Das Holztheater - Thomas Hürlimann - E-Book

Das Holztheater E-Book

Thomas Hürlimann

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Beschreibung

Nachdem sich der Autor im ersten Text den sehr geehrten Damen und Herren vorgestellt hat, begibt er sich gemeinsam mit seiner Katze auf einen Spaziergang. Der führt ins alte Griechenland, in Berliner Kneipen, mit Nietzsche auf den Gotthardpass und ins Bahnhofbüffet Buchs zum Fernet Branca trinkenden Schauspieler Oskar Werner. Ziel des spazierenden Paars ist aber kein Ort, sondern ein Wort: Mutabor. Katze und Autor unterhalten sich über ein uraltes, in katholischen Messen und im Theater gehütetes Geheimnis: die Verwandlung. Um sich verständlich zu machen, benutzt die Katze, gemäß ihrer Art, den schönen Schwanz, indes der Autor, damit er der Katze in der Katzensprache antworten kann, den Regenschirm zückt.

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Seitenzahl: 107

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Thomas Hürlimann

Das Holztheater

Geschichten und Gedanken am Rand

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Inhalt

[Motto][Vorwort]Der Kosmopolit wohnt im KosmosAbendspaziergang mit der KatzeEin Bild von PicassoDas erste EuropaLicht und DunkelDer Club der Atheisten, eine ErinnerungAutosRenatus CartesiusEin Wort in eigener SacheNietzsches OffenbarungEine RückblendeNietzsches RegenschirmDer PunktDas Erwachen der SteineDer Stein in der WüsteDer Stein des WeisenJesus SisyphosErratische BlöckeDas HolztheaterDer WegweiserNeutralienGeborene VerteidigerHerr Freihafen aus HeidilandDie LebensflascheVerwandlung – VeränderungDämmerschoppenErster AktZweiter AktDritter AktVierter AktFünfter Akt[Quellen]

Walter Georgi, dem Lehrer

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren,

ein Sommerabend auf der Insel Bornholm. Am Strand stand eine große Tafel, BADEN VERBOTEN, aber das Meer war ruhig, die Gefahr schien mir gering, ich legte meine Kleider, das Geld und den Paß unter die Verbotstafel und schwamm hinaus. Als die Sonne zu sinken begann, kehrte ich um, schwamm zurück, stieg nackt an Land, und sicher können Sie meinen Schrecken nachfühlen – meine Sachen waren weg. Ich bedeckte mit einer alten Zeitung mein Geschlecht, ging zur Strandstraße hoch und versuchte, vorbeifahrenden Autos ein mitleiderheischendes Gesicht zu zeigen. Ein junger Mann ließ mich einsteigen. Ich erklärte ihm, während ich hinausgeschwommen sei, habe ein Strandräuber zugeschlagen. Der Mann sah mich ungläubig an. Hier, fragte er, sind Sie hinausgeschwommen? Ich zeigte auf die Tafel: Dort haben meine Kleider gelegen. Da wendete der Mann den Wagen und fuhr langsam Richtung Norden. Nach gut hundert Metern hielt er an und spähte zum Strand hinunter, wo wieder eine dieser Tafeln stand, BADEN VERBOTEN, und so ging es nun weiter, von Tafel zu Tafel, deren Schatten länger wurden und schräger. Etwa bei der achten oder neunten Verbotstafel lag ein dunkles Bündel – meine Kleider. Sie ahnen, was passiert war: Den Schwimmer hatte eine Strömung erfaßt und nach Süden davongetrieben. So war ich zwar, aus dem Meer steigend, zu einer Tafel gelangt, die sich von der Tafel, wo ich abgeschwommen war, kaum unterschied, auch der Strand sah hier, im Süden, gleich aus wie weiter oben, zwischen diesen beiden Punkten jedoch hatte ich vollkommen mühelos und vollkommen ahnungslos eine lange Stecke zurückgelegt, und wäre ich draußen auf dem Meer nur zwei oder drei Minuten später umgekehrt, die Strömung hätte mich so weit nach Süden gefahren, daß ich die Südspitze der Insel nie mehr erreicht hätte.

Ich bin im Dezember 1950 in Zug, einer binnenländischen Kleinstadt, geboren, und an jenem Augustabend 1981 auf Bornholm wäre ich beinah gestorben. Zwei Monate später eröffnete Egon Ammann mit meinem ersten Buch seinen Verlag, und im Schauspielhaus Zürich inszenierte Werner Düggelin mein erstes Stück. Heute lebe ich mit meiner Frau, Kathrin Brenk, in einem voralpinen Dorf und bin glücklich, mit dem Schreiben von kleinen Geschichten und Theaterstücken soviel Geld zu verdienen, daß ich meiner liebsten Tätigkeit nachgehen kann, dem Lesen.… und dem Spazieren! »Aus der Bibliothek in den Garten«, sagt Augustinus.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren,

ich danke Ihnen, daß Sie mich als korrespondierendes Mitglied in die Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen haben.

Der Kosmopolit wohnt im Kosmos

Abendspaziergang mit der Katze

Etwa eine halbe Stunde vor Anbruch der Dämmerung streicht mir die Katze um die Beine, stupft mich an, maunzt, und ich muß, was immer ich gerade tue, unterbrechen, um mit ihr zu revieren. Natürlich verläßt sie das Haus auch ohne mich; den abendlichen Spaziergang jedoch, der ein Stück durch den Wald führt, unternimmt sie nur mit mir – es ist ein Ritual geworden. Vor gut zwei Jahren hatte es begonnen. Auf einem Spaziergang hörte ich plötzlich ein Knacken hinter mir, leis, nah, blieb stehen – nichts, wohl eine Täuschung, dann aber, da ich eine Lichtung betrat, sah ich auf der gegenüberliegenden Seite ein Tier hocken, in den Abendschatten der Bäume geduckt, ein merkwürdiges Tier, denn offensichtlich schien es zu dulden, ja zu erwarten, daß ich mich näherte. Sie wars, die Katze. Von da an machten wir unsere Tour gemeinsam, und ich habe keine Ahnung, wie sie es schaffte, mich Tag für Tag auf den gleichen Weg zu locken, immer den gleichen, Schritt für Schritt. Sie erlaubt nicht die geringste Abweichungund erwartet, daß ich immer, sogar an lauen Sommerabenden, meinen Schirm dabeihabe. Warum? Na, damit ich Signale, die sie mit dem Schwanz aus sendet, in etwa erwidern kann!, schließlich hat sie, wie ich bald merkte, ihre festen Punkte – da ists ein Baumstrunk, dort ein vermooster Stein, dort eine Astgabel, und jeder Punkt, jede Wegmarke muß kurz beschnuppert, beäugt, manchmal mit dem Kopf bestrichen werden, kaum je läßt sie etwas aus, jede Veränderung fällt ihr auf, diese Strecke geht durch all ihre Sinne hindurch, Punkt für Punkt, Abend für Abend.

Ein Bild von Picasso

Von diesen Katzen- und Dämmerungsgängen kehre ich nicht etwa erholt, nein, ich kehre so müde zurück, daß ich mich meistens hinlege, sofort in einen kurzen Tiefschlaf versackend. Auch Sie, da bin ich ziemlich sicher, kennen diese ganz besondere Weise des Müdeseins – aus dem Museum, aus einer Ausstellung. Ja, vor einem Bild, vor einer Statue kann es passieren, daß wir auf einmal schlappmachen. Wir müssen uns hinsetzen, gähnend und in Gliedern und Lidern so schwer, als hätten wir eine gewaltige Leistung vollbracht. Die Leistung ist tatsächlich vollbracht worden, nämlich in den Bildern, von den Künstlern, und so spricht es nicht etwa gegen das Werk, wenn es uns müde macht – seine Konzentration, die im Bild konzentrierte Wirklichkeit, faltet sich in wenigen Augenblicken auf und setzt uns einem ganzen Stoß von Empfindungen aus, von An-, Ab- und Aussichten. Um es an einem Beispiel zu sagen: Picasso malt den Kopf einer Frau von verschiedenen Seiten, mit verschiedenen Gesichtern, und vielleicht müßten wir jahrelang mit dieser Frau leben, immer wieder um sie herumgehen, sie kniend anbeten und von oben herab verachten, bis wir nur annähernd so viel von ihr wüßten, wie uns Picasso zeigt. Ja, er zeigt uns diese Frau, er setzt uns ins Bild. Während wir nicht viel mehr als ein schräges Auge und eine komische Nase sehen, ein paar knallige Farben und kuriose Formen, beginnt das Bild von sich aus zu wirken – es jagt uns in der ungeheuerlichen Geschwindigkeit der Gedanken um den Kopf dieser Frau herum, und könnten wir eine solche Strecke nur annähernd abschätzen, wir würden uns über die Müdigkeit, die gute Bilder in uns auslösen, nicht mehr wundern.

Eines Tages reagierte eine Dame aus der Pariser Gesellschaft empört und ablehnend auf das Porträt, das Picasso von ihr gemalt hatte. »Mon Dieu, Maestro, dieses Geschmier soll ich sein?« Er lächelte nur. »Madame«, meinte Picasso, »eine wie Sie sollte sich photographieren lassen. Da sind Sie sechs Zentimeter groß und grau.«

Vor Photos werden wir nur selten müde. Von langen Wanderungen komme ich erholt zurück. Aber starke Bilder machen mich müde, die Gänge mit der Katze machen mich müde, und wiewohl ich nicht sagen kann, was geschieht, wage ich doch zu behaupten, daß etwas geschieht. Was ist der Grund dieses Müdewerdens?

Ich habe, vielleicht etwas großsprecherisch, einen Titel angekündigt, der dem, was ich bisher sagte, diametral entgegenzustehen scheint: Der Kosmopolit wohnt im Kosmos. Kosmos, darunter verstehen wir gemeinhin die Weite des Universums, und als Kosmopolit gibt sich aus, wer überall auf dem Planeten zuhause ist, weltgewandt und weitgereist. Das allgemeine Verständnis faßt die beiden Begriffe möglichst groß, offen und weit, und zugegeben, bisher habe ich ausschließlich von engen Bezirken gesprochen, von einem Abendspaziergang, stets dem gleichen, mit der Katze und von einem Frauenporträt von Picasso.

Das erste Europa

Das erste Europa»Unter allen Völkerschaften haben die Griechen den Traum des Lebens am schönsten geträumt.« Goethe, Maximen u. Reflexionen. müssen wir in der Gegend des alten Griechenland vermuten. Damals waren Götter und Menschen eins mit der Natur. In jedem Haus, jedem Fluß, jedem Hain war das Heilige anwesend. Der Kosmos war zum einen das große Ganze, und zum andern war er das Kleinste, nur ein Wassertropfen, nur ein Punkt. Peter Sloterdijk gibt die Wortwurzel von Kosmos mit »Kleinod« an, die Wortwurzel von mundus, Welt, mit »Mundgrube«, und allein aus dieser ursprünglichen Bedeutung der Wörter läßt sich erahnen, daß die Alten nicht in die Breite dachten, sondern in die Höhe. Ihr Kosmos war der Zusammenhang von Punkt und All, von Hain und Gott, von Mensch und Natur. So legten sie auch ihre Polis an. Sie waren, die Politiker von damals, weniger auf Zusammenarbeit in der Ebene aus: Athen und Sparta verbanden sich nicht miteinander, wohl aber sahen sich beide Stadtstaaten mit dem großen Ganzen konföderiert – sowohl die Athener als auch die Spartaner verstanden ihre Polis als ein Abbild des Kosmos. Wer sich als Bürger richtig verhalte, als Polit, so ihre Überzeugung, der verhalte sich auch als Kosmopolit richtig, als Bewohner und Bestandteil des Universums.

Der moderne Kosmopolit, ich sagte es bereits, fühlt sich in der Ebene heimisch, überall auf der Oberfläche des Planeten. Der Kosmopolit der Antike jedoch bewegte sich weniger in der Fläche, sondern, um es auf eine Formel zu bringen, in der VertikaleKatze reckt den Schweif, Spaziergänger zückt den Schirm. Beide halten inne., zwischen Erde und Himmel, zwischen dem einen kleinen Punkt und dem Ganzen des Universums. Nicht in die Breite, in die Weite reiste er, in die Höhe.

Licht und Dunkel

Anno null ist die Kosmosfrömmigkeit vom Christentum zerstört worden. Der christliche Gott war nicht mehr in der Natur, im Kosmos, vielmehr steht er, als absolute Wahrheit, außerhalb des Irdischen. Dadurch entfremdet sich auch der Mensch der Natur. Er begann sich seiner Natürlichkeit, seiner Triebe, zu schämen und suchte, anders als die Griechen, deren Götter, Faune und Böcke im Morgenlicht fröhlich getanzt, gesoffen und gehurt haben, das Heilige fortan im Geistigen, im Absoluten, in der Abtötung von Lust und Fleisch. So entstand über uns Menschen, wie Hegel sagt, »der Himmel der Wahrheit«, die Distanz zwischen Himmel und Erde jedoch, zwischen Geist und Fleisch, zwischen Gott und Natur war auf einmal so groß, daß die natürliche Verbindung zwischen dem Punkt und dem All zerriß. Hier unten wir Menschen mit unseren dunklen Trieben, den finsteren Gedanken und dem grauen Alltag – und dort oben das einzig Wahre, das höchste Gute, ein großes und stilles Leuchten. Zwar gab es nach wie vor die Analogiesiehe hierzu die wunderbaren Überlegungen des Doctor subtilis. Der Zustand der Welt, meint er, beweise, daß die Schöpfung mit ihrem Schöpfer nicht identisch sei. Aber: wie weit geht die Trennung? Ist sie absolut? Die Konsequenz wäre fatal. Gott hätte uns entlassen. Die Welt wäre ihm fremd geworden. Die subtile Rettung: zwischen Schöpfer und Schöpfung besteht eine Analogie. Man versteht sich gegenseitig als Metapher. zwischen den beiden Welten, aber eine Anwesenheit des Göttlichen hienieden oder des Menschlichen im Götterhimmel war nicht mehr denkbar. Das heißt, bei dieser großen Wende, die ja auch zur Zeitenwende geriet, wurde das bisher Vermischte getrennt. Hier das Irdische, hieß es nun, dort das Absolute. Hier das Dunkel, dort das Licht.

Die nächste große Zeitenwende brachten die Aufklärer. Sie haben die christliche Lichtmetapher usurpiert und machtvoll in ihr Gegenteil umgedreht. Von nun an war die Religion die Finsternis, und ganze Brigaden von Beleuchtern machten sich ans Werk, mit ihren Scheinwerfern den Himmel abzuleuchten und dem dumpf gläubigen, gottesfürchtigen Volk zu beweisen, daß über den Köpfen kein Gott sei, sondern die Atmosphäre, das Nichts. Die Abwrackung der Metaphysik begann; der Himmel wurde geschlossen, Gott für tot erklärt, und das war möglich, weil ihn die Menschen als Seinsgeber nicht mehr brauchten. »Cogito, ergo sum« ist das Schlagwort der Aufklärer. Damals, im 17. Jahrhundert, war das eine revolutionäre und befreiendeJa, revolutionär! befreiend! Das gilt bis heute. Aufklären heißt erhellen. Illuminismo (Italien), Enlightenment (England), Siècle des lumières (Frankreich): das zweite Europa. Behauptung. Sie machte den Menschen selbständig. Weil ich denken kann, sprach er nun, bin ich existent, habe ich Sein. Die Aufklärer hatten das Licht der Vernunft angezündet, und das Volk, das bisher in kalten, düsteren Domen vor dem Herrn gezittert hatte, erwärmte sich daran.

Der Club der Atheisten, eine Erinnerung

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