Das Herz der Zeit: Die Nacht der Eulen - Monika Peetz - E-Book
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Das Herz der Zeit: Die Nacht der Eulen E-Book

Monika Peetz

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Beschreibung

Lena fällt es schwer, in ihr normales Leben zurückzukehren. Wie soll sie Dante, den Jungen mit den verschiedenfarbigen Augen, vergessen? Doch bald schon hat sie weit größere Sorgen: Bei einem Schulausflug muss sie feststellen, dass ihr Verfolger noch lange nicht aufgegeben hat. In letzter Minute gelingt es Lena, den Chronometer, mit dem sie durch die Zeit reisen kann, ihrer Freundin Bobbie zuzustecken. Ein verhängnisvoller Fehler. Auf der Flucht stürzt Bobbie kopfüber in die Vergangenheit – und findet nicht wieder heraus. Lena bricht ihr Versprechen und geht zurück in die unsichtbare Stadt. Sie braucht Dantes Hilfe. Doch ihr Widersacher war ihr einen Schritt voraus. Und Lena muss nun nicht nur Bobbie retten, sondern die gesamte Welt der Unsichtbaren ...

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Monika Peetz

Das Herz der Zeit: Die Nacht der Eulen

Roman

Über dieses Buch

Lena fällt es schwer, in ihr normales Leben zurückzukehren. Wie soll sie Dante, den Jungen mit den verschiedenfarbigen Augen, vergessen? Doch bald schon hat sie weit größere Sorgen: Bei einem Schulausflug muss sie feststellen, dass ihr Verfolger noch lange nicht aufgegeben hat. In letzter Minute gelingt es Lena, den Chronometer, mit dem sie durch die Zeit reisen kann, ihrer Freundin Bobbie zuzustecken. Ein verhängnisvoller Fehler. Auf der Flucht stürzt Bobbie kopfüber in die Vergangenheit – und findet nicht wieder heraus. Lena bricht ihr Versprechen und geht zurück in die unsichtbare Stadt. Sie braucht Dantes Hilfe. Doch ihr Widersacher war ihr einen Schritt voraus. Und Lena muss nun nicht nur Bobbie retten, sondern die gesamte Welt der Unsichtbaren …

Vita

Monika Peetz studierte Germanistik, Kommunikationswissenschaften und Philosophie in München. Nach Ausflügen in die Werbung und ins Verlagswesen war sie Dramaturgin und Redakteurin beim Bayerischen Rundfunk. Seit 1998 lebt sie als Drehbuchautorin in Deutschland und den Niederlanden. Monika Peetz ist die Autorin der Bestsellerreihe «Die Dienstagsfrauen». Ihre Romane um die fünf Freundinnen waren Spiegel-Bestseller und verkauften sich allein im deutschsprachigen Raum über 1 Million Mal. Ihre Bücher erscheinen in 25 Ländern und sind auch im Ausland Bestseller.

Für Mattis;

Linnéa, Fenya und Anandi;

Hannes und Emil;

Sophie und Benjamin.

Und Gerrit und Geertje dürfen gerne mal hineinschnüffeln.

Was bisher geschah

Tief in ihrem Innern hatte Lena schon immer geahnt, dass sie anders war. Seit dem Unfalltod ihrer Eltern lebte sie bei ihrer Tante, zusammen mit zwei kleinen Cousinen, die ihr regelmäßig den letzten Nerv raubten. Genauso wie die Schule und der dumme Schluckauf, den sie jedes Mal bekam, wenn sie einen Jungen gut fand. Ihren Mitschüler Jonas zum Beispiel. Von ihren Eltern war ihr nicht viel mehr geblieben als ein paar verblichene Familienfotos.

Eines Tages entdeckte sie in einem alten Umzugskarton ihrer Eltern eine sonderbare Uhr mit acht Zeigern, acht Knöpfen und einer endlosen Zahlenspirale, die ihre Mutter offenbar schon vor ihrer Geburt für Lena gekauft hatte. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Bobbie, die normalerweise auf alles eine Antwort wusste, kam sie dahinter, dass der Chronometer auf das Datum des tragischen Unfalls eingestellt war, nicht aber, wie das Ding wirklich funktionierte. Wann immer Lena den Chronometer trug, geriet die Zeit durcheinander. Mal schien sie schneller, mal langsamer zu laufen, mal ganz stehenzubleiben. Aber das war es nicht alleine: Immer wieder tauchte in Lenas Umgebung ein geheimnisvoller Junge auf. Dante trug einen schwarzen Mantel, hatte helle, fast schon weiße Haare, unfassbare Augen, das eine grün, das andere blau, und schien aus einer anderen Welt zu kommen. Sein Erscheinen machte Lena nur noch deutlicher, dass sie sich endlich mit den Geheimnissen, die sich um ihre Eltern und den Unfall rankten, beschäftigen musste. Heimlich brach sie in ein Gebiet namens Eulengraben auf, wo der Uhrenladen lag, in dem ihre Mutter den Chronometer erworben hatte, immer begleitet von ihrem sonderbaren Verfolger. Mit Dantes Unterstützung schaffte sie es endlich, die geheimen Kräfte der Uhr zu aktivieren. Ihr rätselhafter Begleiter führte sie an einen magischen Ort jenseits der Realität: die unsichtbare Stadt. Drei achteckige Straßen, flankiert von mehrstöckigen Häusern, umringten einen achteckigen Dom, in dessen Mitte sich eine glänzende Kuppel in den Himmel hob, die an ein allsehendes Insektenauge erinnerte. Die Stadt war Heimat für jede Menge Exzentriker und rätselhafte Gestalten, die aus verschiedenen Jahrhunderten zu kommen schienen. Bald erfuhr Lena, warum: Es waren die «Unsichtbaren», Zeitreisende, die durch die Jahrhunderte gingen und durch geschickte Eingriffe Lebensläufe korrigierten, bei denen das Schicksal allzusehr zugeschlagen hatte. Die Agentur für Schicksalsschläge, die in dem mächtigen Kuppelsaal angesiedelt war, widmete sich den Verzweifelten und Hoffnungslosen. Tausende von gläsernen Hologrammbüchern erzählten die traurigen Schicksale von Menschen aus verschiedenen Jahrhunderten und warteten darauf, von Zeitreisenden bearbeitet zu werden. Lena war kaum dazu gekommen, all dies zu verarbeiten, als sie erfuhr, dass auch sie selbst, genau wie ihre Mutter, zu diesen Zeitreisenden gehörte.

Lenas Ankunft schlug hohe Wellen. Die mächtige Zeitmeisterin, die nicht nur die Herrscherin der unsichtbaren Stadt, sondern zugleich ihre eigene Großmutter war, empfing sie mit unverhohlener Abneigung. Sie hatte ihrer eigenen Tochter Rhea nie verziehen, dass sie die unsichtbare Stadt und die Zeitreisenden für ein Leben an der Seite eines Sterblichen verlassen hatte. Und für ein Kind: Lena. Sie hatte dadurch den Status eines sogenannten «Unterseers» erlangt – eine Ausgestoßene aus der Welt der Zeitreisenden. Lena ließ sich von der Ablehnung der Zeitmeisterin nicht beeindrucken. Zu verlockend war die neue Welt mit ihren Möglichkeiten. War es wirklich möglich, das eigene Schicksal zu wenden und ein perfektes Leben zu gestalten? Und was bedeutete das für ihre eigene Familiengeschichte?

Noch ahnte Lena nicht, dass ihre Reise mit Dante einen mächtigen Verfolger auf die Spur der Zeitreisenden gebracht hatte. Harry König, der eine vage Ahnung von der Existenz der unsichtbaren Stadt hatte, setzte Himmel und Erde in Bewegung, um an einen Chronometer zu kommen. In seinem Willen, das Geheimnis des Zeitreisens zu knacken, schreckte er nicht vor Entführung und sogar Mord zurück. Lena, die ihn als Wachmann der Lagerhalle kannte, begriff, dass er ihr bereits das ganze Leben auf den Fersen war. Er war in der Vergangenheit nicht nur für den Tod der Eltern verantwortlich, sondern hatte in der Echtzeit Bobbie im Visier, um über sie an Lena zu kommen.

Lena schlug alle guten Ratschläge und Warnungen von Dante in den Wind, widersetzte sich dem Befehl der Zeitmeisterin und reiste in die eigene Vergangenheit. Sie hatte nur ein einziges Ziel. Sie musste den Unfall ihrer Eltern verhindern. Auch wenn sie dabei direkt in die Hände von König lief. Nach vielen Fehlversuchen und einem großen Streit mit Dante gelang es ihr, König auszutricksen und die Ereignisse so zu manipulieren, dass das Auto der Eltern unbehelligt die Unfallstelle passierte. Als sie glücklich in ihre eigene Zeit zurückkehrte, musste sie feststellen, dass der Eingriff in die Vergangenheit einen hohen Preis hatte. Die kleinen Schwestern waren verschwunden, die Tante ebenso. Das Allerschlimmste aber war, dass ihre Freundin Bobbie durch eine von Lena ausgelöste Kettenreaktion ihr Leben verloren hatte. Lenas Glück war auf dem Tod ihrer liebsten Freundin aufgebaut.

Kleinlaut kehrte Lena in die unsichtbare Stadt zurück. Die Zeitmeisterin lehnte ihre Bitte, den Fehler korrigieren zu dürfen, kategorisch ab, und auch Dante wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Erst durch harte Arbeit in der Revision, wo die Zeitreisenden sich damit beschäftigten, welche Fälle bearbeitet werden sollten, gelang es Lena, die Zeitmeisterin von ihrer Aufrichtigkeit zu überzeugen und sich mit Dante auszusöhnen. Ein letztes Mal reiste sie in die Vergangenheit. An ihrer Seite: Dante, der in ihrer Lehrzeit in der unsichtbaren Stadt mehr geworden war als nur ein Freund. Jede freie Minute verbrachten die beiden zusammen, ganz ohne Schluckauf, dafür mit Schmetterlingen im Bauch. Alles verlief nach Plan, bis sie auf einmal ihre eigene Mutter entdeckte. Anstatt zügig zurückzureisen, riskierte sie alles. Zu übermächtig war der Wunsch, ein einziges Mal mit ihrer Mutter zu sprechen, sie zu berühren und zu umarmen. Sie sehnte sich danach, einmal zu fühlen, wie es war, eine Mutter zu haben. In dem Moment schlug König zu. Mit letzter Kraft gelang es Lena, sich aus den Fängen von Harry König zu befreien und ihre Mission, Bobbie zu retten, zu einem guten Ende zu bringen. Harry König war wie vom Erdboden verschluckt. Für immer? «Vergiss alles, was mit Zeitreisen zu tun hat», gab ihre Mutter ihr mit auf den Weg, bevor sie sich unter Tränen verabschiedeten.

 

Als neue Lena kehrte sie in ihr altes Leben zurück. Überglücklich schloss sie Bobbie in die Arme. Ihr blieb nur noch, die letzte Bedingung der Zeitmeisterin zu erfüllen: Sie musste den Kontakt zu Dante und den Unsichtbaren kappen. Für immer. Und das, nachdem sie ihn gerade zum ersten Mal geküsst hatte …

1Ein einziger Kuss

«Tor! Tor! Tor!»

Chloe, Sophie und Elif jubelten so ausgelassen, als hätten sie die Handballmeisterschaft mit diesem völlig unerwarteten Treffer bereits gewonnen. Lena nahm es lediglich am Rande wahr. Sie hatte nur Augen für Dante. Dante, der Junge mit seiner weißblonden Sturmfrisur, den unvergleichlichen Augen, das eine blau, das andere grün, dem langen schwarzen Mantel und dem frechen Grinsen. Sie spürte seinen Kuss noch auf ihren Lippen. Süß und federleicht, wie die Berührung eines Schmetterlings. In ihrem Bauch kitzelte es, als hätte sie zu viel Limo getrunken. Es gab kein Vorher und Nachher mehr, kein Wenn und Aber und kein Zurück. Die Halle tobte, als jubelten die Zuschauer darüber, dass Dante und Lena endlich zusammengefunden hatten. In Wirklichkeit galt der Beifall allein Bobbie, die gerade das erste Tor ihres Lebens geworfen hatte.

Während ihre Freundin Freudentänze aufführte und mit weit ausgestreckten Armen durch die Halle raste, stoppte für Lena die Zeit. Einen Augenblick lang hielt die Welt den Atem an. Ein paar Sekunden, eine winzige Ewigkeit. Warum konnte Dante nicht bei ihr bleiben? Am liebsten auf immer und ewig und noch einen Tag, aber wenigstens ein paar Minuten, die nächste Sekunde. Doch all das war unmöglich. Gegen alle Regeln – die Regeln der unsichtbaren Stadt, Dantes Welt.

«Und was machen wir jetzt?», fragte Lena atemlos.

Der Kuss mit Dante, hier mitten in dieser Sporthalle, war das Schönste, was ihr je widerfahren war, und zugleich ein Schritt auf den Abgrund zu. Sie hatte beim Leben von Bobbie geschworen, die unsichtbare Stadt und die Zeitreisenden für immer hinter sich zu lassen. Lena wusste nur zu gut, dass sie mit dem Kuss ihr Versprechen, das sie der Zeitmeisterin gegeben hatte, gebrochen hatte. Was würde nun mit ihr und Dante geschehen? Wie würde die mächtige Frau reagieren? Lena ahnte, dass die Zeitmeisterin jeden Schritt ihrer Untergebenen überwachte und vermutlich längst Bescheid wusste über ihr heimliches Treffen. Sie durfte keine Sekunde auf eine gemeinsame Zukunft mit Dante hoffen. Ihre Eltern – die Mutter eine Zeitreisende, der Vater ein Sterblicher – hatten ihre verbotene Liebe mit dem Leben bezahlt. Wiederholte sich die Geschichte? Lena schüttelte sich bei dem Gedanken daran, der strengen Herrscherin erneut gegenüberzutreten und sich für etwas rechtfertigen zu müssen, das sich so wunderbar anfühlte. Lena würde nie verstehen, warum die Zeitmeisterin ein solch steinernes Herz besaß. Sie hatte keinen Finger gerührt, um ihre eigene Tochter vor den Nachstellungen Harry Königs zu retten. Der Mann schreckte vor nichts zurück, wenn es darum ging, eines Chronometers habhaft zu werden und den Zeitreisenden ihre Geheimnisse abzuringen. Noch nicht einmal vor Mord. Und die Zeitmeisterin tat nichts. Sie hatte Rhea, ihre eigene Tochter, aus ihrem Herzen verbannt, weil sie sich für ein Leben jenseits der unsichtbaren Stadt entschieden hatte. Und für sie, Lena.

Was jetzt? Lena suchte in Dantes Augen nach einer Antwort. Der aber lächelte alle Bedenken weg, als könne er kein Wässerchen trüben. Die Schmetterlinge in Lenas Bauch verdrängten alle schwarzen Gedanken.

Ein schriller Pfeifton riss Lena jäh zurück ins Hier und Jetzt. Mit hochrotem Kopf rief der Trainer Bobbie und ihre Teamkolleginnen zur Ordnung.

«Roberta Albers, es reicht», bellte Herr Anders und fuchtelte wild in der Gegend herum. «Wenn du nicht sofort auf deine Position gehst, stelle ich dich vom Platz.»

Aber Bobbie dachte nicht im Traum daran, zur Tagesordnung überzugehen. Sie kostete ihren unerwarteten Triumph in vollen Zügen aus. Lachend befreite sie sich aus dem Knäuel von Mädchenarmen, drehte sich so ruckartig um, dass ihre Sohlen auf dem Linoleum quietschten, und lief geradewegs auf die Tribüne zu, wo Lena sich auf der Ersatzbank von einem bösen Sturz in der ersten Spielhälfte erholte. Ihr Gesicht glühte vor Aufregung, sie strahlte über das ganze Gesicht.

«Hast du das gesehen?», schrie sie atemlos. Sie stürzte sich so stürmisch in Lenas Arme, dass beide das Gleichgewicht verloren und nach hinten kugelten.

«Ich habe ein Tor geschossen. Ich! Ausgerechnet ich», schrie Bobbie in ihr Ohr.

«Ich habe es gesehen. Ich habe alles gesehen. Glückwunsch!», haspelte Lena lachend, während sie sich aufrappelte.

Der Schiedsrichter zückte schon mal seine Karten, um eine Strafe zu verhängen. Nach einem kritischen Blick auf Lena beschloss der Trainer, dass es seiner Starspielerin gut genug ging, wieder ins Spiel zurückzukehren.

«Bobbie raus, Lena rein», befahl Herr Anders lautstark.

Bobbie schnappte nach Luft. «Das ist ungerecht», beschwerte sie sich. «Jetzt, wo es so gut läuft.» Sie war nicht bereit, in dieser Sternstunde den Platz in der Mannschaft kampflos aufzugeben. Ihre Teamgenossinnen hielten sie davon ab, eine Szene auf dem Platz zu veranstalten.

«Wir brauchen Lena», sagte Chloe und schob Bobbie mit sanftem Druck an den Rand. «Sie ist die Beste.»

Ihre Mitspielerinnen nickten bestätigend. Entmutigt ließ Bobbie die Schultern sinken und streckte der zögernden Lena ernüchtert den erhobenen Daumen entgegen. «Jetzt mach schon», raunte sie ihr zu. «Sie haben ja recht.»

Dante hatte sich unauffällig am Spielfeldrand positioniert und applaudierte frenetisch, als Lena auf den Platz stürmte. Die Gewissheit, dass Dante nur für sie gekommen war, beflügelte sie. Lena hatte das Gefühl, über den Boden zu schweben. Ausweglose Zweikämpfe, unmögliche Pässe, Treffer aus schwierigen Positionen, rasantes Ausspielen der gegnerischen Abwehr, erfolgreiche Siebenmeter: Alles gelang ihr. Bobbie applaudierte tapfer, Dante jubelte. Unter der wachsenden Begeisterung der Zuschauer flog Lena über das Spielfeld, so als verfügte sie auch hier, jenseits der Welt der Zeitreisenden, über magische Fähigkeiten. Zehn Sekunden vor Abpfiff setzte sie mit einem Freiwurf aus halbrechter Position einen furiosen Schlusspunkt. Der Ball knallte an den Pfosten, prallte in die Hände der Keeperin, die ihn aus den Fingern verlor, woraufhin das Leder wie betrunken ins Tor kullerte. Das Publikum sprang auf, pfiff, klatschte und johlte. Lena reckte die Hände gen Himmel. In diesem Augenblick fühlte sie sich unbesiegbar.

Überglücklich drehte sie sich zu Dante um.

Der Platz, an dem er eben noch gestanden hatte, war leer.

2Komm zurück

Wo blieb Dante nur? Warum ließ er nichts von sich hören? Rastlos lief Coco durch die Straßen der unsichtbaren Stadt. Aufgeregt knabberte sie auf ihren Fingernägeln herum. Gegen die Sorte Nervosität, die sie quälte, halfen weder Brot noch Süßigkeiten – sonst ihre Allheilmittel gegen inneren Aufruhr. Dante war seit Stunden überfällig.

«Ich muss kurz was erledigen», hatte er ihr zugeflüstert, bevor er noch einmal in Lenas Zeit gesprungen war, direkt in die Sporthalle. «Bin sofort wieder da.»

Coco hatte alles versucht, um ihn davon abzuhalten, ein zweites Mal bei Lenas Handballfinale aufzutauchen. Ohne Erfolg. Seit Dante im Kontrollzentrum den mysteriösen Alarm der unidentifizierbaren Mitarbeiternummer 4477 abgefangen hatte, der ihn auf Lenas Spur gebracht hatte, kreisten all seine Gedanken um das Mädchen aus Zeitzone 21. Coco fürchtete, dass eine fremde Macht die Kontrolle über ihren allerbesten Freund übernommen hatte und er sich einen menschlichen Virus eingefangen hatte, der sein Denkzentrum allmählich zersetzte.

«Unser Leben ist lauwarm», hatte Dante sich vor wenigen Tagen plötzlich beschwert. «Wir müssen viel mehr spüren: Hitze, Kälte, Hass, Liebe.»

War das der Grund, warum er alle Regeln der unsichtbaren Stadt brach? Liebe? Zeitreisende verliebten sich nicht. Schon gar nicht in einen Menschen. Nicht ohne den geballten Zorn der Zeitmeisterin auf sich zu ziehen. Kein Unsichtbarer stellte sich ungestraft gegen ihre Chefin. Nicht einmal das Supertalent Dante, dem man sonst so einiges durchgehen ließ.

Coco wurde immer nervöser. Kurz was erledigen? Kurz dauerte für ihren Geschmack schon viel zu lange. Sie versuchte zum x-ten Mal, über Zeit und Raum hinweg Kontakt mit Zeitzone 21 und mit Dante aufzunehmen. Sie legte Zeige- und Mittelfinger auf den Chronometer, den sie am linken Armgelenk trug, und aktivierte den Sensor für Personenerkennung. Das Zifferblatt verschwand. Über die Stellknöpfe am Rand gab sie Dantes vierstellige Mitarbeiternummer ein: 6454. Statt des erwarteten Dante-Hologramms schwebte eine rot leuchtende Fehlermeldung über dem Chronometer: Teilnehmer nicht erreichbar. Der Fehlercode ließ Cocos innere Alarmglocken schrillen. Was, wenn Dante sich für Lena und gegen die unsichtbare Stadt entschieden hatte? Was, wenn ihr bester Freund in ein Leben als Unterseer abgetaucht war und nun als Abtrünniger unerkannt unter den Menschen lebte? Hatte Dante seinen Chronometer abgelegt? War er Lena so verfallen, dass er für sie die Seiten wechselte und nicht mehr durch die Zeit reiste, um anderen zu helfen? So wie Lenas Mutter Rhea ein Leben mit einem Sterblichen gewählt? Was in aller Welt hatte Dante vor? Die Ungewissheit fühlte sich schlimmer an als alles, was Coco bisher erlebt hatte. Schlimmer noch als damals, als sie bei ihrer allerersten Zeitreise aus Versehen in einem Ameisenhaufen gelandet war. Diesmal juckte es von innen und außen. Sie konnte gar nicht genug zappeln und kratzen. Coco spürte die Aufregung im Magen, in den Gliedern, im Kopf.

Auf den Straßen der unsichtbaren Stadt herrschte drangvolle Enge. In wenigen Tagen stand die Nacht der Eulen an: Alle Jubeljahre, jeweils hundert Stunden nach Neumond, fanden sich alle Bewohner der unsichtbaren Stadt ein, um hundert junge Zeitreisende neu in die Riege der Unsichtbaren aufzunehmen. Die Aufregung war diesmal besonders groß. Seit Rhea verschwunden war, hatte die Zeitmeisterin auf jede festliche Aktivität verzichtet.

In den zwei Wochen vor der Zeremonie kam die Reisetätigkeit allmählich zum Erliegen. Die Luft vibrierte vor Spannung und Wiedersehensfreude. Die meisten hatten sich seit Jahren, manche vielleicht seit Jahrzehnten nicht gesehen. So genau konnte das niemand sagen, die Zeit führte in der unsichtbaren Stadt ein Eigenleben. Ein römischer Legionär fiel einer Hofdame mit aufgetürmter weißer Perücke und pompös ausgestelltem hellblauen Kleid in den Arm, ein mittelalterlicher Bauer begrüßte überschwänglich einen Rapper mit dicken Goldketten und hängender Hose. Aus allen Ecken und Zeitzonen trafen bunt gekleidete Zeitreisende in der unsichtbaren Stadt ein: ein Hofnarr aus dem 14. Jahrhundert schlenderte einträglich neben Damen im Empire-Kleid und farbenfroh angezogenen Hippies mit wallenden Haaren. Coco suchte vergeblich in der Menge den bekannten weißen Schopf. Dante war der Einzige, der sich nie vorschriftsmäßig nach der Zielepoche kleidete, sondern immer und grundsätzlich seinen langen, schwarzen Mantel trug. Er hatte die Kunst, sich den Blicken der Menschen zu entziehen, so sehr perfektioniert, dass man es ihm gestattete. Es war egal, was er trug, unter Sterblichen blieb er immer ein bisschen unsichtbar.

Vor der Mensa bildete sich eine doppelreihige Schlange ausgehungerter Kollegen, die weit in das mittlere Achteck der Häuser in der unsichtbaren Stadt hineinreichte und in Bedrängnis kam mit den Trauben, die sich vor den Geschäften gebildet hatten. Es herrschte Hochbetrieb bei der Rückgabe der Dienstkleidung. Alle Zeiten, Moden und Schichten waren vertreten, vom Reifrock bis zum Lendenschurz. Die Aufregung war überall spürbar. Coco wusste nur zu genau, dass die Übergabe der Chronometer an die neuen Zeitreisenden zu den Pflichtterminen für alle gehörte. An die Verleihung angeschlossen waren unendlich viele Besprechungen, in denen die Führenden der unsichtbaren Stadt zusammentraten und Pläne und Ziele für das nächste Jahr festlegten. Es war ein erhebendes Gefühl, wenn sich in der Nacht der Eulen das Dach der Kuppel öffnete und die namensgebenden Vögel mit den Chronometern hereinflatterten. Natürlich waren es keine echten Eulen, sondern künstliche Vögel, zusammengesetzt aus Hunderten von Zahnrädern, die auf magische Weise die geheimnisvolle Grenze zwischen der Uhrenfabrik und der unsichtbaren Stadt überwanden und der ganzen Gegend ihren Namen gaben: Eulengraben. Coco hatte die wundersamen Vögel erst ein einziges Mal, bei ihrer eigenen Vereidigung, gesehen. Aber wie sollte sie sich auf das große Ereignis freuen, wenn es in ihrem Kopf immer nur «Dante, Dante, Dante» klang? Eben weil das Erscheinen bei der großen Versammlung ein Muss für jeden Unsichtbaren war, war es auch der entscheidende Tag, an dem für alle offenbar wurde: Gab es Verluste in den eigenen Reihen zu beklagen? Wer bei der Nacht der Eulen fehlte, hatte der unsichtbaren Stadt für immer den Rücken zugekehrt und wurde für immer aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Fast schon automatisch trugen ihre Füße Coco weiter zum Gasthof Sonne, der wie alle anderen Hotels im äußersten Achteck der Stadt lag. Ob sie ihn dort noch antraf? Die Zeitreisenden wechselten ständig die Zimmer in den Hotels, Gasthöfen, Pensionen und Hostels ein fester Wohnsitz widersprach ihrem Lebenskonzept ebenso wie feste Bindungen jeder Art. Im sechsten Stock, wo Mitarbeiter 6454 zuletzt gewohnt hatte, blieb es dunkel.

«Hast du Dante gesehen?», fragte Coco einen Kollegen, von dem sie wusste, dass er momentan im vierten Stock der Sonne wohnte. Der Angesprochene zuckte die Schultern, genau wie zwei Mädchen in bauchfreien Tops und knallengen Skinny-Jeans, die offenbar zuletzt für einen Auftrag in Zeitzone 21 unterwegs gewesen waren. Dort, wo Lena zu Hause war. Statt einer Antwort fragte eines der Mädchen nur entsetzt: «Dante ist noch nicht zurück? Ausgerechnet jetzt?»

Nackte Panik stand in ihren Augen. Niemandem in der unsichtbaren Stadt war in den letzten Wochen Dantes allzu enge Verbindung zu Lena entgangen. Seit Rhea hatte sich niemand mehr getraut, sich so offen gegen die Anordnungen der Zeitmeisterin zu stellen. Coco verkniff sich weitere Nachfragen. Sie fürchtete, dass sie damit das Getuschel nur noch weiter anfachte.

Jeder Zeitreisende kannte die Stationen in der Demaskierung eines Unterseers. Erst kamen das Wispern, das Flüstern, das Raunen und Stirnrunzeln. In den Tagen vor der Zeremonie, wenn eine verdächtige Person verschwunden blieb, verbreiteten sich die Gerüchte wie ein Lauffeuer von Hotel zu Hotel, von Zeitreisendem zu Zeitreisendem. Hinter vorgehaltener Hand wurden die spärlichen Informationen über die Vermissten ausgetauscht. Noch blieb Hoffnung für Dante. Erst wenn ein Zeitreisender tatsächlich bei der Nacht der Eulen fehlte, wurden Gerüchte zur unumstößlichen Gewissheit und die Namen der Abtrünnigen für immer aus allen Gesprächen verbannt. Man tat so, als hätten sie nie existiert, auch wenn jeder Einzelne sich nur zu gut erinnerte, wer fehlte. Das letzte Stadium war erreicht, wenn die Nummern ehemaliger Mitarbeiter neu zugeteilt wurden. Die Neuvergabe kam einem Todesurteil gleich. Die Gerüchteküche besagte, dass jemand in diesem Jahr die 4477 bekommen würde: Lenas Nummer.

Coco starrte auf die dunkle Fensterhöhle im sechsten Stock.

«Ist er immer noch nicht zurück?», fragte eine Stimme hinter ihr.

Coco drehte sich um und erblickte das Gesicht von Ines, deren von kurzen roten Haaren umrahmtes Gesicht noch blasser als sonst wirkte. «Alles in Ordnung», log Coco schamlos. «Er muss jeden Moment kommen. Bin gleich mit ihm verabredet.»

Besonders überzeugend konnte sie nicht geklungen haben, denn Ines legte ihre Stirn in Falten. Die rechte Hand und Vertraute der Zeitmeisterin stand sichtlich unter Druck.

«Darf ich dir Rochus vorstellen?», fragte sie unvermittelt und schob einen Jungen, der sich in ihrem Rücken herumdrückte, nach vorne. Er war kugelrund, hatte Zähne wie ein Nagetier und Haare, die aufrecht in Reih und Glied standen, als wären es Soldaten.

«Eigentlich sollte Dante ihn bei der Zeremonie unter die Fittiche nehmen, aber jetzt … Rochus, das ist Coco, deine Patin für die Nacht der Eulen.»

«Patin? Ich?», ächzte Coco.

Mit Schaudern erinnerte sie sich an ihre eigene Nacht der Eulen, wo sie erst auf der Bühne gestolpert war, bevor sie sich rettungslos im Amtseid verhedderte. Nur Dante, der ihr als Pate nicht von der Seite wich, hatte das Schlimmste zu verhindern gewusst.

«Du kannst froh sein, Coco an deiner Seite zu haben», wandte Ines sich an Rochus, der genauso überrumpelt schien wie Coco und skeptisch zwischen den beiden hin- und herblickte. «Sie ist …», Ines suchte nach den passenden Worten. «Sie ist was ganz Besonderes. Ihr werdet den Auftritt schon schaukeln.»

Sie beeilte sich, weiterzukommen, bevor Coco weitere Fragen stellen konnte. Offenbar konnte sie Rochus gar nicht schnell genug loswerden.

«Wenn Dante nicht zurückkommt, können wir beide ein Team bilden», sagte er mit einer eigentümlich hohen Stimme, die klang wie ein Glasschneider in Aktion.

Coco schnaubte. Dieser kleine Wichtigtuer wollte Dante beerben und gab es auch noch offen zu? Das wäre ja noch schöner.

«Ich kann dir sicher noch viel beibringen. Dante hatte es ja nie so mit Regeln.»

Er sprach ungehemmt aus, was Coco sich verbot zu denken. Wie konnte er es wagen, in der Vergangenheitsform über Dante zu sprechen? Und ihr gegenüber so gönnerhaft aufzutreten! Noch bevor er überhaupt einen Chronometer am Handgelenk trug. Rochus merkte nicht einmal, wie aufgebracht sie war, zumal sie vor Empörung kein Wort herausbrachte, sondern ihn lediglich anstarrte.

«Du kannst sicher was lernen, wenn du einem Profi bei der Arbeit zuschaust», fügte er ungerührt hinzu. «Hätten sie mir nicht absichtlich gemeine Fragen gestellt, ich hätte bei der Eignungsprüfung locker doppelt so viele Punkte geholt wie seinerzeit Dante.»

Er machte keinen Hehl daraus, dass er glaubte, Dantes Platz einnehmen zu können. Es war der Beginn einer wunderbaren Feindschaft – am liebsten hätte Coco dem Neuen einen kräftigen Haken versetzt. Mehr als alles andere jedoch ärgerte sie, dass Rochus in einem Punkt recht hatte: Dante hatte nicht mehr viel Zeit, die richtige Entscheidung zu fällen.

3So sehen Sieger aus

«We are the champions», hallten fröhliche Mädchenstimmen durch die Katakomben der Sporthalle. Lenas Team hatte das Finale mit 36:29 Punkten gewonnen. Während die gegnerische Mannschaft schweigend den Nachhauseweg antrat, feierte Lenas Team in der Kabine. Chloe, Sophie, Elif und Bobbie hielten einander an den Schultern, hüpften auf und ab und grölten ausgelassen. Lena hing benommen und vollkommen aus der Puste auf der Bank in der Umkleide. Auf dem Weg in die Katakomben hatte sie vergeblich darauf gehofft, Dantes weißblonden Schopf zu entdecken. Hinter einer Säule, in einer dunklen Ecke, in einem einsamen Gang. Wo war er denn so plötzlich hin? Das ganze Spiel lang hatte sie ihn am Spielfeldrand gesehen, und jetzt war er auf einmal wie vom Erdboden verschluckt. Und wohin Lena auch schaute, Dante blieb unsichtbar. In ihrem Kopf formte sich ein unerträglicher Gedanke. «Ich bin schlecht im Abschiednehmen», hatte er ihr einmal gesagt. War er deswegen einfach verschwunden? Ohne ein einziges Wort? War der Kuss in Wirklichkeit ein Abschiedskuss gewesen?

«No time for losers – ’cause we are the champions of the world», klang es wie von fern durch die Kabine. Lena nahm ihre Teamgenossinnen wie durch eine Milchglasscheibe wahr. Sie sah die Münder, die sich öffneten und schlossen, sie sah die leuchtenden Augen, die erhitzten Gesichter. Bobbies Stimme klang wie aus weiter Ferne an ihr Ohr. Lena sah sie ratlos an. Sie hatte kein Wort von dem mitbekommen, was ihre Freundin gesagt hatte.

«Finde ich auch», sagte sie ausweichend.

Sie lachte nervös auf und hoffte, dass Bobbie keine Frage gestellt hatte.

«So sehen Sieger aus, lalalalala», krakeelten ihre Teamgenossinnen im Hintergrund.

Bobbie sah jetzt eher besorgt aus. Hinter ihrem fransigen Pony arbeitete es sichtlich. Lena wusste, dass Bobbie wie ein Seismograph selbst winzige Erschütterungen registrierte. Im Moment vermutete sie offenbar ein Erdbeben. Ihr Blick war ein großes Fragezeichen. Lena wurde heiß und kalt und ungemütlich und alles zusammen. Sie fühlte sich schuldig bei dem Gedanken, dass sie gezwungen war, ihre beste Freundin zu belügen.

Lena hätte Bobbie so gerne erzählt: von Dante, der unsichtbaren Stadt, der gestrengen Zeitmeisterin, von ihrer Konfrontation mit Harry König, dem Kuss, von Dantes rätselhaftem Verschwinden und von den tausend unbeantworteten Fragen, die sie immer noch im Kopf bewegte. Aber durfte sie ihre Freundin ungestraft in die Geheimnisse der Zeitreisenden einweihen? War das der Preis, den sie für die Erinnerungen an ihre Eltern bezahlte, die ihr die Zeitreisen geschenkt hatten: zwischen zwei Welten zerrissen zu sein? Gestern noch hatten sich die Erinnerungen angefühlt wie ein schützender Mantel. Jetzt zog derselbe Mantel sie in den Abgrund, als wäre das Kleidungsstück von Regenwasser durchtränkt.

Bobbie musterte Lena mit wissenschaftlichem Blick: «Irgendetwas stimmt nicht mit dir», sagte sie. Es war keine Frage, sondern eine nüchterne Feststellung.

«Du hast dein erstes Tor geschossen!», rief Lena statt einer Antwort betont fröhlich. «Das müssen wir feiern. Sobald wir umgezogen sind.»

Bevor Bobbie sie weiter auseinandernehmen konnte, verdrückte Lena sich in die Einsamkeit der Duschen. Sie drehte den Hahn bis zum Anschlag auf. Die Siegeshymnen ihrer Mannschaftskolleginnen verschwammen im Prasseln des heißen Wassers. Dampf waberte durch den Raum und umtanzte sie wie unheilbringende Nebelgestalten. Die Wassergeister schienen Münder zu haben und grelle Stimmen, die in dem gefliesten Raum hallten. Oder war das nur der Chor der Unkenrufer in ihrem Kopf, der nach dem Spiel wieder zu Atem kam? Diese Stimmen begleiteten sie schon, seit sie denken konnte. Eine Zeitlang waren sie verstummt, aber jetzt traten sie wieder auf den Plan.

«Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass ihr eine Zukunft habt?», rief die erste.

«Er hat dich verlassen», die zweite.

Eine dritte wurde noch deutlicher. «Den sehen wir nie mehr wieder», sang sie triumphierend.

«Er muss einen triftigen Grund haben», riefen seine Verteidiger dazwischen.

«Der tut nur, was er mag», seine Gegner. «Du gehörst nicht dazu.»

«Es ist gut, wie es ist», meldete sich ein Vermittler. «Aus euch konnte nichts werden.»

Die warnenden Stimmen gewannen die Oberhand in Lenas Kopf: «Vergiss ihn. Du bringst dich bloß in Gefahr. Dich und Bobbie.»

Und mitten in dem Chaos widerstreitender Gedanken hörte sie auf einmal die weiche, warme Stimme ihrer Mutter. «Du darfst dich nicht mit einem Zeitreisenden einlassen», sagte sie besorgt. «Es ist zu gefährlich. Bleib in deiner eigenen Welt.»

Es war die Warnung, die Rhea bei ihrem Abschied ausgesprochen hatte.

«Versteck den Chronometer und vergiss alles, was mit Zeitreisen zu tun hat.»

Lena drehte energisch die Dusche ab.

«Und was machen wir jetzt?», hatte sie Dante nach dem Kuss gefragt.

Ihre Mutter und all die mahnenden Stimmen hatten recht. Es konnte nur eine Antwort auf die Frage geben. Die Zeitmeisterin hatte ihr gestattet, in ihr altes Leben zurückzukehren. Es war ihre Aufgabe, das Beste aus ihrer zweiten Chance zu machen. Auch ohne Dante an ihrer Seite.

4Immer nur Lena

Mit Schwung öffnete Bobbie die Tür zur Sportkantine. Während ihre Teamgenossinnen sich noch föhnten, stylten, cremten und schminkten, fuhr Bobbie lediglich ein paar Mal mit den Fingern durch ihre kurzen Haare. Sie war die Erste der siegreichen Mädchenhandballmannschaft, die sich zur Meisterfeier einfand. Trainer, Eltern, Begleiter und Vereinsfunktionäre prosteten einander zu, wippten im Takt der laut dröhnenden Musik und rekapitulierten lebhaft die entscheidenden Spielzüge. Henriette Albers, Bobbies Mutter, schwelgte im Torwurf ihrer Tochter. Ihre Lobeshymne wurde übertönt von den Geschwisterkindern, die überall herumtobten, während sie Pommes und Süßigkeiten in sich hineinstopften.

Bobbie wurde begrüßt wie ein Champion. Hier ein nach oben gereckter Daumen, dort ein anerkennendes Schulterklopfen und ein lobendes Wort. Und das nicht nur von ihrer Mutter. Bobbie wuchs um mindestens fünf Zentimeter. Zum ersten Mal fühlte sie sich wirklich als wertvoller Teil der Mannschaft, schließlich hatte ihr Tor den Siegeszug des Teams eingeläutet. Sie kam sich ein bisschen vor wie Mario Götze, der die Deutschen 2014 zur Fußballweltmeisterschaft geschossen hatte. Ein einziger Treffer konnte das ganze Leben verändern und dem Lauf der Welt einen neuen Dreh geben.

Bobbies Herz hüpfte vor Schreck, als sie in der Menge Jonas entdeckte. Sie konnte gerade noch den Hickser unterdrücken, der sie neuerdings plagte, wenn sie ihrem Mitschüler über den Weg lief. Jonas schob am Finaltag Dienst in der Kantine und versorgte alle Anwesenden mit Getränken. Er steuerte mit seinem Tablett direkt auf sie zu. Sie hatte ein Tor geschossen, sagte Bobbie sich. Was konnte in ihrem Leben noch schiefgehen? Jonas baute sich vor ihr auf. Sie staunte immer wieder, wie jemand selbst im Küchenkittel so gut aussehen konnte.

«Hi», kiekste sie verlegen, als er ihr eine Cola in die Hand drückte.

Etwas Besseres fiel ihr dummerweise nicht ein. Irgendwie konnte sie nur dann spontan sein, wenn sie sich vorher etwas zurechtgelegt hatte. Aber wie sollte sie etwas Vernünftiges denken und sagen? Sie war damit beschäftigt, den Schluckauf zu unterdrücken und die rätselhaften Traumbilder. Sie sah sich gemeinsam mit Jonas durch einen verwunschenen nächtlichen Wald spazieren. Im Mondschein! Was für ein kolossaler Blödsinn! Als ob sie jemals auf romantischen Kitsch gestanden hätte. Warum spukte Jonas ihr seit neuestem dauernd im Kopf herum?

«Hi», antwortete Jonas.

Das Gespräch erstarb, bevor es begonnen hatte, doch Bobbie konnte nicht aufhören, Jonas anzustarren.

Jonas blickte verwundert an sich herunter: «Ketchupflecken? Falsch geknöpft? Schuppen? Was ist es?», fragte er irritiert.

«Nichts, wieso?», kiekste Bobbie.

Ihre Stimme klang merkwürdig hoch. Und ein bisschen zu laut.

«Alles in Ordnung mit dir?», fragte Jonas besorgt.

Bobbie fielen Blobfische ein. Hässliche, weiße, schlecht gelaunte Blobfische. Die Bilder, die in ihrem Kopf auftauchten, schienen aus einer Zwischenwelt zu kommen und verstellten den Blick auf die Realität. Bobbie war sich selbst ein großes Rätsel.

«Tut mir leid», sagte sie.

Dabei wusste sie nicht einmal, wofür sie sich entschuldigte. Bat sie um Verzeihung, weil sie in seiner Gegenwart an Glibberfische dachte? War das normal? Ihr Gehirn stürzte sich regelmäßig auf die bizarrsten Fragen. Vorhin in der Dusche hatte sie sich ernsthaft gefragt, warum auf der Rückseite des Wenninger-Kinder-Shampoos, das ihre Mutter ihr peinlicherweise eingesteckt hatte, eine kindgerechte Gebrauchsanweisung stand. Für einen märchenhaften Feenduft mit einer leichten Massage auf das nasse Haar auftragen, eine Minute einwirken lassen und mit reichlich Wasser ausspülen. Bis man selber lesen konnte, hatte man doch bereits Millionen Male den Kopf eingeschäumt.

«Ich habe ein Tor geschossen», stammelte sie.

Was war nur mit ihrem Mund los? Warum kamen da so merkwürdige Sachen heraus? Seit wann wollte sie Jonas beeindrucken? Sie kannte ihn seit dem Kindergarten. In Windeln! Sie hatte sich noch nie für ihn interessiert, und jetzt machte sie sich vor ihm zum Affen, weil in ihrem Kopf seltsame Bilder herumspukten?

«Hab ich gesehen», lobte Jonas. «Super gemacht!»

Bobbie lächelte schief. In ihren Ohren rauschte es. Leider fiel ihr nicht ein, worüber sie sich weiter mit ihm unterhalten konnte. Ihre Worte fühlten sich an wie die Luftblasen, die so ein Blobfisch absonderte: Sie platzten, sobald sie die Oberfläche erreichten: leer, hohl und komplett sinnlos.

«So ein großartiges Tor», sagte Jonas. «Aus einem unmöglichen Winkel.»

«Es war gar nicht so schwer», fing Bobbie an. «Ich habe einfach …»

«Ich meinte Lenas Schlusstreffer», unterbrach Jonas.

Ganz offensichtlich hatte er weitergeredet, während Bobbie in ihrem virtuellen Aquarium untergetaucht war.

«Ich verstehe nicht, wie Lena das immer hinbekommt», schwärmte Jonas. «Einfach großartig.»

Er imitierte Lenas entscheidenden Torwurf mit einem entrückten Lächeln, das Bobbie traf wie ein Schlag in die Magengrube. Noch bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, flog die Tür zur Kantine erneut auf.

Unter dem Beifall des Publikums erschien Lena mit dem Rest der Mannschaft. Allen voran Chloe, die sich selber filmte, um die Follower ihres Kanals «Crazy me» über den errungenen Sieg zu informieren.

«Wenn ich nicht die Vorlage für das erste Tor geliefert hätte, Bobbie hätte nie getroffen», verkündete Chloe. «Ich habe dafür gesorgt, dass wir gewinnen. Nach meiner Vorlage schwang die Stimmung im Team um. Ab da lief es.»

«Wir reden später», sagte Jonas. Er ließ Bobbie einfach stehen und schoss mit einem strahlenden Lächeln auf Lena zu.

«Großartiger Treffer. So was kriegt keine andere hin», rief er. «Herzlichen Glückwunsch zur Meisterschaft!»

Er umarmte Lena und versuchte, ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange zu drücken. Genau in diesem Moment drehte Lena den Kopf – und der Kuss landete mitten auf ihrem Mund. Die bunten Lichter der Discokugel zuckten über ihre Gesichter, Bässe stampften, Chloe, die alles mitfilmte, verstummte.

Bobbie wandte sich getroffen ab – und stellte fest, dass sie nicht die Einzige war, der der Kuss sauer aufstieß. In dem großen Spiegel, der vor ihr an der Wand hing, erblickte sie einen seltsamen Jungen in einem langen schwarzen Mantel, der Richtung Lena und Jonas starrte. Fassungslos fuhr er sich mit der Hand durch seine hellen, fast schon weißen Haare. In seinen Augen, die selbst im Halbdunkel erkennbar unterschiedliche Farben hatten, stand nacktes Entsetzen. Wer war das? Bobbie drehte sich um, um den Fremden genauer in Augenschein zu nehmen. Doch in diesem winzigen Moment, den sie nicht hinschaute, war er plötzlich verschwunden. Als hätte der Erdboden ihn verschluckt. Suchend sah Bobbie sich um. Von dem rätselhaften Jungen war keine Spur mehr zu entdecken.

«Mannschaftsfoto», rief Chloe in diesem Augenblick und riss Jonas von Lena zurück. «Alle herkommen.»

Sie drückte dem verdutzten Jonas ihr Telefon in die Hand und warf sich in Positur.

«Jetzt macht schon», rief sie ihren Mannschaftskameradinnen zu. «Wir brauchen ein Foto für Instagram.»

Sie boxte ein paar Teamkolleginnen zur Seite, um den zentralen Platz für sich und Lena zu reklamieren.

«Kapitän und Torschützenkönigin. Wir beide müssen nebeneinander», erklärte Chloe. Besitzergreifend legte sie den Arm um die Starspielerin.

«Halt», rief Lena und löste sich aus der Umklammerung. «Bobbie muss in die Mitte. Wir müssen ihr erstes Tor feiern.»

Lena zog Bobbie vom äußersten Rand an ihre Seite. Es half nicht mehr. Bobbies Hochgefühl war in sich zusammengefallen wie ein schlecht gemachtes Soufflé.

5Die Ruhe vor dem Sturm

Es war vorbei. Gemeinsam mit Bobbie verließ Lena die Sporthalle, die meisten Spielerinnen waren mit ihren Familien bereits nach Hause gegangen. Die Musik war verstummt, das Buffet leer gegessen und der Meisterpokal durch alle Hände gegangen, bevor er feierlich seinen Platz in der Ehrenvitrine fand. Auf dem Parkplatz vor der Halle drückte Henriette Albers ungeduldig auf die Hupe.

«Opa und Oma warten», stöhnte Bobbie. «Ich muss los.»

«Wir sehen uns beim Handballcamp», versprach Lena. Jedes Jahr an Pfingsten veranstaltete ihr Verein ein Zeltlager am Grünsee, der Höhepunkt von Lenas sportlichem Jahr.

Bobbie verschwand mit ihrer Mutter, Elif wurde von ihrer Großfamilie abgeholt, Chloe drückte sich mit vier Freundinnen in ein Taxi. Überall verzogen sich die Handballer. Stimmen, die einander schöne Pfingsten wünschten, klangen über den Parkplatz, ein Auto nach dem anderen verließ das Sportzentrum. Lena schien als Einzige ohne Angehörige zum Spiel gekommen zu sein. Traurig lief sie Richtung Bus. Es herrschte eine sonderbare Stimmung. Mit dem letzten Auto, das den Parkplatz verließ, verschwand alles Leben. Lena blieb allein zurück und sah sich zweifelnd um, beängstigt von der plötzlichen Stille. Von allen Seiten zogen dicke Wolken über dem Eichberg auf. Seit Lena den Chronometer gefunden hatte, waren die Ereignisse wie ein Wirbelsturm über sie hinweggefegt. Nun fühlte sie sich, als wäre sie im Auge des Orkans angekommen. Es konnte jeden Moment wieder losgehen. Hektisch suchten ihre Augen die Umgebung nach verdächtigen Bewegungen ab. Hinter ein paar Büschen entdeckte sie eine schmale Rauchsäule, die kräuselnd aufstieg, bevor sie sich im Himmel verlor.

«Geh nach Hause», sagte sie laut zu sich selbst. Doch sie konnte den Blick nicht abwenden. Ein eigentümlicher Geruch stieg ihr in die Nase. Woran erinnerte er sie nur? Lena schloss die Augen, um sich besser zu konzentrieren. Das Bild eines Bauwagens tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Ein kleiner Holzofen, abgestandene Luft – das Domizil von Harry König. Sie fröstelte, als sie an ihre letzte Begegnung dachte. Sie sah König vor sich, seinen wutverzerrten Mund, seinen irren Blick, den Fanatismus in seinen stechend hellen Augen, als er sich auf sie stürzte. Sie spürte das Messer, das ihre Haut am Handgelenk aufschlitzte, den Schmerz, die Angst. Lena begann laut vor sich hin zu summen. Man konnte nicht singen und sich gleichzeitig zu Tode fürchten. Aber es funktionierte nicht.

Die schmale Rauchsäule ließ ihr keine Ruhe. Vorsichtig schlich sie näher. Der Wind wischte durch die Bäume, die sich dunkel gegen den Himmel abhoben, die Blätter wisperten, als wollten sie ihr etwas mitteilen. Die Schaukel auf dem menschenleeren Kinderspielplatz quietschte schrill im Wind. Ein Blitz zuckte, von ferne grollte Donner heran. Aus dem Augenwinkel sah sie einen Schatten vorbeihuschen. Einen Moment lang hoffte sie, dass es Dante wäre. Doch es waren nur die Bäume, die sich dem Wind beugten. Sie kämpfte sich weiter und stellte fest, dass der Qualm von einer Feuerstelle stammte, die gerade ihren letzten Atem aushauchte. Lena kramte die Trinkflasche aus ihrem Rucksack und löschte die Glut, als ihr ein halbverkohlter Fetzen Zeitung auffiel. Interessiert nahm sie das Papier auf. Vereinzelt waren zwischen den Brandflecken einzelne Worte zu entziffern. Schwere Pfingstunwetter, las sie. Millionenschaden …Tote zu beklagen … Darunter entzifferte sie die Schlagzeile Fünfzehnjährige Schülerin spurlos verschwunden. Wer kennt Otto? Das unscharfe Fahndungsfoto unter dem Text war halb verbrannt, zeigte aber ganz deutlich Dante. Sie erkannte seinen hellen Haarschopf, die ungleichen Augen … Aber warum hieß er auf einmal Otto? Fünfzehnjährige Schülerin verschwunden? War sie damit gemeint? Der Rest des Textes zerbröselte in ihren Händen zu Asche.

Oben prangte gut erkennbar das Datum der Zeitung: Sie stammte vom Donnerstag nächster Woche. Lena durchfuhr es eiskalt. Was in aller Welt stand ihr bevor? Sie wusste, dass es nur eine Erklärung geben konnte, wie die Zeitung hierhergekommen war. Ein Zeitreisender hatte sie mit sich gebracht. Wollte jemand sie warnen? Dante? Zum ersten Mal schoss ihr durch den Kopf, dass die Zeitmeisterin sie vielleicht gar nicht hatte belohnen wollen, als sie Lena in ihre normale Welt zurückschickte. Vielleicht hatte die Zeitmeisterin sie aus einem anderen Grund zurückkehren lassen. Aber aus welchem? Lena hatte das Gefühl, dass sich um sie herum etwas zusammenbraute, über das Unwetter hinaus.

Plötzlich ein Geräusch hinter ihr. Schritte. Büsche raschelten. Lena beugte sich zu einem halbverkohlten Ast, um sich zu verteidigen. In diesem Moment legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Lena schrie gellend auf.

«Taxi», sagte eine freundliche Stimme.

Sie fuhr herum. Es war Jonas. In die Erleichterung mischte sich ein Hauch Enttäuschung. Sie hatte immer noch nicht aufgehört, auf Dante zu warten.

«Soll ich dich mitnehmen?», fragte Jonas mit besorgtem Blick gen Himmel. «Ich glaube, es geht jeden Moment los.»

Er wies auf sein orangefarbenes Fixie-Rad, das nicht einmal einen Gepäckträger hatte. Lena rang mit sich. Nach dem unvermittelten Kuss waren die beiden sich für den Rest der Meisterfeier aus dem Weg gegangen.

Verlegen kaute auch Jonas auf seiner Lippe herum.

«Das war nicht so gemeint», stammelte er. «Vorhin.»

Seine Wangen liefen knallrot an. Er fuchtelte mit den Armen herum, suchte nach Worten und gab schließlich auf. Er schien sich seiner Sache keineswegs sicher zu sein. Offenbar war ihm der verunglückte Wangenkuss genauso peinlich wie Lena. In diesem Moment heulte der Wind auf, und Jonas klopfte auf die Stange seines Fahrrads. Lena war erleichtert, diesem unheimlichen Ort zu entkommen. Sie nahm zwischen seinen Armen auf der Stange Platz. Während die ersten Tropfen fielen, trat Jonas energisch in die Pedale. Sie schloss die Augen. Mit jeder Faser ihres Herzens wünschte sie, Dante wäre an seiner Stelle.

6Konsequenzen

«Da ist er ja.»

«Er sieht schlecht aus.»

«Ich hätte nicht gedacht, dass er zurückkommt.»

«Ob die Zeitmeisterin ihn endlich bestraft?»

Mit gesenktem Kopf lief Dante durch die unsichtbare Stadt. Er tat so, als hörte er das Getuschel und Gemurmel um sich herum nicht. Viel zu spät entdeckte er Ines, die sich vor einem der vielen Läden mit ein paar zurückgekehrten Zeitreisenden über Details der anstehenden Feierlichkeiten austauschte. Sie löste sich bei seinem Anblick sofort von der Gruppe und schoss auf ihn zu.

«Herzlichen Glückwunsch», ätzte Ines. «Ich bin so stolz auf dich, dass du dich an uns erinnert hast. Es wäre doch zu schade gewesen, wenn du dich in einen Unterseer verwandelt hättest und wir dich aus dem Verkehr hätten ziehen müssen.»

Dante wollte sich keine Vorwürfe anhören. Er wandte seinen Blick von Ines ab und bog abrupt in eine Seitenstraße, wo er frontal mit Coco zusammenstieß.

«Die Gerüchte stimmen! Du bist zurück!» Sie umarmte ihn stürmisch. In ihren Augen glitzerten Tränen, und ihre Stimme überschlug sich vor lauter Begeisterung. «Mach so was nie wieder. Ich wäre vor Angst fast gestorben. Dabei kann ich nicht mal sterben.»

Sie stand vor Dante und sah ihn forschend an.

«Ich dachte schon, du bleibst bei ihr.»

«Unsinn», sagte Dante gepresst. «Was soll ich in Zeitzone 21?»

Das war eine glatte Lüge. Für einen Moment hatte Dante ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, der unsichtbaren Stadt den Rücken zuzukehren. Nach dem Spiel, während alle noch in ihrem Jubel gefangen waren, war er probeweise in der Sportkantine herumgeschlendert und hatte versucht zu erahnen, wie sich das Leben unter Sterblichen anfühlte. Sein größter Vorzug, sein unschlagbares Talent, unsichtbar zu sein, hatte sich dabei als äußerst problematisch herausgestellt. Schon beim Betreten der Kantine wäre er um ein Haar mit Jonas zusammengeknallt, der das volle Tablett in seiner Hand nur mit einer akrobatischen Einlage ausbalancieren konnte. Dante sah ihm neugierig hinterher. Er roch nach Currywurst und Pommes und hantierte beim Gläsereinräumen so gefährlich nahe am Gasherd, dass sein seltsamer Küchenkittel um ein Haar Feuer gefangen hätte. Wie konnten Menschen mit der permanenten Unsicherheit leben? Bei der Ankunft an der Sporthalle hatte er beobachtet, wie ein ausparkendes Auto um ein Haar einen Radfahrer erwischte, ein Kind auf der Treppe ausrutschte und mit dem Kopf auf den Boden knallte. Dante war von einem Schrecken in den nächsten gefallen. Zum ersten Mal in seiner Karriere als Zeitreisender hatte er keine Ahnung, was im nächsten Moment geschehen würde.

Das Leben der Menschen war nicht nur von Katastrophen gekennzeichnet, wie Dante sie aus der Agentur für Schicksalsschläge kannte, es war voller Beinahe-Unfälle. Das Erstaunlichste aber war, dass niemand bemerkte, in welcher Gefahr sie permanent schwebten. Wie schafften die Sterblichen es, unter dieser ständigen Wolke zu leben, dass jede Sekunde etwas Schlimmes passieren konnte? Wie konnte man überhaupt existieren, wenn man sich nicht darauf verlassen durfte, den nächsten Moment zu überleben? Die Leute in der Sportkantine hatten gefeiert, als hätten sie keinerlei Sorgen. Das Leben in Zeitzone 21 war ganz offensichtlich eine Party, zu der er keinen Zutritt hatte.

«Ich hatte nie vor, dortzubleiben», wiederholte Dante seine Lüge. «Ich wollte nur schauen, ob sie gut angekommen ist.»

«Die Zeitmeisterin wird sicher verstehen, dass du noch mal zu Lena gereist bist», sagte Coco. «Ich meine, wenn du es ihr erklärst. Sie wird sich wieder beruhigen. Sie wird dich nicht in die Sterblichkeit verabschieden. Bestimmt nicht. So was passiert nur mit Unterseern. Wenn sie geschnappt werden. Und du bist ja kein Unterseer. Du bist ja freiwillig zurückgekommen.»

Dante zuckte schuldbewusst zusammen. Er erinnerte sich noch gut an den Moment, an dem er selbst in die Gemeinschaft der Zeitreisenden aufgenommen worden war und den Eid der Unsichtbaren abgelegt hatte. Und nun? Er hatte nicht nur seine Aufgaben vernachlässigt, er hatte so viele seiner Versprechen gebrochen. Etwas, das sicher auch der Zeitmeisterin nicht entgangen war.

«Am besten, du gehst gleich zu ihr», sagte Coco zerknirscht.

7Zwei Welten

«Menschen sind unzuverlässig», sagte die Zeitmeisterin mit steinerner Miene: «Ich habe dich gewarnt.»

Unruhig rutschte Dante auf dem Stuhl herum. Die Zeitmeisterin hatte kein Mitleid mit ihm. Er saß in einer Art Verhörzimmer im Herzen des Kuppelbaus. Auf dem Tisch lag Lenas Hologrammbuch. Ihr dreidimensionales Miniaturbild, das anstatt einer Beschriftung auf dem Buchrücken leuchtete, sah so lebensecht aus, dass Dante kaum den Blick davon abwenden konnte. Die Zeitmeisterin schlug Lenas Geschichte auf. Vor seinen Augen liefen Aufnahmen von Jonas und Lena, wie sie in abenteuerlichem Schlingerkurs durch den Feierabendverkehr gondelten.

Früher hatte es ihn nie gestört, dass die Zeitreisenden in der Agentur für Schicksalsschläge das Leben jedes beliebigen Menschen einsehen konnten. Allein die Unterseer schafften es, sich unter dem Radar zu bewegen. Die gläsernen Hologrammbücher, die das Schicksal von Menschen zwischen zwei gläsernen Deckeln zusammenfassten und Grundlage für die Entscheidung waren, welche Fälle von der Agentur für Schicksalsschläge bearbeitet wurden, gehörten, seit Dante denken konnte, zu seinem Alltag. Jetzt brachte ihn die Lebensechtheit dieser Bilder fast um den Verstand. Er verfluchte die magischen Fähigkeiten der Unsichtbaren, die ihn jetzt gnadenlos damit konfrontierten, dass das Leben in der Welt der Menschen weiterging.

Dante konnte kaum glauben, was er sah. Lena hatte es sich auf der Stange zwischen Jonas’ Armen bequem gemacht. In halsbrecherischem Tempo umkurvte der Junge jedes Hindernis und schlängelte sich zwischen einparkenden Autos, lahmen Mofas, roten Ampeln, Baustellen und nichtsahnenden Fußgängern hindurch und schrammte mit einem riskanten Ausweichmanöver an einer sich plötzlich öffnenden Autotür vorbei. Der Hinterreifen rutschte auf der regennassen Straße weg, als er in gefährlicher Schräglage in eine Einbahnstraße auswich. Lena quietschte entsetzt, zwei Lichter blendeten auf. Im allerletzten Moment bog Jonas auf den Gehweg und kurvte elegant zwischen den Tischen vom Bella Roma hindurch.

Dante fühlte sich ganz und gar merkwürdig. Das mit dem Küssen war viel verwirrender, als er sich das in der Theorie vorgestellt hatte. War es normal, dass er Jonas den Hals umdrehen wollte? Bloß weil er besser Fahrradfahren konnte? Oder lag das an Lena? Wenn er die Augen schloss, spürte er auf seinen Lippen noch den süßen Geschmack von Lenas Kuss. Er war Anfänger im Interpretieren von Gefühlen. Er wusste nur eins: Das, was er sah, gefiel ihm kein bisschen.

Die Zeitmeisterin stoppte die Aufnahmen, indem sie das Buch wieder schloss.

«Sie sind nicht wie wir. Sie werden nie sein wie wir. Wir können froh sein, dass wir uns nicht auf dieses Niveau begeben müssen. Die Menschen sind ihren Emotionen hilflos ausgeliefert. Wir nicht. Das macht unseren besonderen Lebensauftrag erst möglich.»

Dante verkniff sich eine Antwort. Er konnte schlecht zugeben, dass er sich mit jeder Faser seines Herzens wünschte, an Jonas’ Stelle zu sein. Denn damit würde er genau dem widersprechen, was die Herrscherin eben gesagt hatte.

«Unsere Stärke ist, dass wir vielen Menschen helfen können, weil wir uns an keinen einzigen binden», sagte die Zeitmeisterin. «Was soll aus den Armen, Schwachen und Kranken werden, wenn wir auf einmal nur noch dem eigenen Glück hinterherlaufen?»

«Diene den Menschen, aber meide sie», zitierte Dante tonlos die fünfte Regel ihres Amtseids.

«Es ist unsere Bestimmung», schärfte die Zeitmeisterin ihm ein. «Wer wie wir über besondere Fähigkeiten verfügt, hat auch eine besondere Verantwortung. Es geht um eine höhere Aufgabe, nicht um ein paar Sekunden Glück.»

Sie machte eine Pause und sah Dante durchdringend an.

«Wie viele Menschen hast du im Stich gelassen, nur um dich sinnlos in der Kantine eines Sportvereins herumzutreiben? Wie vielen hättest du in dieser Zeit helfen können?»

Dante nickte. Er verstand nur zu gut, dass sein Ausflug zu Lena alles in Frage stellte, was er in seiner Nacht der Eulen einmal versprochen hatte.

«Vergiss nie, du bist nur ein Rädchen im Laufwerk der Zeit», zitierte er den Amtseid weiter. «Das Ganze ist wichtiger als seine Teile.»

Die Zeitmeisterin nickte gefällig. «Das Kapitel Lena ist beendet», entschied sie. «Es ist an dir zu beweisen, dass du dich wieder eingliedern kannst.»

Dante nahm seinen Chronometer ab und legte ihn vor sich auf den Tisch. Die Zeitmeisterin sah ihn regungslos an. «Du weißt selber am besten, welche Strafe du verdienst.»