Nietzsches Regenschirm - Thomas Hürlimann - E-Book

Nietzsches Regenschirm E-Book

Thomas Hürlimann

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Beschreibung

Sommer 1881: Friedrich Nietzsche bricht in Sils Maria zu einer Wanderung auf, bei der sich etwas Ungeheures ereignen wird. Mit Leichtigkeit und Witz erzählt Thomas Hürlimann die Geschichte dieser Wanderung. Auf Nietzsches Spuren entführt er uns ins Hochgebirge der abendländischen Philosophie und in die Abgründe und Wunder unserer Existenz. Mit dabei: Nietzsches roter Regenschirm und ein zugelaufener Kater, von dem man allerhand lernen kann. Ein hinreißender, bewegender Text, der zeigt, wie lebendig die Philosophie und wie philosophisch, also erstaunlich unser Leben ist.

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Thomas Hürlimann

Nietzsches Regenschirm

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Inhalt

Nietzsches RegenschirmFür Bruno Hitz [...]Sehr geehrte Damen und [...]

Nietzsches Regenschirm

Für Bruno Hitz

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

ich bin kein Experte, und daß ich trotzdem vor Ihnen auftrete, muß ich mit einem Fragment Nietzsches über den »schauspielerischen Instinkt« rechtfertigen; es lautet: »Der Literat ist wesentlich Schauspieler – er spielt nämlich den ›Sachkunden‹, den ›Fachmann‹.« Sachkundiger und Fachmann in Anführungszeichen.

 

Um wenigstens als Schauspieler zu bestehen, behelfe ich mir mit einem Requisit aus dem Fundus des Nationalmuseums, einem roten Regenschirm, und ich werde Ihnen eine Figur vorstellen, die sich perfekt für eine Tragödie eignet. Oder für eine Komödie? Die Figur ist der Philosoph Friedrich Nietzsche. »Der Wanderer und sein Schatten« heißt eine seiner Schriften. Sie könnte auch heißen: Der Wanderer und sein Schirm. Aber nicht nur die Tatsache, daß dieser Wanderer mit seinem Schirm unterwegs war, gibt mir das Recht, das Thema Schirm mit Nietzsche zu verbinden – er selbst hat diese Verbindung hergestellt, und zwar in einem Satz, der durch ein Colloquium und einen Text von Jacques Derrida berühmt geworden ist:

 

»›Ich habe meinen Schirm vergessen.‹«

 

Wohin der Satz gehört, weiß man nicht. Er fand sich in den ungedruckten Fragmenten und wurde in der großen Nietzsche-Ausgabe von Colli und Montinari unter der Ziffer 12, 175 herausgegeben. Der Satz steht völlig für sich allein, ohne Zusammenhang mit einem Entwurf oder Text, und er ist, was ihn von fast allen anderen Fragmenten / Schnipseln / Splittern unterscheidet, in Anführungszeichen gesetzt. »Vielleicht ein Zitat«, sagt Derrida.

 

»›Ich habe meinen Schirm vergessen.‹«

 

Ein vergessener Schirm in einem vergessenen Satz – wir werden darauf zurückkommen. Jetzt wird es allerdings Zeit, sich mit dem Wanderer und seinem Schirm auf den Weg zu machen. Er beginnt im Sommer 1881 in Sils Maria und endet an der Jahreswende 1888/89 in Turin, auf der Piazza Carlo Alberto. Auf dieser Strecke wird der Schirm der Zeiger sein, der mobile, manchmal schwebende Weiser, der uns führt, und sollte sich der Weiser unterwegs zur Entfaltung bringen, hätte ich meine Rolle als Fachmann in Anführungszeichen erfüllt.

 

Im Sommer 1881 ist Friedrich Nietzsche zum ersten Mal in Sils. Er wohnt im Haus am Waldrand, es geht ihm gut, das Oberengadiner Klima behagt ihm. »Das ist keine Schweiz«, hat er seinem Freund Peter Gast geschrieben, sondern »etwas viel Südlicheres, ich müßte schon nach den Hochebenen von Mexiko am Stillen Oceane gehen, um etwas Ähnliches zu finden …« Hochebene. Hochgefühl. »Nie gab es einen Menschen, auf den das Wort ›niedergedrückt‹ weniger gepasst hätte«, schreibt er an die Mutter. »Mein Aussehen ist vortrefflich, meine Muskulatur infolge meines beständigen Marschierens fast die eines Soldaten, Magen und Unterleib in Ordnung … mein Nervensystem … prachtvoll.« Sollten im Haus am Waldrand, wo er ein karg eingerichtetes Zimmer bewohnt, mehrere Schirme im Ständer gesteckt haben, wird er seinen nicht suchen müssen: Es ist der rote.

 

Ja, an diesem Sommermorgen, da über den Bergen die reine Bläue prangt, hat Nietzsche sein Leben im Griff. Obwohl er sich in Basel, wo er eine Professur hat, nicht mehr sehen läßt, erhält er weiterhin sein Honorar; gesellschaftliche Verpflichtungen hat er gekappt; mit den wenigen Freunden verkehrt er per Post; selten erhalten auch Mutter und Schwester einen Brief, meistens ist es der förmliche Dank für ein Freßpaket, Würste aus der Heimat. Jetzt öffnet er die Tür, er tritt auf die Schwelle, und auf der Schwelle schwebt auch seine Existenz. Nietzsche ist bereit, seinen ersten Publikationen ein Werk folgen zu lassen, das, wie er ahnt, wie er hofft, wie er fürchtet, zu seinem Schicksal wird – und zum Schicksal der Menschheit. Ob er in diesem Moment zum Himmel aufblickt?

 

An dieser Stelle, vor dem Abmarsch, ist es nötig, kurz innezuhalten und zu erläutern, weshalb Wanderer in jener Zeit stets den Schirm mitnahmen und das Haus nicht verließen, ohne einen Blick nach oben zu werfen, zu den Wolken und zu den Göttern.