Das Herz der Zeit: Die unsichtbare Stadt - Monika Peetz - E-Book
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Das Herz der Zeit: Die unsichtbare Stadt E-Book

Monika Peetz

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Beschreibung

Was wäre heute, wenn ich das Gestern ändern könnte? Lena: Ein Mädchen ohne Vergangenheit. Aber mit tausend Fragen. Und nicht einmal ihre beste Freundin Bobbie kann sie beantworten, obwohl sie sonst immer alles weiß. Dante: Ein Junge mit verschiedenfarbenen Augen. Er kommt aus einer anderen Welt. Und vielleicht hat er die Antworten, nach denen Lena sich so sehnt. Eine geheimnisvolle Uhr mit acht Zeigern verbindet ihre Welten. Eine Reise beginnt, die die Grenzen des Vorstellbaren sprengt. Das Jugendbuchdebüt der Bestsellerautorin Monika Peetz ("Die Dienstagsfrauen").

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Seitenzahl: 475

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Monika Peetz

Das Herz der Zeit

Die unsichtbare Stadt

Roman

Über dieses Buch

Was wäre heute, wenn ich das Gestern ändern könnte?

 

«Das Mädchen hat zu viel Fantasie.» So die immer wiederkehrende Klage von Tante Sonja. Lena, 15, lebt von klein auf bei ihr und den zwei jüngeren Cousinen. Sie hat viele Freunde, ist beliebt, Star der Handballmannschaft, und dennoch: Sie fühlt sich fremd in dieser Familie. Ihre beste Freundin Bobbie behauptet, das ginge allen 15-Jährigen so. Doch Lena ist davon überzeugt, dass bei ihr mehr dahintersteckt. Sie war keine vier Jahre alt, als ihre Eltern starben. Über den Unfall wird in der Familie beharrlich geschwiegen. Lenas Ahnungen bestätigen sich, als sie in alten Sachen ihrer Eltern in einer Stoffspieluhr ein Kästchen mit einer seltsamen Uhr findet. Das Ziffernblatt ist spiralförmig, statt zwei hat sie acht Zeiger, die auf verschiedene Ziffern weisen. Und auf der Rückseite ist ein Name eingraviert: Lena. Unwissentlich aktiviert Lena den Mechanismus der Uhr und setzt damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die geheimnisvolle Freunde und mächtige Gegner auf den Plan rufen. Weit entfernt an einem Ort, der nicht von dieser Welt ist, wird ein Junge auf sie aufmerksam. Lena ist fasziniert von Dante, der über magische Kräfte zu verfügen scheint. Und über einen Schlüssel zu ihrem Herzen. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg – in Dantes Heimat, die unsichtbare Stadt. Aber wer ist Dante wirklich? Und was haben die sogenannten Unsichtbaren, zu denen er gehört, mit dem Unfall der Eltern zu tun?

Vita

Monika Peetz studierte Germanistik, Kommunikationswissenschaften und Philosophie in München. Nach Ausflügen in die Werbung und ins Verlagswesen war sie Dramaturgin und Redakteurin beim Bayerischen Rundfunk. Seit 1998 lebt sie als Drehbuchautorin in Deutschland und den Niederlanden. Monika Peetz ist die Autorin der Bestsellerreihe «Die Dienstagsfrauen». Ihre Romane um die fünf Freundinnen waren Spiegel-Bestseller und verkauften sich allein im deutschsprachigen Raum über 1 Million Mal. Ihre Bücher erscheinen in 25 Ländern und sind auch im Ausland Bestseller.

Für Torben, Pauline und Jonathan.

Prolog

«Anhalten», brüllte Lena Dante an. «Lass mich raus.»

Ihr Aufschrei verhallte ungehört. Dante steuerte ungerührt in das Inferno. Woher wusste er, wo es langging? Der Chronometer brannte auf ihrer Haut. Wie in einer gigantischen Autowaschanlage prasselte das Wasser von allen Seiten auf den Wagen ein. Die Naturgewalt hebelte den verbliebenen Scheibenwischer aus der Verankerung. Die Fahrt wurde zum Blindflug. In dem verschwommenen Grau blitzten Warnschilder auf. Keine Wendemöglichkeit. Sackgasse. Achtung, Lebensgefahr. Schwach erkannte sie die Konturen der Fabrik am Ende der Straße. Ein drei Meter hohes Metallgitter, das rund um die Industrieanlage lief, sicherte das Gelände. Ihren Fahrer interessierte das eher weniger. In rasender Fahrt ging es Richtung Barrikade. Warnleuchten blinkten hysterisch. Lena wimmerte. Ihre Fingernägel krallten sich in die Sitzpolster. Dante störte das Hindernis nicht im Geringsten. Mit unverminderter Geschwindigkeit rauschten sie in die schweren Absperrgitter und schleuderten auf das Fabrikgebäude zu. Nur ein paar Meter trennten sie jetzt noch von dem imposanten Eingangsportal. Wo wollte Dante hin? Warum bremste er nicht? Wie ein Wahnsinniger hielt er stur auf das gigantische Stahltor zu, auf dem das Logo der Fabrik prangte: eine stilisierte Eule. Die Augen, der Körper, die Flügel – das ganze Tier setzte sich aus drehenden Zahnrädern zusammen, wie bei einem gigantischen Uhrwerk. Sie spürte ihren Chronometer glühen, die dämonischen Eulenaugen sendeten einen gleißend hellen Blitz aus, der sie einen Moment blendete. Im nächsten Moment sprengte ein gigantischer Knall ihren Kopf, der Druck nahm ihr die Kraft zu atmen. Funken flogen, ein Sausen, Wispern und Heulen schwoll an. Es war ihr, als wären sie in einer Art Tunnel gelandet. Im Licht der Scheinwerfer tauchte auf einmal Jonas mit seinem Fahrrad auf. Und dann Bobbie, Sonja, ihre Schwestern. Was geschah mit ihr? Woher kamen diese Bilder? Es schwindelte sie. Eine unsichtbare Macht drückte ihre Augen zu. Die digitale Zeitanzeige im Auto stoppte. Das Letzte, was sie wahrnahm, war der Chronometer, dessen Licht von Rot auf Grün wechselte. Es kam ihr vor, als ob das Auto ins Schwimmen geriete. War da überhaupt noch Straße unter ihnen? Oder befanden sie sich im freien Fall? Lena wurde schwarz vor Augen.

Als sie wieder zu sich kam, hatte ihr ganzes Leben sich verändert. Lena konnte nicht fassen, welch phantastisches Bild vor ihren Augen entstand.

1Guten Morgen, Lena

Geschafft! In letzter Sekunde wischte Lena ins Badezimmer. Erleichtert warf sie sich mit dem Rücken gegen die Tür und verriegelte das Schloss. Meist verlor Lena das morgendliche Wettrennen mit ihren Schwestern und wurde mit ewigem Warten auf dem Flur bestraft, während Fiona und Carlotta in aller Ausführlichkeit duschten, cremten, kämmten, föhnten, schwatzten und trödelten. Die Ablage am Spiegel bog sich unter der Last ihrer Schleifen, Haarclips, lustigen Zahnbürsten, farbenfrohen Kindercremes und speziellen Shampoos. Während Fiona Pferdemotive und Parfümproben bevorzugte, stand Carlotta auf Einhörner, Feen, Elfen und alles, was rosa war oder wenigstens glitzerte. Die zeitraubenden Schönheitsrituale ihrer kleinen Schwestern brachten Lena morgens regelmäßig in Zeitnot. Aber heute huschte sie als Erste ins Bad. Zufrieden rief sie auf dem Handy ein Video auf, drehte die Musik laut und klemmte einen Spickzettel an den Spiegel. Die 9b schrieb in der ersten Stunde Bio. Bis dahin musste sie die Mendelsche Vererbungslehre fehlerfrei beherrschen.

«Eltern geben Erbinformationen in festen Portionen, genannt Erbanlagen oder Gene, an ihre Nachkommen weiter», memorierte Lena, während sie vor dem Spiegel herumtanzte und Zähne putzte. Beim Refrain fiel sie lautstark ein. So gut das eben ging mit einem Mund voll Schaum und einer Zahnbürste als Mikrophon.

«Ich muss mal», brüllte Carlotta von draußen und hämmerte ihre Fäuste gegen die Tür. «Außerdem singst du ganz falsch.»

Lena ließ sich nicht stören. «Erstens: Uniformitätsregel», rekapitulierte sie den Lehrstoff. «Kreuzt man zwei reine Rassen einer Art miteinander, zeigen die direkten Nachkommen das gleiche Aussehen», fuhr Lena fort – und stockte.

Was war das? Eine Bewegung? In ihrem Rücken? Hinter dem Duschvorhang? Vielleicht ein Windzug, der durch das Fenster wehte? Trotz hellen Tageslichts fühlte Lena sich an die Horrorfilme erinnert, die ihre Freundin Bobbie so liebte. Badezimmerszenen endeten in diesen Streifen niemals mit Happy End.

«Kreuzt man zwei reine Rassen einer Art miteinander, zeigen die direkten Nachkommen das gleiche Aussehen», setzte sie zögerlich wieder an, während ihre Augen das Spiegelbild absuchten.

Nein, sie irrte nicht. Hinter den bunt gemusterten Wolken des Duschvorhangs bewegte sich ein Schatten. Eine Fingerkuppe zog die Plastikabtrennung unmerklich zur Seite, darüber glänzte eine winzige Kameralinse. Nichts anmerken lassen. Nur nicht spüren lassen, dass sie den Eindringling entdeckt hatte.

Mühsam unterdrückte sie das Zittern ihrer Stimme. «Zweitens, Spaltungsregel», murmelte sie. «Die Spaltungsregel gilt, wenn zwei Individuen gekreuzt werden …»

Mitten im Satz fuhr Lena mit einer einzigen schnellen Bewegung herum und riss die Wolken zur Seite. Ein schriller Schrei hallte durch den gekachelten Raum. Lena traute ihren Augen kaum: In der Dusche versteckte sich ihre kleine Schwester und filmte Lena, wie sie in Unterhose und Schlafshirt vor dem Spiegel herumhampelte. Fiona grinste schief und entblößte dabei einen fehlenden Eckzahn. Nach dem ersten Schreck fand sie sofort in ihre Rolle zurück.

«Deine Moves sind großartig», sagte sie und hob den Daumen. «Damit kriegen wir jede Menge Klicks.»

Ohne jedes Schuldbewusstsein drehte sie ihr Handy zu sich. «Hallo und guten Morgen», flötete sie in die Kamera ihres Telefons. «Ich bin’s, eure Fiona. Schön, dass ihr wieder dabei seid. Heute zeig ich euch meine Morgenroutine. Jedes Mal, wenn ich aufstehe, drängelt meine Schwester vor mir ins Bad. Habt ihr eine große Schwester? Dann wisst ihr, wovon ich rede. Steht ihr auch morgens vor der Tür und fragt euch, was die im Badezimmer treibt? Heute enthülle ich Lenas Geheimnisse für euch.»

Sie drehte die Kamera in Lenas Richtung: «Lena, sag guten Morgen zu den Leuten auf dem Vlog.»

«Gib sofort das Telefon her», befahl Lena und streckte die flache Hand aus.

Obwohl sie taktisch ungünstig in der Duschkabine festsaß, dachte Fiona nicht im Traum daran, ihr die wertvollen Aufnahmen kampflos zu überlassen. Mit ausgestrecktem Arm hielt sie Lena auf Abstand, während sie ungerührt weiterfilmte.

«Eine Schwester ist eine echte Herausforderung», erklärte sie. «Dabei ist sie nicht mal meine richtige Schwester. Eigentlich ist sie ja meine Cousine. Ihre Eltern sind tot.»

«Hör sofort auf mit dem Mist», sagte Lena wütend und probierte, Fiona das Telefon aus der Hand zu winden.

Die kleine Schwester versteckte das Handy hinter dem Rücken. «So was geht auf YouTube», verteidigte sie sich. «Je mehr Drama, desto mehr Klicks.»

Lena hatte nicht das geringste Interesse, mit einem Filmclip berühmt zu werden, in dem ihr Po die Hauptrolle spielte. Noch weniger Lust hatte sie, dass Fiona die Geschichte ihrer Eltern auf YouTube in Umlauf brachte. Selber vermied sie es, über den tragischen Autounfall zu sprechen. Die schiere Erwähnung, dass sie Vollwaise war, versetzte Leute in Schockstarre. Ihre Mitschüler rissen die Augen auf, kratzten sich verlegen am Hinterkopf und schauten so hilflos und überfordert, dass Lena jedes Mal den Drang verspürte, etwas Lustiges zu erzählen, um sie zu trösten. Noch schlimmer waren wohlmeinende Erwachsene, die ihr über den Kopf strichen und ihr dabei Lebensweisheiten vorkauten: «Wie gut, dass du noch so klein warst und dich nicht erinnerst», «Das Schicksal lädt uns nur auf, was wir tragen können» oder «Du kannst dankbar sein, neue Eltern gefunden zu haben».

Was sollte Lena darauf antworten? Dass sie sich nichts sehnlicher wünschte als Erinnerungen? Dass ihre neue Mama für sie immer ihre Tante und Sonja geblieben war? Und der Stiefvater gleichgültig?

Das Hämmern von draußen hörte auf. «Ich sag Mama, dass du mich aussperrst», brüllte Carlotta.

Lena riss den Duschkopf aus der Halterung. Ihre linke Hand tastete nach dem Wasserhahn.

«Lösch den Film. Sofort», befahl sie.

Fiona entpuppte sich als zäher Verhandlungspartner. «Wir nennen uns Falsche Schwestern und gründen unseren eigenen Kanal», schlug sie vor.

Mit elf Jahren war Fiona immer noch im Zahnwechsel, ihr Geschäftssinn jedoch stand dem eines Erwachsenen in nichts nach.

«Weißt du, wie viel Geld wir verdienen können! Wir bekommen Werbeverträge und Sponsoring, Gratisklamotten, Schminkzeug, Spielsachen zum Testen, und wir werden in Talkshows eingeladen.»

Lenas Hand drehte die Mischbatterie leicht auf. Wasser tröpfelte auf Fionas Turnschuhe.

«Du musst die Vorteile sehen», überschlug sich Fionas Stimme. «Nie mehr Schule. Als Influencer brauchst du keine Schule. Es reicht, wenn du du selbst bist. Ich bin sicher, es interessiert jede Menge Leute, wie du nach dem Aufstehen aussiehst.»

Lena drehte den Wasserhahn voll auf. Ein eiskalter Schwall traf Fiona. Wasser durchtränkte T-Shirt und Hose und sickerte in ihre neuen Schuhe. Die kleine Schwester schrie hysterisch auf.

In diesem Moment flog die Tür mit einem Krachen auf. Ihre Tante Sonja baute sich vor ihnen auf. In der Hand hielt sie noch den Schraubenzieher, mit dem sie die Tür geöffnet hatte.

«Mama», brüllte Fiona, während sie das Video klammheimlich löschte. «Lena bedroht mich. Sie will mir mein Telefon wegnehmen.»

2Cornflakes-Tage

Lena kaute auf ihren Cornflakes herum. Sie schaufelte die trockenen Flocken löffelweise rein, bis ihr Mund so voll war, dass das Knacken beim Kauen die Streitgespräche am Frühstückstisch übertönte. Cornflakes waren für schlechte Tage, knuspriges Toastbrot für normale und Joghurt für die richtig guten. Seit der Vater von Fiona und Carlotta die Familie im Stich gelassen hatte, überwogen die Cornflakes-Tage. Lena war jeden Tag aufs Neue bemüht, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, um Sonja keinen zusätzlichen Kummer zu bereiten. Seit der Scheidung von Hugo war ihre Ziehmutter dünn, dünnhäutig und chronisch gestresst. Früher stritt sie mit Hugo schon am Frühstückstisch ums Geld, später um die Schulden und seit ein paar Wochen gar nicht mehr.

«Hol endlich deine Sachen», forderte sie ihn auf, wenn er Fiona und Carlotta abholte. «Sonst lass ich die Müllabfuhr kommen.»

Wenn ihre Tante nicht arbeitete oder telefonierte, bombardierte sie Lena und ihre Schwestern mit Fragen, die keiner Antwort bedurften. «Muss die Musik so laut sein? Habt ihr nichts Besseres zu tun, als auf dem Sofa rumzuhängen? Wie kann man nur so unordentlich sein? Könnt ihr nicht wenigstens die Wäsche nach unten bringen, das Licht im Bad ausmachen, den Müll raustragen?» Manchmal beneidete Lena Fiona und Carlotta, wenn Hugo sie abholte und nach Strich und Faden verwöhnte. Er fragte nie, ob Lena mitkommen wollte.

 

Heute halfen auch drei große Esslöffel Cornflakes nicht, die durchdringende Stimme ihrer Tante zu dämpfen.

«Musst du dauernd mit deiner kleinen Schwester streiten?», fragte Sonja, während sie Fionas durchnässte Schuhe mit Zeitungspapier ausstopfte, um sie wieder in Form zu bringen. In ihrer Stimme lagen Müdigkeit und ewige Enttäuschung. Fiona, die in Sonjas Ermahnung nicht vorkam, warf Lena einen triumphierenden Blick zu. Carlotta ritzte währenddessen hingebungsvoll geometrische Muster in ihr Nutellabrot und tat so unbeteiligt, als wäre sie auf dem Mars. Die Achtjährige hielt sich aus dem Streit raus. Lena wusste, wie versessen Carlotta darauf war, eine Rolle in Fionas Vlog zu ergattern.

Lena wollte aufbegehren, sich verteidigen. Sonjas müde Augen ließen sie verstummen. Ob ihre Tante es bereute, sie nach dem Unfall aufgenommen zu haben? Carlotta und Fiona waren Wunschkinder, Lena im wahrsten Sinne des Wortes ein Unglücksfall. Als sie jünger war, hatte Lena sich vorgestellt, dass sie von Außerirdischen auf dem Planeten Erde vergessen worden war. Jede Nacht hatte sie die Schreibtischlampe in Richtung Fenster gedreht und nach draußen geleuchtet, damit die Außerirdischen sie finden konnten, wenn sie mit ihrem UFO über den Nachthimmel schwebten. Irgendwann hatte Sonja die Lampe weggenommen und einen langen Vortrag über Stromverschwendung und gesunden Schlaf gehalten. Sonja ahnte nichts von den Außerirdischen, und Lena traute sich nicht, ihre Tante einzuweihen. Erwachsene waren beschränkt, wenn es darum ging, ein Gespür für unsichtbare Dinge zu entwickeln.

«Das Mädchen hat die komischsten Ideen», klagte Sonja ihren Freundinnen am Telefon. «Zu viel Phantasie.»

Es klang, als wäre das eine schlimme Krankheit. Der Chor von Stimmen in Lenas Kopf, der zu allem und jedem einen Kommentar absondern musste, streute zusätzlich Salz in die Wunde. «Du bist komisch», riefen sie. «Du gehörst nicht dazu. Die brauchen dich nicht. Vielleicht wäre es besser, du würdest verschwinden.»

Lena fühlte sich fremd in der eigenen Familie. Ihre Freundin Bobbie behauptete, das gehe allen Fünfzehnjährigen so.

«Hörst du mir überhaupt zu?», fragte Sonja empört.

Ihre Augen funkelten. Carlotta und Fiona wagten kaum zu atmen. Diese verdammten Stimmen. Ständig quasselten sie dazwischen und sorgten dafür, dass Lena das Wichtigste verpasste.

«Ich werde mich bemühen», versprach sie erschrocken. Das stimmte immer.

«Bemühen?», platzte Sonja heraus. «Du musst eine Fünf ausbügeln.»

Offenbar war Sonja vom Streit der Schwestern nahtlos zu Lenas Schulnoten und der anstehenden Bio-Klassenarbeit übergegangen. «Versetzung gefährdet» hatte in ihrem letzten Zeugnis gestanden.

«Wie kann man wegen so einem Fach auf der Kippe stehen?», fragte Sonja. Wütend warf sie das Geschirr in die Spülmaschine. «Es reicht mir, Lena», sagte sie ernst. «Wenn du Bio verhaust, ist Handball gestrichen. Du musst endlich lernen, dich auf die wesentlichen Dinge im Leben zu konzentrieren.»

Lena hasste Sätze, die mit «Du musst» anfingen und mit «konzentrieren» aufhörten. Seit dem Kindergarten ermahnte sie ständig irgendjemand, sich zu konzentrieren. Erwachsene verstanden nicht, dass sie sich prima konzentrieren konnte. Das war nicht das Problem. Es gab in Lenas Leben einfach zu viele Dinge, über die sie gleichzeitig nachdenken musste. Was konnte sie dafür, dass in ihren Gehirnwindungen Hochbetrieb herrschte? In Lenas Kopf summte es wie in einem Bienenstock: ein ständiges Kommen und Gehen von Fragen und Ideen, von schlauen Gedanken und blöden Einfällen, von Erinnerungen und Plänen, von Ängsten und Wünschen. Ihre Tante konnte sich nicht vorstellen, wie anstrengend es war, so vielen Stimmen zuhören zu müssen. Wenn sie sich wenigstens einig wären. Ihrer Tante war es bereits ein Rätsel, wie man Musik hören und gleichzeitig Englischvokabeln pauken konnte. Sonja fehlte jedes Verständnis dafür, warum Lena beim Fernsehschauen unbedingt whatsappen musste und gleichzeitig Candy Crush spielte. Dabei hing sie selber dauernd an ihrem Smartphone. Selbst beim Essen.

«Bei mir ist das Arbeit», sagte sie. «Das ist etwas anderes.»

Für Erwachsene galten eigene Regeln. Sonja verbot Lena, beim Essen Nachrichten an Bobbie zu schicken. Sie selber ließ jedoch sofort den Teller stehen, wenn eine ihrer Freundinnen anrief, um ihre Beziehungsdramen zu besprechen. Für Erwachsene fiel Liebe offenbar in die Kategorie Arbeit. Trotz aller Arbeit war Sonjas Ehe mit Hugo gescheitert.

«Ich meine es ernst, Lena», wiederholte Sonja. «Handball lenkt dich zu sehr ab. Es ist nur zu deinem Besten.»

Lena nickte betroffen. Es gab Tage, da konnte man selbst mit Cornflakes nichts mehr ausrichten.

3Alte Bekannte, neue Zeiten

«Spinnst du?», rief Lena.

Nur ein entsetzter Hechtsprung rettete sie davor, auf dem Zebrastreifen vor der Schule über den Haufen gefahren zu werden. Ein Lufthauch streifte ihre Wange, als Jonas in halsbrecherischem Tempo an ihr vorbeizog. Bei Wind, Wetter, Regen und Schnee kreuzte ihr Mitschüler mit einem orangefarbenen Fixie-Rad durch die Stadt, das weder über Gangschaltung noch Licht, Schutzblech, Klingel oder Bremse verfügte. Jonas befand sich auf Kollisionskurs mit Lena, der Straßenverkehrsordnung und dem Direktor, der Fixies an der Schule verboten hatte. Von Regeln hielt er wenig. Selbst seine halblangen, braunen Locken rebellierten gegen jeden Schnitt und standen wirr in alle Richtungen. Jonas wandte im Vorbeifahren seinen Kopf und bedachte Lena mit entwaffnendem Lächeln und einer entschuldigenden Geste. Seine dunklen Augen strahlten in einem warmen Braun, als habe jemand sie nachcoloriert. Lenas Herz vollführte einen glücklichen Hopser.

Seit drei Jahren ging sie in eine Klasse mit Jonas Rasmus. Sie erinnerte sich nicht daran, wann aus dem blassen und chronisch schüchternen Knirps ein großgewachsener und selbstbewusster Junge geworden war. Seine Veränderung war Lena erst aufgefallen, als Jonas zu ihrem Handballverein wechselte. An Wettkampftagen verdiente er sich in der Sportkantine ein paar Euro dazu. Selbst mit falsch geknöpftem Küchenkittel und albernem Papierschiffchen auf dem Kopf sah er umwerfend aus. Und im Sportdress sowieso. Lenas halbe Mannschaft war in ihn verknallt. Wenn Jonas mit seinem Team trainierte, drückten sich immer ein paar neugierige Mädchen in der Halle herum. Heute Morgen umschwirrte ihn zum ersten Mal keine seiner Anbeterinnen. Lena zögerte. War das die ultimative Gelegenheit, ihn anzusprechen? Sie sehnte sich danach, einmal eine Unterhaltung mit ihm zu führen, die über «Eine Cola, bitte» hinausging. Vielleicht verwandelte sich der Cornflakes-Morgen doch noch in etwas Gutes?

Jonas sprang vom Rad und kniete sich auf den Boden. Mit gekonnten Handgriffen löste er den Schnellverschluss vom Vorderrad, positionierte es neben dem hinteren Reifen und kettete beide an einen Lampenpfosten. Betont lässig schlenderte Lena in seine Richtung.

«Und? Gut vorbereitet für Bio?», wollte sie fragen. Stattdessen entfuhr ihr ein lautstarkes «Hicks!». Seit ein paar Wochen bekam sie ständig Schluckauf, sobald Jonas in ihrer Nähe auftauchte. Sein Blick verursachte bei ihr ein wundersames Kitzeln im Bauch, als hätte sie aus Versehen eine Überdosis Brausepulver geschluckt. Das komische Kribbeln beeinträchtigte ihre Fähigkeit, geradeaus zu denken und zu gehen. Neulich war sie beim Handball frontal gegen eine Glastür geknallt, nachdem sie ihm unerwartet über den Weg gelaufen war.

«Hicks», entfuhr es ihr ein zweites Mal. Jonas’ Kopfhörer ersparte ihr eine weitere Blamage. Ohne Lena und ihr überlautes Hicksen zu bemerken, sprintete der schlaksige Junge Richtung Schule, nahm schwungvoll drei Treppenstufen auf einmal und schloss zu Chloe und ihrer Freundin Elif auf. Geschlagen sank Lena in sich zusammen. Chloe war nicht nur Kapitän ihrer Handballmannschaft, sondern zugleich das tollste Mädchen der Schule. Selbstbewusst warf sie ihre langen, blonden Locken nach hinten und begrüßte Jonas mit einer überschwänglichen Umarmung. Heute trug sie einen auffallenden roten Jumpsuit und Sonnenbrille. An ihrer Schulter baumelte eine nagelneue Markentasche. Elif klebte an ihr wie ein Schatten. Viele Mädchen in der Klasse und beim Handball wünschten sich sehnsüchtig, so wie Chloe zu sein – oder wenigstens ein bisschen von ihrem Glanz abzubekommen.

Der Chor in Lenas Kopf lachte hämisch. Dieser blöde Schluckauf. Warum konnte sie nicht so cool mit Jonas umgehen wie Chloe? Kein Mensch war perfekt. Aber warum hatte ihr das Schicksal keinen Makel verpasst, der weniger auffiel? Plattfüße zum Beispiel. Plattfüße waren ideal, schließlich steckten sie die meiste Zeit in Schuhen.

Während sie auf der Treppe abwartete, bis sich der Schluckauf legte, malten sich die Stimmen in Lenas Kopf zig Fehler aus, die besser zu ertragen wären: abstehende Ohren, eine Zahnlücke, ein Gesicht voller Sommersprossen. Mit solchen Merkmalen stand einem immerhin noch eine Karriere als Topmodel offen. Und Brillen waren in ihrer Klasse angesagt, seit Chloe eine trug. Mit Fensterglas.

«Man muss nicht schlau sein», behauptete sie. «Es reicht vollkommen, schlau auszusehen. Für den Rest reicht ein gutes Netzwerk.»

Deswegen hatte Chloe 4567 Follower bei Instagram und Lena einen Sack voller Probleme. Lena hoffte darauf, dass sich ihre Nervosität legte, wenn sie beim Pfingstcamp des Handballvereins längere Zeit am Stück mit Jonas verbrachte. Sonja begriff nicht, wie wichtig das Trainingslager war. Für ihre Tante war Handball ein belangloses Hobby, das man jederzeit aufgeben konnte. Für Lena bedeutete der Sport alles. Sie durfte das letzte Spiel der Saison auf keinen Fall verpassen. Und das Pfingstlager schon gleich gar nicht! Alles, was sie tun musste, war, Bio so gut wie möglich hinter sich zu bringen.

4Schluckauf

«Telefon, Heft, Bücher, Schmierzettel, Pausenbrot, alles weg», befahl Frau Eisermann. Genussvoll teilte die Biologielehrerin die Prüfungsblätter aus. Lena knabberte selbstvergessen an ihrer Unterlippe. Heute Morgen im Badezimmer hatte sie die Mendelschen Regeln mühelos herunterbeten können. Amalia Eisermanns grimmiger Blick jedoch verhieß nichts Gutes. Der Oberstudienrätin eilte der Ruf voraus, Wackelkandidaten wie Lena mit extraschweren Prüfungen auf die Probe zu stellen.

Im Sekundentakt schmetterte sie ihre Anweisungen in die Klasse: «Stühle auseinanderrücken. Schluss mit dem Schwatzen. Finger weg vom Handy», bellte sie. Niemand wagte, einen Pieps von sich zu geben. Die Hamster, Mäuse, Ratten, Vögel und Insekten, die das Biolabor bewohnten, zeigten sich unbeeindruckt. In dem festen Wissen, dass Frau Eisermann Tiere mehr liebte als Kinder, raschelten sie lautstark in ihren Käfigen herum.

«Du weißt, worum es geht», warnte Frau Eisermann und platzierte einen Aufgabenzettel auf Lenas Pult. Ihr Lächeln legte jede Menge Zähne und viel Zahnfleisch frei. «Du hast eine Stunde zu beweisen, was du ohne Google wert bist.»

Ihr Zeigefinger fuhr auf die Tastatur des Laptops nieder und aktivierte einen rückwärtslaufenden Ticker. Auf der elektronischen Tafel erschien die Anzeige mit der verbleibenden Zeit. Alle drehten gleichzeitig die Blätter um. Das Geräusch erinnerte Lena an einen Schwarm Vögel, der sich, aufgeschreckt von Frau Eisermann, in die Lüfte erhob. Die Stimmen im Kopf feierten den gelungenen Vergleich.

Mit ihrer markanten Nase, dem energischen Kinn und den stechend hellblauen Augen hatte die Lehrerin selber etwas von einem Vogel. Die wilden Locken thronten in einem lockeren Knoten auf dem Kopf und bildeten eine Art Nest, das auf einen Brüter zu warten schien. Fasziniert beobachtete Lena Frau Eisermanns Haltung. Mit zusammengekniffenen Augen und strenger Miene überwachte sie jede Bewegung in der Klasse. Ihr Oberkörper beugte sich nach vorne, als wäre sie jederzeit bereit, sich im Sturzflug auf ein Opfer zu stürzen. Sosehr die Lehrerin sonst auf Teamarbeit stand, in Prüfungen strafte sie jeden noch so geringen Versuch zu spicken gnadenlos ab. Ihre Absätze hämmerten in den Linoleumboden, als messe ihr Schritt die Sekunden, die vorbeizogen. 59 Minuten 12 Sekunden, 11 Sekunden, 10 Sekunden … Lenas Hand zitterte leicht, als sie ihren Stift aus dem Mäppchen kramte.

«Wenn du Bio verhaust, ist Handball gestrichen.» Die Warnung der Tante klang in ihren Ohren. Verstohlen schielte sie nach links, wo Jonas über den Aufgaben brütete. Sein brauner Lockenkopf stach aus denen seiner Mitschüler heraus, die langen Beine ragten weit in den Mittelgang hinein. Aus den durchschnittlichen Neuntklässlerbänken war er längst hinausgewachsen.

«Vielleicht hilft es, wenn du mit Lesen anfängst», unterbrach eine scharfe Stimme ihre Gedanken. «Am Stift kauen verdirbt nicht nur den Magen, sondern auch die Note.» Frau Eisermann drehte das Papier um, das unberührt vor ihr lag. Erschrocken kontrollierte Lena die Zeit an der Tafel. 57 Minuten 42 Sekunden. Beim Spaziergang durch ihren Kopf hatte sie zwei Minuten verloren. Konzentrier dich. Alles stand auf dem Spiel: Handball, das Pfingstlager, Jonas.

Hastig überflog Lena die Fragen. Der erste Block beschäftigte sich mit dem Bauern Hans, der zwei Rinderrassen kreuzen wollte, dann folgten Aufgaben zu Fruchtfliegen, die merkwürdigerweise das ideale Versuchstier für Vererbungslehre darstellten. Bei Punkt acht stockte Lena der Atem. In meiner Familie treten vermehrt große Nasen, ein energisches Kinn und krause Haare auf, schrieb Amalia Eisermann. Welche vererblichen Merkmale kannst du in deiner Familie feststellen?

Die Oberstudienrätin war besessen davon, ihren Schülern zu beweisen, wie untrennbar der Bio-Lehrstoff mit dem täglichen Leben verbunden war. Ihr Unterricht stellte eine einzige große Feldstudie mit praktischen Übungen und ausufernden Anwendungsbeispielen dar, die ihre Schüler in Kontakt mit Natur und Tierwelt bringen sollten. Bis in die blutigen Details. Die 9b trug nicht nur Verantwortung dafür, die Hamster, Mäuse und Ratten im Biolabor pünktlich und zuverlässig zu füttern. Lena und ihre Mitschüler mussten Stabheuschrecken versorgen, Schnecken beobachten, Kompostwürmer züchten, Insekten klassifizieren und auf dem Schulhof Obstbäume für vom Aussterben bedrohte Steinkäuze pflanzen. Leider stoppte der Entdeckerdrang ihrer Lehrerin nicht bei diesen vergleichsweise harmlosen Tätigkeiten.

«Man kann Respekt ausschließlich für Lebewesen entwickeln, die man kennt», predigte sie. Mit Schaudern erinnerte sich Lena an die Stunden, in denen sie Schweineaugen präparieren, Organe von Fischen freilegen oder einen toten Frosch auseinandernehmen durfte. Lena hätte sich gerne dem Frosch gewidmet. Ihr Magen war anderer Meinung. Bei der ersten Berührung mit dem kalten, muffig riechenden Glibbertier drehte er sich um. Gemeinsam mit Chloe verbrachte sie den Rest der Stunde auf der Toilette. Chloe bekam über ihre Eltern ein rückwirkendes Attest, Lena eine Sechs. Wegen dem blöden Laubfrosch stand Lena jetzt auf der Kippe.

In meiner Familie treten vermehrt große Nasen, ein energisches Kinn und krause Haare auf, las sie noch einmal. Welche vererblichen Merkmale kannst du in deiner Familie feststellen? Für die Beispielfotos hatte die gefürchtete Oberstudienrätin ihr privates Fotoalbum geplündert. Obwohl die Damen Eisermann im Abstand vieler Jahrzehnte geboren waren, glichen sie einander so deutlich, dass Lena den Gedanken an Wiedergeburt nicht mehr abwegig fand. Oder konnte Amalia Eisermann vielleicht durch die Zeit reisen? Darüber sollte sie mal erzählen!

Welche vererblichen Merkmale kannst du in deiner Familie feststellen?

Die freien Fragen zählten bei Frau Eisermann genauso wie die Wissensfragen. Mit persönlich gehaltenen Antworten stellte man unter Beweis, dass man den Zusammenhang zwischen Schulstoff und eigenem Leben begriff. Um Lena herum kratzten Stifte über das Papier. Eine Ratte nagte wütend am Gestänge ihres Käfigs. Lena teilte ihr Bedürfnis, von hier zu verschwinden. Ihr Familienleben passte nicht in ein paar einfache Sätze. Warum reichte es Frau Eisermann nicht, Fragen über unzufriedene Landwirte zu stellen? Bauer Hans aus Frage eins besaß schwarze Rinder und eine gefleckte rotbraune Sorte. Offenbar konnte er nicht ruhig schlafen, bevor er aus seinen zwei Rassen eine dritte mit schwarz gefleckten Tieren gezüchtet hatte. Lena sollte ihm die Arbeit abnehmen und ausrechnen, wie groß die Chance war, dass bei Bauer Hans bald eine neue Sorte Kuh auf der Weide wiederkäute. Das wäre doch eine gesellschaftlich relevante Zusatzfrage: Wie konnte man Bauer Hans überzeugen, mit seinen vorhandenen Kühen zufrieden zu sein? Was war besser an schwarz-braun gefleckten Tieren? Passten die besser zu seiner Inneneinrichtung oder zum Karomuster seiner Oberhemden? Stattdessen sollte Lena über ihre eigene Familie berichten.

Als beste Freundin ahnte ihre Banknachbarin Bobbie, was in ihr vorging. In der siebten Klasse hatte Frau Eisermann die beiden nebeneinandergesetzt. Sie hielt die aufgekratzte Lena und die kluge, aber ausgesprochen zurückgezogene Roberta Albers für ein wunderbares Team. Die erste Woche hatten die Zwangsverpflichteten sich hartnäckig ignoriert. Zu Beginn der zweiten Woche teilte Bobbie wortlos den Inhalt ihrer reichgefüllten Frühstücksdose mit ihrer neuen Banknachbarin. Sie hatte bemerkt, dass Lena, die aus Zeitnot nur jeden zweiten Tag etwas mitbrachte, neidisch auf ihr Brot und Obst schielte. Bobbies Mutter lebte in der permanenten Angst, ihre Tochter könne in der Schule verhungern oder an akutem Vitaminmangel zugrunde gehen. Während Bobbie genervt reagierte, beneidete Lena ihre Mitschülerin heimlich um die Zuwendung ihrer Mutter. Ein einfacher Zettel, den sie an einem Mittwoch zwischen den Broten von Henriette Albers gefunden hatte, hatte sie zu Tränen gerührt. Die Erinnerung an den Zahnarzttermin war mit einem Herz und einer Liebeserklärung an ihre Tochter dekoriert. Schweigend hatte Bobbie ihr eine Packung Taschentücher hingeschoben. Das war der Beginn ihrer Freundschaft gewesen.

Jetzt reckte Bobbie verstohlen den Daumen hoch. Mit ihrem Kurzhaarschnitt, einem überlangen Pony, der ihr fransig in die Stirn hing, den großen Augen, der strahlend weißen Bluse und dem rot karierten Rock wirkte sie wie ein braves Wunderkind. In Wirklichkeit pflegte sie einen schrägen Humor und absonderliche Hobbys. Bobbie stand auf Blut und Grusel und war grundsätzlich die Einzige, die sich freiwillig meldete, wenn es darum ging, tote Tiere zu zerlegen. Später, nach der Schule plante sie, etwas Naturwissenschaftliches zu studieren. Bobbie machte keinen Hehl daraus, dass sie es kaum erwarten konnte, endlich die Schule und ihre Mitschüler, die Abstand zu ihr hielten, hinter sich zu lassen. Lenas Später reduzierte sich auf die Frage, wie sie die Bioarbeit überlebte.

Welche vererblichen Merkmale kannst du in deiner Familie feststellen? Ihre Kehle schnürte sich zu, Tränen stiegen auf. Warum waren plötzlich alle an ihrer Herkunftsfamilie interessiert? Erst Fiona, jetzt Frau Eisermann. Woher sollte sie wissen, was sie von ihrer Mutter und deren Mutter geerbt hatte? Sie erinnerte sich nicht einmal daran, je Eltern gehabt zu haben. Wie auch? Sie war keine vier Jahre alt gewesen, als sie verunglückten.

Lautes Schnipsen schreckte Lena aus ihren Gedanken. Bobbie forderte einen neuen Papierbogen an. Lena beneidete sie. Wenn man Bobbie hieß, war es kein Kunststück, über Vererbung in der eigenen Familie zu schreiben. Wie oft schimpfte Bobbie, dass sie die dürren Beine ihrer Oma, die störrischen Haare dem Vater und die unstillbare Neugier ihrer Mutter zu verdanken hatte. Selbst Chloe, die chronisch ahnungslos war, kritzelte eifrig. Kein Wunder. Jeder in der Klasse hätte die Frage für Chloe beantworten können, schließlich war ihr Urgroßvater Wendelin Wenninger Gründer und Namensgeber der Schule.

«Wir haben das WWW erfunden», behauptete Chloe gerne. Die Wendelin-Wenninger-Werke, die weltweit Cremes, Shampoos, Seifen und Waschmittel vertrieben, waren bis heute der größte Arbeitgeber der Stadt. Um Frage acht zu beantworten, brauchte Chloe nur im Foyer der Schule nachzuschauen, das von einem imposanten Ölgemälde des Schulstifters dominiert wurde. Oder am Wenninger-Brunnen, wo eine Skulptur des Firmengründers über den Marktplatz wachte. Die überlebensgroße Statue zeigte den düster dreinblickenden Apotheker inmitten von riesigen Reagenzgläsern, aus denen Wasser sprudelte. Nachts, wenn bunte Lampen die hohen Fontänen anstrahlten und bunte Lichter auf seinem starren Gesicht tanzten, wirkte er wie ein wahnsinniger Giftmischer, der auf Böses sann. Die Ergebnisse seiner nächtlichen Experimente fanden sich bis heute in jedem Supermarkt. Der Slogan «Wenninger ist mehr», mit dem das Unternehmen seit Jahrzehnten warb, verfolgte Lena seit Kindertagen. Er schrie sie von Litfaßsäulen und Plakatwänden an, erschien in Zeitungen, Werbespots und morgens im Badezimmer.

Gedankenverloren musterte Lena ihre Mitschülerin. Von weniger konnte bei Chloe keine Rede sein, sie gehörte eher der Fraktion «mehr, mehr, mehr» an. Mehr Schminke, mehr Klamotten, mehr Freunde.

Frau Eisermann knallte ein riesiges Metalllineal auf das Lehrerpult. «Noch fünfzehn Minuten», verkündete sie.

Lena schrak zusammen. Wieso fünfzehn Minuten? Wovon redete die? Sie hatte noch nicht mal angefangen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Ihr Kopf lief über vor Gedanken, die in alle Richtungen stoben und dabei systematisch die Minuten auffraßen. Ihre innere Uhr funktionierte nicht richtig. Ein Rätsel mehr für den Chor von Stimmen, der das Thema begeistert aufgriff: Wo saß die innere Uhr eigentlich? Man sah mit den Augen, hörte mit den Ohren, schmeckte mit der Zunge und fühlte mit der Haut. Aber wie war das mit der Zeit? Woher wusste ein Mensch, wie viel Zeit vergangen war, wenn kein Organ dafür zuständig war?

«Fünfzehn Minuten! Das gilt auch für unser Fräulein Friedrich», sagte Frau Eisermann schneidend. «Die starrt wieder Löcher in die Luft.»

In diesem Moment passierte es. Der Supergau. Jonas drehte sich neugierig zu ihr um. Seine braunen Augen blitzten. Du meine Güte. Nicht jetzt. Nicht schon wieder. Nicht in der Klasse. Bitte nicht.

«Hicks», platzte sie laut und vernehmbar heraus.

Jonas war cool. Chloe war cool. Selbst Bobbie, auf ihre eigene, schräge Weise. Lena eher weniger. Sie konnte nicht mal so tun, als ob. Schuld daran waren Jonas und dieser blöde Nerv, der vom Gehirn durch den Brustkorb bis zum Zwerchfell lief und sich wie eine Mimose benahm. Alles irritierte ihn. Hastiges Kauen, überstürztes Schlucken, zu heißes Essen, zu kaltes Essen, Essen und Reden, Reden und Essen, Stress, ein einziger Blick von Jonas. Jedes Mal sendeten hysterische Synapsen einen Notruf zum Gehirn, das den Befehl zu lautstarken Protestbekundungen weitergab. Jonas grinste sie frech an. Seine Augen waren gar nicht braun, sie hatten gelbe Sprenkel. Wie glitzernder Bernstein.

«Hicks», verkündete sie ein bisschen lauter.

Jonas, dem jede Form von Aufmüpfigkeit imponierte, prustete vor Lachen. Die Lehrerin baute sich vor Lenas Pult auf und versperrte den Blick auf Jonas: «Lena Friedrich, du hörst jetzt sofort auf mit dem Unsinn.»

Panik kroch in ihr hoch. Frau Eisermanns Auftritt machte es nur noch schlimmer. Lena hatte Angst vor Schluckauf. Und Angst vor der Angst, Schluckauf zu bekommen. Am meisten jedoch fürchtete sie, dass die Schockreaktion nie mehr wegging. Panisch rief sie ihr Notprogramm ab. Im Lauf der Zeit hatte sie viele gute Ratschläge gesammelt: langsam atmen, schnell atmen, gar nicht atmen, siebenmal trocken schlucken, fünfundzwanzig Sekunden die Handinnenfläche drücken, gähnen, sich erschrecken lassen, Zunge rausstrecken und kräftig daran ziehen. Lena probierte es mit einer harmloseren Übung. Sie holte einmal tief Atem, hielt die Luft an und stellte sich ihre Lehrerin ohne Kopfhaar vor. Normalerweise dachte man an sieben kahlköpfige Männer, aber die Glatzencombo hatte Lena noch nie geholfen. Ihr Kopf wurde leicht, Schwindel ergriff ihren Körper. Jonas lehnte sich neugierig auf seinem Stuhl nach hinten, bis er Lena wieder im Blick hatte. «Hicks», begrüßte Lena sein freundliches Gesicht. Jonas schüttelte sich so vor Lachen, dass er das Gleichgewicht verlor, vom Sitz kippte und mit lautem Gepolter auf dem Fußboden landete. Frau Eisermann fuhr auf dem Absatz herum wie eine wild gewordene Ballerina. Bevor sie ihrem Ärger Luft machen konnte, krabbelte Jonas hoch, stellte seelenruhig seinen Stuhl gerade und überreichte der Biolehrerin lässig seine Arbeit.

«Hab sowieso keine Lust mehr auf Fruchtfliegen», sagte er. Er griff seinen Rucksack, grüßte mit zwei Fingern an der Schläfe und schlenderte gemütlich nach draußen. In der Tür drehte er sich zu Lena um und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Lena verabschiedete ihn mit einem fröhlichen Hicks. Die Hölle brach los. Von hinten links ertönten übertrieben laute Schluckaufgeräusche. Chloe, immer geneigt, sich in Szene zu setzen, nutzte Lenas Steilvorlage. Die Klasse brach in hysterisches Gelächter aus. Aus allen Ecken tönten übertrieben laute Hickser.

«Raus», brüllte die Lehrerin Lena an. «Sofort.»

Ihre Stimme bebte, die roten Lippen zitterten, das Nest auf dem Kopf drohte sich aufzulösen, so empört schüttelte sie den Kopf.

Lena wollte aufbegehren. Ein Blick in Frau Eisermanns finster blitzende Augen zeigte, dass sie besser den Mund hielt. Geschlagen lieferte sie ein leeres Prüfungsblatt beim Lehrerpult ab. Sie hatte es versaut.

 

So schlimm war der Schluckauf noch nie gewesen. Die ganze Pause versuchte Lena vergeblich, ihren Körper unter Kontrolle zu bekommen.

Die Stimmen im Kopf liefen Amok. Wie lange brauchte Frau Eisermann für die Korrektur der Arbeit? Wann musste sie mit einem blauen Brief rechnen? Wie sollte sie es ohne Handball aushalten? Sie wünschte sich sehnlichst, die Zeit zurückdrehen zu können. Warum nur lief die Zeit in eine einzige Richtung? Es gab so viele Dinge, die man problemlos rückwärts erledigen konnte: laufen, lesen, sprechen, zählen, Purzelbäume schlagen, Busfahren, ein T-Shirt anziehen, Anna schreiben. Wäre es nicht phantastisch, über magische Kräfte zu verfügen, die einem erlaubten, rückwärts zu leben? Die Luft um sie herum flimmerte, so übermächtig wurde der Wunsch.

Bobbie, sichtlich besorgt, spreizte vier Finger vor Lenas Gesicht. «Wie viel?»

Aufgeregt sprang sie um Lena herum und feuerte eine Salve Fragen auf sie ab.

«Hast du Kopfschmerzen?», erkundigte sie sich. «Ist dir schwindelig? Kannst du Arme und Beine bewegen? Schluckauf kann auf einen Tumor deuten, auf Hirnentzündung oder einen Infarkt», verkündete sie.

Lena hielt müde vier Finger hoch. Leider war sie immer noch in der Gegenwart. Und die gestaltete sich düster.

«Ein Schlaganfall ist es nicht», stellte Bobbie nüchtern fest. «Sonst müssten wir den Notarzt holen.»

«Hicks», antwortete Lena.

Bobbie verfügte über den ultimativen Geheimtipp. «Küssen hilft», vermeldete sie fröhlich. «Beim Knutschen gelangt jede Menge Sauerstoff in den menschlichen Blutkreislauf. Der Effekt ist derselbe wie beim Luftanhalten.»

Das dumpfe Geräusch eines auftippenden Balls schallte über den Schulhof. Jonas dribbelte selbstvergessen über den Asphalt. Mit Leichtigkeit lief er an, wechselte von der rechten in die linke Hand und drückte sich vom Boden ab. Während er eine Sekunde in der Luft schwebte, beförderte er den Ball in einer irrwitzigen Kurve gegen das verbeulte Warnschild Ballspielen verboten.

«Wer will schon ein Mädchen küssen, das Schluckauf hat?», entgegnete Lena verzweifelt. Ihr tat alles weh.

«Steh dazu», forderte Bobbie Lena auf und lieferte gleich das passende Beispiel. «Es gab mal einen Mann, der hickste von seinem achtundzwanzigsten bis zum sechsundneunzigsten Lebensjahr. Achtundsechzig Jahre lang. Er heiratete zweimal und bekam zehn Kinder.»

«Ich will keinen Stall Kinder. Und keine zwei Ehemänner», entgegnete Lena. «Mir würde es schon reichen, weniger peinlich zu sein.»

Verstohlen blickte sie zu Jonas.

«Wie kann man sich in den verlieben?», fragte Bobbie. «Der wollte schon im Kindergarten ein Superheld sein und hat es nie richtig hingekriegt.»

Chloe sah das offenbar anders. Sie hüpfte spielerisch vor Jonas herum, um ihn am erneuten Wurf zu hindern. Sie schlang die Arme um ihn. Ihre Körper verknoteten sich in freundschaftlicher Rangelei.

«Ich bin nicht verliebt», wehrte sich Lena. «Wie soll ich wissen, ob ich verliebt bin, wenn ich noch nie ein vernünftiges Gespräch mit ihm geführt habe?»

Der Ball rollte vom Spielfeld rüber und landete vor Lenas Füßen. Jonas trabte heran. Er hob den Ball auf und verharrte unschlüssig. Vielleicht hatte Bobbie recht mit ihrer Einschätzung? Er wirkte seltsam nervös.

«Wir haben am Samstag nach dem Spiel eine Party in der Kantine», sagte er überraschend verlegen. «Wenn du Lust hast … ihr Lust habt …»

Er hielt inne.

Nein, sie würde nicht hicksen. Um keinen Preis der Welt. Niemals. Lena presste energisch die Lippen zusammen und starrte gebannt in die Wolken, als erwarte sie eine himmlische Eingebung. Eingeschüchtert trat Jonas von einem Bein aufs andere.

Bobbie antwortete an Lenas Stelle. «Cool», sagte sie und reckte den Daumen nach oben. «Wir kommen.»

5Ein schlechter Moment

«Melde dich, wenn du es hinter dir hast», sagte Bobbie.

An der Ringstraße, die das Zentrum umschloss, trennten sich ihre Schulwege. Bobbie bog in das Villenviertel ab, wo dichte Hecken, hohe Zäune und parkähnliche Gärten die Bewohner blütenweißer Jugendstilhäuser vor neugierigen Blicken schützten. Lena zottelte runter Richtung Fluss. Von der Kaimauer aus beobachtete sie, wie ein schwerbeladener Frachter vor der Anlegestelle der Wenninger-Werke am gegenüberliegenden Ufer wendete, um sich danach kraftvoll flussaufwärts zu kämpfen. Sie stöhnte tief auf. Wie sollte sie Tante Sonja beibringen, dass sie Bio verhauen hatte?

Die Möwen kreischten, der Wind heulte und zog an den Flaggen am Kai. Seit der Hafen auf die andere Seite gezogen war, wo der neue Stammsitz der Wenninger-Werke mit seinen endlosen Backsteinbauten und weitverzweigtem Gewirr an Brücken, Rohren, Stahltürmen und Schornsteinen lag, hatte das Viertel sich verändert. Es roch nach Heizöl, Wasser, Fisch und seit neuestem auch nach Geld und Einfluss. Wo früher Handelsware von Schiffen umgeschlagen wurde, hatten neuerdings Künstlerateliers, Start-ups, Medienagenturen und eine Brauerei Einzug gehalten. In Wolldecken gehüllt, besetzten selbst an diesem kalten Tag Stammkunden, versprengte Touristen und Zufallsgäste die schlichten Werkbänke unter den Heizpilzen. Versonnen blickten sie den Schiffen hinterher, tranken Bier und verspeisten Tonis frittierte Miniburger, die neuerdings so hip waren, dass sich an schönen Tagen lange Schlangen vor dem Nobel-Imbiss bildeten. Früher, als Toni den Laden noch selber führte, hatte Lena sich auf dem Heimweg gerne Pommes geholt. Sie vermisste das breite Lachen des gutmütigen Rastamanns, der als Flüchtling in die Stadt gekommen war und seinen Lebensunterhalt mit guter Laune und durchgeknallten Rezeptideen verdiente. Zum Hafenfest hatte er Brathähnchen mit Popcorn gefüllt. Das explodierende Huhn machte sich selbständig und schlug in so hohem Tempo gegen die Scheibe des Ofens, dass diese aus der Verankerung riss. Umsatz machte man mit fliegenden Grillhähnchen nicht, Freunde und Schlagzeilen dafür schon. Eine geschickte Investorin hatte Tonis Namen, seine Rezepte und die malerisch runtergekommene Bude an der Kaimauer übernommen und in einen Szenetreff verwandelt. Seitdem waren die frittierten Burger halb so groß und kosteten doppelt so viel. Statt mit Popcorn, guten Worten und breitem Grinsen wurden die Köstlichkeiten mit Craft-Bier und Loungemusik serviert. Kinder waren hier nicht mehr willkommen. Toni genauso wenig.

Lena fröstelte. Das Thermometer zeigte am Wasser durchschnittlich vier Grad weniger an als oben in der Stadt. Doch es war nicht nur die Kälte, die sie quälte. Der Chor der inneren Stimmen malte sich bereits die Predigt aus, die sie zu Hause erwartete. Mit schwerem Schritt bog sie von der Uferstraße ab. Anstatt zügig nach Hause zu gehen und sich Sonjas Fragen zu stellen, trödelte Lena zwischen den alten Speicherhäusern und verfallenen Industriebaracken herum, bis in der Ferne ein alter Industriebau auftauchte. Der knallrote Schriftzug Citybox leuchtete in den grauen Himmel. Früher fungierte der Bau als einfache Speicherhalle. Seit ihre Tante den Laden übernommen hatte, konnte man hier seinen Besitz in mehr oder weniger großen Einheiten für einen Monat, ein Jahr oder ein Jahrzehnt unterbringen. Hinter nummerierten knallgelben Rolltüren verbarg sich, was Menschen aufbewahren wollten: Weihnachtsdekoration und Sommermöbel, Schlauchboote und Schlitten, vergessene Sammlungen, überflüssiges Porzellan und angestaubte Möbel. In den Boxen lagerten Erinnerungen an längst aufgegebene Sportarten und Hobbys, Diebesgut, Händlerware und Wertsachen, die jemand in Scheidungs- oder Erbfällen verbergen wollte. Ihre Tante, die das Unternehmen führte, schwieg wie ein Grab. Bei Sonja ruhte die Vergangenheit, bis nächste Woche, nächsten Sommer oder zum nächsten Leben. An der zweistöckigen Lagerhalle lehnte ein schmuckloser zweistöckiger Flachbau, den die Familie übergangsweise als Wohnraum nutzte. Übergangsweise dauerte bereits Lenas ganzes Leben.

 

Wenn Bobbie nach Hause kam, wartete ihre Mutter mit dem Mittagessen, bei Lena waren es die kleinen Schwestern. Es gehörte zu ihren Aufgaben, mittags für Fiona und Carlotta Essen zuzubereiten. Lena war ungekrönte Weltmeisterin in Nudeln mit roter Soße, Pfannkuchen, grasgrünem Wackelpudding und Pizza bestellen. Normalerweise flog Sonja rastlos zwischen ihrem Büro, der Lagerhalle und Terminen bei der Bank, beim Scheidungsanwalt, Steuerberater und Arzt hin und her. Ausgerechnet heute war sie zu Hause. Lena hörte ihre verärgerte Stimme schon von weitem. Die Tante tigerte aufgeregt auf dem Parkplatz auf und ab und brüllte ins Telefon. «Erst nach Pfingsten? Für wen halten Sie mich? Für Noah, der mal eben eine Arche baut, weil alles absäuft? Ich brauche sofort einen Handwerker. Und einen Wagen, der das Zeug abholt.»

Die Hoffnung, ihre Tante in guter Laune anzutreffen, platzte wie eine Seifenblase. Lena beschloss, der Konfrontation aus dem Weg zu gehen und die Beantwortung unangenehmer Fragen aufzuschieben. Ungesehen schlüpfte sie ins Haus. Sie hielt bereits die Klinke zu ihrem Zimmer in der Hand, als eine Stimme sie aufhielt.

«Was krieg ich, wenn ich dich nicht verrate?» Carlotta zwinkerte Lena verschwörerisch zu.

«Verraten? Was willst du verraten?», fragte Lena alarmiert.

«Deine Lehrerin hat dreimal angerufen», trumpfte Carlotta auf.

Lena sank das Herz in die Hose. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr Versagen so schnell aufflog.

«Wenn ich vergesse, die Anrufe auszurichten, darf ich dann an deinen Computer?», fragte Carlotta lauernd. Sie beklagte sich ununterbrochen, dass Sonja ihr viel zu wenig Computerzeit zugestand.

«Das ist Erpressung», beschwerte sich Lena.

«Ich helfe dir, und du hilfst mir», antwortete ihre kleine Schwester. «Als Jüngste werde ich dauernd diskriminiert.»

Lena wunderte sich noch, wo Carlotta das Wort aufgeschnappt hatte, als die Haustür unten aufgeschlossen wurde.

«Lena? Wo ist Lena? Ist Lena schon zu Hause?», brüllte Sonja durch den Gang.

«Das Passwort für den Computer», flüsterte Carlotta.

Ihre kleine Schwester liebte es, in Lenas Zimmer abzuhängen, Klamotten und Schuhe anzuprobieren, Stifte zu testen, Parfüm zu stehlen und nebenbei die Filme zu sehen, für die sie laut ihrer Mutter zu jung war. Nichts war vor ihrem neugierigen Blick und den flinken Fingern sicher. Besonders fasziniert war Carlotta von dem unscharfen und verblichenen Familienporträt über Lenas Bett. Die Aufnahme zeigte Lena, wie sie mit ihren leiblichen Eltern auf einem altmodisch geschwungenen, lila geblümten Oma-Sofa herumhopste. Links ihr Vater Thomas, sonnengebräunt, sportlich, noch im orangefarbenen Trikot des Handballvereins, als wäre er eben von einem Spiel zurückgekehrt, rechts ihre Mutter Rhea, deren Kleid bis auf die Oberschenkel hochgerutscht war und endlos lange Beine enthüllte. Unglücklicherweise verdeckte Thomas’ Hand die Hälfte seines Gesichtes, bei Rhea waren es die langen Locken. In ihrer Mitte hielten sie eine glücklich strahlende kleine Lena. Als unzerstörbare Dreieinheit schwebten sie für ewig in der Luft, als könnten sie fliegen. Das Foto war der Grund gewesen, warum Lena sich für Handball entschieden hatte. Der Sport war ihre geheime Verbindung zu ihrem Vater. Sobald sie den Ball in Händen hielt, spürte sie ein unsichtbares Band zwischen ihnen.

Carlotta fragte jedes Mal, ob das wirklich Lenas Mama und Papa waren. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Erwachsene mit ihren Kindern auf einem Sofa herumhüpften. Und überhaupt: Wieso nannte Lena ihre leiblichen Eltern immer beim Vornamen? Lena zuckte mit den Achseln. Vermutlich hatte sie die Anredeform von Sonja übernommen. Die Stimmen im Kopf wussten es besser. «Du erinnerst dich einfach nicht an die beiden», tönten sie im Chor. «Wie soll man da Mama und Papa sagen?»

Das Gesicht von Sonja erschien unten an der Treppe. «Hast du Lena gesehen?», rief die Tante nach oben. «Nie kann man sich auf sie verlassen.»

Lena zwängte sich in eine Ecke, um dem Blick der Tante zu entkommen. Sie kritzelte eine Nummernkombination auf Carlottas Arm. Die kleine Schwester rief laut: «Lena? Keine Ahnung, hier ist sie nicht.»

Von unten schallte das Klingeln des Telefons.

«Wenninger-Gymnasium?», hörte Lena die überraschte Stimme ihrer Tante. «Ja, ich bin die Mutter von Lena …»

6Das Haus der vergessenen Geschichten

Abhauen. So schnell wie möglich. Citybox war Lenas bevorzugter Zufluchtsort, wenn der Haussegen schief hing. Wie oft hatte sie sich in die Lagerhalle geflüchtet, wenn Sonja und Hugo lautstark stritten? Sonjas Jähzorn war legendär. Wie lange würde es dauern, bis sie Dampf abgelassen hatte? Wenn Lena lange genug von der Bildfläche verschwand, freute sich die Tante vielleicht, wenn sie wohlbehalten wiederauftauchte.

Sonja hatte den Kindern von klein auf verboten, in der Halle herumzutoben. Während Fiona und Carlotta die dunklen Flure fürchteten, zog die verwinkelte Anlage Lena magisch an. In dem düsteren Gewirr von Gängen, Treppen und Türen fühlte Lena sich geborgen. Alles, was sie tun musste, war, ungesehen am Wachmann vorbeizuschlüpfen. Seit sie denken konnte, schob Harry König in seinem Glaskasten Dienst und kontrollierte den Zugang zu Parkplatz und Halle. Harrys kahler Schädel glänzte im Neonlicht. Auf seiner Haut erzählten bunte Tattoos die Geschichten längst verflossener Lieben und Leidenschaften. Neben dem rosenumkränzten Namen Lilliane prangte das Logo des Handballvereins, für den Harry regelmäßig als Schiedsrichter im Einsatz war. Der Wachmann besaß die Statur eines Langstreckenläufers, Muskeln wie ein Gewichtheber und das Gemüt eines Braunbären. Zumeist döste er in seiner Glasbox, aber wenn man ihm zu nahe trat, konnte er ungeahnte Kräfte entwickeln. An ihm, der Schranke und seiner Linken kam keiner vorbei. Keiner außer Lena.

Ein gezielter Tritt gegen den Reifen von Harrys silberfarbenem, fast schon antikem Mercedes-Zweisitzer reichte, den Alarm auszulösen und den Wachmann aus seinem Aquarium herauszulocken. Harry behandelte den Sportwagen mit der Hingabe eines Frischverliebten. Im erbitterten Krieg gegen Rostbefall, Schmutz und Dellen nutzte er jede freie Minute, das Auto zu wienern, zu wachsen, zu waschen und zu polieren. Der Alarm ließ ihn ruckartig aus seinem Drehstuhl hochschnellen. Mit ein paar gewaltigen Sätzen war er beim Mercedes. Misstrauisch drehte er eine Runde um sein Heiligtum. Lena setzte zum Sprint Richtung Eingang an, als er sich ruckartig umwandte und direkt in ihre Richtung starrte. In letzter Sekunde duckte Lena sich hinter einen Lieferwagen. Angstvoll lauschte sie. Nichts. Keine Schritte, die über den Asphalt knirschten, kein Atem, der näher kam, keine Stimme, die ihren Namen rief. Gespenstische Ruhe lag über dem Platz.

Lena sondierte die Lage. Wie viele Schritte lagen zwischen ihr und dem Eingang zur Halle? Vorsichtig lehnte sie sich nach vorne. Ein lautes Geräusch ließ sie zurückzucken. Eine Böe riss die Plane von einer Palette Umzugskartons, die auf einem Rollwagen warteten, und blies sie über den Asphalt. Die Folie tanzte über den Parkplatz wie ein milchig weißes Gespenst, bevor der Wind von seinem Spielzeug abließ und das Plastik auf dem Boden niedersetzte. Wo war Harry König? Wieso hörte sie nichts? Stand er immer noch am Auto? Mit der lauernden Haltung eines Raubtiers, das bereit war, zum Sprung anzusetzen, sobald sie sich zeigte? Lena hielt die Luft an. Die Stille war ohrenbetäubend. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie rechnete jeden Moment damit, dass seine Hand sie greifen und aus ihrem Versteck ziehen würde. Vorsichtig lugte sie unter dem Lieferwagen hervor. Turnschuhe mit orangeroten Flammen bewegten sich auf sie zu. Just in diesem Moment nahm der Wind die Plane mit einem mächtigen Satz auf und schleuderte sie gegen Harry König. Das Plastik legte sich um seinen Körper und nahm ihm ein paar Sekunden lang Atem und Sicht. Lena nutzte die Gunst des Augenblicks. Sie schnellte aus ihrem Versteck hervor. Ohne eine Sekunde zu zögern, stürmte sie Richtung Lagerhalle und drückte sich durch die Eingangstür. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie König sich wütend vom Plastik befreite. Lena hetzte einfach weiter. Jetzt kam ihr zugute, dass sie jeden Meter der Lagerhalle in- und auswendig kannte.

Im letzten Sommer hatte sie sich gemeinsam mit Bobbie einen Spaß daraus gemacht, ihre eigene Version von Mission Impossible zu entwickeln. Ziel des Spiels war, ungesehen vom Haupteingang zum Getränkeautomaten im zweiten Stock zu gelangen. Dreiunddreißigmal fingen die Sicherheitskameras sie auf halbem Weg ein, dreiunddreißigmal setzte Harry die Eindringlinge an die frische Luft. Beim vierunddreißigsten Mal klappte es mit der Party am Getränkeautomaten. Wenn Harry König ihnen im Handballverein über den Weg lief, verfolgte der Hobbyschiedsrichter sie auch jenseits des Spielfelds mit misstrauischen Blicken. Zu Recht. Seit dem Sommer war Lena eine Meisterin darin, quasi unsichtbar durch die Gänge zu streunen und hinter dem Rücken von Sonja ein paar Euro zu verdienen. Sie trug Pakete, hielt Türen auf, organisierte Rollwägen, Kartons und Werkzeug. Dabei bewegte sie sich geschickt an Lichtschranken und Kameras vorbei. Und manchmal hörte sie den Mietern der Boxen auch nur zu. Hinter den Türen schliefen unzählige Geheimnisse, all die vergessenen Geschichten, die darauf warteten, von ihr entdeckt zu werden. Lena mochte Erzählungen von früher. Sie beneidete Menschen mit Erinnerungen. Insgeheim hegte sie die Hoffnung, in den Gängen auf jemanden zu treffen, der ihre Eltern gekannt hatte.

Sonja hatte immer nur abwehrend auf neugierige Fragen reagiert. «Man muss die Vergangenheit ruhen lassen», sagte sie. «Wir schauen nach vorne, nicht zurück.» Nicht umsonst hatte sie aus dem Vergessen und Verbergen ihren Beruf gemacht.

Unbehelligt erreichte Lena den Getränkeautomaten. Sie pulte ein paar Münzen aus ihrer Hosentasche, ließ eine heiße Schokolade raus und kauerte sich in die eine Ecke, von der sie wusste, dass sie im toten Winkel der Kameras lag. Sie musste nachdenken, eine Strategie entwickeln, einen Ausweg bedenken, wie sie Schule, Handball, die Tante und nicht zuletzt Jonas unter einen Hut bekam. Die Fünf in Bio war ihr sicher. Aber vielleicht hatte sie in Englisch eine Chance, sich zu verbessern. Sie kramte ihr Vokabelheft aus dem Schulrucksack und schlug die unregelmäßigen Verben auf. Be, was/were, been, sein. Beat, beat, beaten, schlagen. Become, became … Irritiert hielt sie inne. Tock, tock, tock, klang es aus der Ferne. Regelmäßig, unaufhörlich und irritierend. Tock, tock, tock. Ein lautes Tropfen. Dazu kam dieser durchdringende, scharfe Geruch, der in der Luft hing. Der Chor der Stimmen malte Schreckensbilder an die Wand. War das Lösungsmittel? Benzin? Brandbeschleuniger? Lena rechnete jede Sekunde damit, dass jemand ein Streichholz anriss oder lautstark das gezahnte Rad eines Feuerzeugs drehte. Kurz bevor alles in Flammen aufging. So, wie sie das hundertmal in Bobbies geliebten Krimis gesehen hatte.

Von den Wänden glotzten sie unheimliche Kreaturen an. Wo andere Leute Wände mit Kunstdrucken schmückten, hingen bei Citybox Großaufnahmen von Motten, Papier- und Teppichkäfern, von Ameisen, Wanzen, Schaben, Silberfischchen, Asseln, Flöhen und Würmern. Mehr als Brand und Diebe fürchtete Sonja jede Form von Krabbeltier. Ihre Tante führte einen erbitterten Krieg gegen Schädlinge, die drohten, mit einem Spaziergang von einer Box in die nächste das Geschäft zu ruinieren. Unter jedem der Fahndungsbilder stand Sonjas Handynummer. Die Tante engagierte keinen Kammerjäger, sondern kämpfte selbst an vorderster Front gegen rufschädigendes Ungeziefer. Amalia Eisermann hegte und pflegte jede noch so kleine Kreatur, bei Sonja drohte ihnen die Todesstrafe. Lena hatte manchem Käfer und mancher Spinne, die sich unvorsichtigerweise in Sonjas Hoheitsgebiet verirrt hatten, das Leben gerettet. Aber wer beschützte Lena?

Tock, tock, tock. Das Tropfen schien stärker zu werden.

Vorsichtig kroch sie aus ihrer Deckung hervor, robbte bis zum Quergang und blitzte verstohlen um die Ecke. Der Flur gähnte sie an wie ein schwarzes Loch, verlassen und dunkel lag er vor ihr. Ganz hinten, am Ende des totlaufenden Korridors fiel aus der Nummer 187 ein schmaler Lichtstreifen auf den Flur. Lena konnte die Mieter von Citybox im Schlaf herunterbeten. Nummer 184 gehörte einem schrulligen Autor, der den Vertrieb seiner Krimis aus der Box betrieb und Tausende Exemplare seiner blutrünstigen Werke vorrätig hielt. Daneben, in Nummer 185, bewahrte die kitschversessene Eigentümerin einer Friseurkette ihr ausuferndes Dekomaterial, von glitzernden venezianischen Faschingsmasken über putzige Osterhäschen bis hin zu überladenen Plastikweihnachtsbäumen und rosa Glücksschweinchen für Silvester. Für Box 186 zeichnete Kevin Müller vom Export-Import am Hauptbahnhof verantwortlich. Seine Handelsware bestand hauptsächlich aus gefälschten Teppichen, Partien nutzlosen Elektronikspielzeugs und bunten Leuchtbildern mit schillernden Wasserfällen. Nummer 187 war seit Ewigkeiten unvermietet. Noch nie hatte Lena jemanden bei der Box angetroffen.

Durch den Gang hallten jetzt Stimmen und Schritte. Klackende Absätze näherten sich in hohem Tempo. Lena zuckte zusammen, als sie Sonjas Stimme erkannte. In einem übertrieben freundlichen Singsang erläuterte sie einem neuen Kunden die Hausregeln: «Keine Box ohne Ausweis, kein Zugang ohne Schlüssel, keine Zigaretten, keine Gegenstände auf den Gängen, keine Tiere, keine Fragen.»

Eine Tür öffnete sich und fiel krachend ins Schloss. Die Geräusche erstarben. Ängstlich wartete Lena ab, aber es blieb still. Bis auf das dumpfe Tropfen. Tock, tock, tock. Lena zählte bis zwanzig, bevor sie es wagte, sich wieder zu bewegen. Beherzt hechtete sie unter dem halboffenen Rolltor hindurch in Box 187.

«Super», beglückwünschte sie ihr innerer Chor. «Jetzt sitzt du in der Falle.» Lena hörte nicht auf ihn. Sie klammerte sich an das undeutliche Gefühl, etwas Großem auf der Spur zu sein.

Flackerndes Licht beleuchtete die unübersichtliche Szenerie. Die Luft schmeckte nach Muff und Moder. Etwas Nasses traf sie von oben. Sie wich aus und platschte in eine Pfütze. Überall standen gut gefüllte Wassereimer. Von der Decke tropfte es aus der Klimaanlage unaufhaltsam auf die in der Box gelagerten Hinterlassenschaften herab. Das also hatte ihre Tante vorhin am Telefon so lautstark verhandelt. Neugierig trat sie näher. Sie konnte kaum glauben, was sie sah. Der Hausrat im Halbdunkel kam ihr merkwürdig bekannt vor. Sie aktivierte die Taschenlampen-App auf ihrem Handy.

Im hellen Lichtkegel identifizierte sie Hugos Skiausrüstung, die durchsichtigen Boxen mit seinen Seidenkrawatten, Kartons mit handgenähten Lederschuhen und eine Kleiderstange, an der Hugos Maßanzüge verstaubten. Lena fand immer, dass seine Kleidung perfekt zu ihm passte: Alles war angeberisch, schrill, übertrieben und viel zu teuer. «Hugo muss brennen, um sich zu spüren», sagte Sonja immer. Bis sie merkte, dass er vor allem ihr Geld verbrannte. Hugo pflegte ein unbekümmertes Verhältnis zu Wahrheit und Fakten und stürzte sich mit Haut, Haar und Sonjas Ersparnissen in jede noch so windige Geschäftsidee, die schnellen Reichtum versprach. Mal handelte er mit überteuerten Topfsets, dann wieder mit Heizdecken, die er bei Kaffeefahrten an ahnungslose Rentner verscherbelte, ein andermal investierte er in Gesundheitswässerchen, Vitamine aus Fernost oder Muskelaufbaupräparate. Alles, was er beruflich anfasste, verwandelte sich in Schulden. Und in Restmüll, den Sonja offenbar in Box 187 lagerte.

Berge unverkäuflicher Warenmuster erzählten von hochfliegenden Träumen, übertriebenen Umsatzerwartungen und harten Landungen in der Realität. Als Lena die Kartons beiseiteschob, knirschte Glas unter ihren Füßen. Das Verlobungsfoto, das früher über dem Ehebett in Sonjas Schlafzimmer hing, lag zerschmettert auf dem Boden. Auf dem Bild posierten Hugo und Sonja vor einer malerisch heruntergekommenen Ziegelwand im Hafenviertel, auf die Hugo seinen Heiratsantrag gepinselt hatte. Lena hatte sich nie besonders gut mit Hugo verstanden. Sein alter Krempel war ihr herzlich egal. Umso mehr interessierte sie sich für etwas, das sich hinter den vielen Kisten versteckte: ein dreibeiniges Oma-Sofa mit altmodischem Holzgestell. Mühsam bahnte Lena sich den Weg zwischen den Umzugskisten, um das Möbelstück näher in Augenschein zu nehmen. Eine dicke Schmutzschicht hatte sich über den Stoff gelegt. Lena schlug mit der flachen Hand aufs Polster. Als die Staubwolke sich verzog, erkannte sie das bekannte lila Blumenmuster. Kein Zweifel möglich: Vor ihr standen die jämmerlichen Überreste des Sofas, auf dem sie vor vielen Jahren mit ihren Eltern herumgehopst war.

In der Ferne rumpelte der Lastenaufzug durch den Schacht. Lena unterdrückte die aufkommende Panik. Ihr Instinkt hatte sie nicht getrogen. Vielleicht wusste dieser Raum etwas über die Vergangenheit, über die niemand sprechen wollte. Am allerwenigsten Sonja. Schwindel ergriff Lena, sie taumelte und stieß mit dem Rücken an einen wackligen Turm aus Umzugskisten. Der oberste Karton geriet ins Rutschen und landete mit lautem Knall auf dem Betonboden. Geschirr klirrte. Aus dem Inneren erklang das wehmütige Klimpern einer Spieluhr: metallene Töne, flüchtig wie aus Silberhaar gesponnen. Die bruchstückhafte Melodie elektrisierte Lena. Der feuchte Karton riss in ihren Händen, als sie aufgeregt die Lasche öffnete.