Die Nacht der Lichter - Die Sommerschwestern - Monika Peetz - E-Book
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Die Nacht der Lichter - Die Sommerschwestern E-Book

Monika Peetz

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Beschreibung

Im zweiten Band der Sommerschwestern-Romane von Monika Peetz kehren die vier Schwestern an ihren Ferienort Bergen an der holländischen Nordseeküste zurück, um das Familiengeheimnis um den Tod ihres Vaters aufzudecken. Eine aufregende Suche nach der Wahrheit vor sommerlicher Urlaubskulisse. Jede Familie hat ein Geheimnis. Die Familie Thalberg hatte zwei. Das Rezept für den besten Käsekuchen der Welt und die Frage, was wirklich in der Sturmnacht geschehen war, in der der Vater verunglückte. In den großen Ferien kehren die vier Sommerschwestern an die holländische Nordseeküste zurück. Der Strandurlaub verwandelt sich in die ultimative Zerreißprobe. Ein mysteriöser Verfolger lässt die Konflikte zwischen den vier Frauen eskalieren. Alles kreist um die entscheidende Frage: Wohin war Johannes Thalberg in der Sturmnacht unterwegs? Jede der Schwestern kennt ein Stück der Wahrheit. Und jede hat etwas zu verbergen.

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Monika Peetz

Sommerschwestern – Die Nacht der Lichter

Roman

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Über Monika Peetz

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Inhaltsverzeichnis

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Über Monika Peetz

Monika Peetz studierte Germanistik, Kommunikationswissenschaften und Philosophie in München. Seit 1998 lebt sie als Drehbuchautorin in Deutschland und den Niederlanden. Monika Peetz ist die Autorin der Bestsellerreihe »Die Dienstagsfrauen«. Ihre Romane um die fünf Freundinnen waren SPIEGEL-Bestseller und verkauften sich allein im deutschsprachigen Raum über eine Million Mal. Ihre Bücher erscheinen in 26 Ländern und sind auch im Ausland Bestseller. Bei Kindler Jugendbuch hat sie die Romantriologie »Herz der Zeit« vorgelegt.

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Über dieses Buch

Im zweiten Band der Sommerschwestern-Romane von Monika Peetz kehren die vier Schwestern an ihren Ferienort Bergen an der holländischen Nordseeküste zurück, um das Familiengeheimnis um den Tod ihres Vaters aufzudecken. Eine aufregende Suche nach der Wahrheit vor sommerlicher Urlaubskulisse.

Jede Familie hat ein Geheimnis. Die Familie Thalberg hatte zwei. Das Rezept für den besten Käsekuchen der Welt und die Frage, was wirklich in der Sturmnacht geschehen war, in der der Vater verunglückte. In den großen Ferien kehren die vier Sommerschwestern an die holländische Nordseeküste zurück. Der Strandurlaub verwandelt sich in die ultimative Zerreißprobe.

Ein mysteriöser Verfolger lässt die Konflikte zwischen den vier Frauen eskalieren. Alles kreist um die entscheidende Frage: Wohin war Johannes Thalberg in der Sturmnacht unterwegs? Jede der Schwestern kennt ein Stück der Wahrheit. Und jede hat etwas zu verbergen.

Inhaltsverzeichnis

1. Bist du noch wach?

2. Geburtstagsgeschenke

3. Alles so wie früher

4. Ein Geist aus Stein

5. Ein später Gast

6. Windstärke 9 

7. Wie im Märchen

8. Nebelgeister

9. Willkommen in Bergen

10. Allein

11. Pläne schmieden

12. Ablenkungsmanöver

13. Schätze aus dem Meer

14. Im Visier

15. Das Dorf im Dorf

16. Bringschuld

17. Vincent

18. Zombies

19. Eine Frage zu viel

20. Ein ungebetener Gast

21. Plötzlich erwachsen

22. Das Surferparadies

23. Ein Sack Flöhe

24. Verschwunden

25. Wellenbewegungen

26. Die Abwesende

27. Was wäre, wenn?

28. Brot und Erbsen

29. Vergessene Schuhe

30. Lauter gut gelaunte Menschen

31. Unterwasserwelten

32. Ein Schritt zu viel

33. Im Verzug

34. Alte Muster

35. Auf der Flucht

36. Offene Fragen

37. Bilder im Kopf

38. Undine

39. Der zweite Anlauf

40. Das wirst du bereuen

41. Vierzehn ist doof

42. Tropentage

43. Alles auf Rot

44. Sonnenuntergang

45. Gewitterstimmung

46. Wie kannst du nur?

47. Reine Mathematik

48. Ein neuer Morgen

49. Tunnelblick

50. Lachende Hühner

51. Einmal Zwilling, immer Zwilling

52. Prüfungen

53. Sommerregen

54. Halloween

55. Der erste Mittwoch im August

56. Göttliche Stimmen

57. Seemannsgarn

58. Wiederbegegnungen

59. Das ungelebte Leben

60. Stürmische Nächte

61. Die Kunst der Beobachtung

62. Reiner Tisch

63. Morgendämmerung

64. Zeichen und Wunder

65. Wieder zu Hause

Dank

1. Bist du noch wach?

Die Zeiger der Uhr wollten sich einfach nicht weiterdrehen. Vorsichtig öffnete Helen die Tür zu Pauls Arbeitszimmer. Das bläuliche Computerlicht erhellte sein ernstes Gesicht. Als Student arbeitete ihr Freund mit Transparentpapier und weichen 6B-Bleistiften, heute erledigte er den Löwenanteil seiner Arbeit am Computer. Vor Abgabeterminen gerne auch mal in Nachtschichten. An seinem Stehtisch feilte der Architekt an Details für einen Wettbewerb, entwarf und verwarf. Über Wochen hatte Helen gespannt mitverfolgt, wie auf dem Computer aus einem Industriebrachland eine virtuelle Wohnlandschaft wuchs, in der Ateliers, Eigentumswohnungen und sozialer Wohnungsbau zu einer Einheit verschmolzen. Helen drückte ihm einen Kuss in den Nacken.

»Lust auf einen Abendspaziergang?«, fragte sie.

»Es ist drei Uhr«, sagte Paul nach einem schnellen Blick auf seine AppleWatch.

»Lust auf einen Morgenspaziergang?«, antwortete Helen.

Paul legte seinen elektronischen Stift aus der Hand.

»Wann hast du das letzte Mal sieben Stunden Schlaf abbekommen?«, fragte Paul besorgt. »An einem Stück?«

In Helens Kopf kämpften jede Nacht Stimmen um ihre Aufmerksamkeit. Die meisten wollten einfach nur schlafen. Doch diese eine, die penetranteste von allen, gab keine Ruhe und feuerte immer neue Fragen ab: Was mache ich an meinem Dreißigsten? Feiern? Mit Amelie? Mit der Familie? Wegfahren? Wieso sind die Nachbarn schon wieder so laut? Kann man angesichts der Weltlage überhaupt Urlaub planen? Wo ist der Zettel von der Reinigung? Warum meldet sich niemand aus der Familie? Wie geht es Mama? Hat der Krebs weiter gestreut?

»Ich bin eben eine Nachteule«, sagte Helen.

»Die tagsüber aktiv ist«, antwortete Paul.

»Ach was, halb so schlimm«, wiegelte sie ab.

Dabei kreisten Helens Gedanken seit Monaten vierundzwanzig Stunden am Tag um Schlaf. Manchmal war sie die ganze Nacht nur damit beschäftigt, nachzurechnen, wie viel Zeit ihr blieb, bis der Wecker sie unnachgiebig aus dem Bett jagte. Und das natürlich immer in dem Moment, in dem sie endlich eingenickt war. Morgens wollte sie gerne schlafen, nachmittags schlief sie beinahe ein, abends begann das Spiel von Neuem. Bis sie an einem Mittwoch um 10.20 Uhr im Labor zusammenklappte.

 

Helen öffnete mühsam die Augen. Die Neonbeleuchtung blendete sie. Über ihr schwebten drei Augenpaare. Verblüfft erkannte sie die besorgten Blicke ihrer indischen Werkstudentin Shivani und der Kollegen aus dem Labor nebenan. Plötzlich rückten sie zur Seite und machten Platz für die riesengroßen wasserblauen Augen von Dr. Schmitt, die hinter einer dicken Hornbrille aufblitzten.

»Was ist passiert?«, fragte der Betriebsarzt.

Helen war zu benommen, um direkt eine Antwort zu finden.

»Sie ist umgekippt, einfach so, mitten im Satz«, sagte Shivani, der der Schreck ordentlich in die Glieder gefahren war.

»Mein Kreislauf, vielleicht habe ich einfach zu wenig gegessen«, stammelte Helen.

In Wahrheit hatte sie sich schon den ganzen Tag merkwürdig zittrig gefühlt.

Dr. Schmitt ließ sie nicht mit einer Notlüge davonkommen.

»Synkopen haben immer eine tiefere Ursache«, sagte er. »Besser wir schauen nach, wenn Ihr Gehirn Sie im Stich lässt.«

»Ich bin vollkommen gesund«, sagte Helen. »Mir fehlt nichts.«

Er untersuchte die Beule am Kopf. »Nichts zu nähen«, sagte er enttäuscht. »Schade, da freuen sich meine Assistenten immer besonders.«

So viel schonungslose Ehrlichkeit überforderte sie. Helen wusste sofort wieder, warum sie Arztbesuche gerne vor sich herschob.

»Haben Sie Stress?«

Jetzt schon, dachte sie.

»Nicht dass ich wüsste«, sagte Helen.

Falsche Antwort. Dr. Schmitt durchbohrte sie mit seinem Röntgenblick.

»Jeder hat Stress«, sagte der Betriebsarzt tadelnd.

»Nicht mehr als sonst«, sagte sie.

»Vielleicht ist es auch sonst schon zu viel«, schloss er folgerichtig.

»Ich habe ein paar Nächte nicht so gut geschlafen«, sagte Helen. »Es geht schon wieder.«

Dr. Schmitt leuchtete ihr mit einem Licht in die Augen: »Die Pupillen reagieren, beide, und noch dazu gleich. Sehr schön. Wenn sich da nichts rührt, muss man mal nachsehen, ob der Patient überhaupt noch lebt.«

Er strahlte über das ganze Gesicht, als erwarte er Beifall für seine geniale Diagnose. Helen lächelte schief: »Mir geht es großartig.«

»Und seit wann leiden Sie unter Schlaflosigkeit?«, fragte der Arzt.

Helen konnte das Datum genau benennen. Seitdem ihre Mutter sie an den traumatischen Ort ihrer Kindheit eingeladen und mit einem Überraschungsehemann konfrontiert hatte, seitdem sie fünf Tage mit ihren Schwestern verbracht hatte. Seitdem sie wieder vermehrt an ihren Vater dachte. Seit ihrem Kurzurlaub an der holländischen Küste. Seit Bergen.

»Zwei, drei Wochen«, sagte sie.

Zwölf Monate wäre die Wahrheit gewesen. Aber sie hatte nicht das geringste Interesse daran, ihr Innenleben vor dem schrägen Betriebsarzt nach außen zu stülpen. Sie fand es ohnehin restlos übertrieben, dass Shivani ihn hinzugezogen hatte.

Der Betriebsarzt musterte sie mit seinen wässrigen Augen.

»Und in Wirklichkeit?«, fragte er.

»Ein bisschen länger. Ein paar Wochen, höchstens.«

»Bettruhe«, beschied er kurz und knapp.

»Auf keinen Fall«, sagte Helen energisch. Dass die Wörter Bett und Ruhe eine eheähnliche Verbindung eingingen, erschien ihr ohnehin eher unwahrscheinlich. Sie sprang auf und sackte sofort wieder zusammen. Ihr war immer noch schwindelig.

»Drei Tage, dann das Wochenende, der Brückentag … Sie brauchen dringend eine Pause.«

»Ich habe den ganzen Schreibtisch voll. Wir müssen die Testreihe bis nächste Woche abschließen …«, sagte Helen schwach.

»Und dann wundern Sie sich, warum Sie nicht schlafen?«

»Ich wundere mich nicht«, sagte Helen.

»Ich kann Sie an eine Kollegin verweisen. Ich arbeite mit einer sehr guten Psychologin zusammen«, sagte er.

Helen verzichtete darauf, weiter mit Dr. Schmitt zu diskutieren.

»Das sind Kreislaufprobleme«, presste sie eilig hervor. »Ich bekomme meine Tage.«

»Eine Woche Bettruhe«, befahl der Betriebsarzt. »Und keinen Tag weniger.«

2. Geburtstagsgeschenke

»Eine Woche? Unmöglich«, klagte Helen.

Einmal zu Hause auf dem Sofa, fühlte sie sich schon fast genesen. Gegen Abend brachte Shivani ihr einen Topf wunderbar scharfen Currys vorbei.

»Das Capsaicin im Chili reizt die Schleimhäute«, erklärte sie. »Um den Schmerz erträglicher zu machen, schüttet der Körper Endorphine aus. Darum macht Chili glücklich.«

Helen rührte die liebevolle Geste der Studentin, die sich anscheinend aufrichtig Sorgen um sie machte. Wie eine Mutter, schoss ihr durch den Kopf. Dabei konnte sie sich nicht daran erinnern, dass ihre eigene Mutter ihr jemals etwas Spezielles gekocht hatte, wenn sie krank war. So eine Art Mutter war Henriette nie gewesen. Bei Erkältungen hielt sie eher Abstand von ihren vier Töchtern. »Ich will mich nicht anstecken«, hatte sie immer gesagt. »Wenn ich ausfalle, bricht hier alles zusammen.«

Helen seufzte beim Gedanken an ihre Mutter schwer auf. Ihre überstürzte Hochzeit lag ein Jahr zurück und noch immer hatten die Wogen sich nicht geglättet. Im Gegenteil: Der Familienausflug hatte bei Helen alte Wunden aufbrechen lassen. Im letzten Jahr war sie nicht sie selbst gewesen, das musste sie sich ehrlich eingestehen. Die Konfrontation mit dem Ferienort ihrer Kindheit hatte sie nachhaltig aus dem Gleichgewicht gebracht. Jetzt führte die erzwungene Ruhigstellung dazu, dass sie nur noch mehr Zeit hatte, nachzudenken.

Helen grübelte endlos, warum die Familie seit dem gemeinsamen Ausflug nach Holland weiter auseinanderdriftete. Nie waren sich die vier Schwestern näher gewesen als in den endlosen Sommern, die sie als Kinder traditionell an der Nordseeküste in Bergen verbrachten. »Wir sind eben Sommerschwestern«, hatte Doro immer gesagt. Doch von der alten Einheit war nicht mehr viel zu spüren.

Seit der Hochzeit ihrer Mutter hatte sich keine Gelegenheit mehr ergeben, mit der gesamten Familie zusammenzukommen.

 

Gesundheitlich hatte ihre Mutter sich dank Chemo und Bestrahlung wunderbarerweise erholt. Wann immer ihr das Behandlungsschema Luft zum Atmen und gute Momente bescherte, bestieg sie ihren Camper, um mit ihrem holländischen Ehemann die Welt zu erkunden. Im Leben der vier Thalberg-Schwestern jedoch glänzte Henriette vor allem mit Abwesenheit. Das gemeinsame Weihnachtsfest ließ sie ausfallen, den eigenen Geburtstag verbrachte sie lieber alleine mit Thijs, Einladungen ihrer Töchter schlug sie grundsätzlich aus. Allein Doros Premieren verpasste sie nie. Sie liebte es, an der Seite ihrer ältesten Tochter, die es als Kostümbildnerin zu Berühmtheit gebracht hatte, über rote Teppiche zu stolzieren. Seit sich Henriette und Thijs vor sechs Wochen für eine längere Tour Richtung Süden aufgemacht hatten, war selbst der Strom schriftlicher Ratschläge verstummt.

So exzentrisch und anstrengend ihre Mutter auch war, auf ominöse Weise hatte sie Doro, Yella und die Zwillinge Helen und Amelie immer zusammengehalten.

Helen hätte nie gedacht, dass der familiäre Klebstoff so porös war. Die Thalbergs waren auf dem besten Weg, sich in eine dieser Familien zu verwandeln, die nur noch zu Beerdigungen aufeinandertrafen. Und was sie am meisten erschreckte: Ohne ihre Mutter drohten auch die Sommerschwestern komplett auseinanderzufallen. Düstere Gedanken raubten ihr den Schlaf.

 

Helen hatte in den vergangenen Monaten alles versucht, ihre nächtliche Unruhe in den Griff zu bekommen: früher ins Bett gehen, später ins Bett, eine Nacht durchmachen, regelmäßige Schlafzeiten, Schäfchen zählen, Apps mit Meeresrauschen, Hörbücher, absolute Stille, Verzicht auf Kaffee und Alkohol, ein Schlummertrunk, Kamillentee, keine Getränke nach 19.00 Uhr, Bett umstellen, Temperatur verändern im Schlafzimmer, Kissen austauschen, Teppich raus, neuen Pyjama, neue Vorhänge, Entspannungsbäder, Abendspaziergänge, Sport, Sex, Fenster auf, Fenster zu, keine Tagesschau, keine aufregenden Filme nach 22.00 Uhr, keine Elektronik im Schlafzimmer. Nichts half.

»Du musst dir Hilfe suchen«, sagte Paul.

»Die verschreiben mir nur Pillen«, sagte Helen, obgleich sie genau wusste, dass Paul eine andere Art von Hilfe meinte. »Ich bin der wandelnde Beipackzettel«, beeilte sie sich hinterherzuschicken. »Ich beschäftige mich den ganzen Tag mit Nebenwirkungen, da vermeidet man Tabletten von selbst.«

Statt Medizin kaufte sie einen Schwangerschaftstest. Was wäre, wenn das Ausbleiben ihrer Tage nicht auf Stress zurückzuführen war? Was wäre, wenn sie wirklich schwanger wäre? 15 Minuten verlor sie sich in der ungewohnten Vorstellung, wie es wäre, wenn sie ein Kind erwartete. Wie ein Hochgeschwindigkeitszug raste sie durch alle Fürs und Widers, die sie zigmal im Kopf und mit Paul hin und her gewälzt hatte.

Das Ergebnis ließ sie mit gemischten Gefühlen zurück: negativ. Das war positiv und beunruhigend zugleich. Eine Schwangerschaft wäre eine bequeme Erklärung für ihren Zustand. So herrschte das quälende Gefühl vor, dass etwas psychisch bei ihr nicht in Ordnung war.

Neben ihrem Bett stapelten sich Bücher über Schlaflosigkeit, die sie bis tief in die Nacht studierte. Alles, was sie fand, waren immer neue, wundervolle Umschreibungen für ihr Problem.

»Bei schlaflosen Menschen ist der Kopf beleuchtet wie ein Kühlschrank«, las sie Paul vor. »Normalerweise geht das Licht aus, wenn man die Tür schließt. Bei Schlaflosen brennt im Gehirn immer Licht.«

Paul grummelte neben ihr in sein Kissen. So wie er seit vielen Monaten grummelte. Viele ihrer Bemühungen hielten nicht nur sie selbst wach, sondern auch Paul.

»Es gibt Co-Alkoholiker, ich bin Co-schlaflos«, sagte er, als sie wieder einmal um drei Uhr in der Küche aufeinandertrafen. »Wir leben gemeinsam im Kühlschrank.«

»Einem gut sortierten, aufgeräumten Kühlschrank«, ergänzte Helen.

In ihrer ohnehin schon minimalistischen Wohnung fand sich keine einzige Rumpelecke mehr, keine unaufgeräumte Schublade, keine Papiere, die schon längst abgeheftet werden wollten, kein Staubkorn und keine ungeputzten Schuhe. Helen hatte in den langen Nächten den gemeinsamen Bücherschrank alphabetisch sortiert und jedes überflüssige Küchenutensil aussortiert. Sie war mehrmals zum Wertstoffhof gefahren, hatte sämtliche Sozialkaufhäuser in ihrer Umgebung mit ihrem ausrangierten Hausrat erfreut, bis jede Ablenkung aus ihrer Wohnung verschwunden war. In ihrem Kopf blieb es unordentlich.

»Wenn das so weitergeht«, sagte sie, »erlebe ich meinen dreißigsten Geburtstag nicht mehr.«

»Vielleicht solltest du auf Dr. Schmitt hören und mehr Ursachenforschung betreiben«, versuchte Paul es noch einmal.

»Und der Psychologe erklärt mir dann nach 87 Therapiesitzungen, dass ich nicht schlafen kann, weil ich den Verlust meines Vaters nicht verarbeitet habe.«

Sie wusste auch ohne Psychologen an ihrer Seite, dass der Tod ihres Vaters, der in einer Sturmnacht auf einer holländischen Landstraße verunglückt war, eine Narbe auf ihrer Seele hinterlassen hatte.

»Es kann doch kein Zufall sein, dass die Schlafstörungen nach Bergen angefangen haben«, sagte Paul vorsichtig.

»Therapie ist nichts für mich«, beschied Helen. »Da blockiere ich nur einen Platz für jemanden, der echt Hilfe braucht.«

In Wirklichkeit wollte sie nicht tiefer in ihre komplizierte Vergangenheit einsteigen.

Helen staunte immer wieder über Pauls herzliches Verhältnis zu seiner Familie. Er liebte es, seinen Vater an der Tankstelle zu besuchen. An Geburtstagen wurde er von der gesamten Großfamilie gedrückt, geküsst und ausgefragt. Er schwatzte mühelos und aufrichtig interessiert mit seinen Tanten und Onkeln und vergaß keinen einzigen Gedenktag.

»Familie ist ein Geschenk«, sagte er immer.

Helen war sich da nicht so sicher.

 

Nach einer Woche Zwangspause kehrte sie an ihren Arbeitsplatz zurück, ohne dass sich an ihrem zentralen Problem etwas geändert hatte. Neidvoll lauschte sie, wie Shivani ihrer Schwester am Telefon brühwarm den neusten Klatsch und Tratsch berichtete. Wieso gelang es anderen, scheinbar mühelos Kontakt mit ihren Familien zu halten? Dabei war sie sogar ein Zwilling. In Zeitungen las sie über das spezielle, beinahe symbiotische Verhältnis, das gleichzeitig gezeugte Menschen zueinander entwickeln konnten. Viele Artikel berichteten von getrennten Zwillingen, die fern voneinander aufwuchsen und dennoch ähnliche Lebenswege einschlugen. In keinem Universum der Welt würden sie und Amelie in zwei Läden tausend Kilometer voneinander entfernt, dasselbe Kleidungsstück aussuchen. Ihre Mutter hatte ihnen als Kinder gerne die gleichen Kleidchen angezogen und fand sie immer dann besonders entzückend, wenn sie wie Puppen auf dem Sofa saßen. Als zweieiiger Zwilling war sie Amelie genetisch kein bisschen näher als Doro oder Yella. Die Wahrheit war, dass sich zwischen Amelie und Helen kein unsichtbares Band spann, das sie auf ominöse Weise zusammenhielt. Eher konnte man von einer unsichtbaren Mauer sprechen. Trotzdem erwartete ihre Umgebung unausgesprochen, dass sie eine Einheit bildeten.

»Was macht ihr an eurem Dreißigsten?«, schrieb Yella in ihrer Sommerschwestern-Gruppe.

»Paul und ich ziehen um«, antwortete Helen, bevor Amelie antworten konnte. »Wir haben endlich eine bezahlbare Wohnung in Frankfurt gefunden. Mit Balkon.«

Der Umzug bot ihr eine willkommene Ausrede, sich nicht feiern zu lassen. Helen mochte es nicht, im Mittelpunkt zu stehen. Als ihre Kollegen im Labor unter der enthusiastischen Leitung von Shivani Happy Birthday anstimmten, wäre sie am liebsten im Boden versunken. Ihre junge Werkstudentin bescherte ihr die längsten 45 Sekunden ihres Arbeitslebens. Helen blieb nichts anderes übrig, als mit leicht gefrorenem Dauerlächeln das Ständchen entgegenzunehmen. Sie atmete bereits auf, als Rita aus der Buchhaltung Wie schön, dass du geboren bist anstimmte. Rita liebte sie, weil sie als Einzige der 724 Mitarbeiter des Unternehmens Reisekostenabrechnungen perfekt und pünktlich ablieferte. Rita kannte alle Strophen. Helen hoffte vergeblich darauf, dass die kokelnden Kerzen auf dem Kuchen den Feueralarm auslösten. Wenn Shivani so weitermachte, würde das Labor nächstes Jahr Viel Glück und viel Segen im mehrstimmigen Kanon aufführen. Helen war froh, den Abend alleine mit Paul zu verbringen. Sie aßen in der noch leeren Wohnung Pellkartoffeln mit Butter und Salz und tranken lauwarmen Weißwein aus Plastikbechern. Sie war glücklich.

Bis sie ins Bett sank und sich wieder schlaflos von einer Seite auf die andere wälzte. Auf einmal fühlte es sich falsch an, den runden Geburtstag ohne Familie gefeiert zu haben. Es war eine Art Phantomschmerz, der sie immer begleitete. Wenn sie ehrlich war, wünschte sie sich, ihren Schwestern näher zu sein.

Um sechs Uhr morgens rätselte sie in ihrer neuen Küche, was sie brauchte: einen doppelten Espresso, eine Woche Schlaf oder eine Umarmung von Paul? Wenigstens auf ihn war Verlass:

»Du kannst ewig darauf warten, dass sich etwas ändert«, sagte er. »Oder du kannst etwas ändern.«

»Du klingst wie ein wandelnder Kalenderspruch«, sagte Helen.

Paul sah sie verletzt an.

»Mir geht es großartig«, sagte Helen. »Ich kann nur nicht so gut schlafen.«

»Dann tu was«, antwortete Paul gereizt.

Die Schlaflosigkeit begann, sich wie ein Geschwür auf andere Lebensbereiche auszudehnen.

 

Es arbeitete in ihr. Sie war jetzt dreißig. Sollte man in diesem Alter nicht langsam die Probleme der Kindheit endgültig hinter sich gelassen haben? War das die Aufgabe, die sie zu bewältigen hatte? Vielleicht konnte sie deswegen nicht schlafen, weil in ihrem Leben etwas fundamental falsch aufgestellt war. Vielleicht musste sie genau dort anfangen, wo es richtig wehtat, bevor sie heilen konnte. Und schlafen. Endlich schlafen.

»Familie ist wie ein Instrument, das man erlernt«, hatte Yella einmal ihren Therapeuten Dr. Deniz zitiert. »Man muss Mühe und Liebe hineinstecken, bevor man von seinem Instrument zurückgeliebt wird.«

Paul hatte es eher begriffen als sie. Wenn sie ihre innere Ruhe finden wollte, musste sie etwas unternehmen. Gemeinsame Zeit war das Zauberwort. Gemeinsame Zeit mit den Sommerschwestern.

 

Nächtelang brütete Helen über Berliner Ferienplänen, schickte Terminabfragen via Doodle herum und telefonierte vergeblich Doro hinterher, um einen Termin für ein Treffen zu fixieren. Ludwig berichtete, dass ihre große Schwester den ganzen Sommer über in Amsterdam mit einem weltberühmten Opernregisseur arbeiten würde. Die Puzzleteile wollten einfach nicht zusammenpassen. Bis ihr, eingewickelt in eine Wolldecke und Pauls Arme, bei der Wiederholung von »Der Pate« eine Idee kam. Wenn sie wollte, dass die Familie zusammenkam, musste sie selbst aktiv werden und Nägel mit Köpfen machen. Don Corleone wurde ihr ein leuchtendes Vorbild: Sie musste ihren Schwestern ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen konnten.

3. Alles so wie früher

»Helen lädt euch ein?«, fragte David verblüfft.

Yella nickte. »In die Villa Vlinder.«

Vor mehr als zwanzig Jahren hatten sie in diesem Ferienhaus ihren letzten Sommer als komplette Familie verbracht. Jetzt hatte Helen die Villa für zwölf Tage angemietet.

Unser Vater hatte sich so auf den Lichtjesavond gefreut, schrieb Helen. Und dann kam dieser verdammte Sturm. Ich wünsche mir, dass wir noch einmal als Familie am ersten Mittwoch im August in Bergen zusammenkommen, wenn das ganze Dorf traditionell in Kerzenlicht erstrahlt. Ich möchte gemeinsam mit euch Lichtjesavond feiern. Unterkunft, Kinderbetreuung, Sonne, Strand und Meer. All inclusive. Ich lade euch ein.

»Wenn man sich verirrt hat, muss man an den Ort zurückkehren, an dem man die falsche Abzweigung genommen hat«, zitierte Yella das Mantra ihres Vaters.

Helen hatte den wunden Punkt getroffen. Sie hatten die Erinnerung an den Vater in den letzten Jahren viel zu wenig gepflegt. Johannes Thalberg liebte den alljährlichen Lichtjesavond, der jedes Jahr den Höhepunkt ihrer Sommer an der Nordsee bildete. Yella verstand die Botschaft ihrer Schwester. Dieser Urlaub bedeutete mehr als ein Sommervergnügen. Er war ein Tribut an ihren viel zu früh verstorbenen Vater. Amelie lebte nach monatelangem Pendeln zwischen Wuppertal und Holland seit sechs Wochen ganz in Bergen, und Doro plante, aus ihrem zeitlichen Amsterdamer Domizil hinzuzustoßen, sobald der prestigeträchtige Auftrag für die dortige Oper ihr Luft ließ. Es gab nur ein Problem.

»David kann nicht mit«, teilte Yella Helen mit.

Der Schriftsteller hatte einen bezahlten Künstleraufenthalt in Riga ergattert, der sie für zwei Monate in eine alleinerziehende Mutter verwandelte. Der Urlaub würde eine perfekte Unterbrechung der langen Zeit sein.

»Nur wir Schwestern und die Kinder«, hatte Helen daraufhin vorgeschlagen. »Unsere Männer bringen sowieso alles aus dem Gleichgewicht.«

Yella war dankbar, dass Helen sich jede weitere Nachfrage verkniff. Die nüchterne Chemikerin begriff auch ohne weitere Infos, dass Davids lange Abwesenheit kein allzu gutes Zeichen war. Anders als Doro, die mit ihrer Meinung nie hinter dem Berg hielt, und Amelie, die ihre Probleme mit jedem teilte, der ihr ein Ohr lieh, gehörte Helen nicht zu den geschwätzigen Zeitgenossen, die alles zerreden und aussprechen mussten.

»Paul ist zutiefst erleichtert, dass er nicht mitmuss«, sagte sie leichthin. »Er ist uns auf ewig dankbar, eine fantastische Ausrede zu haben, den Sommer durchzuarbeiten.«

Yella kannte die Vorlieben des Mannes, der einmal ihr Kommilitone gewesen war. Helens Freund litt unter einer chronischen Naturphobie und verabscheute kurze Hosen, Wespen und das Gefühl von Sand unter nackten Fußsohlen. Nie im Leben würde der hartnäckige Anzugträger sich freiwillig an den Strand legen. Dörfer wie Bergen waren dem erklärten Großstadtmenschen jenseits ihrer baulichen Besonderheiten suspekt.

»Ich bin auf Asphalt groß geworden und lebe vom Stapeln von Steinen«, sagte Paul immer. »Grün ist für mich Arbeitsmaterial, keine Erholung.«

Yella verstand nur zu gut, was Paul wirklich meinte: Vier Thalberg-Frauen auf einem Haufen waren zu viel. Für alle Beteiligten.

Yella freute sich jedoch sehr über die Einladung. Ihr knapp bemessenes Familienbudget hätte einen Sommerurlaub in einer großzügigen Villa niemals erlaubt. Noch mehr freute sie sich, als ihre kleine Schwester ihr mitgeteilt hatte, dass sie eine pharmakologische Fortbildung in Berlin habe und sie so gemeinsam anreisen konnten.

 

Bis zur holländischen Grenze lief alles wie am Schnürchen. Sechs Reisestunden und zwei großzügige Pausen lagen bereits hinter ihnen. Während Helen selbst nach einer anstrengenden Seminarwoche keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigte, fühlte Yella die Müdigkeit in jedem einzelnen Knochen. Zermürbt von einem langen Schul- und Kindergartenjahr, von nächtlichen Urlaubsvorbereitungen, Grabenkämpfen im Büro und Auseinandersetzungen mit David, freute sie sich auf zwölf entspannte Tage an der Nordsee. Während Helen das Steuer übernahm, kümmerte Yella sich um ihre Kinder. Sie hatte ihren Urlaub als alleinstehende Mutter auf Zeit mit Snacks und Beschäftigungen für Leo und Nick generalstabsmäßig vorbereitet. Sie hatten Lieder geschmettert, so laut sie konnten, Autokennzeichen entziffert und Schnapszahlen gesucht, in Malvorlagen herumgekritzelt, »Ich-packe-meinen-Koffer« gespielt, die Ja-nein-Falle ausprobiert, ein Kinderbuch gehört, Kekse geknabbert, wieder gesungen, an der Autobahnraststätte Pommes gegessen und auf dem Spielplatz herumgetobt. Gegen 22.00 Uhr waren die beiden Jungs erschöpft auf der Rückbank weggedöst. Leo hatte seine Mütze über die Augen gezogen, Nick schlief mit offenem Mund, in der Hand noch ein angebissenes Brot. Die Müdigkeit hatte ihn zwischen zwei Happen übermannt. Yella selbst hatte noch bis zur Grenze bei Bad Bentheim durchgehalten, bevor sie in die Dunkelheit wegsackte. Sie wurde erst wieder wach, als Helen von der A9 auf den Ring Alkmaar abbog und die veränderte Geräuschkulisse sie aus dem Tiefschlaf riss.

»Ich bin wohl eingenickt«, sagte sie schuldbewusst.

»Reicht, wenn eine wach ist«, sagte Helen großzügig.

Yella seufzte zufrieden auf. Bei ihrer kleinen Schwester hatte sie nie das Gefühl, sich verstellen zu müssen. Helen erfüllte ihren Part, ohne allzu viel Beifall zu erwarten. Zu zweit im Auto mit Helen war es wunderbar gemütlich. Seit ihrem letzten Aufenthalt spürte sie eine neue und besondere Verbindung zu ihrer jüngsten Schwester. Yella kuschelte sich in ihre warme Jacke und starrte erwartungsvoll nach draußen, in der Hoffnung, irgendetwas zu erkennen. Morgens um eins gehörte die Landstraße, die sich schnurgerade durch das flache holländische Land zog, ihnen ganz alleine.

Glücklich ließ sie das Fenster runter und steckte für einen Moment ihren Kopf in die kühle Luft. Es roch nach Meer, Urlaub und Kindheit. In der Ferne tauchte das blaue Ortsschild von Bergen auf. Darunter prangte in großen LED-Lettern der Hinweis auf den Lichtjesavond, die Nacht der Lichter. Vor 21 Jahren hatte Sturm Ira verhindert, dass sie an der Veranstaltung, die seit 1926 im Dorf abgehalten wurde, teilnehmen konnten. Jetzt würden sie zu Ende bringen, was damals unvollendet blieb, und mitfeiern. Dazwischen lagen zwölf Tage, in denen sie nichts anderes tun würde, als sich am Strand durchpusten zu lassen. Yella konnte es nicht erwarten, Leo und Nick ihr Holland zu zeigen, mit ihnen Zeit am Meer und in den Dünen zu verbringen.

Die Vorfreude stand auch Helen ins Gesicht geschrieben, als sie die Ruinenkirche passierten, wo versprengte Kneipengänger auf der Mauer ihr letztes Bier leerten. Yella zückte die Kamera, um ihrer Mutter ein Foto vom Wahrzeichen des kleinen Dorfs zu senden. So konnte sie ein kleines bisschen dabei sein.

 

Schwungvoll bog Helen in die Eeuwigelaan ein. Die verträumte Allee mit ihren geneigten Baumriesen wirkte bei Nacht noch magischer. Jede war in ihren eigenen Gedanken gefangen, während das Auto über das Kopfsteinpflaster ruckelte.

»Alles so wie früher«, sagte Helen.

Es war Programm und Beschwörung gleichermaßen.

Endlich Ferien! Endlich ausspannen. Endlich wieder die Sommerschwestern.

Wir sind gut angekommen, vermeldete Yella nach Riga, wo David in seiner Schreiberresidenz auf die erlösende Nachricht wartete. Selbst 2000 Kilometer von ihnen entfernt verband ihn eine unsichtbare Nabelschnur mit seiner Familie.

Wunderbar, antwortete er umgehend. Dann kann ich jetzt ins Bett. Und nicht vergessen: Was man in der ersten Nacht in einem fremden Bett träumt, geht in Erfüllung.

Yella schickte ein Herzchen und bekam acht zurück. Seit er zu seinem Stipendium aufgebrochen war, überschlug er sich mit Liebesbekundungen. Sie sendete ein weiteres Herzchen zurück.

Helen lenkte das Auto in eine schmale Wohnstraße am Rand des Zentrums und bremste wenig später vor einem schweren Eisentor, an dem ein Schild prangte mit der verschnörkelten Aufschrift: Villa Vlinder.

»Endlich«, sagte Yella erleichtert.

Ihr Glück währte ganze zehn Sekunden.

4. Ein Geist aus Stein

»Da wohnen wir?«, schrie Leo von der Rückbank.

Bei Nacht wirkte die Klinkervilla weitaus düsterer als auf den Fotos, die Yella ihren Söhnen zu Hause gezeigt hatte. Die Beleuchtung über der Tür flackerte bedrohlich, als markierte sie in Wirklichkeit das Portal eines Spukhauses.

»Da geh ich nicht rein«, rief Leo. »Das ist gruselig.«

Yella seufzte. Um Viertel nach eins sehnte sie sich inständig nach einem Bett.

»Komm, wir suchen euer Zimmer«, sagte sie. »Ich glaube, es hat ein Stockbett.«

»Ich bleibe im Auto«, rief der Siebenjährige energisch.

Ein flüchtiger Blick auf das Ferienhaus hatte ihm gereicht, sein Urteil zu fällen. Mit Helens Hilfe hatte es das Quartett problemlos von Berlin bis nach Bergen geschafft. Jetzt drohten sie an den letzten Metern zu scheitern.

»Morgen früh sieht das Haus ganz anders aus.«

»Das Haus guckt gefährlich«, beharrte Leo auf seiner Meinung.

Für ihren Ältesten bestand die Welt aus lauter Fantasiewesen, die sein Leben kompliziert machten. Tausende unsichtbarer Feinde störten jeden Tag aufs Neue seinen Alltag. Garniert mit einer Prise Aufregung, dem Reisefieber und der Übermüdung ein perfektes Rezept für familiäre Desaster.

»Es ist nur ein Haus«, sagte Yella mit aufgesetzt fröhlicher Stimme. »Und es wartet auf dich.«

»Das Haus sieht böse aus«, sagte Leo mit wackliger Stimme. »Da ist ein Geist drin. Er schaut mich an.«

Yella schluckte. Sofort drängte sich das Bild ihres Vaters vor ihr inneres Auge, der seine letzten Lebenstage in dieser Villa verbracht hatte.

»Du hast bestimmt ein tolles Zimmer«, sagte sie schwach.

»Ich bleibe im Auto.«

Wie viele dieser ohnmächtigen Momente zwischen Ratlosigkeit und Ärger hatte Yella in den letzten Monaten mit Leo erlebt? Ihr Erstgeborener hatte die blühende Fantasie seines Vaters geerbt und konnte sich rettungslos in erfundene Schreckensbilder hineinsteigern.

»Ich begreife, was du meinst«, mischte sich Helen ein.

»Lass ihn«, wollte Yella ihr warnend zuraunen.

Noch bevor sie eingreifen konnte, goss Helen Öl ins Feuer: »Du hast vollkommen recht. Da schaut uns jemand an«, sagte sie.

Yella sank in sich zusammen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte sie zigmal miterlebt, wie Leos Zustände in Rekordgeschwindigkeit eskalierten.

»Kannst du mehr über diesen Geist erzählen?«, fragte Helen.

»Ich will nicht hinschauen«, sagte Leo, jetzt den Tränen nahe.

Yella hatte ihren Söhnen absichtlich Jogginganzüge angezogen. In einer idealen Welt trug sie nach der langen Reise zwei schlafende Jungen vom Auto direkt in die Betten des Ferienhauses. In der nicht ganz so idealen Wirklichkeit weckte der panische Leo den friedlich schlummernden Nick auf, dem sofort einfiel, dass er lange genug still gesessen hatte.

»Ich will raus, Mama«, rief der eine. »Raus.«

»Ich will nach Hause«, der andere. »Ich will zu Papa.«

»Ich will auf den Mars«, seufzte Yella.

Sie stieg aus, um den ungeduldig gegen den Beifahrersitz trampelnden Nick aus seinem Kindersitz zu befreien, während Helen sich nicht weiter beeindrucken ließ.

»Erkennst du einen Mann, eine Frau oder etwas ganz anderes?«, erkundigte sie sich seelenruhig bei Leo.

Der Kleine presste entsetzt die Augen zusammen.

»Schau ganz schnell«, forderte Helen ihn auf.

Leo öffnete ein Auge, wandte den Kopf zum Haus und in Sekundenschnelle zurück.

»Ein böser Mann«, sagte er. »Er freut sich kein bisschen auf uns.«

»Alt oder jung?«, fragte Helen ungerührt weiter.

»Alt.«

»Und wie sieht er aus?«

Yella blickte Richtung Villa und realisierte mit einem Schlag, was Leo meinte. Vor zwanzig Jahren war das Haus überwuchert von Efeu und zur Hälfte von einer riesigen Eiche verdeckt gewesen. Der Baum war offenkundig dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen, die Fassade von allem Grün befreit. Erst jetzt zeigte das Haus seinen wahren Charakter. Der auffällige Erker der Villa stach aus der dunkelroten Klinkerfassade heraus wie eine dicke Nase, darüber blickten zwei hohe Fenster mit gemütlichen rot-weiß gestreiften Baldachinen sie an. Die Straßenlaternen spiegelten sich in den Scheiben und verliehen den eingebildeten Pupillen einen besonderen Glanz. Der Sonnenschutz gab ihnen den Anschein kritisch hochgezogener Augenlider. Aus dem Klinker starrte sie ein glatt geschorenes, neugieriges Gesicht an. So als könne die Villa Vlinder selbst nicht glauben, welche illustren Gäste sich für die nächsten zwölf Tage eingemietet hatten. Das massivhölzerne dunkle Eingangsportal verlieh dem Klinkerbau diesen ewig erstaunten Eindruck.

»Das Haus ist überrascht«, antwortete er.

Yella stimmte der Villa Vlinder insgeheim zu. Sie war immer noch überrascht, dass Helen tatsächlich die altehrwürdige Villa gemietet hatte, die sich für immer in die Annalen der Familie Thalberg eingeschrieben hatte. In diesem Haus hatte sie vor zwei Jahrzehnten die Nachricht vom Unfalltod des Vaters erreicht. Spukte er immer noch hier herum? War ein Teil seiner Seele in Holland zurückgeblieben?

Helen nickte ernst: »Du kannst etwas ganz Besonderes, Leo«, erklärte sie. »Dein Kopf ist auf der Suche nach Mustern. Du selbst, du ganz alleine, machst aus den Punkten und Linien ein Gesicht. Ich kann das auch. Bei mir hatte sich gestern ein schlecht gelaunter Opa im Schaum von meinem Cappuccino versteckt.«

Leo blickte misstrauisch auf das Haus. Ganz geheuer war es ihm immer noch nicht.

»Ich habe neulich ein Gesicht in den Käse gebissen«, erzählte er zögernd.

»Genauso ist das mit Häusern«, sagte Helen. »Paul hat ein ganzes Buch über Hausgesichter. Es gibt sogar ein Wort dafür, wenn Dinge Gesichter bekommen. Ein ganz schwieriges. Pareidolie.«

Ihr Ältester wiederholte andächtig das Wort. Yella staunte, wie mühelos Helen Leos Panik umlenkte. Wissenschaftliche Erklärungen beruhigten ihn offenbar nachhaltiger als gutes Zureden. Das musste sie sich für die Zukunft merken.

»Du musst es dir einmal von der Seite anschauen«, sagte Helen. »Dann verschwindet das Gesicht von alleine.«

Zu ihrer Überraschung stieg Leo freiwillig aus seinem Autositz. Dafür war sein mulmiges Gefühl auf Yella übergesprungen. Argwöhnisch begutachtete sie das unheimliche Backsteingesicht, das jede ihrer Bewegungen verfolgte, als sie das Gepäck aus dem Kofferraum hievte. Yella hoffte, dass die optische Täuschung kein schlechtes Omen war. Jeder interpretierte etwas anderes in die Gemäuer, die aus den Zwanzigerjahren des vorherigen Jahrhunderts stammten: Paul, der das Haus ausfindig gemacht hatte, lobte seine besondere Architektur, der auch im Ausland Anerkennung gezollt wurde. Helen betonte vor allem die Möglichkeit, zu beweisen, dass sie aus den Kinderschuhen herausgewachsen waren, Yella sah nur noch ein respekteinflößendes Gesicht. Wie gebannt klebte ihr Blick an der Fassade. Seit wann waren ihre Nerven so dünn, dass sie sich von ein paar Linien und zwei Punkten aus dem Konzept bringen ließ? Vielleicht hatte Leo seine nervöse Fantasie nicht von David, sondern von ihr geerbt.

»Wir überschreiben alle schlechten Erinnerungen«, hatte Helen angekündigt.

Das gruselige Gesicht aus Stein ließ sie zweifeln, ob diese Form der Konfrontationstherapie tatsächlich heilsam war. Sie hatte im Vorfeld zu wenig darüber nachgedacht, wie es sich anfühlen würde, an den schicksalsträchtigen Ort zurückzukehren.

»Es ist nur ein Haus«, sagte Helen.

Yella hoffte, dass ihre Schwester sich nicht irrte.

5. Ein später Gast

Kalter Nordseewind huschte hastig durch die Blätter, Yellas Schritte knirschten auf dem Kiesweg. Zögernd näherten sie sich der imposanten Eingangstür, als diese auf einmal aufsprang. Yella und ihre Schwester schrien vor Schreck spitz auf. Im Gegenlicht erkannten sie einen hageren Mann, der ihrem Vater erschreckend ähnlich sah.

»Da seid ihr ja endlich«, rief eine weiche Stimme.

Es dauerte einen Moment, bis Yella realisierte, dass der Geist in der Tür niemand anders war als ihre Schwester Amelie. Sie hatte ihre Haare streng zurückgenommen, trug eine Art Arbeiterhose und den von Johannes Thalberg geerbten alten Pullover. Ohne die mädchenhaften blonden Locken und ihre ultrakurzen Blümchenkleider war die Illusion perfekt. Noch nie war Yella so eindringlich bewusst geworden, wie ähnlich Amelie ihrem Vater sah. Ihre kleine Schwester hatte sich so sehr gewünscht, mehr über Johannes Thalberg zu erfahren. Offenbar hatte sie ihre Taktik geändert und war stattdessen in seine Haut geschlüpft.

»Willkommen in Bergen«, rief Amelie.

Helen war die unfassbare Ähnlichkeit ebenfalls aufgefallen. Auch ihr hatte es den Atem verschlagen.

»Hallo! Ich bin’s!«, sagte Amelie irritiert. »Ihr schaut mich an, als wäre ich ein Geist.«

Helen erlang als Erste die Stimme zurück. Sie umarmte ihre Zwillingsschwester.

»Du siehst anders aus«, sagte sie mit trockener Kehle. »Gut«, schickte sie hinterher.

»Ich habe euch eben den Kühlschrank vollgemacht«, berichtete Amelie. »Fahrräder stehen im Schuppen. Wir sehen uns morgen.«

Ihre Stimme überschlug sich fast.

»Bleibst du nicht hier?«

Amelie schüttelte den Kopf. »Ich bin noch immer dabei, mich in meiner Wohngemeinschaft einzugewöhnen. Wenn ich jetzt in eine Villa ziehe, glauben sie mir nie, dass es mir mit einer nachhaltigen Lebensweise ernst ist«, sagte sie fröhlich.

Die betretenen Mienen ihrer Schwestern ließen sie einen Moment innehalten.

»Glaubt mir, ich hätte auch gerne Urlaub. Oder ein Wochenende ohne Termine oder Veranstaltungen. Den ganzen Tag im Bett liegen und Netflix schauen, das wär’s.«

»Wir haben ein freies Zimmer und eine Riesencouch mit Fernseher«, sagte Helen. »Was hält dich ab?«

»Die Angst. Angst, das Leben, wenn ich auf dem Sofa sitzen bleibe, zu verpassen. Während ich in der Jogginghose »Selling Sunset« sehe, passiert auf unserem Gelände irgendetwas Großes, von dem meine Freunde ihren Enkeln noch erzählen.«

Amelie klang kein bisschen unglücklich. Sie hatte diese Neigung, sich mit Haut und Haar in etwas Neues zu stürzen. Schon früher hatte Amelie jeden freundlichen Blick als Heiratsantrag missverstanden. Sie ging immer aufs Ganze. Für einen Abend, für Wochen oder ein paar Monate. Nur um dann mit derselben Energie etwas Neues zu verfolgen. Eine Zeit lang war es der Unverpackt-Ökosupermarkt in Wuppertal gewesen, jetzt hieß ihre neue Liebe Het Cultuurdorp, das Kulturdorf, ein alternatives Wohn- und Arbeitsprojekt. Amelie ignorierte die betretenen Gesichter ihrer Schwestern.

»Wir haben morgen Abend ein Konzert«, sagte sie. »Ihr kommt doch?«

So rasch, wie sie gekommen war, entschwand ihre kleine Schwester mit dem Fahrrad in die Dunkelheit. Noch ein Geist, der sich plötzlich materialisierte und ebenso schnell wieder auflöste.

Yella atmete schwer durch. Die Sommerschwestern hatten sich verabredet, um gemeinsam das Leben zu feiern. Und die schönen Erinnerungen, die sie für immer mit Holland und Bergen verbanden, zu erneuern. Sie würde sich nicht von einer Abfuhr beeindrucken lassen. Und noch weniger von Amelies steinernem Gesicht, das nur in ihrer Vorstellung existierte. Yella beschloss, dem Vorbild ihrer herzerfrischend nüchternen Schwester zu folgen. Die Sinnestäuschung ließ sich wissenschaftlich erklären. Es gab keinen Geist aus früheren Tagen, der in den Gemäuern wartete. Sie würde alles tun, was in ihrer Macht stand, um diese altehrwürdigen Mauern mit Leben und neuen Geschichten zu füllen.

Yella hievte ihren schweren Koffer über die Schwelle. Erschöpft schloss sie die Augen und spürte überrascht die Einkerbung in der Treppenstufe, abgelaufen durch die Füße früherer Bewohner. Als Kind hatte sie auf dieser glatten Steinstufe gesessen. Ihr Po hatte perfekt in die Kerbe hineingepasst, als wäre der steinerne Sitzplatz nur für sie erschaffen worden. Ein Lächeln flog unwillkürlich über ihr Gesicht.

Als sie die Haustür hinter sich zuzog, fiel ihr Blick auf das Haus gegenüber. An einem Fenster im oberen Stock zeichnete sich schemenhaft eine Figur im Dunkeln ab. Diesmal war es keine Einbildung. Starr beobachtete die Gestalt ihre Ankunft. Yella hob verhalten ihre Hand zum Gruß und erhielt keine Reaktion. Sie hoffte, dass es kein Fehler war, ausgerechnet in der Villa Vlinder Urlaub zu machen.

6. Windstärke 9 

Was man in der ersten Nacht träumt, geht in Erfüllung, hatte David geschrieben. Voller Vorfreude hatte Yella den Kindern seinen Spruch vorgelesen. Aber galt das auch für Helen? Was, wenn man überhaupt nicht einschlafen konnte? In Anbetracht der späten Stunde hatten Helen und Yella die ausführliche Erkundungstour durch das Haus auf den morgigen Tag verschoben. Ruhe fand Helen dennoch nicht. Wie üblich drehte sie sich rastlos von einer Seite auf die andere.

Wie gerne würde sie jetzt zu Paul ins Arbeitszimmer tappen, mit ihm ein letztes Glas Rotwein trinken und den Tag gemeinsam durchgehen. Es gab niemand anders auf dieser Welt, mit dem sie wie mit Paul nachts um zwei problemlos eine Diskussion über Weltpolitik beginnen konnte. Oder sie würde Schuhe putzen. Schuhe putzen ging immer. Ähnlich wie sie war Paul kein Fan von Schlaf, vagen Zuständen und Straßendreck in der Wohnung. Aber jetzt gab es keinen Paul, der ihr die Zeit vertrieb. Sie musste die Leere alleine füllen.

Helen hatte bereits ihren Koffer ausgepackt, alle Kleidung ordentlich gefaltet in den Schrank geräumt, ihre Lektüre auf dem Nachttisch drapiert, Toilettenartikel der Größe nach sortiert und die Schuhe farblich geordnet. Was jetzt? Zum Lesen war sie zu müde, zum Schlafen zu wach.

Nach dem Unfall hatte sie schon einmal eine Phase mit chronischer Schlaflosigkeit durchstanden. Damals hatte sie sich in Bücher geflüchtet und halbe Nächte durchgelesen. Heimlich, versteht sich. Tagsüber bemühte sie sich, eine perfekte Tochter für Henriette zu sein. Die Rolle der Dramaqueen war in der Familie bereits besetzt. Vielleicht sogar mehrfach. Helen wollte kein Problem sein, also durfte sie keines haben. Solange auf ihrem Zeugnis nur Einsen standen, stellte niemand schreckliche Frage wie: »Und? Wie geht es dir?«

Als Erwachsene halfen ihr nicht einmal mehr die Bücher. Helen konnte die nächtliche Stille in Bergen, den Urlaubsstillstand und die endlose Nacht, die sich vor ihr ausstreckte, nur schwer ertragen.

 

Seufzend durchforstete sie den von Amelie liebevoll bestückten Kühlschrank nach einem Hausmittel, das den Schlaf befördern könnte. Mit der heißen Milch, gesüßt mit einem Esslöffel Honig, spülte sie zugleich ihre Enttäuschung hinunter, dass ihre Zwillingsschwester es vorzog, anderswo zu logieren. Nach Jahren der schleichenden Entfremdung würde es nicht leicht sein, die Familie zusammenzuführen. Auch Doro, die zunächst begeistert zugesagt hatte, hielt sich bedeckt, ob und wann sie kommen würde. In der Schwestern-Chatgruppe sammelten sich widersprüchliche Nachrichten, aus denen man nur eines schließen konnte: Auf der Prioritätenliste der vielbeschäftigten Kostümbildnerin rangierte ihre Herkunftsfamilie auf einem der hinteren Plätze. Helen hatte ihren Schwestern mit der Anmietung der Villa ein Angebot unterbreitet. Um die Schwestern tatsächlich an einen Tisch zu bekommen, brauchte es wohl mehr als ein imposantes Dach über dem Kopf und einen sich nähernden Jahrestag.

 

Ernüchtert knipste Helen die Lampe an und überflog ihre Ideen für den Urlaub: Wie viel Programm schaffte man mit zwei kleinen Kindern? Ohne Yella kam sie hier nicht weiter.

»Kommt doch zu unserer Morgenmeditation«, hatte Amelie sie eingeladen.

Aber selbst dafür war es zu früh. Der kleine Zeiger der Uhr bewegte sich quälend langsam auf die Drei zu. Sie freute sich schon jetzt auf den Tagesanbruch.

Helen wunderte sich über die Ironie des Schicksals, dass sie ausgerechnet an diesem Ort nicht zur Ruhe kam. Sie hatte geschlafen, als der Sommersturm über Holland fegte, sie hatte geschlafen, als ihr Vater mitten in der Nacht das Haus verließ, sie hatte geschlafen, als ihre Mutter von ihrer Vorstellung in Amsterdam zurückkehrte, sie hatte geschlafen, als die Nachricht vom Tod des Vaters einging. Es machte sie bis heute rasend, dass sie den entscheidenden Moment ihrer Familiengeschichte verpasst hatte. Ihr Bild von den Geschehnissen der Unfallnacht war mehr als undeutlich und unvollständig.

Ihre Familie war keine große Hilfe, ihre Lücken zu füllen. Seit zwei Jahrzehnten umschiffte die gesamte Familie dieses Thema, als wäre es ein Eisberg, der sie nach einer Kollision alle ins Verderben ziehen würde. Unbeirrt hatte ihre Mutter die Schwestern angehalten, nach vorne zu schauen. »Das Leben muss weitergehen«, lautete ihr immerwährendes Mantra.

Auf diese Weise hatten sie nicht nur die gemeinsamen Sommer in Bergen, sondern vor allem auch den Vater totgeschwiegen. Die auferlegte Stille riss nicht nur den Unfall, sondern auch alle schönen Andenken ins Grab des Vergessens.

 

Helen öffnete ihr Laptop. Paul hatte vermutlich recht. Seit Monaten versuchte sie, der bitteren Wahrheit auszuweichen. Jahrzehnte hatte sie sich in eine Welt gerettet, in der es um Daten und Fakten und nicht um Gefühle ging. Vielleicht musste sie sich, wenn sie ihre innere Ruhe wiederfinden wollte, endlich trauen, in die Tiefen ihrer eigenen Biografie hinabzusteigen und an dem dunkelsten Kapitel ihrer Kindheit zu rühren. Mit zittrigen Fingern wagte sie es zum ersten Mal in ihrem Leben, das Datum der Sturmnacht in eine Suchmaske einzugeben.