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2. Kapitel

in welchem Sophie gezwungen wird, loszuziehen und ihr Glück zu suchen

Was?« Sophie starrte das Mädchen auf dem anderen Schemel an. Sie sah genauso aus wie Lettie. Sie trug Letties zweitbestes Kleid, das blaue, es war ein wunderschönes Blau, das perfekt zu ihr passte. Sie hatte Letties dunkle Haare und ihre blauen Augen.

»Ich bin Martha«, sagte ihre Schwester. »Wen hast du dabei erwischt, als sie Letties seidene Unterhosen zerschnitten hat? Ich habe das Lettie nie erzählt. Du vielleicht?«

»Nein«, sagte Sophie ziemlich verblüfft. Jetzt fiel es ihr auf, dass sie Martha vor sich hatte. Letties Kopf war so geneigt, wie es für Martha typisch war, und genau wie Martha hielt sie die Hände um die Knie gefaltet und drehte die Daumen. »Warum?«

»Ich hab mich vor deinem Besuch gefürchtet«, sagte Martha. »Weil ich wusste, dass ich es dir sagen müsste. Es ist eine Erleichterung, dass ich das jetzt getan habe. Versprich mir, dass du es nicht weitersagst. Ich weiß, dass du deine Versprechen hältst. Du bist doch so anständig.«

»Versprochen«, sagte Sophie. »Aber warum? Und wie?«

»Lettie und ich haben das so abgemacht«, sagte Martha und drehte Däumchen. »Weil Lettie gern Zauberei lernen wollte und ich nicht. Lettie ist intelligent, und sie will später mal etwas machen, wo sie ihren Verstand anwenden kann – aber versuch mal, das Mutter zu erzählen. Mutter ist viel zu eifersüchtig auf Lettie, um zuzugeben, dass sie Grips hat.«

Sophie konnte das von Fanny nicht glauben, aber sie widersprach nicht. »Aber was ist mit dir?«

»Iss deinen Kuchen«, sagte Martha. »Der ist lecker. Aber ja, auch ich kann schlau sein. Schon nach zwei Wochen bei Mrs Fairfax hatte ich den richtigen Zauber gefunden. Ich bin nachts aufgestanden und habe heimlich ihre Bücher gelesen, und dann war alles ganz leicht. Ich habe gefragt, ob ich meine Familie besuchen darf, und Mrs Fairfax hat es mir erlaubt. Sie ist ein Schatz. Sie dachte, ich hätte Heimweh. Also hab ich den Zauber gelernt und bin hergekommen, und Lettie ist zu Mrs Fairfax zurückgegangen und hat sich als mich ausgegeben. Das Problem war die erste Woche, als ich noch nicht alles wusste, was ich hier wissen muss. Das war schrecklich. Aber dann habe ich gemerkt, dass die Leute mich mögen – das tun sie wirklich, wenn man sie auch mag –, und danach ging alles glatt. Und da Mrs Fairfax Lettie noch nicht vor die Tür gesetzt hat, nehme ich an, dass bei ihr auch alles glattgeht.«

Sophie kaute auf dem Kuchen herum, dessen Geschmack sie gar nicht richtig wahrnahm. »Aber warum wolltest du herkommen?«

Martha schaukelte auf ihrem Schemel hin und her, grinste über Letties ganzes Gesicht und drehte ihre Däumchen, ein fröhlicher rosa Wirbel. »Ich möchte heiraten und Kinder kriegen.«

»Dafür bist du doch nicht alt genug«, sagte Sophie.

»Nicht ganz«, stimmte Martha zu. »Aber wenn ich auf zehn Kinder kommen will, muss ich früh anfangen. Und auf diese Weise habe ich Zeit, um in aller Ruhe zu sehen, ob der Mann mich will, weil ich ich bin. Der Zauber wird nach und nach seine Wirkung verlieren, und ich werde mir selbst immer ähnlicher werden, verstehst du?«

Sophie war so verblüfft, dass sie ihren Kuchen aufaß, ohne seinen Geschmack wahrgenommen zu haben. »Warum zehn Kinder?«

»So viele will ich eben«, sagte Martha.

»Ich hatte ja keine Ahnung!«

»Na, es hatte ja auch keinen Sinn, viel darüber zu reden, wo du so damit beschäftigt warst, Mutter zuzustimmen, wenn sie meinte, ich müsste mein Glück suchen«, sagte Martha. »Du hast gedacht, sie meint das ernst. Ich auch, bis Vater starb und ich sah, dass sie nur versuchte uns loszuwerden – sie steckte Lettie an einen Ort, wo sie jede Menge Männer treffen und ganz schnell heiraten könnte, und ich wurde so weit weggeschickt, wie es überhaupt nur geht. Ich war so wütend, und da dachte ich, warum nicht? Und dann habe ich mit Lettie gesprochen, und sie war genauso wütend, und dann haben wir alles arrangiert. Jetzt geht’s uns beiden gut. Aber wir machen uns Sorgen um dich. Du bist viel zu intelligent und lieb, um für den Rest deines Lebens in diesem Laden zu versauern. Wir haben darüber gesprochen, aber wir wussten nicht, was wir machen sollten.«

»Mir geht’s gut«, widersprach Sophie. »Ich langweile mich nur ein bisschen.«

»Gut?«, rief Martha. »Ja, das beweist du damit, dass du dich monatelang nicht blicken lässt, und dann tauchst du in einem grauen Kleid und einem gruseligen Schal auf und machst ein Gesicht, als hättest du Angst vor mir. Was hat Mutter denn bloß mit dir gemacht?«

»Nichts«, sagte Sophie, die sich gar nicht wohl in ihrer Haut fühlte. »Wir hatten viel zu tun. Du solltest nicht so über Fanny reden, Martha. Sie ist doch deine Mutter.«

»Ja, und ich bin ihr ähnlich genug, um sie zu verstehen«, gab Martha zurück. »Deshalb hat sie mich so weit fortgeschickt oder es zumindest versucht. Mutter weiß, dass man Leute auch ausnutzen kann, ohne sie schlecht zu behandeln. Sie weiß, wie pflichtbewusst du bist. Sie weiß, dass du dich für eine Versagerin hältst, weil du die Älteste bist. Sie hat dich voll im Griff, und du rackerst dich für sie ab. Ich wette, sie zahlt dir nicht mal Lohn!«

»Ich bin doch noch in der Lehre«, wandte Sophie ein.

»Ich auch, aber Lohn bekomme ich trotzdem. Die Cesaris wissen, dass ich das wert bin«, sagte Martha. »Der Hutladen bringt im Moment doch ein Vermögen ein, und das alles nur deinetwegen. Von dir stammt ja der grüne Hut, mit dem die Bürgermeistersfrau so umwerfend aussieht wie ein Schulmädchen, oder nicht?«

»Raupengrün. Ich habe die Verzierungen gemacht«, sagte Sophie.

»Und dann die Haube, die Jane Farrier aufhatte, als ihr dieser Adlige über den Weg gelaufen ist«, zählte Martha weiter auf. »Du bist ein Genie, wenn es um Hüte und Kleider geht, und Mutter weiß das genau! Als du Lettie zum letzten Maifeiertag dieses Kleid genäht hast, hast du damit dein Schicksal besiegelt. Und jetzt verdienst du das Geld, während sie sich herumtreibt …«

»Sie kauft das Material ein«, sagte Sophie.

»Kauft ein!«, rief Martha. Ihre Daumen wirbelten umeinander. »Dazu braucht sie einen halben Vormittag. Ich hab sie gesehen, Sophie, und ich höre, was die Leute sagen. Sie fährt in einer Mietkutsche herum, mit neuen Kleidern, die sie von dem Geld gekauft hat, das du verdienst, und sie besucht die ganzen Landsitze im Tal. Angeblich will sie sich das große Haus unten in Vale End kaufen und es schick renovieren lassen. Und wo bleibst du?«

»Na ja, Fanny hat doch ein bisschen Spaß verdient, wo sie so hart hat arbeiten müssen, um uns aufzuziehen«, sagte Sophie. »Und ich werde wohl den Laden erben.«

»Was für ein Schicksal!«, rief Martha. »Hör mal gut …«

Doch in diesem Moment wurden auf der anderen Seite des Raumes zwei leere Kuchenregale auseinander geschoben, und ein Lehrling steckte von irgendwoher seinen Kopf hindurch. »Wusst ich’s doch, dass das deine Stimme ist, Lettie«, sagte er und grinste durchaus nett, aber auch schäkernd. »Die neue Kuchenrunde ist fertig. Sag vorn Bescheid.« Sein von Locken und Mehl bedeckter Kopf verschwand wieder. Sophie fand ihn sympathisch. Sie hätte gern gefragt, ob er derjenige war, den Martha am liebsten hatte, aber dazu kam sie nicht. Martha sprang eilig auf und redete dabei weiter.

»Ich muss die Mädchen holen, damit das alles in den Laden gebracht wird«, sagte sie. »Pack mal mit an.« Sie zog das nächststehende Gestell hervor, und Sophie half ihr, es durch die Tür in den lauten, überfüllten Laden zu bringen. »Du musst etwas unternehmen, Sophie«, keuchte Martha unterwegs. »Lettie hat immer wieder gesagt, dass sie nicht weiß, was aus dir werden soll, wenn wir nicht in der Nähe sind und dir ein bisschen Selbstachtung geben können. Und es war nur richtig, dass sie sich Sorgen gemacht hat.«

Im Laden nahm Mrs Cesari das Gestell in ihre massiven Arme und brüllte Befehle, und allerlei Angestellte jagten an Martha vorbei, um weiteren Nachschub zu holen. Sophie rief einen Abschiedsgruß und machte sich im Gewühl davon. Es kam ihr nicht richtig vor, noch mehr von Marthas Zeit zu beanspruchen. Außerdem wollte sie allein sein, um nachzudenken. Sie lief nach Hause. Auf der Wiese am Fluss, wo der Jahrmarkt abgehalten wurde, gab es gerade ein Feuerwerk, das mit den blauen Kugeln über Howls Schloss um die Wette leuchtete. Sophie fühlte sich unzulänglicher denn je.

Sie überlegte und überlegte fast die ganze folgende Woche, wurde davon aber immer verwirrter und unzufriedener. Nichts schien so zu sein, wie sie erwartet hatte. Sie staunte über Lettie und Martha. Jahrelang hatte sie die beiden mit anderen Augen betrachtet. Aber sie konnte nicht glauben, dass Fanny so gemein war, wie Martha sie beschrieben hatte.

Sophie bekam sehr viel Gelegenheit zum Nachdenken, weil Bessie endlich heiratete und sie meistens allein im Laden war. Fanny war tatsächlich sehr viel unterwegs, ob sie sich nun herumtrieb oder nicht, und nach dem Maifeiertag kam kaum noch Kundschaft. Nach drei Tagen fasste Sophie sich ein Herz und fragte Fanny: »Warum bekomme ich eigentlich keinen Lohn?«

»Ja, den hast du verdient, so viel, wie du arbeitest, Herzchen«, sagte Fanny mit warmer Stimme, während sie gerade vor einem Ladenspiegel einen mit Rosen besetzten Hut aufprobierte. »Wir besprechen das, wenn ich heute Abend die Buchführung erledigt habe.« Dann ging sie und kam erst zurück, nachdem Sophie den Laden geschlossen und die neuen Hüte zum Dekorieren mit nach Hause genommen hatte.

Anfangs hatte Sophie ein schlechtes Gewissen, weil sie auf Martha gehört hatte, aber als Fanny den Lohn dann nie wieder erwähnte, weder an diesem Abend noch später in der Woche, beschlich Sophie der Gedanke, dass Martha vielleicht doch recht gehabt hatte.

»Vielleicht werde ich wirklich ausgenutzt«, sagte sie zu einem Hut, den sie mit roter Seide und einer Dolde aus Wachskirschen besetzte. »Aber irgendwer muss das hier machen, sonst haben wir keine Hüte mehr zu verkaufen.« Sie machte den Hut fertig und widmete sich einem tiefschwarzen und schneeweißen, der sehr modisch war, und dabei kam ihr ein ganz neuer Gedanke. »Spielt es denn eine Rolle, ob wir Hüte zu verkaufen haben?«, fragte sie den Hut. Sie schaute die versammelten Hüte an, die fertigen auf ihren Ständern und die blanken auf einem Haufen. »Wozu seid ihr denn schon gut?«, fragte sie. »Mir bringt ihr jedenfalls überhaupt nichts.«

Fast hätte sie das Haus verlassen und sich aufgemacht, ihr Glück alleine zu suchen, aber dann fiel ihr ein, dass sie die Älteste war und dass ein solches Unternehmen folglich zum Scheitern verurteilt war. Sie seufzte und wandte sich wieder dem Hut zu.

Am nächsten Morgen stand sie noch immer unzufrieden und allein im Laden, als eine sehr unscheinbare junge Kundin hereinkam und eine geflochtene Pilzhaube an ihren Bändern wirbeln ließ. »Sieh dir das an!«, kreischte die junge Dame. »Du hast mir gesagt, das sei die gleiche Haube wie die, die Jane Farrier trug, als ihr der Graf begegnete. Aber du hast gelogen! Mit mir ist gar nichts passiert!«

»Das wundert mich nicht«, sagte Sophie, ehe sie sich zusammenreißen konnte. »Wenn du so blöd bist, zu einem Gesicht wie deinem diese Haube zu tragen, dann hast du wahrscheinlich auch nicht genug Grips, um den König zu erkennen, wenn er zum Betteln kommt – falls er bei deinem Anblick nicht gleich zu Stein erstarrt.«

Die Kundin funkelte sie wütend an. Dann warf sie Sophie die Haube an den Kopf und stürzte aus dem Laden. Sophie stopfte die Haube in den Papierkorb und war außer sich. Die Regel lautete: Wenn du die Fassung verlierst, verlierst du auch die Kundschaft. Diese Regel hatte sie soeben bestätigt. Sie gestand sich nur ungern ein, was für ein Vergnügen ihr das bereitet hatte.

Sophie blieb keine Zeit, um sich von diesem Schock zu erholen. Sie hörte Räder rollen und Hufe klappern, und eine Kutsche verdunkelte das Fenster. Die Ladenglocke bimmelte, und die großartigste Kundin, die sie je gesehen hatte, rauschte herein. Sie trug eine Stola aus Zobelfell, die über ihre Ellbogen hing, und Diamanten, die überall auf ihrem schwarzen Kleid funkelten. Sophies Augen wanderten zuerst zu dem breiten Hut der Dame – echte Straußenfedern, so gefärbt, dass sie das rosa und grüne und blaue Funkeln der Diamanten widerspiegelten und trotzdem noch schwarz aussahen. Das war ein prachtvoller Hut. Das Gesicht der Dame war von gepflegter Schönheit. Die kastanienbraunen Haare machten sie jung, aber … Sophies Augen wanderten zu dem jungen Mann, der der Dame in den Laden gefolgt war, einem Mann mit einem etwas nichtssagenden Gesicht und rötlichen Haaren, sehr gut gekleidet, aber bleich und offenbar verstört. Er starrte Sophie flehend und zugleich entsetzt an. Er war eindeutig jünger als die Dame. Sophie wusste nicht, was sie davon halten sollte.

»Miss Hatter?«, fragte die Dame mit melodischer, aber gebieterischer Stimme.

»Ja«, sagte Sophie. Der junge Mann wirkte verstörter denn je. Vielleicht war die Dame seine Mutter.

»Ich höre, Sie verkaufen himmlische Hüte«, sagte die Dame. »Zeigen Sie mal!«

Sophie wagte es nicht, in ihrer derzeitigen Stimmung etwas zu sagen. Sie ging Hüte holen. Keiner davon war prachtvoll genug für diese Dame, aber sie spürte, wie die Blicke des Mannes ihr folgten, und das war ihr sehr unangenehm. Je eher die Dame entdeckte, dass diese Hüte nichts für sie waren, umso schneller würde dieses seltsame Paar wieder verschwunden sein. Sophie hielt sich an Fannys Rat und zeigte zuerst die ungeeigneten Hüte.

Die Dame fing sofort an, die Hüte zu beleidigen.

»Grübchen«, sagte sie zu der rosa Haube und »Jugend« zu der raupengrünen. Zu der mit Funkeln und Schleiern sagte sie: »Geheimnisvolles Gehabe. Wie offensichtlich. Was haben Sie sonst noch?«

Sophie holte den eleganten schwarzweißen Hut, der der einzige war, der die Dame auch nur vage interessieren konnte.

Die Dame musterte ihn verächtlich. »Der taugt doch nichts. Sie vergeuden meine Zeit, Miss Hatter.«

»Nur weil Sie mich nach Hüten gefragt haben«, erwiderte Sophie. »Das hier ist ein kleiner Laden in einer kleinen Stadt, Madam. Warum haben Sie …«, der junge Mann hinter der Dame schnappte nach Luft und schien Sophie warnen zu wollen, »sich eigentlich die Mühe gemacht herzukommen?«, endete Sophie, die sich fragte, was hier überhaupt los war.

»Ich mache mir diese Mühe immer, wenn jemand versucht, der Hexe der Wüste in die Quere zu kommen«, sagte die Dame. »Ich habe von Ihnen gehört, Miss Hatter, und mir gefällt weder die Konkurrenz noch Ihre Einstellung. Ich bin gekommen, um der Sache ein Ende zu machen. So.« Sie spreizte die Finger und machte eine Handbewegung, als würde sie etwas auf Sophies Gesicht schleudern.

»Soll das heißen, dass Sie die Hexe der Wüste sind?«, krächzte Sophie. Vor Angst und Überraschung klang ihre Stimme ganz seltsam.

»Das bin ich in der Tat«, sagte die Dame. »Und jetzt werde ich dich lehren, dich in meine Angelegenheiten einzumischen.«

»Das habe ich bestimmt nicht getan. Sicher liegt hier ein Missverständnis vor«, krähte Sophie. Der Mann starrte sie entsetzt an, obwohl sie wirklich nicht begreifen konnte, warum.

»Kein Missverständnis, Miss Hatter«, sagte die Hexe. »Komm, Gaston.« Sie drehte sich um und fegte zur Ladentür. Während der Mann unterwürfig die Tür für sie aufhielt, drehte sie sich noch einmal zu Sophie um. »Übrigens, du wirst niemandem erzählen können, dass ein Zauber auf dir liegt«, sagte sie. Die Ladentür dröhnte wie eine Begräbnisglocke, als die Dame verschwand.

Sophie schlug die Hände vors Gesicht und fragte sich, was der Mann so entsetzt angestarrt haben mochte. Sie spürte weiche, zähe Runzeln. Sie betrachtete ihre Hände. Auch die waren von Runzeln überzogen und mager, mit dicken Adern auf den Handrücken und Fingerknöcheln wie Knoten. Sie zog ihren grauen Rock hoch und sah ihre mageren, bläulichen Knöchel und ihre Füße, die ihre Schuhe überall ausbeulten. Es waren die Beine einer Neunzigjährigen, und sie schienen echt zu sein.

Sophie schleppte sich zum Spiegel und stellte fest, dass sie humpelte. Ihr Gesicht im Spiegel blieb ruhig, denn sie sah das, was sie zu sehen erwartet hatte. Sie sah das Gesicht einer hageren alten Frau, verwittert und bräunlich, umrahmt von dünnen weißen Haaren. Ihre eigenen Augen, gelblich und wässrig, starrten sie an und wirkten sehr traurig.

»Keine Sorge, altes Haus«, sagte Sophie zu dem Gesicht. »Du schaust ziemlich gesund aus. Und jetzt passt du viel eher zu dem, was du tatsächlich bist.«

Völlig gelassen überdachte sie ihre Lage. Sie war ganz ruhig, und alles erschien ihr sehr weit weg. Nicht einmal besonders wütend war sie auf die Hexe der Wüste.

»Ja, natürlich werde ich mich rächen müssen, wenn sich eine Gelegenheit bietet«, sagte sie sich. »Aber wenn Lettie und Martha es ertragen können, jeweils die andere zu sein, dann kann ich es ja wohl auch ertragen, für eine Weile so zu sein. Aber hier kann ich nicht bleiben. Fanny würde durchdrehen. Mal überlegen. Dieses graue Kleid passt eigentlich ganz gut, aber ich brauche noch mein Tuch und etwas zu essen.«

Sie humpelte zur Ladentür und hängte sorgfältig das »GESCHLOSSEN«-Schild auf. Ihre Gelenke ächzten bei jeder Bewegung. Sie musste gekrümmt und langsam gehen. Aber erleichtert stellte sie fest, dass sie doch eine recht rüstige alte Frau war. Sie fühlte sich nicht krank oder schwach, sondern nur steif. Sie humpelte weiter, um ihr Tuch zu holen, und wickelte es sich nach der Art alter Frauen um Kopf und Schultern. Dann schlurfte sie wieder ins Haus und holte ihren Geldbeutel, in dem ein paar Münzen lagen, und ein Bündel mit Brot und Käse. Sie ging hinaus, versteckte den Schlüssel sorgsam an der üblichen Stelle und humpelte dann die Straße entlang. Dass sie dabei immer noch so gelassen war, überraschte sie.

Sie spielte mit dem Gedanken, sich von Martha zu verabschieden. Aber die Vorstellung, dass Martha sie nicht erkennen würde, mochte sie gar nicht. Deshalb war es besser, stillschweigend zu gehen. Sie nahm sich jedoch vor, ihren Schwestern zu schreiben, wenn sie dort angekommen wäre, wo immer sie nun hinging. So schlurfte sie weiter, über die Wiese, wo der Jahrmarkt stattgefunden hatte, über die Brücke und weiter auf die dahinter liegende Landstraße. Es war ein warmer Frühlingstag. Sophie stellte fest, dass sie auch als Greisin den Anblick und den Duft der Weißdornhecken genießen konnte, obwohl sie nicht mehr ganz so gut sah. Ihr Rücken fing an wehzutun. Sie humpelte zwar stetig weiter, aber auf Dauer würde sie einen Stock brauchen. Im Vorübergehen hielt sie in den Hecken nach einem passenden Stecken Ausschau.

Offenbar waren ihre Augen wirklich nicht mehr so gut wie früher. Nach ungefähr einer Meile glaubte sie einen Stock zu erkennen, aber als sie daran zog, erwies er sich als unteres Ende einer alten Vogelscheuche, die irgendwer in die Hecke geworfen hatte. Sophie richtete das Ding mit Mühe auf. Es hatte eine vertrocknete Rübe als Gesicht. Sophie fühlte sich dieser Rübe kameradschaftlich verbunden. Statt die Vogelscheuche auseinanderzureißen und den Stock zu nehmen, schob sie sie zwischen zwei Zweige der Hecke, wo sie dann kühn aus dem Weißdorn herausragte und die zerlumpten Ärmel der hölzernen Arme über der Hecke flatterten.

»So«, sagte Sophie, und ihre brüchige Greisinnenstimme überraschte sie so, dass sie alt und gackernd loslachen musste. »Wir taugen beide nicht mehr viel, was, mein Freund? Vielleicht kommst du auf dein Feld zurück, wenn ich dich so hinstelle, dass die Leute dich sehen.« Sie wollte schon weiterwandern, aber dann kam ihr ein Gedanke, und sie machte kehrt. »Wenn ich als Älteste von drei Geschwistern nicht zum Versagen verurteilt wäre«, sagte sie zu der Vogelscheuche, »dann könntest du zum Leben erwachen und mir deine Hilfe bei der Suche nach dem Glück anbieten. Aber ich wünsche dir trotzdem alles Gute.«

Kichernd ging sie weiter. Vielleicht war sie ein bisschen verrückt, aber das waren alte Frauen oft.

Etwa eine Stunde später, als sie sich am Straßenrand hinsetzte, um eine Pause zu machen und Brot und Käse zu essen, fand sie einen Stock. Aus der Hecke hinter ihr hörte sie Geräusche: leises, ersticktes Quäken, gefolgt von Ächzen, das die Blätter von der Hecke fegte. Auf ihren knochigen Knien kroch Sophie ein Stück, um an Blättern und Blüten und Dornen vorbei in die Hecke zu spähen. Dort entdeckte sie einen mageren grauen Hund. Er hatte sich hoffnungslos verheddert, die Schnur, die um seinen Hals gebunden war, hatte sich um einen dicken Stock gewickelt, und dieser hatte sich zwischen zwei Zweigen der Hecke verkeilt, sodass der Hund sich kaum noch rühren konnte. Wild verdrehte er die Augen, als er Sophies Gesicht sah.

Als Mädchen hatte Sophie sich vor Hunden gefürchtet. Und auch der alten Frau waren die beiden Reihen weißer Reißzähne im offenen Maul des Tieres nicht geheuer. Aber sie sagte sich: »So, wie ich jetzt bin, brauche ich mir ja wohl kaum noch Sorgen zu machen«, und suchte in ihrem Nähbeutel nach der Schere. Sie schob die Hand mit der Schere in die Hecke und fing an, die Schnur um den Hundehals durchzufeilen.

Der Hund war außer sich. Er zuckte zurück und knurrte. Aber Sophie feilte tapfer weiter. »Du verhungerst oder erstickst, mein Freund«, erklärte sie dem Hund mit ihrer brüchigen alten Stimme, »wenn du dich nicht losschneiden lässt. Ich glaube sogar, da hat schon jemand versucht, dich zu erwürgen. Vielleicht bist du deshalb so wütend.« Die Schnur war ziemlich fest um den Hals des Hundes gebunden und der Stock brutal darunter gezwängt worden. Sophie musste sehr lange feilen, bis die Schnur riss und der Hund sich von dem Stock befreien konnte.

»Möchtest du ein wenig Brot und Käse?«, fragte Sophie. Aber der Hund knurrte sie nur an, zwängte sich auf der gegenüberliegenden Seite aus der Hecke heraus und war verschwunden. »Das nennt man Dankbarkeit«, sagte Sophie und rieb sich die zerstochenen Arme. »Aber ohne es zu wissen, hast du mir trotzdem ein Geschenk gemacht.« Sie zog den Stock, der den Hund gefangen gehalten hatte, aus der Hecke und stellte fest, dass es sich um einen richtigen Wanderstock handelte, sorgfältig zurechtgeschnitzt und mit einer eisernen Zwinge versehen. Sophie aß Brot und Käse auf und machte sich dann wieder auf den Weg. Da die Straße immer steiler wurde, war ihr der Stock eine große Hilfe. Und sie konnte mit ihm reden. Verbissen humpelte Sophie weiter und redete auf den Stock ein. Schließlich führen alte Leute oft Selbstgespräche.

»Das waren schon zwei Begegnungen«, sagte sie. »Und bei keiner erntete ich zum Dank auch nur einen Funken Magie. Immerhin, du bist ein guter Stock. Ich will mich nicht beklagen. Aber mir steht doch sicher noch eine dritte Begegnung zu, ob nun magisch oder nicht. Ich bestehe sogar darauf. Ich wüsste ja gern, wie die aussehen wird.«

Die dritte Begegnung hatte sie gegen Ende dieses Nachmittags, als sie schon ziemlich weit ins Hügelland hinaufgestiegen war. Da kam ihr pfeifend ein Mann entgegen. Ein Schäfer, dachte Sophie, auf dem Nachhauseweg, nachdem er nach seinen Schafen gesehen hat, ein gut gebauter junger Bursche von vielleicht vierzig. »Meine Güte«, sagte Sophie zu sich. »Heute Morgen hätte ich ihn als alten Mann betrachtet. Wie die Perspektive sich doch ändert!«

Als der Schäfer sah, wie Sophie vor sich hin murmelte, wich er behutsam auf die andere Straßenseite aus und rief sehr herzlich: »Guten Abend, Mutter! Wo soll es denn hingehen?«

»Mutter«, erwiderte Sophie. »Ich bin nicht deine Mutter, junger Mann.«

»Nur so eine Redensart«, sagte der Schäfer und drückte sich an der Hecke entlang. »Es sollte nur eine höfliche Frage sein, weil Sie so spät noch in die Hügel gehen. Bis es dunkel wird, schaffen Sie es doch nicht mehr bis Upper Folding, oder?«

Darüber hatte Sophie noch gar nicht nachgedacht. Sie blieb stehen und überlegte. »Eigentlich spielt das keine Rolle«, sagte sie, halb zu sich selbst. »Wenn man sein Glück sucht, darf man es nicht so genau nehmen.«

»Wirklich nicht, Mutter?«, fragte der Schäfer. Er hatte es an Sophie vorbei geschafft, war jetzt unterhalb von ihr und schien sich wohler zu fühlen. »Dann wünsche ich Ihnen alles Gute, Mutter, solange Ihr Glück nicht davon abhängt, dass Sie andrer Leute Vieh verzaubern.« Und dann lief er in großen Schritten die Straße hinunter. Er rannte fast.

Empört starrte Sophie ihm hinterher. »Der hat mich für eine Hexe gehalten!«, sagte sie zu ihrem Stock. Sie war versucht, dem Schäfer Angst einzujagen, indem sie ihm ein paar Gemeinheiten hinterherrief, aber das kam ihr doch ein wenig grausam vor. Vor sich hin grummelnd kämpfte sie sich weiter den Weg hinauf. Bald wichen die Hecken kargem Boden, und das Land dahinter verwandelte sich in eine mit Heide bewachsene Hochebene und dahinter steile Hänge mit gelbem, knisterndem Gras. Verbissen kämpfte sich Sophie weiter. Inzwischen taten ihre knotigen alten Füße weh und ihr Rücken und ihre Knie auch. Zum Murmeln war sie zu müde und schleppte sich einfach so weiter, keuchend, bis die Sonne ganz tief stand. Und dann, urplötzlich, merkte sie, dass sie auch nicht einen einzigen Schritt mehr weitergehen konnte.