Das Herz ihrer Tochter - Jodi Picoult - E-Book

Das Herz ihrer Tochter E-Book

Jodi Picoult

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Beschreibung

June Nealon war eine glückliche Frau. Bis Shay Bourne in einem einzigen Augenblick ihrem Glück ein Ende bereitete. Für den Mord an ihrem Mann und ihrer ersten Tochter erwartet Bourne nun die Todesstrafe. Doch mit einer ungeheuerlichen Tat will er das Leben ihrer zweiten Tochter retten und alles wieder gutmachen.

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Mit Liebe und so viel Bewunderung, dass sie nicht

auf diese Seite passt.

Für meinen Großvater Hal Friend, der immer den Mut

gehabt hat zu hinterfragen, was wir glauben …

Und für meine Großmutter Bess Friend, die nie aufgehört

hat, an mich zu glauben.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von

Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe

4. Auflage 2010

ISBN 978-3-492-95976-6

© 2008 Jodi Picoult Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Change of Heart«, Atria Books, New York 2008 Deutschsprachige Ausgabe: © 2009 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München Umschlagfotos: John-Francis Bourke / zefa / Corbis (Mother and Daughter Back to) Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Alice lachte. »Ich brauche es gar nicht zu versuchen«, sagte sie; »etwas Unmögliches kann man nicht glauben.«

»Du wirst darin eben noch nicht die rechte Übung haben«, sagte die Königin. »In deinem Alter habe ich täglich eine halbe Stunde darauf verwendet. Zuzeiten habe ich vor dem Frühstück bereits bis zu sechs unmögliche Dinge geglaubt.«

Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln

Prolog: 1996

JUNE

Am Anfang glaubte ich noch, jeder von uns bekomme eine zweite Chance. Wie sonst hätte ich mir vor Jahren, gleich nach dem Unfall – als der Rauch sich verzog und der Wagen, der sich mehrmals überschlagen hatte, in einem Graben auf dem Dach liegen geblieben war –, erklären sollen, dass ich noch lebte, dass ich Elizabeth, meine Kleine, weinen hören konnte? Der Polizeibeamte, der mich aus dem Wrack gezogen hatte, fuhr im Rettungswagen mit mir zum Krankenhaus, um mein gebrochenes Bein versorgen zu lassen, während Elizabeth – wie durch ein Wunder unverletzt – die ganze Zeit bei ihm auf dem Schoß saß. Er hielt meine Hand, als ich den Leichnam meines Mannes Jack identifizieren musste. Er kam zur Beerdigung. Er überbrachte mir die Nachricht, dass der betrunkene Fahrer, der uns von der Straße gedrängt hatte, festgenommen worden war.

Der Name des Polizisten war Kurt Nealon. Noch lange Zeit nach dem Prozess, der mit einem Schuldspruch endete, kam er gelegentlich vorbei, um bei Elizabeth und mir nach dem Rechten zu sehen. Er schenkte ihr Spielsachen zum Geburtstag und zu Weihnachten. Er reparierte den Abfluss oben im Bad. Er kam nach Feierabend, um die Prärie zu mähen, die mal unser Rasen gewesen war.

Ich hatte Jack geheiratet, weil er die große Liebe meines Lebens war, ich hatte für immer mit ihm zusammenbleiben wollen. Aber das war, bevor die Definition von für immer von einem Mann mit 2,2 Promille im Blut verändert wurde. Zu meiner Verwunderung schien Kurt zu verstehen, dass man vielleicht nie wieder so stark lieben kann wie beim ersten Mal. Und noch größer war meine Verwunderung, als sich herausstellte, dass es vielleicht doch möglich ist.

Fünf Jahre später, als Kurt und ich erfuhren, dass wir ein Baby bekommen würden, bedauerte ich das fast – so wie wenn man an einem wunderbaren Sommertag zu einem makellos blauen Himmel hinaufschaut und sich eingesteht, dass von nun an kein Augenblick mehr daran heranreichen wird. Elizabeth war zwei, als Jack starb, als Vater hatte sie immer nur Kurt wahrgenommen. Sie hatten eine so innige Nähe zueinander, dass ich manchmal schon fast meinte, ich sollte mich besser zurückziehen, weil ich störte. Wenn Elizabeth die Prinzessin war, dann war Kurt ihr strahlender Ritter.

Die bevorstehende Ankunft der kleinen Schwester (ist es nicht seltsam, dass keiner von uns auch nur eine Sekunde daran zweifelte, dass das neue Baby auch ein Mädchen war?) versetzte Kurt und Elizabeth in fieberhafte Aktivität. Elizabeth malte genau auf, wie das Zimmer des Babys aussehen sollte. Kurt beauftragte einen Handwerker mit dem erforderlichen Anbau. Doch dann hatte die Mutter des Mannes einen Schlaganfall, und er ließ alles stehen und liegen, um zu ihr nach Florida zu ziehen. Ein Ersatz, der den Auftrag bis zur Geburt des Kindes erledigte, war kurzfristig nicht aufzutreiben. Somit lebten wir praktisch auf einer Baustelle, mit einem Loch in der Wand und einem undichten Dach und Feuchtigkeit im Gebälk. Ich war im siebten Monat.

Als ich zu dieser Zeit an einem Morgen nach unten kam, sah ich, wie Elizabeth in einem Berg Laub spielte, das an der Plastikplane vorbei ins Wohnzimmer geweht war. Ich hatte mich noch nicht entschieden, ob ich losheulen oder den Teppich harken sollte, als es an der Haustür klingelte.

Er hatte eine Segeltuchrolle unter dem Arm, die sein Werkzeug enthielt und die er mit einer Selbstverständlichkeit bei sich trug wie andere ihre Brieftasche. Das Haar fiel ihm bis auf die Schultern und war verfilzt. Seine Kleidung war verdreckt, und er roch nach Schnee – obwohl es gar nicht die Jahreszeit war. Shay Bourne tauchte unerwartet auf, wie ein Werbezettel für eine Sommerkirmes, der mit dem Winterwind herangeweht kommt, sodass du dich fragst, wo er bloß die ganze Zeit gesteckt hat.

Er tat sich schwer damit, sein Anliegen vorzubringen. »Ich möchte …«, setzte er an, hielt dann inne und begann von vorn: »Haben Sie, kann ich, weil …« Ein dünner Schweißfilm trat ihm auf die Stirn. »Kann ich irgendwas für Sie tun?«, fragte er schließlich schüchtern, als Elizabeth zur Haustür gerannt kam.

Oh ja, Sie können wieder gehen, dachte ich. Ich wollte schon die Tür schließen, instinktiv meine Tochter schützen. »Nein, vielen Dank …«

Elizabeth schob ihre Hand in meine und blinzelte zu ihm hoch. »Bei uns im Haus sind viele Sachen kaputt«, sagte sie.

Dann ging er in die Hocke, und meiner Tochter gegenüber schien mit einem Mal alle Unsicherheit von ihm abzufallen. Die Worte kamen ihm jetzt klar und ganz entschlossen über die Lippen: »Ich kann euch helfen«, erwiderte er.

Kurt sagte immer, dass keiner der ist, für den man ihn hält, dass man die Vergangenheit eines Menschen vollkommen durchleuchten muss, ehe man irgendwelche Versprechungen macht. Ich hielt ihm dann entgegen, dass er zu misstrauisch sei, zu sehr Polizist. Schließlich hatte ich ja Kurt einfach nur deshalb in mein Leben gelassen, weil er freundliche Augen und ein gutes Herz hatte, und an dem, was dabei herausgekommen war, konnte nicht mal er etwas auszusetzen haben.

»Wie heißen Sie?«, fragte ich.

»Shay. Shay Bourne.«

»Sie sind engagiert, Mr. Bourne«, sagte ich, der Anfang vom Ende.

Sieben Monate später

MICHAEL

Shay Bourne war ganz anders, als ich erwartet hatte.

Ich hatte mich auf einen Schrank von Mann gefasst gemacht, einen mit Hammerfäusten und Stiernacken und verkniffenen Augen, so schmal wie Schlitze. Immerhin ging es hier um das Verbrechen des Jahrhunderts in unserer Gegend – ein Doppelmord, der ganz New Hampshire aufgewühlt hatte. Ein Verbrechen, das umso schlimmer wirkte, weil die Opfer ein kleines Mädchen und ein Polizeibeamter, noch dazu ihr Stiefvater, gewesen waren. Es war die Art von Verbrechen, bei der man sich fragt, ob man in seinen eigenen vier Wänden noch sicher ist, ob sich die Menschen, denen man vertraut, nicht jeden Augenblick gegen einen wenden können – und vielleicht war das der Grund, weshalb die Staatsanwaltschaft von New Hampshire zum ersten Mal seit achtundfünfzig Jahren die Todesstrafe forderte.

Der Medienrummel hatte zu Recht Zweifel daran aufkommen lassen, ob es überhaupt noch möglich war, zwölf Geschworene zu finden, die sich noch keine Meinung über die Tat gebildet hatten, dennoch gelang es, uns ausfindig zu machen. Mich stöberten sie in der Unibibliothek auf, wo ich meine Abschlussarbeit in Mathematik vorbereitete. Ich hatte seit einem Monat keine anständige Mahlzeit mehr zu mir genommen, geschweige denn eine Zeitung gelesen, und das machte mich zum perfekten Kandidaten für die Jury im Mordprozess gegen Shay Bourne.

Als wir das erste Mal im Gänsemarsch aus unserem kleinen Beratungsraum im Kammergericht kamen – wo ich mich schon bald wie zu Hause fühlen würde –, dachte ich, der Gerichtsdiener hätte uns vielleicht in den falschen Saal geführt. Der Angeklagte war klein und schmächtig – jemand, der bestimmt als Kind zahllose Hänseleien hatte einstecken müssen. Er trug eine Tweedjacke, in der er fast ertrank, und sein Krawattenknoten stand beinahe senkrecht vom Hals ab, als würde er von einer unsichtbaren Kraft abgestoßen. Die Hände, in Handschellen, ruhten schlaff in seinem Schoß, und sein Haar war bis auf die Kopfhaut geschoren. Er hielt den Blick gesenkt, selbst als der Richter seinen Namen nannte, der wie Dampf aus einem Heizungsventil durch den Saal zischte.

Der Richter und die Anwälte klärten gerade irgendwelche Formalitäten ab, als die Fliege hereinkam. Sie fiel mir aus zweierlei Gründen auf: Im März sieht man nicht viele Fliegen in New Hampshire, und ich fragte mich, wie man es anstellen sollte, eine Fliege zu verscheuchen, wenn man Handschellen trug, die an einer Kette um die Taille festgemacht waren. Shay Bourne starrte auf das Insekt, als es auf dem Schreibblock vor ihm landete, und dann hob er mit metallischem Klirren die gefesselten Hände und ließ sie auf den Tisch krachen, um die Fliege zu töten.

Das dachte ich zumindest, bis er die Handflächen nach oben drehte, die Finger behutsam öffnete und das Insekt davonschwirrte, um jemand anderen zu ärgern.

In diesem Moment sah er mich an, und mir wurden zwei Dinge klar: Erstens, er hatte panische Angst. Zweitens, er war ungefähr so alt wie ich.

Dieser Doppelmörder, dieses Monster, sah aus wie der Kapitän der Wasserballmannschaft, der letztes Semester neben mir im Statistikseminar gesessen hatte. Er hatte Ähnlichkeit mit dem Pizzaboten von dem Italiener, wo die Pizzen so waren, wie ich sie am liebsten mochte: dünn und knusprig. Er erinnerte mich sogar an den Jungen, den ich auf dem Weg zum Gericht durch den Schnee hatte stapfen sehen, für den ich das Fenster runtergekurbelt hatte, um ihn zu fragen, ob ich ihn ein Stück mitnehmen könne. Anders ausgedrückt, er sah nicht so aus, wie ein Mörder meiner Vorstellung nach aussehen würde, sollte mir je einer über den Weg laufen. Er hätte irgendein x-beliebiger junger Mann Anfang zwanzig sein können. Ich hätte er selbst sein können.

Bis auf einen entscheidenden Unterschied: Er saß in Hand- und Fußschellen ein paar Meter von mir entfernt, und es war meine Aufgabe zu entscheiden, ob er es verdiente weiterzuleben oder nicht.

Einen Monat später wusste ich, dass der Dienst als Geschworener himmelweit von dem entfernt ist, was man aus Film und Fernsehen kennt. Ständig ging es zwischen Gerichtssaal und Geschworenenzimmer hin und her; das angelieferte Essen war mies; manche Anwälte hörten sich furchtbar gern reden, und glauben Sie mir, nicht jede Staatsanwältin ist so sexy wie die in Law & Order. Noch nach vier Wochen hatte ich beim Betreten dieses Gerichtssaales das Gefühl, ohne Reiseführer in einem fremden Land anzukommen … aber hier konnte ich meine Unwissenheit nicht damit entschuldigen, Tourist zu sein. Man erwartete von mir, dass ich die fremde Sprache fließend sprach.

Der erste Teil des Prozesses war abgeschlossen: Wir hatten Bourne für schuldig befunden. Die Staatsanwaltschaft hatte reichlich Beweise dafür vorgelegt, dass Kurt Nealon in Ausübung seines Dienstes als Polizeibeamter bei dem Versuch erschossen worden war, Shay Bourne festzunehmen, nachdem er ihn mit seiner Stieftochter überrascht hatte, deren Unterwäsche in Bournes Tasche gefunden worden war. Als June Nealon, die bei einer Ultraschalluntersuchung gewesen war, nach Hause kam, erwartete sie ein Aufgebot an Rettungs- und Polizeifahrzeugen: Ihre Tochter war tot, ihr Mann tödlich verletzt. Gegen die überwältigende Beweislast der Staatsanwaltschaft hatte die Verteidigung keine Chance. Erschwerend kam hinzu, dass Bourne selbst nicht in den Zeugenstand gerufen worden war, vielleicht aufgrund seiner mangelhaften Ausdrucksfähigkeit … oder weil er nicht nur schuldig wie die Sünde war, sondern auch weil sein eigener Verteidiger ihn für ein unkalkulierbares Risiko hielt.

Jetzt waren wir kurz davor, den zweiten Teil des Prozesses abzuschließen – die Festlegung des Strafmaßes –, genauer gesagt, den Teil, der diesen Prozess von jedem anderen Mordprozess im vergangenen halben Jahrhundert in New Hampshire unterschied. Hatte Bourne, von dem wir nun wussten, dass er der Täter war, die Todesstrafe verdient?

Dieser zweite Teil war sozusagen eine aufs Wesentliche reduzierte Version des ersten Teils. Die Staatsanwaltschaft fasste die Beweismittel noch einmal zusammen, dann erhielt die Verteidigung Gelegenheit, Mitgefühl für einen Mörder zu wecken. Wir erfuhren, dass Bourne von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht worden war. Dass er mit sechzehn im Haus seiner Pflegeeltern einen Brand gelegt und dafür zwei Jahre im Jugendgefängnis gesessen hatte. Er litt an einer unbehandelten bipolaren Störung, einer zentral-auditiven Verarbeitungsstörung, einer Überempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen, und er hatte Probleme mit dem Lesen und Schreiben.

Das alles erfuhren wir allerdings aus dem Mund von Zeugen. Wieder einmal war es nicht Shay Bourne persönlich, der uns um Gnade bat.

Jetzt war es Zeit für die Schlussplädoyers, und ich sah, wie der Staatsanwalt seine gestreifte Krawatte glatt strich und vortrat. Ein großer Unterschied zwischen einem herkömmlichen Prozess und der Strafzumessungsphase in einem Prozess, in dem die Todesstrafe beantragt wurde, besteht darin, wer das letzte Wort bekommt. Ich selbst hatte keine Ahnung von so was, aber Maureen – eine reizende ältere Geschworene, die ich liebend gern als Großmutter gehabt hätte – verpasste nicht eine einzige Folge von Law & Order und hatte quasi ein Jurastudium im Fernsehsessel absolviert. In den meisten Prozessen kam die Staatsanwaltschaft mit ihrem Schlussplädoyer als Letzte zu Wort … sodass einem ihre Worte noch in den Ohren klangen, wenn man sich mit den übrigen Geschworenen zur Beratung zurückzog. Aber in einem Prozess, in dem es um die Todesstrafe ging, sprach die Staatsanwaltschaft zuerst, und dann hatte die Verteidigung eine letzte Chance, die Meinung der Geschworenen zu ändern.

Schließlich ging es hier um Leben oder Tod.

Der Staatsanwalt blieb vor der Geschworenenbank stehen. »Es ist achtundfünfzig Jahre her, seit in New Hampshire zuletzt ein Vertreter meines Amtes eine Jury bitten musste, eine so schwere und ernste Entscheidung zu fällen wie die, die jetzt von Ihnen verlangt wird. Eine solche Entscheidung trifft niemand leicht, aber es ist eine Entscheidung, die der Faktenlage in diesem Fall angemessen ist, und es ist eine Entscheidung, die gefällt werden muss, um dem Andenken an Kurt Nealon und Elizabeth Nealon gerecht zu werden, deren Leben auf so brutale und abscheuliche Weise ein Ende gesetzt wurde.«

Er nahm ein großformatiges Foto von Elizabeth Nealon und hielt es direkt vor meiner Nase hoch. Elizabeth war eines von diesen kleinen Mädchen gewesen, die mit ihren Fohlenbeinchen und Mondscheinhaaren aussehen, als wären sie federleicht, die Sorte, bei der man denkt, sie würden vom Klettergerüst schweben, wenn das Gewicht ihrer Turnschuhe sie nicht dort halten würde. Aber dieses Foto war aufgenommen worden, nachdem sie erschossen worden war. Blut war ihr ins Gesicht gespritzt und hatte ihre Haare verklebt; die Augen waren noch weit geöffnet. Ihr Kleid war im Fallen hochgerutscht und ließ erkennen, dass sie von der Hüfte abwärts nackt war. »Elizabeth Nealon wird niemals Algebra lernen oder Reiten oder Handstandüberschlag. Sie wird niemals zur Tanzschule gehen oder zum Highschool-Abschlussball. Sie wird niemals ihr erstes Paar hochhackige Schuhe anprobieren oder ihren ersten Kuss bekommen. Sie wird ihrer Mutter niemals ihren ersten Freund vorstellen. Sie wird niemals von ihrem Stiefvater zum Traualtar geführt werden. Sie wird niemals ihre Schwester Claire kennenlernen. Sie wird all diese Augenblicke und noch unzählige mehr verpassen – nicht wegen eines Autounfalls oder einer Leukämieerkrankung, sondern weil Shay Bourne entschied, dass sie nichts von all dem verdient hat.«

Dann zog er hinter dem Foto von Elizabeth ein weiteres hervor und hielt es hoch. Die Kugel hatte Kurt Nealon in den Bauch getroffen. Sein blaues Uniformhemd war lila von seinem und Elizabeth’ Blut. Im Laufe des Prozesses hatten wir gehört, dass er, als die Rettungssanitäter bei ihm waren, Elizabeth nicht loslassen wollte, obwohl er selbst immer mehr Blut verlor. »Shay Bourne hörte nicht auf, nachdem er Elizabeth getötet hatte. Er tötete auch Kurt Nealon. Und damit nahm er nicht nur Claire den Vater und June den Ehemann – er nahm auch der Polizei von Lynley den Kollegen Officer Kurt Nealon. Er nahm dem Juniorenbaseballteam von Grafton County den Trainer. Er riss den Gründer des Fahrradsicherheitstages an der Grundschule von Lynley mitten aus dem Leben. Shay Bourne tötete einen Polizeibeamten, der nicht nur versucht hatte, seine Tochter zu beschützen, sondern eine Bürgerin und eine Gemeinde zu beschützen. Eine Gemeinde, der jeder Einzelne von Ihnen angehört.«

Der Staatsanwalt legte die Fotos mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch. »Es gibt einen Grund, warum die Todesstrafe in New Hampshire seit achtundfünfzig Jahren nicht mehr verhängt wurde, Ladys und Gentlemen. Weil nämlich trotz der vielen Fälle, die in all dieser Zeit an unseren Gerichten verhandelt wurden, kein einziger Angeklagter diese Strafe verdient hatte. Andererseits jedoch haben sich die rechtschaffenen Menschen unseres Bundesstaates die Möglichkeit bewahrt, die Todesstrafe zu verhängen … statt sie aus dem Gesetz zu streichen, wie es so viele andere Staaten unseres Landes getan haben. Und der Grund dafür sitzt heute in diesem Gerichtssaal.«

Meine Augen folgten dem Blick des Staatsanwalts und verharrten auf Shay Bourne. »Wenn überhaupt je ein Fall in der Geschichte unseres Staates förmlich danach geschrien hat, dass die höchste Strafe verhängt wird«, sagte der Anwalt, »dann dieser.«

Die Uni ist eine in sich geschlossene Welt. Man besucht sie vier Jahre lang, und nicht wenige vergessen während dieser Zeit, dass auch außerhalb von Seminararbeiten und Zwischenprüfungen und Semesterpartys eine Welt existiert. Sie lesen keine Zeitung, sondern Lehrbücher. Sie schauen sich keine Nachrichten an, sondern Late-Night-Shows. Aber dennoch schafft es die Welt da draußen, bruchstückweise durchzudringen: eine Mutter, die ihre Kinder in ein Auto sperrte und es in einen See rollen ließ, um sie zu ertränken; ein Mann, der seine Frau vor den Augen der Kinder im Streit erschoss; ein Serienvergewaltiger, der eine Jugendliche einen Monat gefesselt in einem Keller gefangen hielt und ihr dann die Kehle durchschnitt. Die Morde an Kurt und Elizabeth Nealon waren furchtbar, klar – aber waren die anderen weniger furchtbar?

Shay Bournes Verteidiger stand auf. »Sie haben meinen Mandanten des zweifachen Mordes für schuldig befunden, und er bestreitet die Tat nicht. Wir nehmen Ihren Schuldspruch an, wir respektieren Ihr Urteil. Jetzt jedoch bittet die Staatsanwaltschaft Sie, diesen Fall – bei dem es um den Tod von zwei Menschen geht– damit abzuschließen, dass Sie einem dritten Menschen das Leben nehmen.«

Ich spürte, wie mir ein Schweißtropfen zwischen den Schulterblättern hinunterlief.

»Durch den Tod von Shay Bourne wird sich niemand sicherer fühlen. Selbst wenn Sie sich gegen seine Exekution entscheiden, kommt er nicht auf freien Fuß. Er wird zu zweimal lebenslänglich ohne Aussicht auf Bewährung verurteilt werden.« Er legte seine Hand auf Bournes Schulter. »Sie haben erfahren, welche Kindheit Shay Bourne hatte. Wo hätte er das lernen sollen, was Sie alle in Ihren Familien lernen konnten? Wo hätte er lernen sollen, Richtig und Falsch zu unterscheiden, Gut und Böse? Ja, wo hätte überhaupt etwas lernen sollen? Wer hätte ihm Gutenachtgeschichten vorlesen sollen, wie Elizabeth Nealon sie von ihren Eltern vorgelesen bekam?«

Der Anwalt trat auf uns zu. »Sie haben gehört, dass Shay Bourne eine bipolare Störung hat, die nicht behandelt wurde. Sie haben gehört, dass er eine Lernschwäche hat, Aufgaben, die uns leichtfallen, sind für ihn unglaublich frustrierend. Sie haben gehört, wie schwer es ihm fällt, sich zu überwinden, seine Gedanken zu äußern. Das alles hat mit dazu beigetragen, dass Shay furchtbare Dinge getan und schlechte Einscheidungen getroffen hat – wie Sie selbst zweifelsfrei bestätigt haben.« Er blickte uns nacheinander an. »Shay Bourne hat wahrhaftig schlechte Entscheidungen getroffen«, sagte der Anwalt. »Aber machen Sie es nicht noch schlimmer, indem auch Sie eine solche Entscheidung treffen.«

JUNE

Es lag in den Händen der Geschworenen. Wieder einmal.

Es ist seltsam, die Gerechtigkeit zwölf fremden Menschen in die Hände zu legen. Während der Strafzumessungsphase des Prozesses hatte ich fast die ganze Zeit in ihre Gesichter geblickt. Es waren einige Mütter dabei. Hin und wieder fing ich ihre Blicke auf und lächelte sie an, wenn ich konnte. Ein paar von den Männern sahen aus, als wären sie beim Militär gewesen. Und der Jüngste von ihnen sah aus, als wäre er kaum alt genug, um sich schon zu rasieren, geschweige denn die richtige Entscheidung zu treffen.

Ich wollte mich mit jedem Einzelnen von ihnen zusammensetzen. Ich wollte ihnen den Brief zeigen, den Kurt mir nach unserer ersten richtigen Verabredung geschrieben hatte. Ich wollte sie die weiche Baumwollmütze anfassen lassen, die Elizabeth auf dem Weg von der Entbindungsstation nach Hause aufgehabt hatte. Ich wollte ihnen die Nachricht vorspielen, die sie beide mir auf den Anrufbeantworter gesprochen hatten und die ich einfach nicht löschen konnte, obwohl es mir jedes Mal das Herz zerriss, wenn ich sie hörte. Ich wollte sie mitnehmen und ihnen Elizabeth’ Zimmer zeigen, mit dem Schneewittchen-Nachtlicht und ihrer Verkleidungskiste. Ich wollte sie das Gesicht in Kurts Kopfkissen drücken lassen, um seinen Duft einzuatmen. Ich wollte, dass sie mein Leben lebten, weil sie nur so richtig nachvollziehen könnten, was ich verloren hatte.

Am Abend nach den Schlussplädoyers stillte ich Claire mitten in der Nacht und schlief dann mit ihr in den Armen ein. Aber ich träumte, dass sie oben war, weit weg, und dass sie weinte. Ich ging die Treppe hoch zum Kinderzimmer, wo es noch immer nach neuem Holz und frischer Farbe roch, und öffnete die Tür. »Ich komme«, sagte ich, doch als ich die Schwelle schon überschritten hatte, merkte ich, dass das Zimmer nie gebaut worden war, dass ich gar kein Baby hatte, dass ich ins Bodenlose fiel.

MICHAEL

Zum Geschworenendienst werden nur bestimmte Leute ausgewählt. Mütter mit kleinen Kindern, Steuerberater mit dringenden Terminen, Ärzte, die zu Kongressen müssen – sie alle werden entschuldigt. Übrig bleiben Rentner, Hausfrauen, Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung und Studenten wie ich, weil keiner von uns zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein muss.

Ted, unser Sprecher, war ein älterer Mann, der mich an meinen Großvater erinnerte. Nicht vom Aussehen oder seiner Sprechweise her, sondern weil er die Gabe hatte, das Beste aus uns herauszuholen. Mein Großvater war auch so gewesen – bei ihm wuchs ich über mich selbst hinaus, nicht weil er es verlangte, sondern weil es einfach das Größte war, sein Grinsen zu sehen, wenn ich ihn beeindruckt hatte.

Mein Großvater war der Grund, warum ich für diesen Prozess als Geschworener ausgewählt worden war. Ich hatte zwar keine persönliche Erfahrung mit Mord, aber ich wusste, wie es war, einen geliebten Menschen zu verlieren. So etwas verwindet man nie, aber man steht es durch – und allein aus diesem einfachen Grund konnte ich June Nealon besser verstehen, als sie ahnte. Im vergangenen Winter, vier Jahre nach dem Tod meines Großvaters, war in mein Zimmer im Studentenwohnheim eingebrochen worden; gestohlen wurden mein Computer, mein Fahrrad und das einzige Foto, das ich hatte, auf dem mein Großvater und ich zusammen zu sehen waren. Den Rahmen aus echtem Sterlingsilber hatte der Dieb zwar zurückgelassen, aber der Verlust des Fotos schmerzte mich tief.

Ted wartete, bis Maureen ihren Lippenstift nachgezogen hatte, bis Jack von der Toilette zurück war, bis wir alle wieder so weit waren, uns als Gruppe der Aufgabe zu stellen. »So«, sagte er und legte die Hände flach auf den Konferenztisch. »Dann wollen wir mal.«

Aber wie sich herausstellte, war es um einiges leichter zu sagen, dass jemand für das, was er getan hatte, den Tod verdiente, als tatsächlich die Verantwortung für eine Hinrichtung zu übernehmen.

»Ich sag es einfach mal frei heraus«, seufzte Vy. »Ich hab wirklich keine Ahnung, was der Richter von uns will.«

Vor Beginn der Zeugenaussagen hatte der Richter uns fast eine Stunde lang belehrt. Ich hatte gedacht, wir würden das Ganze auch noch schriftlich auf einem Informationsblatt bekommen, aber Pustekuchen. »Ich kann es erklären«, sagte ich. »Das ist so ähnlich wie die Speisekarte im Chinarestaurant, wo man sich sein Essen zusammenstellt. Es gibt eine ganze Checkliste mit Punkten, die darüber entscheiden, ob eine Tat mit dem Tod zu bestrafen ist. Die müssen wir für jeden der beiden Morde einzeln durchgehen, und die Todesstrafe ist nur dann anwendbar, wenn mehrere Punkte zusammenkommen.«

»Ich konnte chinesisches Essen noch nie ausstehen«, warf Mark ein.

Ich stand vor der weißen Wandtafel und nahm einen Filzstift. A, schrieb ich. ABSICHT/VORSATZ. »Ich schätze, die Frage haben wir im Grunde schon dadurch abgehandelt, dass wir ihn des Mordes für schuldig befunden haben.«

B. »Jetzt wird es kniffliger. Auf dieser Liste steht eine ganze Reihe von Punkten, die straferschwerend wären.«

Ich fing an, aus den ungeordneten Notizen vorzulesen, die ich mir während der Belehrung durch den Richter gemacht hatte:

Der Angeklagte wurde schon einmal wegen Mordes verurteilt.

Der Angeklagte wurde schon wegen zwei oder mehr anderer Straftaten zu einer Haftstrafe von über einem Jahr verurteilt.

Der Angeklagte wurde wegen zwei oder mehr Straftaten im Zusammenhang mit Drogenhandel verurteilt.

Bei Verübung der Tat nahm der Angeklagte den Tod Unbeteiligter in Kauf.

Der Angeklagte beging die Tat geplant und vorsätzlich.

Das Opfer war wehrlos aufgrund von hohem Alter, Jugend, Krankheit.

Der Angeklagte ging bei der Ausübung der Tat besonders grausam oder skrupellos oder pervers vor, indem er das Opfer quälte oder misshandelte.

Der Mord geschah in der Absicht, einer Verhaftung zu entgehen.

Ted blickte auf die Tafel, während ich alles aufschrieb, woran ich mich erinnern konnte. »Also, wenn wir zusätzlich zu dem Punkt A einen oder mehrere unter B finden, müssen wir ihn dann zum Tode verurteilen?«

»Nein«, sagte ich. »Es gibt nämlich auch noch eine Rubrik C.«

STRAFMILDERNDE FAKTOREN, schrieb ich. »Folgende Punkte wären strafmildernd.«

Die Fähigkeit des Angeklagten, seine Tat als falsch oder gesetzwidrig einzuschätzen, war beeinträchtigt.

Der Angeklagte handelte in einem psychischen Ausnahmezustand.

Der Angeklagte war Mittäter, nicht der eigentliche Täter.

Der Angeklagte war jung, wenn auch nicht jünger als 18.

Der Angeklagte hat keinerlei schwere Vorstrafen.

Der Angeklagte beging die Tat in einem Zustand schwerer psychischer oder emotionaler Störung.

Ein anderer Angeklagter, der eine vergleichbare Tat begangen hat, erhielt nicht die Todesstrafe.

Das Opfer billigte die Tat mit Todesfolge.

Weitere Faktoren in der Vorgeschichte des Angeklagten sind als mildernde Umstände zu betrachten.

Unter die Rubriken schrieb ich in roten Großbuchstaben: (A + B) – CSTRAFMASS.

Marilyn hob kapitulierend die Hände. »Ich konnte meinem Sohn schon in der sechsten Klasse nicht mehr bei seinen Mathehausaufgaben helfen.«

»Nein, es ist ganz einfach«, sagte ich. »Wir müssen einvernehmlich befinden, dass Bourne beide Opfer absichtlich erschossen hat. Das ist Punkt A. Dann müssen wir sehen, ob einer von den straferschwerenden Punkten in Liste B zutrifft. Zum Beispiel die Wehrlosigkeit des Opfers, weil es noch jung war – was auf Elizabeth ja wohl zutrifft, richtig?«

Einige am Tisch nickten.

»Wenn wir mit A und B fertig sind, ziehen wir solche Faktoren wie die Unterbringung in Pflegefamilien, die psychische Erkrankung und dergleichen in Betracht. Es ist nichts als simple Mathematik. Wenn A + B größer sind als die strafmildernden Faktoren, verurteilen wir ihn zum Tode. Wenn A + B geringer sind als die strafmildernden Faktoren, dann nicht.« Ich umkringelte die Gleichung. »Wir müssen einfach sehen, was am Ende rauskommt.«

So gesehen, hatte es nicht das Geringste mit uns zu tun. Wir mussten lediglich die Variablen einsetzen und die Lösung ausrechnen. So gesehen, war die Aufgabe viel leichter.

13 Uhr12

»Natürlich hat Bourne das alles geplant«, sagte Jack. »Er hat sich den Job verschafft, um in die Nähe der Kleinen zu kommen. Er hat sich die Familie gezielt ausgesucht und hat dann dafür gesorgt, dass er in dem Haus ein und aus gehen konnte.«

»An dem Tag hatte er schon Feierabend gemacht und war nach Hause gegangen«, sagte Jim. »Aus welchem anderen Grund hätte er denn noch einmal zurückkommen sollen?«

»Das Werkzeug«, antwortete Maureen. »Er hatte es liegen lassen, und es war das Wertvollste, was er besaß. Was hat der Psychologe noch mal gesagt? Bourne hat sich das Werkzeug aus irgendwelchen fremden Garagen zusammengestohlen, und er fand das auch nicht falsch, weil er es ja brauchte und es bei den anderen Leuten eigentlich bloß Staub ansetzte.«

»Vielleicht hat er das Werkzeug absichtlich liegen lassen«, gab Ted zu bedenken. »Wenn es wirklich so wertvoll für ihn war, dann hätte er es doch wohl mitgenommen, wie sonst auch immer.«

Alle pflichteten ihm bei. »Also, sind wir uns einig, dass Planung und Vorsatz vorliegen?«, fragte Ted. »Ich bitte um Handzeichen.«

Die Hälfte der Hände hob sich, meine eingeschlossen. Die Übrigen folgten zögernd. Als Maureen als Letzte die Hand hob, umkringelte ich den Punkt an der Tafel.

»Das macht zwei aus Liste B«, sagte Ted.

»Eine Zwischenfrage«, sagte Jack. »Wo bleibt eigentlich das Mittagessen? Müsste das nicht längst da sein?«

Dachte er ernsthaft ans Essen, wo wir gerade dabei waren, über Leben oder Tod eines Menschen zu entscheiden?

Marilyn seufzte. »Ich finde, wir sollten über den Umstand sprechen, dass das arme Mädchen keine Unterwäsche trug, als es gefunden wurde.«

»Ich glaube, das dürfen wir gar nicht«, sagte Maureen. »Vor unserer Beratung, ob wir ihn schuldig sprechen sollten, hat der Richter uns doch noch gesagt, dass der sexuelle Missbrauch an Elizabeth nicht mehr verhandelt wird und deshalb bei unserer Entscheidung nicht ins Gewicht fallen darf. Dann sollten wir ihn doch wohl jetzt auch nicht miteinbeziehen.«

»Jetzt ist das was anderes«, sagte Vy. »Wir haben ihn bereits schuldig gesprochen.«

»Der Mann wollte die Kleine vergewaltigen«, sagte Marilyn. »In meinen Augen ist das ein besonders grausames und perverses Verhalten.«

»Aber es gab eigentlich keine Beweise dafür«, sagte Mark.

Marilyn hob eine Augenbraue. »Wie bitte? Das Mädchen hatte keine Unterwäsche an. Siebenjährige laufen normalerweise nicht ohne Schlüpfer herum. Und Bourne hatte den Schlüpfer in seiner Tasche … wie hätte der sonst da hinkommen sollen?«

»Spielt das denn eine Rolle? Wir sind uns doch einig, dass der Punkt ›Schutzlosigkeit aufgrund jungen Alters‹ auf Elizabeth zutrifft. Mehr brauchen wir gar nicht aus Rubrik B.« Maureen runzelte die Stirn. »Oder hab ich irgendwas falsch verstanden? Ich glaube, ich bin verwirrt.«

Alison, die Frau eines Arztes, die sich die ganze Zeit zurückgehalten hatte, blickte sie an. »Immer wenn ich verwirrt bin, denke ich an den Officer, der als Zeuge ausgesagt hat, er hätte die Kleine schreien gehört, als er die Treppe raufgerannt ist. Nicht schießen – hat sie gebettelt. Sie hat um ihr Leben gebettelt.« Alison seufzte. »Das macht die Sache irgendwie wieder ganz einfach, nicht?«

Schweigen trat ein, bis Ted alle um Handzeichen bat, die für die Hinrichtung von Shay Bourne waren.

»Nein«, sagte ich. »Wir sind noch nicht fertig.« Ich deutete auf Spalte C. »Wir müssen noch darüber nachdenken, was sich strafmildernd auswirken könnte.«

»Ich kann im Augenblick nur darüber nachdenken, wo mein Essen bleibt«, sagte Jack.

Wir machten die Abstimmung trotzdem, und sie fiel acht zu vier aus. Ich war bei der Minderheit.

15 Uhr 06

Ich blickte in die Runde. Diesmal waren neun Hände in der Luft. Maureen, Vy und ich hatten als Einzige nicht für die Todesstrafe gestimmt.

»Was hält euch davon ab, diese Entscheidung zu treffen?«, fragte Red.

»Sein Alter«, sagte Vy. »Mein Sohn ist vierundzwanzig«, sagte sie. »Und ich muss dauernd daran denken, dass er auch nicht immer die besten Entscheidungen trifft. Er ist noch nicht richtig erwachsen.«

Jack wandte sich an mich. »Sie sind im selben Alter wie Bourne. Was machen Sie aus Ihrem Leben?«

Ich spürte, wie ich rot anlief. »Ich, ähm, ich werde wahrscheinlich noch weiterstudieren, meinen Master machen. Ich weiß noch nicht genau.«

»Sie haben niemanden umgebracht, oder?«

Jack erhob sich. »Machen wir eine kleine Pause«, schlug er vor, und wir alle ergriffen die Chance, ein paar Minuten für uns zu sein. Ich warf den Filzstift hin und trat ans Fenster. Draußen saßen Gerichtsangestellte auf Bänken und aßen ihren Lunch. Zwischen den knorrigen Fingern der Bäume hingen Wolken. Fernsehübertragungswagen mit Satellitenschüsseln auf dem Dach warteten auf unsere Entscheidung.

Ich setzte mich an den Tisch, neben Jim. Der las in der Bibel, die er offenbar ständig bei sich trug. »Sind Sie religiös?«, fragte er mich.

»Ich war als Kind auf einer katholischen Schule«, erwiderte ich. »Steht in der Bibel nicht so was wie, man soll auch die andere Wange hinhalten?«

Jim spitzte die Lippen und las vor: »Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf es von dir. Es ist dir besser, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. Wenn ein Apfel verfault ist, lässt man nicht die ganze Ernte verderben.« Er reichte mir die Bibel. »Lesen Sie selbst.«

Ich sah mir das Zitat an und klappte das Buch dann zu. Ich war in Glaubensfragen längst nicht so beschlagen wie Jim, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Jesus diese Passage vielleicht zurückgenommen hätte, nachdem er selbst zum Tode verurteilt worden war. Ja, ich hatte das Gefühl, dass Jesus das, was getan werden musste, genauso schwerfallen würde wie mir, wäre er hier bei uns im Geschworenenzimmer.

16 Uhr 02

Ted bat mich, Ja und Nein an die Tafel zu schreiben, und dann fragte er uns nacheinander, während ich unsere Namen in die entsprechende Spalte schrieb.

Jim?

Ja.

Alison?

Ja.

Marilyn?

Ja.

Vy?

Nein.

Ich zögerte, schrieb dann meinen Namen unter den von Vy.

»Sie haben eingewilligt, nötigenfalls für die Todesstrafe zu stimmen«, sagte Mark. »Wir wurden vor unserer Auswahl für die Jury einzeln gefragt, ob wir dazu in der Lage wären.«

»Ich weiß.« Ja, ich hatte eingewilligt, für die Todesstrafe zu stimmen, wenn die Umstände es verlangten. Mir war bloß nicht klar gewesen, dass es so schwer sein würde.

Vy vergrub das Gesicht in den Händen. »Wenn mein Sohn früher mal seinen kleinen Bruder gehauen hat, hab ich ihm keine Ohrfeige gegeben und dann gesagt: ›Nicht schlagen‹. Es wäre mir heuchlerisch vorgekommen. Und es kommt mir auch heute heuchlerisch vor.«

»Vy«, sagte Marilyn leise, »was, wenn dein siebenjähriges Kind umgebracht worden wäre?« Sie griff unter den Tisch, wo wir Mitschriften und Beweismittel gestapelt hatten, und holte das gleiche Foto von Elizabeth Nealon hervor, das der Staatsanwalt uns in seinem Schlussplädoyer gezeigt hatte. Sie legte es vor Vy hin, strich über die glänzende Oberfläche.

Nach einem Moment stand Vy schwerfällig auf und nahm mir den Filzstift aus der Hand. Sie wischte ihren Namen in der Nein-Spalte weg und schrieb ihn unter den von Marilyn, zu den zehn anderen Geschworenen, die Ja gestimmt hatten.

»Michael«, sagte Ted.

Ich schluckte.

»Was müssen Sie noch sehen und hören? Wir können Ihnen helfen.« Er griff nach der Kiste mit den Projektilen von der Ballistik, den blutbefleckten Kleidungsstücken, den Obduktionsberichten. Er breitete die Fotos vom Tatort aus. Auf einem davon war das Opfer vor lauter glänzendem Blut kaum zu erkennen. »Michael«, sagte Ted, »ziehen Sie Bilanz.«

Ich schaute zur Tafel, weil ich die sengende Hitze der auf mich gerichteten Blicke nicht ertragen konnte. Neben der Liste mit Namen, meiner dabei auf verlorenem Posten, sah ich die Gleichung, die ich zu Anfang unserer Beratung angeschrieben hatte: (A + B) – C STRAFMASS.

Ich mochte Mathematik, weil sie so klar war. Es gab immer eine richtige Lösung – und sei es auch nur in der Theorie.

Bei dieser Gleichung jedoch versagte die Mathematik. Denn A + B, also die Faktoren, die zum Tod von Kurt und Elizabeth Nealon geführt hatten, würden immer größer als C sein. Niemand konnte Kurt und Elizabeth zurückholen, und das war eine Wahrheit, die sich durch keine noch so rührselige Geschichte tilgen ließ.

In dem Raum zwischen Ja und Nein steckt ein ganzes Leben. Er umfasst den Unterschied zwischen dem Weg, den du gehst, und dem, den du verlässt; er ist die Differenz zwischen dem, der du glaubtest sein zu können, und dem, der du wirklich bist; es ist der Platz für die Lügen, die du dir in Zukunft einreden wirst.

Ich wischte meinen Namen an der Tafel weg. Dann nahm ich den Stift, und indem ich meinen Namen erneut hinschrieb, wurde ich zum zwölften und letzten Geschworenen, der Shay Bourne zum Tode verurteilte.

Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.

Voltaire, Brief an den Autor

Elf Jahre später

LUCIUS

Ich hab keine Ahnung, wo sie Shay Bourne untergebracht hatten, ehe er zu uns kam. Ich weiß, dass er Insasse hier in der Strafanstalt in Concord war – an dem Tag, als in seinem Prozess das Todesurteil verkündet wurde, hab ich den Bericht im Fernsehen gesehen, und ich weiß noch, dass ich staunend die Welt da draußen betrachtete, die langsam in meinem Kopf verblasste: die grobe Steinfassade des Gefängnisses, die goldene Kuppel des Parlamentsgebäudes, schon allein der Anblick einer Tür, die nicht aus Metall war. Seine Verurteilung war damals immer wieder Thema heißer Debatten in unserem Block – wo soll ein zum Tode verurteilter Häftling untergebracht werden, wenn der betreffende Bundesstaat schon seit ewigen Zeit keinen Todeskandidaten mehr hatte?

Es wurde allerdings gemunkelt, dass es in unserem Knast doch noch zwei Todeszellen gab – gar nicht weit von meinen bescheidenen vier Wänden im Sicherheitstrakt von Block I. Crash Vitale– der zu jedem Thema was zu sagen hatte, obwohl eigentlich nie einer richtig zuhörte – erzählte uns, in den alten Todeszellen würden die dünnen Plastikmatten gelagert, die sie hier Matratzen nennen. Eine Zeit lang hab ich mich gefragt, wo die ganzen Matratzen geblieben sind, nachdem Shay in eine der Zellen eingezogen war. Eines ist jedenfalls klar, uns wurden sie nicht angeboten.

Zellenwechsel sind hier Routine. Wir sollen uns an nichts allzu sehr gewöhnen. In den fünfzehn Jahren, die ich jetzt hier bin, musste ich achtmal umziehen. Die Zellen sehen natürlich alle gleich aus – nur die Nachbarn ändern sich, weshalb Shays Ankunft in Block I für uns alle von großem Interesse war.

Schon das allein war eine Seltenheit. So grundverschieden, wie wir sechs Häftlinge in Block I waren, grenzte es nämlich geradezu an ein Wunder, dass ein einzelner Mann bei uns allen eine solche Neugier auslösen konnte. Zelle 1 war mit Joey Kunz belegt, einem Päderasten, der ganz unten in der Hackordnung stand. In Zelle 2 wohnte Calloway Reece, ein eingetragenes Mitglied der Aryan Brotherhood. In Zelle 3 war ich untergebracht, Lucius DuFresne. Vier und fünf waren leer, wir wussten also, dass eine davon für den neuen Häftling bestimmt war – die einzige Frage war, ob in der neben mir oder in der, die näher zu den drei letzten Häftlingen lag: Texas Wridell, Pogie Simmons und Crash, dem selbst ernannten Anführer von Block I.

Als Shay Bourne von einer Phalanx aus sechs Aufsehern, allesamt angetan mit Helm und Schutzweste und Gesichtsschirm, hereingeführt wurde, traten wir in unseren Zellen alle vor. Die Aufseher passierten die Duschzelle, schlurften an Joey und Calloway vorbei und blieben dann direkt vor mir stehen, sodass ich mir den Neuling genau anschauen konnte. Bourne war klein und schmächtig, mit kurz geschorenen braunen Haaren und Augen wie das Karibische Meer. Ich kannte die Karibik, weil ich den letzten Urlaub mit Adam dort verbracht hatte. Ich war froh, dass ich nicht solche Augen hatte. Ich würde nicht gern mit jedem Blick in den Spiegel an etwas erinnert werden, das ich nie wiedersehen würde.

Und dann blickte Shay Bourne mich an.

Vielleicht wäre das jetzt eine gute Gelegenheit, mein Äußeres zu beschreiben. Mein Gesicht war der Grund, warum die Aufseher mir nicht gern in die Augen schauten, warum ich mich manchmal am liebsten in meiner Zelle verkroch. Die Geschwüre waren scharlachrot und lila und schuppig. Sie reichten von der Stirn bis zum Kinn.

Die meisten zuckten zusammen, wenn sie mich sahen. Selbst die Höflichen, wie der achtzigjährige Missionar, der uns einmal im Monat Broschüren brachte, mussten stets zweimal hingucken, als sähe ich noch schlimmer aus, als sie mich in Erinnerung hatten. Aber Shay erwiderte einfach meinen Blick und nickte, als wäre ich nicht anders als alle anderen.

Ich hörte die Zellentür neben mir zugleiten, das Rasseln von Ketten, als Shay die Hände durch die Klappe steckte, um sich die Handschellen abnehmen zu lassen. Kaum waren die Aufseher wieder weg, rief Crash: »Hey, Todeskandidat.«

Keine Antwort aus Shay Bournes Zelle.

»Hey, wenn Crash was sagt, hast du zu antworten.«

»Lass ihn in Ruhe, Crash«, seufzte ich. »Gib dem armen Kerl fünf Minuten, um zu kapieren, was für ein Schwachkopf du bist.«

»Ooh, Todeskandidat, nimm dich lieber in acht«, sagte Calloway. »Lucius will sich bei dir einschleimen, und sein letzter Liebhaber guckt sich die Radieschen von unten an.«

Ich hörte, dass ein Fernseher eingeschaltet wurde, und dann hatte Shay wohl den Kopfhörer eingestöpselt. Wir alle mussten einen benutzen, damit wir keinen Lärmkrieg gegeneinander führten, wenn alle Geräte liefen. Ich war ein wenig verwundert, dass ein Todeskandidat überhaupt Anspruch auf einen Apparat hatte – mit Sicherheit auch der eine Spezialanfertigung, wie wir sie hatten, mit durchsichtigem Plastikgehäuse, damit die Aufseher überprüfen konnten, ob wir Teile entnommen hatten, um daraus Waffen zu basteln.

Als Calloway und Crash anfingen, mich (wie so häufig) im Chor zu beschimpfen, setzte auch ich den Kopfhörer auf und machte den Fernseher an. Es war fünf Uhr, und ich wollte Oprah, die Show von Oprah Winfrey, nicht verpassen. Aber als ich auf den Kanal umschalten wollte, tat sich nichts. Der Bildschirm flackerte kurz, und dann lief dieselbe Sendung wie auf dem Kanal, der zuvor eingestellt gewesen war. Ich zappte weiter, doch auf allen Kanälen lief dasselbe Programm.

»Hey.« Crash hämmerte gegen seine Tür. »Hallo, Aufseher, der Kabelempfang ist im Arsch. Wir haben Rechte, hört ihr …«

Manchmal reicht so ein Kopfhörer einfach nicht aus.

Ich drehte die Lautstärke auf und sah mir in den Lokalnachrichten einen Bericht über eine Benefizveranstaltung für die Kinderstation eines Krankenhauses in der Nähe vom Dartmouth College an. Clowns trieben Späße, Luftballons wurden verteilt, und zwei Spieler von den Red Sox gaben Autogramme. Die Kamera schwenkte auf ein Mädchen mit märchenblonden Haaren und blauen Halbmonden unter den Augen, genau die Sorte Kind, die sich gut auf dem Bildschirm macht, um die Leute zum Spenden zu animieren. »Claire Nealon«, sagte die Reporterstimme aus dem Off, »wartet auf ein Herz.«

Schluchz-schluchz, dachte ich. Wir haben alle Probleme. Ich nahm den Kopfhörer ab. Wenn ich nicht Oprah hören konnte, wollte ich gar nichts hören.

So kam es, dass ich Shay Bournes allererstes Wort in Block I mitbekam. »Ja«, sagte er, und schwups war der Kabelempfang wieder da.

Inzwischen haben Sie vermutlich gemerkt, dass ich was Besseres bin als die meisten Idioten in Block I, und zwar aus dem einfachen Grund, weil ich eigentlich nicht hierhergehöre. Das Verbrechen, das ich begangen habe, geschah aus Leidenschaft, genauer gesagt aus Eifersucht, was mir allerdings vor Gericht keine mildernden Umstände einbrachte. Aber ich frage Sie, was hätten Sie denn gemacht, wenn Ihr Freund, die Liebe Ihres Lebens, eine neue Liebe seines Lebens gefunden hätte – jemanden, der jünger ist, schlanker, attraktiver?

Paradoxerweise kann keine Strafe, die irgendein Gericht auf dieser Welt wegen Mordes verhängt, die Strafe überbieten, die mich im Knast befallen hat. Meine letzte CD4+ lag sechs Monate zurück, und ich war runter auf fünfundsiebzig Zellen pro Kubikmillimeter Blut. Bei einem Menschen ohne HIV liegt die Anzahl der T-Zellen bei tausend oder mehr, doch das Virus wird Teil dieser weißen Blutkörperchen. Wenn sich die weißen Blutkörperchen vermehren, um eine Infektion zu bekämpfen, vermehrt sich auch das Virus. Je schwächer das Immunsystem wird, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ich krank werde oder eine opportunistische Infektion wie eine durch PCP hervorgerufene Lungenentzündung, Toxoplasmose oder eine CMV-Vireninfektion bekomme. Die Ärzte sagen, ich werde nicht an Aids sterben – ich sterbe an einer Lungenentzündung oder TB oder einer bakteriellen Infektion im Gehirn. Aber wenn Sie mich fragen, ist das Wortklauberei. Tot ist tot.

Früher war Malen mein Beruf, jetzt war Malen mein Hobby – obwohl es wesentlich schwieriger ist, mir im Knast meine Utensilien zu beschaffen. Früher hatte ich eine Vorliebe für Ölfarben von Winsor & Newton und Zobelhaarpinsel, für Leinwände, die ich selbst bespannte und mit Gesso grundierte, jetzt benutzte ich alles, was ich in die Hände bekam. Ich ließ mir von meinen Neffen Bilder auf dickem Papier malen, mit Bleistift, damit ich alles ausradieren und das Papier wiederverwenden konnte. Ich hortete die Essenssachen, die Farbstoffe enthielten. An dem Abend malte ich an einem Porträt von Adam, natürlich aus dem Gedächtnis, weil mir nichts als Erinnerungen geblieben waren. Ich hatte etwas Rot von einem Smartie mit einem Klecks Zahnpasta im Deckel einer Saftflasche gemischt, in einem zweiten Deckel Kaffee mit ein bisschen Wasser verrührt, und die Kombination von beidem ergab genau den richtigen Farbton seiner Haut – wie satt glänzender Sirup.

Seine Konturen hatte ich bereits in Schwarz vorgezeichnet – die hohe Stirn, das kräftige Kinn, die Adlernase. Mit einer selbst gebastelten Messerklinge hatte ich die ebenholzfarbene Schicht vom Foto einer Kohlegrube im National Geographic abgeschabt und einen Klecks Shampoo hinzugefügt, was eine kreidige Farbe ergab. Die hatte ich dann mit einer abgebrochenen Bleistiftspitze auf meine provisorische Leinwand aufgetragen.

Mein Gott, wie schön er war.

Es war nach drei Uhr morgens, aber ehrlich gesagt, ich schlafe nicht viel. Wenn ich einschlafe, werde ich schon bald wieder wach, weil ich aufs Klo muss. Auch wenn ich in letzter Zeit kaum was zu mir nehme, das Essen rauscht mit Lichtgeschwindigkeit durch mich hindurch. Ich habe Bauchschmerzen, Kopfschmerzen. Von dem Pilz in Mund und Kehle habe ich Schluckbeschwerden. Also nutze ich meine Schlaflosigkeit für meine Kunst.

In der Nacht war ich in Schweiß gebadet aufgewacht, und nachdem ich das Bett abgezogen und mein Unterhemd zum Trocknen aufgehängt hatte, wollte ich mich nicht wieder hinlegen. Stattdessen holte ich mein Bild hervor und fing an, Adam neu zu erschaffen. Doch ich wurde von anderen Porträts abgelenkt, die ich von ihm gemalt hatte und die an der Zellenwand hingen: Adam in der gleichen Pose wie damals, als er das erste Mal für den Zeichenkurs Modell stand, den ich am College gab; Adams Gesicht, wenn er morgens die Augen aufschlug. Adam, der einen Blick über die Schulter warf, so wie er es getan hatte, als ich ihn erschoss.

»Ich muss es tun«, sagte Shay Bourne. »Es ist die einzige Möglichkeit.«

Seit seiner Ankunft am Nachmittag hatte er kein Wort gesagt, und ich fragte mich, mit wem er sich so tief in der Nacht unterhielt. Aber es war außer mir keiner wach. Vielleicht hatte er einen Albtraum. »Bourne?«, flüsterte ich. »Alles in Ordnung?«

»Wer … ist da?«

Er brachte die Worte mühsam heraus – kein richtiges Stottern, eher so, als wäre jede Silbe ein Stein, den er hervorpressen musste. »Ich bin Lucius. Lucius DuFresne«, sagte ich. »Mit wem redest du?«

Er zögerte. »Ich glaube, mit dir.«

»Kannst du nicht schlafen?«

»Ich kann schlafen«, sagte Shay. »Ich will bloß nicht.«

»Da hast du mehr Glück als ich«, erwiderte ich.

Es war scherzhaft gemeint, aber er fasste es nicht so auf. »Du hast nicht mehr Glück als ich, und ich habe nicht mehr Unglück als du«, sagte er.

Na ja, in gewisser Weise hatte er recht. Ich war zwar nicht zum Tode verurteilt worden wie Shay Bourne, aber wie er würde ich innerhalb dieser Gefängnismauern sterben – eher früher als später.

»Lucius«, sagte er. »Was machst du gerade?«

»Ich male.«

Kurzes Zögern. »Deine Zelle?«

»Nein. Ein Porträt.«

»Warum?«

»Weil ich Künstler bin.«

»Früher, in der Schule, hat eine Kunstlehrerin mal gesagt, ich hätte einen klassischen Mund«, sagte Shay. »Ich weiß bis heute nicht, was das heißt.«

»Das bezieht sich auf die alten Griechen und Römer«, erklärte ich. »Und die Art der Darstellung in der Kunst, wie wir sie in –«

»Lucius? Hast du das heute im Fernsehen gesehen … die Red Sox …«

Jeder in Block I hatte eine Lieblingsmannschaft, ich eingeschlossen. Wir schrieben akribisch die Ergebnisse von allen Ligaspielen auf und diskutierten sämtliche Schiedsrichterentscheidungen, als wären wir Richter am Obersten Bundesgericht. Manchmal wurden die Hoffnungen unserer Teams, wie unsere eigenen, früh zerstört, dann wieder kämpften sie um die Meisterschaft, und wir fieberten mit. Doch die Saison hatte noch gar nicht begonnen, weshalb heute auch kein Spiel übertragen worden war.

»Curt Schilling hat an einem Tisch gesessen«, sprach Shay weiter, noch immer auf der Suche nach den richtigen Worten. »Und dann war da ein kleines Mädchen –«

»Meinst du die Benefizveranstaltung? Die in dem Krankenhaus?«

»Die Kleine«, sagte Shay. »Ich werde ihr mein Herz geben.«

Ehe ich antworten konnte, ertönte ein lautes Krachen und dann das dumpfe Geräusch, als würde ein Körper auf dem Betonboden aufschlagen. »Shay?«, rief ich. »Shay?!«

Ich presste das Gesicht gegen das Plexiglas. Ich konnte Shay nicht sehen, aber ich hörte, wie irgendetwas rhythmisch gegen seine Zellentür schlug. »He!«, brüllte ich aus vollem Hals. »He, wir brauchen hier Hilfe.«

Die anderen wurden nach und nach wach, beschimpften mich, weil ich sie aus dem Schlaf gerissen hatte, und verstummten dann fasziniert. Zwei Aufseher kamen in den Block gestürzt, ihre Schutzweste noch nicht ganz geschlossen. Einer von ihnen, Kappaletti, gehörte zu der Sorte, die Aufseher geworden waren, damit sie immer jemanden hatten, den sie schikanieren konnten. Der andere, Smythe, hatte sich mir gegenüber stets korrekt verhalten. Kappaletti blieb vor meiner Zelle stehen. »DuFresne, wenn du hier blinden Alarm schlägst –«

Aber Smythe ging bereits vor Shays Zelle in die Knie. »Ich glaub, Bourne hat einen Anfall.« Er griff nach seinem Funkgerät, und gleich darauf glitt die elektronische Tür auf, und weitere Aufseher kamen herein.

»Atmet er noch?«, fragte einer.

»Drehen wir ihn um, bei drei, eins, zwei …«

Die Rettungssanitäter trafen ein und schoben Shay kurz darauf auf einer Rolltrage an meiner Zelle vorbei. Er war an den Schultern, am Bauch und an den Beinen festgeschnallt. Solche Tragen wurde auch für den Transport von Insassen wie Crash benutzt, die selbst mit Hand- und Fußschellen nicht zu bändigen waren, oder für Insassen, die einfach zu krank waren, um auf eigenen Beinen zur Krankenstation zu gehen. Ich ging davon aus, dass ich Block I irgendwann auf so einer Rolltrage für immer verlassen würde. Aber jetzt kam mir der Gedanke, dass sie stark an den Tisch erinnerte, auf dem Shay eines Tages festgeschnallt liegen würde, um seine Giftspritze zu erhalten.

Die Sanitäter hatten Shay eine Sauerstoffmaske aufgesetzt, die mit jedem Atemzug beschlug. Seine Augen waren in den Höhlen nach oben gedreht, weiß und blind. »Tut für ihn, was ihr könnt«, sagte Aufseher Smythe, und da begriff ich, dass der Staat einen todkranken Mann rettet, nur um ihn später töten zu können.

MICHAEL

Ich liebte so allerhand an der Kirche.

Zum Beispiel das Gefühl, das ich bekam, wenn während der Sonntagsmesse zweihundert Stimmen zur Decke aufstiegen. Oder das leichte Zittern meiner Hand, wenn ich jemandem bei der heiligen Kommunion die Hostie überreichte. Ich liebte die Verblüffung im Gesicht eines Teenagers, der sehnsüchtig die 1969er Triumph Trophy bestaunte, die ich wieder aufgemöbelt hatte, und dann erfuhr, dass ich Priester war, dass es sich nicht gegenseitig ausschloss, cool und katholisch zu ein.

Ich war der Jungpriester von St. Catherine, einer von nur vier Gemeinden, die für ganz Concord, New Hampshire, zuständig waren. Jeder Tag hatte unweigerlich viel zu wenig Stunden. Father Walter und ich hielten abwechselnd die Messen und nahmen Beichten ab. Gelegentlich sprangen wir als Vertretungslehrer an der Gemeindeschule im Nachbarort ein. Immer gab es Gemeindemitglieder zu besuchen, die krank oder verwirrt oder einsam waren; immer waren Rosenkränze zu beten. Aber selbst die einfachsten Aufgaben verrichtete ich mit Freude – das Vestibül fegen oder die Eucharistiegefäße an der Piscina reinigen, damit kein Tropfen von Christi Blut in der Kanalisation von Concord landete.

Ich hatte kein eigenes Büro in St. Catherine. Father Walter dagegen wohl, aber er war schließlich schon so lange in der Gemeinde, dass er zu einem festen Bestandteil geworden war wie die Rosenholzkirchenbänke und die Velvetondecken auf dem Altar. Er hatte mir zwar versprochen, irgendwann einen der alten Abstellräume zu entrümpeln, um auch für mich ein Plätzchen zu schaffen, doch in seiner freien Zeit nach dem Mittagessen hielt er normalerweise ein Nickerchen, und ich hätte einem Mann in den Siebzigern ja schlecht sagen können, er solle endlich in die Gänge kommen! Nach einer Weile gab ich das Abwarten auf und stellte mir stattdessen einen kleinen Schreibtisch in eine Besenkammer. Heute musste ich eine Predigt schreiben – wenn ich sie auf sieben Minuten beschränkte, würden die älteren Gemeindemitglieder erfahrungsgemäß nicht einschlafen –, doch stattdessen wanderten meine Gedanken immer wieder zu einem unserer jüngsten Mitglieder. Hannah Smythe war das erste Baby, das ich in St. Catherine getauft hatte. Jetzt, gerade mal ein Jahr später, war die Kleine wiederholt im Krankenhaus gewesen. Immer wieder schlossen sich ganz plötzlich ihre Atemwege, und dann brachten die panischen Eltern sie überstürzt in die Notaufnahme, wo sie intubiert und halbwegs wiederhergestellt wurde, bis der Teufelskreis von Neuem begann. Ich bat Gott in einem kurzen Gebet, er möge die Ärzte lenken, Hannah zu heilen. Als ich gerade das Kreuzzeichen machte, kam eine grauhaarige Lady auf meinen Schreibtisch zu. »Father Michael?«

»Mary Lou«, sagte ich. »Wie geht es Ihnen?«

»Hätten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit?«

Mit ein paar Minuten war es bei Mary Lou Huckens meist nicht getan, ein Gespräch mit ihr konnte sich gut und gern bis zu einer Stunde hinziehen. Father Walter und ich hatten die wortlose Übereinkunft, dass wir uns gegenseitig vor ihren überschwänglichen Lobeshymnen nach der Messe retteten. »Was kann ich für Sie tun?«

»Eigentlich komm ich mir etwas albern vor«, sagte sie. »Sie sollen nämlich etwas für mich segnen.«

Ich lächelte sie an. Es kam häufiger vor, das Gemeindemitglieder uns baten, ein Andachtsbild oder dergleichen zu segnen. »Gern. Haben Sie es dabei?«

Sie blickte verlegen. »Ja, das schon.«

»Prima. Lassen Sie sehen.«

Sie hob schützend die Hände vor ihre Brust. »Ist das wirklich notwendig? Geht das nicht auch so?«

Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden, als ich begriff, was ich für sie segnen sollte. »T-Tut mir leid …«, stammelte ich. »Ich wollte nicht …«

Tränen traten ihr in die Augen. »Ich hab morgen eine Lumpektomie, Father, und ich habe furchtbare Angst.«

Ich stand auf, legte einen Arm um sie und führte sie die paar Schritte zur nächsten Kirchenbank, wo ich ihr ein Kleenex anbot. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich wusste nicht, mit wem ich sonst darüber reden sollte. Wenn ich meinem Mann sage, dass ich Angst hab, kriegt er auch Angst.«

»Sie wissen, mit wem Sie reden können«, sagte ich sanft. »Und Sie wissen, dass Er Sie immer hört.« Ich legte ihr eine Hand auf den Kopf. »Allmächtiger und barmherziger Gott, ewiger Erretter all derer, die an Dich glauben, wir bitten Dich, segne Deine Dienerin Mary Lou, schenke ihr Deine Gnade, auf dass sie Dich, an Leib und Seele gesundet, in Deiner Kirche rühmen kann. Im Namen unseres Herrn Jesus Christus. Amen.«

»Amen«, flüsterte Mary Lou.

Das ist noch etwas, was ich an der Kirche liebe: Du weißt nie, was dich erwartet.

LUCIUS

Als Shay Bourne nach drei Tagen auf der Krankenstation in seine Zelle zurückgebracht wurde, war er ein Mann mit einer Mission. Jeden Morgen, wenn die Aufseher fragten, wer von uns duschen oder in den Hof wolle, bat Shay, Direktor Coyne zu sprechen. »Stell einen schriftlichen Antrag«, lautete regelmäßig die Antwort, aber irgendwie drang sie nicht so richtig in sein Bewusstsein. Beim Hofgang blieb er in der äußersten Ecke stehen, blickte zur gegenüberliegenden Seite des Gefängnisses, wo die Verwaltungsbüros lagen, und schrie seine Bitte aus vollem Hals heraus. Wenn ihm das Abendessen gebracht wurde, fragte er jedes Mal, ob der Direktor endlich bereit sei, mit ihm zu reden.

»Wisst ihr, warum sie den zu uns verlegt haben?«, sagte Calloway einmal, als Shay in der Duschzelle lautstark eine Audienz beim Direktor verlangte. »Weil er da, wo er vorher war, alle taub gemacht hat.«

»Der ist ein Spasti«, erwiderte Crash. »Der kann nicht anders. Genau wie unser kleiner Kinderficker. Stimmt’s, Joey?«

»Er ist nicht geistig unterbelichtet«, sagte ich. »Wahrscheinlich hat er doppelt so viel Grips wie du, Crash.«

»Halt die Schnauze, Schwuchtel«, sagte Calloway. »Haltet mal alle die Schnauze!« Die Dringlichkeit in seiner Stimme ließ uns verstummen. Calloway kniete an der Tür seiner Zelle und fischte mit einer Schnur, die er mit Fäden aus seiner Decke geflochten und an die er eine aufgerollte Illustrierte gebunden hatte. Er warf die Angel mitten auf den Laufgang – ziemlich riskantes Manöver, denn die Aufseher würden jeden Augenblick zurück sein. Zunächst war uns nicht klar, was er wollte – wenn wir fischten, dann warfen wir uns gegenseitig die Angeln zu, um alles Mögliche von einer Zelle in die andere zu befördern, von Taschenbüchern bis zu Schokoriegeln –, aber dann sahen wir das kleine helle Oval auf dem Boden. Gott allein wusste, wie ein Vogel auf die Idee kommen konnte, ausgerechnet in einem Höllenloch wie diesem Knast ein Nest zu bauen, aber einer hatte es getan, ein paar Monate zuvor, nachdem er über den Hof hereingeflogen war. Jetzt war ein Ei aus dem Nest gefallen und zerbrochen. Das winzige Rotkehlchen lag auf der Seite, unfertig, und seine durchsichtige, runzlige Brust hob und senkte sich wie verrückt.

Calloway zog das Ei Zentimeter für Zentimeter näher heran. »Das überlebt nicht«, sagte Crash. »Seine Mama wird es nicht mehr wollen.«

»Meinetwegen, aber ich will es«, sagte Calloway.

»Es braucht Wärme«, sagte ich. »Wickel es in ein Handtuch oder so.«

»In dein T-Shirt«, sagte Joey.

»Ich lass mir doch von einem Kinderschänder nichts sagen«, erwiderte Calloway, aber dann, einen Augenblick später: »Meinst du, ein T-Shirt tut’s?«

Während Shay weiter nach dem Direktor rief, lauschten wir Calloways laufendem Kommentar der Ereignisse: Er packte das Rotkehlchen in ein T-Shirt. Er steckte das eingepackte Rotkehlchen in seinen linken Tennisschuh. Das Rotkehlchen bekam langsam wieder Farbe. Es öffnete eine halbe Sekunde lang das linke Auge.

Wir hatten alle vergessen, wie es war, sich so sehr um etwas zu sorgen, dass sein Verlust unerträglich wäre. In meinem ersten Jahr im Knast tat ich so, als wäre der Vollmond mein Freund, als würde er einmal im Monat nur zu mir kommen. Und im letzten Sommer war Crash auf die Idee verfallen, die Lüftungsschlitze in seiner Zelle mit Marmelade einzuschmieren, um Bienen anzulocken, die er dann züchten wollte, aber nicht etwa aus Naturverbundenheit, sondern weil er die spinnerte Hoffnung hatte, er könnte sie dazu abrichten, in Schwärmen über den schlafenden Joey herzufallen.

»Cowboys im Anmarsch«, sagte Crash, um uns zu warnen, dass die Aufseher auf dem Weg waren. Sie blieben vor der Duschzelle stehen und warteten, dass Shay die Hände durch die Klappe streckte, um sich für die paar Meter bis in seiner Zelle Handschellen anlegen zu lassen.

»Die wissen nicht, was es sein könnte«, sagte Aufseher Smythe. »Lungenprobleme und Asthma haben sie ausgeschlossen. Sie meinen, vielleicht eine Allergie – aber sie hat doch schon so gut wie nichts mehr in ihrem Zimmer, Rick, es ist kahl wie eine Zelle.«

Manchmal unterhielten die Aufseher sich in unserem Beisein. Sie sprachen nie direkt mit Häftlingen über ihr Privatleben, und das war uns nur recht. Wir wollten gar nicht wissen, dass der Typ, der bei uns die Leibesvisitation vornahm, einen Sohn hatte, der verrückt auf Fußball war. Das Menschliche sollte schön außen vor bleiben.

»Sie meinen«, fuhr Smythe fort, »ihr Herz verkrafte diese Belastung bald nicht mehr. Und ich auch nicht. Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn du die vielen Schläuche und Drähte siehst, die aus ihr rauskommen?«

Der zweite Aufseher, Whitaker, war katholisch, und er legte mir abends gern handgeschriebene Bibelverse auf mein Essenstablett, die Homosexualität verdammten. »Father Walter hat am Sonntag ein Gebet für Hannah gesprochen. Er hat gesagt, er würde euch gern im Krankenhaus besuchen.«

»Ich will mir gar nicht anhören, was er zu sagen hat«, knurrte Smythe. »Was ist das für ein Gott, der ein Kind so leiden lässt?«

Shay schob die Hände durch die Klappe in der Duschzelle und ließ sich die Handschellen anlegen. Dann wurde die Tür geöffnet. »Hat der Direktor gesagt, dass ich ihn sprechen kann?«

»O ja«, sagte Smythe, der Shay zu seiner Zelle führte. »Du sollst unbedingt morgen zum Tee kommen.«

»Ich brauche nur fünf Minuten von seiner Zeit –«

»Du bist nicht der Einzige, der Probleme hat«, fauchte Smythe. »Stell einen schriftlichen Antrag.«

»Das kann ich nicht«, erwiderte Shay.

Ich räusperte mich. »Aufseher? Könnte ich bitte auch ein Antragsformular haben?«

Er schloss Shay in seiner Zelle ein, zog dann ein Formular aus der Tasche und steckte es in die Klappe meiner Zellentür.

Gerade als die Aufseher den Block verließen, ertönte ein kleines, schwaches Zwitschern.

»Shay?«, sagte ich. »Wieso füllst du das Formular nicht einfach aus?«

»Ich krieg das mit den Worten nicht richtig hin.«

»Dem Direktor ist es sicher egal, ob die Grammatik stimmt.«

»Nein, ich meine beim Schreiben. Die Buchstaben geraten alle durcheinander.«

»Dann füll ich das Formular für dich aus.«

Schweigen. »Das würdest du tun?«

»Könnt ihr beide mal mit der Seifenoper aufhören?«, sagte Crash. »Ich kotz gleich.«

»Sag dem Direktor«, diktierte Shay, »ich will mein Herz spenden, nachdem er mich getötet hat. Ich will es einem Mädchen geben, das es dringender braucht als ich.«

Ich drückte das Formular gegen die Zellenwand und füllte es mit Bleistift aus, unterschrieb dann mit Shays Namen. Ich band das Blatt ans Ende meiner Angelschnur und schwang es so, dass es vor dem schmalen Spalt unter seiner Zellentür landete. »Gib das dem Aufseher, der morgen früh die Runde macht.«

»Weißt du, Bourne«, sinnierte Crash, »ich weiß nicht, was ich von dir halten soll. Ich meine, auf der einen Seite bist du ein dreckiger Kinderkiller. Ungefähr so viel wert wie der Schimmel, der auf Joey wächst, nach dem, was du der Kleinen angetan hast. Aber auf der anderen Seite hast du auch einen Cop kaltgemacht, und was mich betrifft, ich bin für jeden Bullen weniger echt dankbar. Also, was soll ich machen? Soll ich dich hassen oder Respekt vor dir haben?«

»Keines von beidem«, sagte Shay. »Beides.«

»Weißt du, was ich finde? Kinderabmurksen wiegt alles auf, was du vielleicht Gutes getan hast.« Crash stellte sich vor seine Zellentür und fing an, mit einem Metallbecher gegen das Plexiglas zu schlagen. »Schmeißt ihn raus. Schmeißt ihn raus. Schmeißt ihn raus!«

Joey – der es nicht gewohnt war, nicht mehr der allerunterste Fußabtreter zu sein – skandierte als Erster mit. Dann fielen Texas und Pogie mit ein, weil sie alles taten, was Crash ihnen sagte.

Schmeißt ihn raus.

Schmeißt ihn raus.

Whitakers Stimme gellte aus dem Lautsprecher. »Hast du ein Problem, Vitale?«

»Ich hab kein Problem. Der perverse Kinderkiller hier ist der Einzige mit einem Problem. Ich sag Ihnen was, Aufseher. Lassen Sie mich fünf Minuten zu ihm in die Zelle, und ich erspare den braven Steuerzahlern die Mühe, ihn loszuwerden –«

»Crash«, sagte Shay leise. »Reg dich ab.«

Ich wurde von einem pfeifenden Geräusch abgelenkt, das von meinem Blechwaschbecken kam. Kaum war ich aufgestanden, um der Sache auf den Grund zu gehen, als das Wasser aus dem Hahn geschossen kam. Das war in zweierlei Hinsicht bemerkenswert – erstens reichte der Wasserdruck normalerweise höchstens zu einem dünnen Strahl, selbst in den Duschen. Und zweitens war das Wasser, das jetzt über den Beckenrand schwappte, sattdunkelrot.

»Scheiße!«, brüllte Crash. »Ich bin klatschnass!«

»Mann, das sieht aus wie Blut«, sagte Pogie entsetzt. »Damit wasch ich mich nicht.«

»Im Klo ist es auch rot«, vermeldete Texas.

Ich drehte mich um und warf einen Blick in meine Kloschüssel. Das Wasser darin war tiefrot.

»Ich glaub, ich spinne«, sagte Crash. »Das ist kein Blut. Das ist Wein.« Er krähte los wie ein Irrer. »Los, Ladys, probiert. Die Drinks gehen aufs Haus.«

Ich wartete. Ich trank das Leitungswasser hier grundsätzlich nicht. Ich hatte sowieso schon den Verdacht, dass meine Aids-Medikamente, über die akribisch Buch geführt wurde, auf Anweisung von ganz oben an entbehrlichen Häftlingen getestet wurden, die als ahnungslose Versuchskaninchen herhalten mussten … Und unserer Trinkwasserversorgung, die von derselben Obrigkeit kontrolliert wurde, traute ich genauso wenig. Aber dann hörte ich, wie Joey loslachte und Calloway gierig aus dem Wasserhahn schlürfte und Texas und Pogie ein Trinklied anstimmten. Die ganze Stimmung im Block veränderte sich so radikal, dass Aufseher Whitaker, aus lauter Verwirrung über das, was er auf den Monitoren sah, dröhnend über die Lautsprecheranlage fragte: »Was ist los? Ist eine Wasserleitung undicht?«

»Könnte man so sagen«, erwiderte Crash. »Man könnte auch sagen, wir haben mächtig Durst.«

»Kommen Sie rein, Aufseher«, sagte Pogie. »Wir spendieren eine Runde.«

Alle fanden das zum Schreien komisch, aber andererseits hatten sie inzwischen bestimmt alle schon ordentlich von dieser Flüssigkeit getrunken, die da aus unseren Hähnen kam. Ich tauchte den Finger in den kräftigen dunklen Strahl, der noch immer in mein Waschbecken lief. Es hätte Eisen oder Mangan sein können, aber es stimmte – das Wasser roch süßlich und trocknete klebrig. Ich schob den Mund unter den Hahn und trank ganz vorsichtig.