Fräulein Stark - Thomas Hürlimann - E-Book

Fräulein Stark E-Book

Thomas Hürlimann

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Beschreibung

Der Stiftsbibliothekar hat während eines langen Sommers seinen Neffen zu Besuch. Um den kostbaren Boden des barocken Büchersaals zu schützen, soll der Junge Filzpantoffeln an die Besucher austeilen. Der Junge merkt bald, dass sich ihm neue Welten öffnen – die Welt der Bücher und des anderen Geschlechts. Fasziniert beginnt er zu lesen und wagt es immer öfter, scheue Blicke unter die Röcke der Besucherinnen zu werfen.

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Seitenzahl: 187

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Thomas Hürlimann

Fräulein Stark

Novelle

 

 

Über dieses Buch

 

 

Der Stiftsbibliothekar hat während eines langen Sommers seinen Neffen zu Besuch. Um den kostbaren Boden des barocken Büchersaals zu schützen, soll der Junge Filzpantoffeln an die Besucher austeilen. Der Junge merkt bald, dass sich ihm neue Welten öffnen – die Welt der Bücher und des anderen Geschlechts. Fasziniert beginnt er zu lesen und wagt es immer öfter, scheue Blicke unter die Röcke der Besucherinnen zu werfen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

Für Marie-Luise und Egon Ammann

1

Mein Onkel war Stiftsbibliothekar und Prälat, seine Hüte hatten eine breite, runde Krempe, und gedachte er die Blätter einer tausendjährigen Bibel zu berühren, zog er Handschuhe an, schwarz wie die Dessous meiner Mama. An Bord unserer Bücherarche, sagte der Onkel, haben wir schlicht und einfach alles, von Aristoteles bis Zyste.

Wie ein Zirkusclown hatte er einige Nummern einstudiert, und seine Lieblingsnummer ging so: Im Anfang war das Wort, sprach der hochwürdige Stiftsbibliothekar, dann kam die Bibliothek, und erst an dritter und letzter Stelle stehen wir, wir Menschen und die Dinge. Dabei zeigte er zur Decke, wohl auf Gott, dann auf sich, die Bibliothek, und war vom Dritten und Letzten die Rede, ließ er den Blick in die Runde schweifen, von einer Besucherin zur andern.

Keiner erklomm so elegant wie mein Onkel die Altarstufen, die Meßgewänder mit der Linken raffend, wobei seine Schnallenschuhe unter den rotseiden aufleuchtenden Rocksäumen hervortanzten, und wer je erlebt hat, wie er als Meßpriester das Wandlungswort jubelnd, ja verzückt zum Altarbild hinaufschmetterte, senkte erschrocken, fast ein wenig angewidert den Blick. Am Schluß der Messe wurde man mit einem donnernden Ite-missa-est! aus dem Dösen gerissen, dann mit Weihwasser naßgespritzt, und war der Herr Stiftsbibliothekar in Frohlaune, rauschte er gleich nach dem Segen quer durch das Schiff zur Orgel empor, die Pfeifen tuteten los, der Boden erzitterte, und weder das Fräulein Stark, seine Haushälterin, noch die Hilfsbibliothekare wären erstaunt gewesen, wenn der gewaltige Orgelsturm die Kuppeln der Kathedrale abgehoben und wie Ballone über das Alpsteingebirge davongeweht hätte.

2

1805, als die Französische Revolution die Alte Schweiz erfaßt hatte, war die Fürstabtei aufgehoben worden. Die Mönche zerstreuten sich, aber nach wie vor strömte das fromme Volk in die Kathedrale, und die Bibliothek, seit dem frühen Mittelalter in aller Welt berühmt, blieb mit dem gesamten Bestand erhalten. Sie nahm den zweiten und dritten Stock im Südflügel des ehemaligen Klosters ein, war mit Nuß- und Kirschbaumholz ausgeschalt und schien, wenn Licht durch die hohen Fenster flutete, wie ein barockes Raumschiff durch die kaltfeuchte Steinwelt zu schweben. Da sein Vorgänger von einer bösen Gicht geplagt worden war, hatte mein Onkel seine privaten Gemächer dick mit Teppichen ausstaffiert und das Studierzimmer, wo er sich nach dem Essen auf den Diwan legte, in eine plüschrote, nach Zigarettenrauch, Rasierwasser und alten Folianten riechende Höhle verwandelt. Ein geschnitzter Elephant hatte Stoßzähne aus Elfenbein und trug auf dem abgeplatteten Schädel eine Krone aus Whisky- und Cognacflaschen. In der Ecke summte ein Samowar, und vor jeder Ikone und jedem Marienbild flackerten Tag und Nacht die vielen Flämmchen wachsverklumpter Kerzen. Im Eßzimmer, wo er am Kopf einer langen Tafel zu speisen pflegte, herrschte die Strenge des Klosters, das hohe Gewölbe war kahl vergipst, schwarz glänzten die Türen, und die Bilder zeigten überlebensgroß ehemalige Fürstäbte und Stiftsbibliothekare mit wachsbleichen, lippenlosen Geisteshäuptern. Aber vor dem Onkel war der Tisch mit Damast bedeckt, der Porzellanteller paßte zum Silberbesteck, und seinen Trollinger ließ er sich aus einer Kristallkaraffe eingießen.

Dies besorgte das Fräulein Stark.

3

Das Fräulein Stark, die Haushälterin, nahm die Mahlzeiten in der Küche ein und betrat das Eß- und Herrenzimmer nur, wenn Monsignore geklingelt hatte. Zwar blieb die Tür zwischen den beiden offen, so daß der Onkel das Suppenschlürfen der Stark und die Stark das Anknipsen seiner Zigaretten hören mußte, aber nie setzte sich dieses Paar an denselben Tisch, nie fielen sie miteinander ins Bett, und nicht einmal im Grab, wo beide seit längerem liegen, hat man sie zusammengelegt.

Sie hieß Magdalena und war im Appenzellischen aufgewachsen, hoch oben in den Bergen. Ihre Mutter soll früh gestorben sein, im achten oder neunten Kindbett, doch schien dies den Vater, einen knorrigen Bergbauern, nicht bekümmert zu haben. Stumm war er vor diesem Tod gewesen, stumm war er nach diesem Tod, mißtrauisch gegen die Welt und noch mißtrauischer gegen die eigene Brut. Er haßte die kleine Magdalena, er haßte ihren Lehrer, und außer der Bibel, in der er tagtäglich einen Vers unter dem gekrümmten Zeigefingernagel zu enträtseln versuchte, haßte er alles, was geschrieben war: Gesetze, Zeitungen, Fahrpläne, Telephonbücher, Melkbroschüren, das Amtsblatt, sein Dienstbüchlein, ja sogar die Verordnungen zur Schweinezucht, von der er lebte. Auf entlegenen Alpen wurde übersömmert, fernab von Kirche und Schulhaus, und kaum war die Frau in der Erde verscharrt, zog er mit seiner Kinderschar ganzjährig in ein winddurchheultes, schon im Oktober im Winter versinkendes Schattental hinauf.

War das Fräulein fromm? Vermutlich schon, doch muß es eine eigene, appenzellische und sehr weibliche Frömmigkeit gewesen sein. Vom blutigen Heiland wollte sie nichts wissen, das war eine Sache für Männer, ein dümmliches Geplänkel mit römischen Landsknechten und jüdischen Pharisäern. Die schwarze Madonna jedoch, die im hinteren Schiff der Kathedrale eine Art Grotte bewohnte, suchte sie Morgen für Morgen auf, hier war sie zu Hause, hier wurde sie ruhig, ihre niedere Stirn verlor die Falten, und plötzlich, das habe ich mehrmals beobachtet, lächelten beide das gleiche Lächeln, die holzgeschnitzte Madonna und die stämmige Magdalena Stark, die es aus den Appenzeller Bergen in die Stadt verschlagen hatte, in den ehrwürdigen Haushalt des Stiftsbibliothekars.

Dieser wandelte in Glockenröcken durch sein Bücherhaus, und sie hatte am liebsten Hosen an. Er war ein Schmecker und Lecker, allerdings überzeugt, als Geisteskopf über die Ding- und Fleischeswelt erhaben zu sein, und sie gab sich als ehrliche Haut, als einfaches Gemüt. Für eine Appenzellerin war sie groß, jedenfalls größer als Monsignore, und er unterschied sich mit seinem Lippenfleisch, dem runden Bauch und einem Schalk, der ihm trotz des Römerkragens im Nacken saß, deutlich von der Hagerkeit seiner Vorgänger. Kam er spät in der Nacht mit zwei von Schmissen entstellten Altherren durch das Portal gestolpert, fiel es der Stark nicht schwer, die besoffenen Brüder zu verjagen und ihren Monsignore, der auf einmal friedlich wurde, durch das Labyrinth der Gestelle des Katalogsaals in seine von Vorhängen und einem Baldachin geschützte Bettstatt zu bugsieren. Das fand ich lustig, sogar zum Lachen, aber die Stark, nachts trug sie einen blauen Trainingsanzug, packte mich am Handgelenk und führte mich dann so entschieden in meine Kammer zurück, wie sie es eben mit Monsignore gemacht hatte. Sie schien es nicht zu mögen, daß ich mich für das nächtliche Onkelleben interessierte. Wenn er ins Kotzen kommt, befahl sie barsch, hältst du dir die Ohren zu, gute Nacht.

Der Stiftsbibliothekar schrieb eine Broschüre nach der andern, und sie, die in einer buchstabenfeindlichen, bilderlosen Stube aufgewachsen war, malte in einer girlandenartig die Linie umrankenden Kinderschrift höchstens mal ihren Namen: Frl. Stark. Sie sprach ein näsliges, hinter der Stirn verhockendes Appenzellerisch, und er parlierte in allen Weltsprachen, lateinisch, französisch, italienisch, spanisch, englisch, angeblich auch russisch, paß auf, Nepos, rief er dröhnend, jetzt lache ich wie Iwan Abramowitsch, ho ho ho, he he he!

Der Stiftsbibliothekar ließ ihr Taschen aus Krokoleder, modische Hüte, Regenschirme, Kölnischwasser und einmal sogar einen Rasierapparat für Damen schicken, und sie, die seine Geschenke hinter den Bücherreihen der unteren Gestelle versenkte, briet ihm Enten, braute zur Ochsenzunge eine Rotweinsauce, und während der Fastenzeit, wenn er zwanzig Kilo abspecken wollte, servierte sie ihm mit Waldkräutern gewürzte Bachforellen. Im Winter stopfte sie Wärmflaschen unter seine Decken, und im Sommer, wenn er stöhnend unter der Hitze litt, zog sie ihm eine rotgefütterte, knisternd leichte Soutane über, angeblich eine Maßanfertigung, die eine Römer Exklusiv-Boutique für Monsignore geschneidert hatte.

Echte Seide, sagte das Fräulein Stark, etwas Feineres gibt es nicht.

Doch, sagte ich, und dachte an die Bücherhandschuhe des Onkels.

4

Wochen vor meiner Abreise hatte mich ein schlimmes Heimweh geplagt, auch Angst vor der Stark, doch kaum war ich angekommen, fühlte ich mich großartig, hier war es schöner als zu Hause, wo sie wieder einmal die Wickelkommode aufgestellt, die Wiege bezogen, die Geburtsanzeigen entworfen und Puder gekauft hatten: Babypuder. Es geschah zum dritten oder vierten Mal, und alle ahnten wir, daß es auch diesmal schiefgehen würde, nur Totes würde Mama gebären, einen blutig verschleimten Klumpen, den man an der Hintertür der Klinik an die Schweinemäster abgab. Damit wollte ich nichts zu tun haben, die Eltern hatten recht, in der Bibliothek war ich am richtigen Platz. Hinter dem Katalogsaal hatte ich eine eigene, mit alten Schwarten, Atlanten, Globen und Weltmodellen vollgerümpelte Kammer, ich durfte im Saal die Mumie berühren, in der Kathedrale auf der Orgelbank sitzen, durch den Estrich streunen, in die Keller steigen und vor allem: Der Onkel hatte mir einen Posten anvertraut, ich gehörte zur Mannschaft, ich war einer von ihnen. Du arbeitest nicht, hatte mir der Onkel eingeschärft, du bekleidest ein Amt. Ich hörte es gern, ich fühlte mich gut. Geld verdiente ich nicht, aber von Tag zu Tag, von Frau zu Frau wurde mein Dienst ein wenig spannender, ein wenig geheimnisvoller …

Es begann um neun Uhr morgens. Durch das Treppenhaus des alten Klosters hörten wir unsere Besucherinnen laut schwätzend heraufkommen, die beiden Empfangsdiener jedoch – nach alter Gewohnheit waren sie zehn Minuten zu früh auf ihren Plätzen – ließen erst einmal die Köpfe sinken, müde waren sie, müde vom gestrigen Tag, müde vom lebenslangen Hocken und Warten und Dösen, und dachten nicht daran, ihre Tätigkeit vor dem endgültigen Verhallen des neunten Glockenschlags aufzunehmen. Dann hoben sie schließlich doch ihre behandschuhte Linke und hielten deren Rücken heftig zitternd vor den gähnenden Mund. War dies erledigt, sahen sie einander an, eine uralte, längst erloschene Verzweiflung im Gesicht, denn nun war neun vorbei, und über dem Eingang hatte doch tatsächlich die schwarze Glocke gewackelt! Man mußte aufstehen, man mußte den Riegel ziehen, man mußte die Besucherinnen einlassen. Der Türhüter öffnete das Portal, und der Garderobier, der ebenfalls weiße Handschuhe trug, eine grüne Uniformjacke und die zirkusartige Mütze, stellte sich hinter seinen Tresen, um halb im Schlaf entgegenzunehmen, was gemäß Vorschrift an der Garderobe abzugeben war: Mäntel, Schirme, Taschen, Rucksäcke, Picknickkörbe, Eßwaren, Wanderstöcke, kurz, alles, was die heilige Bücherwelt und den kostbaren Boden des Barocksaals zu verletzen drohte. Dann war es soweit. Die erste Busladung hatte sämtliche Jacken und Täschchen in Blechmünzen umgetauscht, die Damen trugen nur noch ihre Hüte und kamen, angeführt von einer Studienrätin mit knirschenden Gummischuhen, durch den langen Gang auf mich zugeschritten. Pardon, daß ich an dieser Stelle unterbreche –

5

doch bevor ich sagen kann, was meine Aufgabe war, muß ich vom Boden reden, vom Parkett der barocken Bücherkirche. Dieser Boden war aus Kirschbaum- und Tannenholz zusammengefügt, erhaben wie ein Schiffsdeck, wohlklingender als ein Geigenkasten, bref, wie der Onkel sagen würde, ohne sich dann im mindesten um diese Ankündigung zu kümmern, bref, also in Kürze: Eine heilige Bühne wars, die sich in der hölzernen Verkleidung der Wände, in den sanft gewellten Bücherschränken und rokokodünnen Wandpfeilern aufstrebend fortsetzte, die mal hell, mal dunkel in Rippen und Auszierungen hinauf- und hinauswuchs, sich aber auch um die Gewölbespiegel und Deckengemälde schmiegte, was dem Himmel, vom Kirschbaumholz umrankt, etwas Bodenständiges gab und dem Boden, übergossen von Sonnenlicht, etwas Himmlisches.

Die Gummischuhe halten an, bleiben stehen.

Ich stelle ein Paar Überzieh-Pantoffeln vor sie hin, und die Studienrätin, von hoch oben herablächelnd, läßt ihre Füße hineinschlüpfen. Die nächste bitte!

Auch sie bekommt die Pantoffeln, rutscht über die Schwelle, schlarpt ins Innere – und damit ist meine Aufgabe genannt: Ich hatte an jede Besucherin, jeden Besucher die passenden Schutzpantoffeln auszuteilen: klein, mittel, weit. Ich durfte keinen Schuh ohne Filzummantelung passieren lassen, ich mußte dafür sorgen, daß man nur mit Finken, wie bei uns die Pantoffeln heißen, über die Schwelle, in den Barocksaal und zu den Büchern schwebte. Die nächste bitte!

Sicher, ich trug eine hohe Verantwortung, denn der Geigenholzboden mit seinen Intarsien galt als derart wertvoll, daß schon die winzigste Schädigung, beispielsweise ein Hüflein, vom Spitzenabsatz eines Stöckelschuhs in das hautweiche Kirschholz gedrückt, beim Onkel und seinen Hilfsbibliothekaren ein entsetztes Aufjaulen ausgelöst hätte, aber vor Probleme wurde ich kaum gestellt, unsere Besucher waren anständig, die meisten gebildet und stießen ihre Schuhkappen folgsam in die Filzhauben hinein. Ich war, wie der Onkel sagte, der Pantoffelministrant am Portal zur Bücherkirche. Ich konzentrierte mich von neun Uhr vormittags bis sechs Uhr abends – mit einer Stunde Mittagspause – auf Beine und Füße, ließ sie kommen, hielt sie an – danke, mein Junge!, die nächste bitte! –, und hatten sie die Ausstellung, wie viele von ihnen sagten, »gemacht«, stellte ich die abgeschüttelten Paare in meine sauber geordneten Reihen zurück. An Bord der Bücherarche, sagte der Onkel, sei die Vernunft, also die Ordnung, das oberste Prinzip.

6

Es war ein Abend im Juli. Der Onkel trug die seidene Sommersoutane aus der Römer Exklusiv-Boutique und die Stark ihr Alpendécor, Kordhose und kariertes Hemd. Wie gewohnt thronte der Onkel im Prälatensessel am Kopfende der Tafel, hatte die Serviette über die Brust gelegt und tupfte sich, während er die Askese pries, mit einem kölnischwasserbesprenkelten Damasttüchlein die Stirn ab. Ich saß an der Längsseite, allerdings unten, zwei Stühle von Monsignore entfernt, mit dem Rücken zur offenen Küchentür, und spielte den neunmalklugen Schüler. Hob der Onkel seine Augenbraue, stets die linke, versuchte auch ich, von den Wellen auf seiner Denkerstirn beeindruckt, meine Braue, stets die linke, zucken zu lassen. Nunu, sagte der Onkel, diese Schwüle!

Das Fräulein aß wie üblich nebenan, und mit jedem Löffel, den sie drüben in sich hineinschlürfte, schien es im hohen Eßzimmer etwas zwielichtiger zu werden, lauter tickte die Wanduhr, und die ausgezehrten Gesichter der Fürstäbte und Stiftsbibliothekare, die mir gegenüber an der Wand hingen, zogen sich mehr und mehr in eine schwarz glänzende Firnis zurück.

Der Onkel sah auf.

In der Tür stand die Stark.

Die Pantoffeln, sagte sie, sind nichts für den Buben.

Wir ließen die Löffel sinken.

Ist ihm ein Lapsus unterlaufen?, fragte der Onkel.

Nein, meinte die Stark, er macht seine Sache gut (kurze Pause) – vielleicht ein bißchen zu gut!

Merken Sie nicht, was Sie für einen Blödsinn daherreden?

Nein, sagte sie.

Worum gehts?

Um sein Seelenheil. Um das, was im Katechismus steht.

Eine Weile verharrte das Fräulein in der Tür, die Arme verschränkt, die Lippen schmal, die Augen auch. Der Onkel hob die linke Augenbraue, und ich, von ihm angeblickt, hob bedauernd die Schultern. Da packte das Fräulein mit ihren kräftigen Händen zu, schwang die Schüssel vom Tisch und trug sie, ohne den Blick von der Schüssel zu lösen, in die Küche. Die nahe Turmuhr schlug die Viertelstunde, der Abendhimmel begann zu glühen. Der Onkel und ich hielten den Atem an, beide spürten wir: Da kommt noch was! Und wirklich, schon stand sie wieder da, lächelte ihr Madonnenlächeln und sagte: Ihr Neffe, Monsignore, versündigt sich gegen das Sechste!

Wie bitte?

Unkeusche Blicke.

Der Onkel schüttelte grinsend, offensichtlich ein wenig verwirrt, das schweißglänzende Haupt. Dann faßte er sich. Er legte seine Hände auf den Tisch, links und rechts vom Suppenteller, drückte sich gegen die Rückenlehne seines thronartigen Sessels und sagte, den Blick zur Decke gerichtet: Fräulein Stark, ich erinnere mich nicht, die Klingel gedrückt zu haben.

Sie nickte. Den Buben, hab ich mir gedacht, versetzen wir zu den Hilfsbibliothekaren.

Liebe, wer ist der Chef?

Sie, antwortete sie schlau, haben die Bücher unter sich, ich muß zum Buben schauen.

Mein Neffe bleibt, wo er ist.

Im Scriptorium.

Nein, sagte er.

Doch, sagte sie.

Fräulein Stark, hic est nepos praefecti, das ist der Neffe des Chefs –

Ja, unterbrach sie ihn, eben! Ihr Neffe ist ein kleiner Katz, da müssen wir besonders aufpassen.

Das Fräulein zeigte ihr Madonnenlächeln, und der Onkel, wieder zur Decke blickend, sagte tonlos: Der Junge trägt den Namen seines Vaters.

Die Möbel waren dunkel geworden, und drüben, auf der andern Seite des Hofs, wuchs der Abendhimmel wie eine rotflammende Wand aus dem schwarzen Klosterdach. Es traf ja zu: Mama war eine geborene Katz, so hieß auch der Onkel, aber beide schienen ihren Geschlechtsnamen verloren zu haben, Mama durch Heirat, der Onkel durch sein Priestertum – Monsignore wurde er genannt. Unser Fräulein, sagte er seufzend, ist eine schlichte Variante.

7

Ich brauchte sie nicht zu fürchten, ich war der Neffe des Chefs, nepos praefecti, und der hatte ihr gezeigt, wer hier das Sagen hatte. Völlig zu Recht, schließlich lag ich pflichtgetreu in meinen perfekt ausgerichteten Pantoffelreihen, ließ sie auf ihren langen Beinen heranspazieren und verpaßte ihnen, um unseren Geigenboden vor Kratzern zu bewahren, die passende Größe: klein, mittel, weit. Dabei konzentrierte ich mich auf ihre Füße, zumal bei heftigem Verkehr, und kam es mal vor, daß ich an einer hochblickte, geschah dies nur, um ihren Dank mit einem Lächeln zu quittieren, gern geschehen, die nächste bitte!

An den Vormittagen hatten wir großen Zulauf, vor allem in den ersten Stunden, wenn ein Bus nach dem andern seine Ladung entlud, scharrten hochtoupierte Besucherinnen in langen Schlangen dem Saal entgegen, und ich hatte so viele Waden Fesseln Röcke um die Ohren, daß ich froh sein mußte, wenn sich keine ohne die Filzpantoffeln an mir vorbeidrückte. Dann ließ der Andrang nach, und im mittleren Vormittag, wenn die Zeit zu stocken schien, hockte ich wie ein vergessener Basari in meinen Reihen und schmökerte in den modrig riechenden Schwarten, die ich mir bei den Hilfsbibliothekaren ausleihen durfte.

Am liebsten las ich Reise- und Entdeckungsberichte, flog auf meinen Pantoffeln um die ganze Welt, durchquerte fieberverseuchte Kontinente, erforschte Vulkane, geriet in Taifune und verlief mich in fernöstlichen Städten mit scharf riechenden Pfeffermagazinen, dämmrigen Opiumhöhlen und wüsten Hafenkaschemmen.

Um die Bücher zu bestellen, mußte ich ihre Nummern angeben, weshalb ich in den Flautezeiten, wenn die Empfangsdiener schliefen, die Aufseher dösten und nur ein paar einzelne Besucherinnen über den Vitrinen hingen, in den Katalogsaal eilte, zwischen die Gestelle huschte, ein Schublädchen zog, in den Karten fingerte und à la Onkel ein: Ah!, ausstieß, ah, da haben wirs ja!

Mittlerweile kannte ich die Bibliothek mit all ihren Abläufen, mit all ihren Geräuschen, im Tabularium praefecti residierte der Onkel, im Scriptorium hatten sie ihre Karteikarten zu tippen, und nach halb elf, wenn die vormittäglichen Busladungen abgefertigt waren, drang das Schreibmaschinengeklopfe der Hilfsbibliothekare zunehmend lauter in den Flur hinaus, zunehmend lauter und mit immer längeren Pausen beschrieben sie die unbarmherzige Langeweile der zweiten Vormittagshälfte, da jede Minute länger wurde als die Minute zuvor, bis dann, kurz vor elf, das Geklapper plötzlich aussetzte und die beiden Türgreise, die tief geschlafen hatten, ihre Schädel langsam hoben. Gleich würde es zum Englischen Gruß läuten, und das Fräulein würde erst ihnen, dann dem Rest der Mannschaft den Kaffee servieren.

Die Schläge verhallten.

Die Stark, sonst überpünktlich, genau mit der Glocke zur Stelle – heute kam sie nicht. Ich zählte die Sekunden. Jetzt! dachte ich. Jetzt knallt sie die Küchentür auf und rumst den alten Servierboy mit den gegeneinanderschlagenden Tassen in den Flur hinaus.

Inzwischen hatten auch die beiden Empfangsdiener gemerkt, daß die Kaffeezeit um gut eine Minute überschritten war. Sie schrumpelten ihre Lider wie Markisen hoch und glotzten unter dem Vordach ihrer Zirkusmützen in den schattenlosen Gang hinaus. Das darf doch nicht wahr sein, sagten ihre Mienen, wo bleibt der Kaffee? Wo bleibt die Stark?

Um sieben nach elf rauschte die Spülung. Ein Hilfsbibliothekar schlüpfte aus dem Abort, kam auf langen Beinen auf mich zugestakst, im offenen Braunkittel. Was mochte sein Blinzeln bedeuten? Vorsichtshalber blinzelte ich zurück. Man kann ja nie wissen. Ist sie sauer?, fragte der Hilfsbibliothekar.

Glaub schon.

Paß auf, sagte er, mit dem Kopf auf die Bürotür des Onkels deutend, sogar Katz hat Schiß vor der Stark.

Ich hatte die Botschaft verstanden. Weil ich das Fräulein verärgert hatte, war der Kaffee gestrichen worden.

8

Aber schon am Nachmittag war der Spuk vorbei, der Boykott wurde aufgehoben, wieder gab es zu den gewohnten Zeiten Kaffee: vormittags um elf und nachmittags um drei, kurz nach der Todesstunde des Herrn. So ging das Leben an Bord seinen Gang, tagtäglich den gleichen, frühmorgens rollte im bodenlangen Nachthemd rundbäuchig der Stiftsbibliothekar in meine Kammer und schmetterte sein: Salve nepos, carpe diem! Morgen, Neffe, pack dir den Tag! Dann rannten wir durch die langen, nach feuchtem Mörtel riechenden Gänge in die Kathedrale, und stemmte er, während ich ministrierend die Schelle schüttelte, seinen Kelch in die Höhe, warf sich sein Haupt derart halsbrecherisch in den Nacken, daß man Morgen für Morgen befürchten mußte, er könnte samt Kelch hintüberkippen und rückwärts vom Altar purzeln. Nach dem Segen ließ er vielarmig fuchtelnd die Orgel erschallen, und das Fräulein, züchtig mit einem Kopftuch bedeckt, trat vor die Madonnengrotte, um ihr Lächeln mit dem hölzernen Ebenbild in eine geheimnisvolle Übereinstimmung zu bringen.

Anschließend gab es das Morgenessen. Der Onkel setzte sich an sein Pult und las, erste Zigaretten paffend, die »Ostschweiz«. Gemäß G.W.F.Hegel, pflegte er zu sagen, sei die Zeitung das Frühstück des gesunden Menschenverstandes. Ich mußte meine Milch in der Küche trinken, beim Fräulein. Früher hatte sie fröhlich geplappert, hatte vom Vater erzählt und vom Winter, aber seitdem sie mich hartnäckig für einen Sünder hielt, für einen Verstößer wider das Sechste, redeten wir nur noch selten, nur das Nötigste, sie stand am Fenster, zeigte mir den Rücken, auf dem Hinterkopf einen stramm geflochtenen Knoten, circa apfelgroß, sowie ein pralles Derrière. Fräulein Stark, hätte ich gern gefragt, warum haben Sie behauptet, ich sei ein kleiner Katz? Und warum muß man da »besonders aufpassen«?

Du kommst zu spät.

Sie konnte Gedanken lesen. Ich stand auf, huschte hinaus. Bin schon unterwegs, Fräulein Stark.