Das Hotel von Aleppo - Flavia Amabile - E-Book

Das Hotel von Aleppo E-Book

Flavia Amabile

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Beschreibung

Aleppo – heute Kriegsschauplatz – ehemals kulturelles Zentrum Syriens und eine der ältesten Städte des Nahen Ostens. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in Aleppo das Hotel Baron (Anredeform für Männer auf Armenisch) erbaut, das bis heute in der Hand einer Familie blieb. Das Gebäude ist nicht nur eines der prächtigsten der Stadt, in dem an marmornen Tischen lange Zeit die Politik Syriens verhandelt wurde, es lieferte – mit Gästen wie Lawrence von Arabien und Agatha Christie – auch Stoff für viele geheimnisumwobene Geschichten.

Eine literarische Zeitreise in ein Land, das im Moment im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht und eine spannende Familiengeschichte eingebettet in die Atmosphäre des Orients.

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Seitenzahl: 319

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Zum Buch

Aleppo – heute Kriegsschauplatz – ehemals kulturelles Zentrum Syriens und eine der ältesten Städte der Region. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in Aleppo das Hotel Baron (Anredeform für Männer auf Armenisch) erbaut, das bis heute in der Hand einer Familie blieb. Das Gebäude ist nicht nur eines der prächtigsten der Stadt, in dem an marmornen Tischen lange Zeit die Politik Syriens verhandelt wurde, es lieferte – mit Gästen wie Lawrence von Arabien und Agatha Christie – auch Stoff für viele geheimnisumwobene Geschichten.

Eine literarische Zeitreise in ein Land, das im Moment im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, und eine spannende Familiengeschichte eingebettet in die Atmosphäre des Orients.

Zur Autorin

FLAVIA AMABILE arbeitet als Journalistin für die italienische Tageszeitung »La Stampa«. Sie verfasst Reportagen, fotografiert und filmt. Sie hat bereits verschiedene Bücher, darunter Reiseberichte und Sachbücher veröffentlicht.

Marco Tosatti, widmet sich als Autor und Journalist vor allem historischen Stoffen. Zusammen mit Flavia Amabile hat er bereis zwei Bücher veröffentlicht.

FLAVIA AMABILE • MARCO TOSATTI

DAS HOTEL VON ALEPPO

Die Geschichte eines Landes und einer Familie

Aus dem Italienischen von Franziska Kristen

1

Sie lebten in einem kleinen Dorf inmitten der Berge Ostanatoliens. Die genauen Daten sind längst in Vergessenheit geraten, doch in jener Gegend und zu jenen Zeiten hatten sie ohnehin nie eine große Rolle gespielt. Es mag etwa um 1860 gewesen sein. Die Armenier nannten ihr Dorf Antchurty, »Ort ohne Wasser«, und Tag um Tag stellte sich dieses hartnäckige Volk entschlossen der Herausforderung, dem kargen Land zu trotzen. Einer von ihnen, Krikor, war besonders hartnäckig: Er betete und arbeitete, bis er ein Agha, ein kleiner Grundbesitzer, wurde, der einige Hektar harten, trockenen Bodens, der jedes Frühjahr wie durch ein Wunder aufs Neue zu keimen begann, sein Eigentum nannte. Niemand hat jemals den Grund erfahren, aber eines Morgens rief er seine Familie zusammen und kündete seine Abreise an: Er würde nach Jerusalem gehen, um am Grab Christi zu beten und eine geheime Schuld zu begleichen.

Einige Tage später verließ er noch vor Tagesanbruch das Haus, lud zwei Taschen mit Kleidung und Vorräten auf das Maultier, nahm das Halfter in die Hand und begab sich auf den Weg. Auf einer Anhöhe hielt er inne, während das Morgenlicht bereits die ersten Schatten auf die sorgfältig bestellten Felder seiner in der Ferne liegenden Ländereien warf. Er aß ein wenig Brot und warf den Vögeln die Krumen zu. Daheim begann man mit dieser Geste einen langen Arbeitstag. Hier war es der Beginn eines großen Abenteuers, das er selbst und drei weitere Generationen der Familie Mazloumian bestehen sollten.

Das Osmanische Reich war bereits im Niedergang begriffen, doch noch nahm es die heiligen Stätten – Jerusalem, Mekka und Medina – unter seine Fittiche. Krikor trennten Ängste und Nöte von dem Moment, in dem er das kleine, auf den Arm tätowierte Kreuz, Beweis und Stolz eines jeden christlichen Pilgers, würde bewundern können. Sobald man die bewohnten Zentren verließ, schwand die staatliche Macht. Diebe, Räuber und Banditen lauerten überall im Hinterhalt. Aus Angst vor Überfällen und Gewalt wurden bei Sonnenuntergang die Tore der Städte und Dörfer versperrt. Das Osmanische Reich war groß und zerbrechlich, ein wahrhaft »kranker Mann«, wie die europäischen Mächte es nannten, während sie begierig darauf warteten, diesen gewaltigen, zwischen persischem Golf und Kaukasus gelegenen Körper in Stücke zu reißen.

Krikor kam durch Aleppo, Damaskus und schließlich nach Beirut an die Küste, wo es sicherer war als in der von Beduinenstämmen umkämpften Steppen- und Wüstenregion im Landesinneren. Die Reise durch die Provinzen des Reiches dauerte Wochen. Doch eines Tages zeichnete sich am fernen Horizont endlich der golden im Sonnenlicht schimmernde Mauerring ab, und beim Näherkommen konnte man die ersten Kuppeln der heiligen Stadt erkennen. Krikor weinte, betete und fand endlich die Kraft, sich der heiligsten aller heiligen Städte zu nähern, durch das Jaffator zu schreiten und, wie man ihm geraten hatte, bei der Jakobus-Bruderschaft in dem großen, im Mittelalter als Herberge für armenische Pilger entstandenen Kloster um Obdach zu bitten. Er rastete in den Gärten des armenischen Viertels im Schatten der ältesten Bäume von ganz Jerusalem, warf sich vor dem Heiligen Grab auf die Knie, legte die Hand auf den Salbungsstein, entzündete am Berg Golgatha eine Kerze, dort, wo das Kreuz im Fels ein – heute von einer glänzenden Silberplatte verdecktes – Loch hinterlassen hatte. Dann überbrachte er in der St.-Jakobus-Kathedrale seine kostbare Votivgabe. Es war ein Tropfen in einem Meer aus Mitren, Kronen, edelsteinverzierten Goldkelchen, kostbaren liturgischen Gewändern, Gold- und Silberleuchtern, in dieser prächtigsten Basilika der Stadt. Ein Meer, das der Strom armenischer Dankbarkeit im Lauf von Jahrhunderten gefüllt hatte.

Als Geist und Seele sich beruhigt hatten und das Gelübde eingelöst war, füllte Krikor die Satteltaschen mit Vorräten und begab sich auf den Weg in Richtung Norden. Nach so vielen Annehmlichkeiten war es nicht einfach, sich wieder an den Rücken des Maulesels und die am Weg gelegenen Behelfsunterkünfte zu gewöhnen, doch das war nicht der Grund, weshalb er so oft die Gerte auf die Flanken seines Tieres niedersausen ließ. Vielmehr war es ein Gefühl der Unruhe, eine Angst, geschürt durch in Jerusalem aufgeschnappte Gerüchte und Geschichten von osmanischen Soldaten, die in das Land um den Berg Ararat und den Vansee einmarschierten: in sein Land. Er hoffte auf neue Nachrichten in Aleppo, doch diese Stadt bescherte ihm nichts als Enttäuschungen. Es war die zweite Metropole des Osmanischen Reiches, der Ort, an dem – laut islamischer Überlieferung – Abraham seine Kuh gemolken hatte, und von Halab, »Milch«, so hieß es, stammte der arabische Name der Stadt. Sie war der Schauplatz der Welt, zumindest dieses Teils der Welt, das Zentrum der Windrose und letzte Anlaufstation antiker Reiserouten, der Seidenstraße sowie der Handelswege für Gewürze und Weihrauch. Doch sowohl beim ersten als auch beim zweiten Besuch fanden Krikor und sein Maulesel lediglich Unterkunft in einem Khan, einer Karawanserei. Dicht an dicht drängten sich Tiere und Waren auf dem Hof und in den ringsum liegenden Räumen. Die Menschen, ein Stockwerk weiter oben, mussten sich den Platz und das Ungeziefer teilen, es gab weder Türen noch irgendeine Rückzugsmöglichkeit. Im Suk kamen ihm vage, unzusammenhängende Neuigkeiten über die Situation in Anatolien und die Streifzüge der Männer aus Konstantinopel zu Ohren. Nein, dem Khan von Aleppo würde er nicht nachtrauern, dachte Krikor, während er seinen Maulesel im von Regen kündenden Morgenrot über die Gebirgsstraße Richtung Zeytun führte.

Langsam passierte er das Amanosgebirge. Mit Bedacht wählte er die Straße, die direkt nach Norden führte und nicht den bequemeren, aber längeren Weg Richtung Meer, über Alexandrette. Er kam durch Beilan und überschritt bei Tchork Marzemene die Grenze des Vilâyet von Aleppo. Es begann bereits zu dämmern, als er Akbes erreichte und bei der Familie des Pfarrers um Obdach bat, nachdem er auf dem nackten Steinboden der kleinen Kirche kniend sein Gebet verrichtet hatte. Er fand das Dorf in großer Aufregung und Angst.

»Habt ihr von Adana gehört?«, fragte der Pfarrer, als sie an der bescheidenen Tafel zusammensaßen. »Die Türken haben die Christen massakriert und drei Tage lang den Suk geplündert, und die Regierung hat nichts oder fast nichts dagegen unternommen. In der Nacht vor dem Gemetzel haben sie die muslimischen Geschäfte gekennzeichnet, um sie zu verschonen, die anderen haben sie geplündert und niedergebrannt. Und es heißt, dass die Christen auf dem Land ebenso wenig sicher seien. Passt auf euch auf, meidet muslimische Ortschaften.« Krikor erhob sich noch vor Morgengrauen und begab sich auf den Weg nach Norden, in Richtung Islahia und Entilli. Auf den Feldern war kein Mensch zu sehen und die wenigen Reisenden näherten sich vorsichtig und entfernten sich eilig. Türen und Fenster der Gehöfte waren verschlossen und verriegelt. In Babdje’ suchte er sich Unterkunft für die Nacht. An den Toren des Dorfes wurde er von bewaffneten Männern aufgehalten. Sie ließen ihn erst passieren, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass er Armenier war und er das auf den Arm tätowierte Kreuz – ewiges Wahrzeichen seiner Pilgerreise zum Grab Christi – vorgezeigt hatte. »Wir rechnen jeden Moment mit ihnen«, erklärten sie, »nach dem, was sie in Missis angerichtet haben.«

Missis war ein Eintausend-Seelen-Städtchen, halb armenisch, halb türkisch. Der einzige überlebende Armenier war ein Bäcker. Seine Leidensgeschichte, eine Chronik des Grauens, war in aller Munde. Versteckt unter einem Dach hatte er mitangesehen, wie die Häuser der Christen von osmanischen Soldaten überfallen und in Brand gesteckt wurden. Der Lärm des Feuers und der Schreie wurde von der Stimme einer Frau übertönt, die wie eine Wahnsinnige brüllte: »Muselmanen, eilt herbei, um euch am Feuer der Giaours zu wärmen! Das ist das Ende der Ungläubigen!« Es war Sinè Hanoum, die Tochter einer angesehenen Persönlichkeit der Stadt. Sie führte die muslimischen Banden an und befahl, alle Bäckereiöfen anzufeuern und die Christen hineinzuwerfen.

Die Flammen erreichten das Versteck des Bäckers, er musste in die vom Feuer erhellte Nacht hinaus. Sie sahen ihn. Er schaffte es, bis zu einem nahegelegenen Hügel zu flüchten und sich dort in einer tiefen Höhle zu verstecken. Seine Verfolger wagten nicht, dort hineinzudringen. Sie entzündeten Zweige und Gestrüpp vor dem Höhleneingang, um ihn zu ersticken oder zum Herauskommen zu zwingen. Schließlich versperrten sie die Öffnung mit schweren Steinen. »Ich zitterte am ganzen Körper, spürte, dass der Tod nahe war«, erzählte der Bäcker. »Ich verlor das Bewusstsein und muss wohl geschlafen haben. Doch als ich erwachte, bemerkte ich, dass die Steine fort waren. Erst später erfuhr ich, dass einige Zigeuner, die gehört hatten, dass sich ein Giaour dort drinnen versteckt hielt, die Felsbrocken beiseitegeschoben hatten. Sie wagten sich allerdings nicht hinein, es war zu eng und zu dunkel, sie hatten Angst.«

Der Bäcker blieb drei Tage in der Höhle versteckt, dann kam er heraus. Das Massaker war beendet. Sein Städtchen und alles, was ihm auf dieser Welt etwas bedeutet hatte, war zerstört.

2

Nur noch etwa zehn Kilometer, dann würde er endlich Antchurty erreichen. Nur noch wenige Stunden, die längsten der gesamten Reise. Krikor trieb seinen Maulesel an. Aufgewühlt von den Gedanken an die grauenvollen Berichte des Bäckers aus Missis, wollte er so rasch als irgend möglich nach Hause. Das Tier wechselte kurz in den Galopp, um gleich darauf zum Trab überzugehen und dann erneut in seinen gewohnten, gleichmütig dumpfen Schritt zurückzufallen. Krikor musste sich damit abfinden, musste die Qualen bis zum Ende ertragen, bis zur Haustür, wo der älteste Sohn ihm um den Hals fiel und die Ehefrau vor Freude aufschrie, während die Last der Sorgen und Ängste mit einem Schlag von ihm wich und er wie trunken war ob der unsagbaren Erleichterung.

Nachdem auch der letzte Willkommenstrunk geleert war, versuchte er, sein altes Leben wiederaufzunehmen. Vergeblich. Das alte Leben war ein zerbrochener Kelch und die Furcht das tägliche Brot der Armenier. Nach den Massakern jener Tage hatten die Türken als Erkennungszeichen weiße Turbane aufgesetzt und verbündeten sich mit den Soldaten, die der Sultan von Konstantinopel Abdul Hamid gesandt hatte, um die östlichen Regionen des Reichs zu kontrollieren und jegliches Streben der Armenier nach Unabhängigkeit im Keim zu ersticken.

In jenem Jahr nahm die Erde von Antchurty sowohl Saatgut als auch Waffen auf. Unter Brombeersträuchern, am Fuß der Apfelbäume, zwischen den Reihen des wachsenden Getreides: Überall wurde gegraben, um Gewehre und Pistolen zu verstecken. Als sich dem Dorf die schweren Schritte der Soldaten näherten, bekam jede Hand, die ruhig genug zum Schießen zu sein schien, eine Waffe anvertraut. Fenster und Türen der Häuser wurden verriegelt. Das Warten begann. Es wurde Abend, die Nacht brach an. Krikor und seine Frau hatten die Kinder zu Bett gebracht und vor dem Kamin Platz genommen, in dem kein Feuer brannte, um nicht die Neugier der Soldaten zu wecken. Die geöffnete Bibel lag vor ihnen, und einzig die geflüsterten Verse des 1. Buch Mose aus dem Mund der Frau unterbrachen die herrschende Stille.

Stiefelschritte hallten durch Antchurty. Sie hielten nicht inne: Die Kolonne setzte ihren Marsch in Richtung Kaukasus, nach Erzurum, Van, Bitlis und Sivas fort. Das kleine Dorf stand nicht auf der von den Beratern des Sultans abgefassten Liste. »Noch nicht«, sagte Krikor zu seiner Frau und seinen Kindern. »Aber es wird nicht mehr lange dauern. Wir warten auf die Rückkehr meiner Brüder, dann wollen wir über die Zukunft entscheiden.« Die Brüder waren bereits vor etlichen Tagen geschäftlich nach Eriwan abgereist. Dort hatten sie von dem Durchmarsch der Truppen Abdul Hamids erfahren. Rasch hatten sie ihre Geschäfte beendet und sich eiligst auf den Heimweg begeben. Vielleicht waren sie unterwegs auf die Soldaten gestoßen. Vielleicht eine Auseinandersetzung, ein Wort zu viel, eine kleine Provokation. Sie kehrten nicht zurück.

Stattdessen kamen die Soldaten wieder. Zum zweiten Mal verriegelte das kleine Antchurty die Haustüren und wieder saßen Krikor und seine Frau beisammen, um, Psalmen lesend, auf was auch immer zu warten. »Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollt’ ich mich fürchten?«, rezitierte Krikor, als ein dumpfer Lärm von den Feldern hereindrang, der bald darauf ein weiteres und noch ein weiteres Mal zu hören war. Hastig griff die Frau nach dem Arm des Mannes, um ihn daran zu hindern, zur Tür zu stürzen und hinauszutreten, einem unbekannten Schicksal entgegen. Sie drückte ihn an sich, bis der Lärm verstummte und zwischen den Ritzen der geschlossenen Fensterläden das graue Licht eines von Wolken und Bitterkeit erfüllten Tages hereindrang.

Erbarmungslos gab die Morgendämmerung die Katastrophe preis. Eine verwüstete Landschaft, abgehackte Bäume, zerstörte Saaten und verzweifelte Menschen boten sich Krikors Blick. Felder, Mauern, der sorgfältig bestellte Boden – all das existierte nicht mehr. Die Ernte und all die Jahre mühevoller Arbeit waren vernichtet. Krikor kehrte ins Haus zurück. Lange sprach er mit seiner Frau, dann rief er die Arbeiter zu sich. »Wir werden morgen früh aufbrechen«, verkündete er. »Wir haben beschlossen, Antchurty zu verlassen. Wir gehen nach Aleppo. Das ist eine große Stadt mit vielen Armeniern. Wir werden dort arbeiten. Wer mit uns will, ist gern willkommen. Wir brechen bei Morgengrauen auf.«

Niemand kam der Aufforderung nach. Krikor und seine Frau beluden zwei Maulesel mit ihren Habseligkeiten, schlossen die Tür und begaben sich auf den Weg. An der letzten Wegbiegung, bevor Antchurty endgültig aus dem Blickfeld entschwand, hielt Krikor inne, um Abschied von seinem alten Leben zu nehmen. Er nahm ein Stück Brot, teilte es mit seiner Frau und den Kindern und warf den Vögeln die Krumen zu. Ein weiterer arbeitsreicher Tag hatte begonnen.

3

Zwei Wochen dauerte die Reise nach Aleppo. Krikor hatte seine Pilgerfahrt nach Jerusalem noch lebhaft in Erinnerung, seine Frau und die beiden Knaben hatten das kleine Antchurty dagegen nie zuvor verlassen. Zum ersten Mal durchquerten sie die hier und dort von üppig wuchernden grünen Inseln übersäte Steppe; enge, zwischen hellgrauen Naturterrassen aus Kalksteinschotter gelegene Täler lösten nach und nach das zerklüftete, weiche, für Anatolien so typische rötliche Gestein ab. Und all die Menschen in den Khanen: Araber aus der Wüste, hager und feingliedrig, Bauern aus der Ebene des Euphrat und Tscherkessen mit hellen Augen und rosafarbener Haut – alle waren so anders als die Bewohner von Antchurty.

Nach zwei Wochen des Staunens, der Eindrücke und Bilder, lag eines Nachmittags Aleppo zu ihren Füßen. Die klare Luft gab den Blick auf Befestigungsanlagen und Häuser, auf Minarette und den dunklen Streifen des Wassergrabens frei. Die Strahlen der sinkenden Sonne warfen Schatten auf Mauern und Kuppeln und zeichneten die Konturen der Zitadelle gegen den Himmel ab. Eine Pracht aus weißem Gestein, die das Abendlicht rosa färbte. Krikor, seine Frau Turvanda und die Kinder verharrten reglos, um mit den Augen ihre neue Heimat in sich aufzusaugen, während sie aus der Ferne das Gewirr aus Stimmen und Lockrufen der Stadt vernahmen. Dann ließen sie sich auf die Knie nieder und beteten.

Ein alter Mann grüßte sie auf Armenisch, während sie zur Stadtmauer hinabliefen. Krikor erwiderte den Gruß und der Alte bedeutete ihm mit einem Wink näher zu treten. Schweigend hörte er sich Krikors Geschichte an, dann sagte er: »Wir Christen leben in Aleppo in einem Viertel namens Salibe. Im Zentrum befindet sich ein kleiner Platz, umgeben von engen Gassen und überdachten Straßen. Dort haben die Christen ihre Gotteshäuser: die griechisch-katholischen, syrischen, melchitischen, armenischen und chaldäischen Christen. Doch in Sicherheit sind sie dort nicht. Vor vierzig Jahren plünderten Muslime Kirchen und Häuser, verlangten Geld, um sich vom Militärdienst freizukaufen. Zehn Christen wurden ermordet, der griechische und der syrische Patriarch wurden durch Dolchstöße verletzt, sie konnten sich nur retten, weil sie in den Häusern ausländischer Konsuln Zuflucht fanden. Schließlich wurden einige Schuldige verhaftet und in die Zitadelle gesperrt. Ihre Freunde versuchten, sie zu befreien, und wiegelten eine Menschenmenge auf, um die Festung zu stürmen, doch die Soldaten vertrieben sie mit einer Feuersalve.« Auf Turvandas Gesicht legte sich ein Schatten. »Lass uns nicht hierbleiben«, flüsterte sie, »lass uns nach Jerusalem gehen, dort sind wir sicherer.« Krikor antwortete nicht sofort. Schweigend starrte er auf die Zitadelle und auf die bereits in nächtliches Dunkel getauchten Kuppeln. »Sorge dich nicht, du wirst sehen, es geht alles gut, wir werden keine Schwierigkeiten bekommen.«

Sie verabschiedeten sich von dem Alten und setzten ihren Weg fort. Die Stadt war inzwischen nahe gerückt und der Lärm löste sich auf in einzelne Stimmen, Schreie und Rufe. Lange Reihen von Mauleseln kamen ihnen entgegen, Reiter zu Pferd und auf Eseln trabten an ihnen vorbei und die Frauen in den Hauseingängen warfen ihnen neugierige Blicke zu. Mit jedem Schritt wurde die Menge dichter, sie hatten das Gefühl, in einen Wirbel aus Körpern und fremden Worten geraten zu sein, bedrängt von den Rufen der Händler. Der Suk war das Herz dieses Strudels. In den engen, überdachten Straßen drängte sich ein Strom hastender, drängelnder, sprechender und schreiender Menschen. Der jüngste Sohn musste sich an Krikors Ärmel festklammern, um nicht von einem Orangenkarren und den beiden Jungen, die ihn zogen, fortgerissen zu werden. Der größere beobachtete alles ringsum mit vor Staunen aufgerissenen Augen. Begeistert fragte er: »Was ist das für ein Fest? Was ist das für ein Fest?« Krikor fasste ihn bei der Hand und vergewisserte sich mit einem Seitenblick, ob seine Frau noch da war, bevor er in schroffem Ton erwiderte: »Das ist kein Fest. Es ist jeden Tag so. Das ist der Markt.«

Er war müde. Zwei Wochen lang nichts als Behelfsunterkünfte und Entbehrungen, und keine Nacht, in der er sich nicht nach seinem Massivholzbett in Antchurty gesehnt hätte, nach den geliebten, dezent bestickten Leinenlaken, die nach getrocknetem Lavendel und nach den Kräutern dufteten, auf denen die Frauen sie zum Trocknen ausbreiteten. Nun waren sie am Ziel, aber Aleppo hatte nichts Besseres zu bieten. Noch lange Zeit sollte der Khan ihr Zuhause bleiben.

In jener Nacht konnte Krikor nicht einschlafen. Er hörte den Atem seiner Frau und der Kinder und dachte nach. Er knüpfte so lange Gedankenfetzen aneinander, bis sich aus diesem Geflecht eine Idee formte. Er brauchte ein Haus und Arbeit. Und Aleppo brauchte etwas Würdigeres als einen Khan, um Reisende und Pilger zu beherbergen. Krikor würde ein Hotel eröffnen, das erste Hotel der Stadt.

Am folgenden Morgen begab er sich zum Patriarchat und begann, sich nach Beratung, nach Unterstützung und nach passenden Räumlichkeiten umzusehen. Als sich im Suk das Gerücht verbreitete, der gerade aus den Bergen eingetroffene Armenier suche ein Gebäude zum Kauf, gab es keine Hütte oder noch so elende Behausung, die ihm nicht angeboten wurde. Am Ende entschied sich Krikor für ein kleines, schmales und hohes Bauwerk im Herzen des Gewürz-Suks. Die Fenster lagen zur überdachten Straße hin. Am Tage waren die Zimmer von den Schreien der Händler und dem Geruch nach Kreuzkümmel erfüllt, der so durchdringend war, dass man meinen konnte, die Wände seien davon durchdrungen. Aber das Haus befand sich in unmittelbarer Nähe der Zoll-Karawanserei Khan al-Gumruk, die jeder, der nach Aleppo kam, passieren musste: Händler, Reisende und Pilger kamen notgedrungen hier vorbei.

Unter den neugierigen Blicken der Menschen aus dem Suk und der gesamten Stadt leitete Krikor die Arbeiten in die Wege. Kalkgeruch übertönte den Duft der Gewürze, aus großen Sälen entstanden zahlreiche kleinere Räume. Schluss mit den Schlafsälen der Khane, entschied Krikor: Sein Hotel sollte Zimmer bekommen, wie sie Aleppo noch nie gesehen hatte. Jedes mit einer verschließbaren Tür, mit Waschschüssel, Wasserkrug und mit Kerzen. Zum Schluss kam das Schild mit der Aufschrift »Hotel Ararat«. Die Mazloumians stießen mit einem Glas Arak, so klar wie das Eis der Berge, auf die Zukunft des neuen Hotels an. Draußen liefen die Einwohner Aleppos mit staunenden Blicken vorbei. Sie bewunderten das Schild. Aber es war nicht etwa der Ararat – Symbol des fernen Armenien –, der sie stutzen ließ, sondern das Wort »Hotel« – Inbegriff von Komfort und Annehmlichkeiten, wie sie der größte Suk des Nahen Ostens noch nie zuvor gesehen hatte.

4

»Genug, wir wollen europäische Musik«, protestierte jemand, der offenbar ein Glas Champagner zu viel getrunken hatte, vom Ende des Saals her. Die türkische Militärkapelle beendete das melancholische osmanische Stück und stimmte Deutschland, Deutschland über alles an. Im Saal hallte das Klappern von Stiefelabsätzen wider. Die deutschen Offiziere standen stramm. So verharrten sie: kerzengerade, feierlich und ein wenig fehl am Platz in dieser Menge aus Arabern, Armeniern, Türken und weiteren Fremden. Die Hymne – eine Huldigung an das große und gefürchtete Deutschland, das entschlossen war, die Macht Englands und Frankreichs im Nahen Osten zu schwächen – erfüllte den gesamten mit Lampen, Kerzenhaltern und goldbemaltem Stuck geschmückten Saal.

Als der letzte Ton verklungen war und die Trompeten Eine feste Burg anstimmten, gaben die kaiserlichen Offiziere ihre hölzern steife Haltung, zu der sie die Vaterlandsliebe und die Gegenwart all der zum Fest der Mazloumians erschienenen Fremden genötigt hatten, endlich auf.

Es war im November 1911. Man feierte die Eröffnung des größten, modernsten und wohl bekanntesten Hotels in der im nördlichen Syrien gelegenen Metropole: ein mondänes Ereignis ersten Ranges für das damalige Aleppo. Für die Gestaltung des musikalischen Rahmens hatte das türkische Kommando eine Kapelle nach preußischem Vorbild entsandt: Trommeln, Holz- und Blechbläser und dazu Uniformen mit Schnurbesatz von martialischer Pracht.

Etwa 20 Jahre waren seit dem Nachmittag vergangen, an dem Krikor, Turvanda und ihre Kinder niedergekniet waren, um Gott für das neue Leben zu ihren Füßen zu danken. Ein neues Jahrhundert war angebrochen, die Armenier hatten diese Schwelle unter Leiden, Trauer und Verfolgung überschritten. Argwohn, Misstrauen und aufkeimender Rassenhass, der in unverhohlene Grausamkeit und Brutalität münden sollte, waren das gängige Verhalten, das man den Nachkommen eines der ältesten Völker der Welt entgegenbrachte. Gezwungen, ein Leben als Christen unter Muslimen, als Armenier unter Türken zu führen, wurden ihre Aussichten auf Gleichstellung seitens der osmanischen Regierung ebenso enttäuscht wie die feierlichen Schutzversprechen der mit ihren Grabenkämpfen an der Schwelle zur Hohen Pforte anderweitig beschäftigten europäischen Mächte.

Doch Aleppo war anders und die Familie Mazloumian ebenfalls. Krikor hatte recht daran getan, sich zur Auswanderung zu entschließen. Und ebenso, sein Vermögen in ein Hotel zu investieren. Die Geschäfte florierten derart, dass auch die beiden Söhne Onnig und Armen in seine Fußstapfen traten. Sie eröffneten zwei kleine Hotels, jeder auf eigene Faust. 1904 beschlossen sie, sich zusammenzutun, und gründeten mit dem Segen des Vaters das Hotel du Parc, eine Perle an Eleganz und Fortschrittlichkeit, mit der ein erster Schritt zu internationaler Berühmtheit vollzogen war. Vor allem aber bot dieses Hotel eine willkommene Abwechslung für Abenteuerlustige und Reisende. Türkische Paschas und sächsische Fürsten, Gertrude Bell und der Schah von Persien waren zu Gast bei den beiden Brüdern, und niemand betrachtete die Mazloumians länger als Flüchtlinge oder Leute vom Land, die es zu meiden galt. Zum Zeichen des Respekts sprach man sie mit Baron an, was auf Armenisch so viel wie »Herr« bedeutet.

Einige Jahre später begann in den Augen der beidenBarone von Aleppo auch diese neue Perle ihren Glanz zu verlieren. In jener Zeit wurde die Idee eines großen, komplett neuen und modernen Hotels, wie es die Stadt noch nie gesehen hatte, geboren. Ab 1908 hatten Onnig und Armen für nichts anderes mehr Zeit und Geld als für dieses Projekt. Etwas außerhalb von Aleppo, in der Nähe des Bahnhofs, hatten sie Land erworben. Sie ließen – eigens aus Paris! – den armenischen Modearchitekten der französischen Belle Époque, Kaspar Nafilyan, kommen und arbeiteten gemeinsam mit ihm die Entwürfe aus. Aus dem avantgardistischen Ägypten kam der Zement, ein für Aleppo höchst ungewöhnliches Material. In dieser orientalischen Stadt war man gewohnt, mit dem weißen Gestein aus dem nahen Gebirge zu bauen. Ebenfalls aus Ägypten stammten die Keramikfliesen, die Maurer und Zimmerleute. Aleppo seinerseits steuerte Neugierde bei. Geschwätz und Staunen waren die täglichen Begleiter der Arbeiten. In den Cafés und den großen Suks wurde das Hotel zum Pflichtthema eines jeden Gesprächs, so wie man sich über das Wetter oder Politik unterhielt. Und bereits damals war es das Hotel Baron, das Hotel der Barone.

Endlich brach der große Tag der Eröffnung an, das weltliche Ereignis des Jahres: eine schwere Niederlage für das Ansehen derer, die nicht geladen waren. Nach Sonnenuntergang setzte sich ein Zug aus Kutschen in Bewegung. Alle waren dabei: die Deutschen, denen die Fertigstellung der Bagdadbahn oblag, jener Eisenbahnstrecke, mit der die Expansionspläne der Junker bis zum Persischen Golf ausgedehnt wurden. Da waren der Wali von Aleppo, die Offiziere der Jungtürken, die ausländischen Konsuln und die Brüder der Kustodie des Heiligen Landes, an deren Schule Onnig und Armen Französisch und Italienisch gelernt hatten. Und dann all die ausländischen Familien, die seit Jahrhunderten in Aleppo lebten und für immer aus dem Handel mit den ihnen inzwischen fremd gewordenen Herkunftsländern ausgeschlossen blieben: die Marcopolis, Gerardis, Draghis und Levantis und ihre griechischen, französischen oder englischen Pendants.

Das neue Hotel erhob sich einige Hundert Meter entfernt von der Stadtmauer und dem Suk einsam inmitten einer unbewohnten Gegend, ganz in der Nähe des Flussufers. Wie nicht anders zu erwarten, überkam die edelsteingeschmückten Damen ein Schaudern, als sie diesen verlassenen Landstrich mit der Kutsche durchquerten, und sie wurden nicht müde, immer wieder die längst bekannte Leier anzustimmen: »Die Mazloumians sind wirklich verrückt, an so einem Ort zu bauen! Wer wird schon hier draußen, der Willkür von Banditen ausgeliefert, nach einer Unterkunft suchen.«

Am Eingangstor kam es zur nächsten Überraschung und zu Kritik. Der für Aleppo so ungewöhnliche graue Zement verlieh dem massiven Gebäude eine düstere Aura. »Das entspricht nicht dem Stil unserer Stadt«, kommentierten die Honoratioren. Vor allem den Türken entging nicht, dass das Schild über dem Eingangstor mit der Aufschrift Hotel Baron auf Arabisch, Armenisch und Englisch, nicht jedoch in ihrer Sprache gedruckt war. Und ihre pomadisierten Schnurrbärte verzogen sich zu einer missbilligenden Grimasse.

Doch diese verwandelte sich sogleich in ein Lächeln: Im Eingangstor standen Baron Armen und Baron Onnig, beide schmal und zum Zeichen erlangter Reife mit gestutzten Oberlippenbärten, um jeden mit ausgestreckter Hand zu empfangen. Abwechselnd führten sie die Gäste durch die weitläufige, mit der wohl eindrucksvollsten Freitreppe der Stadt versehene Vorhalle bis in den Festsaal, um gleich darauf zum Eingang zurückzukehren.

Dutzende Petroleumlampen und hundertarmige Kerzenleuchter tauchten den Saal in taghelles Licht. Auf den Blechblasinstrumenten der türkischen Kapelle im Hintergrund reflektierten funkelnde Lichtschimmer. An der Wand gegenüber bog sich eine gigantische Tafel unter der Last von Tabletts, Tellern, Speisen und Champagner. Alles stand derart dichtgedrängt, dass selbst die Türken die auf das schneeweiße Tischtuch gestickten armenischen Monogramme nicht bemerkten. Hier und dort hielten, zu kleinen Grüppchen versammelt, die internationalen Akteure Konversation. Engländer, Franzosen, Araber und Deutsche diskutierten lebhaft das Thema des Tages: die neue Eisenbahnlinie und ihre militärische Nutzung. Seit Kurzem reichte sie bis nach Aleppo und würde das Leben und die Perspektiven dieser zweitwichtigsten Stadt des Reiches verändern.

Stolze Protagonisten des ganzen Unterfangens waren die Deutschen mit ihren Ingenieuren und Offizieren. Hellhäutig und mit kurzgeschorenem Blondhaar, die Mützen unterm Arm und die Handschuhe in der Hand, erläuterten sie allen Interessierten die Wunder der zukünftigen Eisenbahn und deren strategische Vorteile, um im Wettlauf um Mesopotamien den Zaren und die britische Krone zu schlagen. »Wir werden nach Bagdad gelangen, so wie man zwei Punkte durch eine Linie verbindet«, erklärten sie, »während die englische Flotte einen ganzen Kontinent umschiffen muss, um dasselbe Ziel zu erreichen.«

Genau in diesem Augenblick geschah es, dass ein türkischer Offizier, der ein Glas Champagner zu viel getrunken hatte, wie bereits erwähnt, nach europäischer Musik verlangte. Die Wahl von Deutschland, Deutschland über alles war keine Glanzleistung der Diplomatie. Um das verärgerte Murren aus der französisch-britischen Ecke zu beschwichtigen, hob jemand eilig sein Glas und rief in entschiedenem Ton: »Meine Herrschaften, stoßen wir auf das Hotel Baron an!« Ein vielstimmiger Chor aus Glückwunschbekundungen erfüllte den Saal. Die gefüllten erhobenen Gläser schillerten im Licht der Kerzenleuchter, der drohende Eklat war abgewendet. »Lasst uns auch auf unsere Stadt anstoßen!«, schlug jemand anderes vor. Während sich die Gläser erneut hoben, sank auf dem spiegelblanken Holzparkett eine helle Gestalt in sich zusammen.

Es war Armens Frau Ieranik. Neun Jahre zuvor hatte sie ihrem Mann einen Sohn, Antranik, geschenkt. Danach war ein Mädchen zur Welt gekommen. Nun war sie seit dem Frühjahr erneut schwanger und ihre Zeit war fast gekommen. Doch an diesem Abend hatte sie hartnäckig jeden Rat, sich zu schonen und sich bloß nicht anzustrengen, zurückgewiesen: »Ich bin nicht krank, sondern erwarte ein Kind.« Sie hatte sich mit der für das große Fest gebotenen Eleganz gekleidet. »Sie ist ohnmächtig. Riechsalz, gebt ihr Riechsalz«, schrien die Damen. »Ein Arzt muss her, schnell ein Arzt«, rief ein anderer. Der Arzt, ein alter Freund der Familie namens Asadur Altunian, war bereits zur Stelle.

Auch er war armenischer Herkunft, und nach Aleppo hatte es ihn etwa zu derselben Zeit verschlagen, als die Mazloumians von Antchurty hierher geflüchtet waren. Mit seinem frisch in den Vereinigten Staaten erworbenen Medizindiplom hatte er ein Krankenhaus eröffnet, das innerhalb kurzer Zeit das bedeutendste der gesamten Region geworden war. Sein Ruf reichte von Istanbul bis in die südlichen Regionen des Reiches. »Die ruhigste Hand des Nahen Ostens« nannte man ihn. Wenn er es ablehnte, einen Patienten zu behandeln, war allen klar, was das hieß. »Altunian hat ihm die Ausreisepapiere ausgestellt«, kommentierten sie. Und alle wussten: Für diesen Menschen bestand keine Hoffnung mehr.

Klein, mit gestärkten Manschetten und wie stets steifem, schneeweißem Kragen bahnte sich der Arzt mit sicherem Schritt seinen Weg durch die Menge. Er bat um Abstand und kniete nieder, um den Puls der Frau zu fühlen, dann befahl er zwei Kellnern, sie vorsichtig aufzuheben und in einen anderen Raum, weitab vom Getümmel, zu bringen. Er beruhigte Armen: »Es ist nichts weiter, wirklich nicht, geh und kümmere dich um deine Gäste, es reicht, wenn ich bei ihr bleibe.« Etliche Zeit später kehrte Doktor Altunian in den Festsaal zurück. Bei seinem Eintreten verstummten die Klänge eines schnellen Walzers mit einem Schlag. Die Paare lösten sich voneinander und die Musiker verharrten auf dem letzten Ton. »Spielt nur weiter, spielt!«, rief Altunian. »Die Herrin hatte einen vorübergehenden Schwächeanfall, sie ist zuhause und es geht ihr gut. Sie lässt um Verzeihung bitten für den Zwischenfall und dafür, dass sie sich nicht verabschieden kann, doch ich habe ihr geraten, sich weiterhin zu schonen. Die heutige Anstrengung war einfach zu viel.« Man begann erneut zu tanzen. Auf den Walzer folgte eine Polka und dann eine Quadrille, die Stimmung steigerte sich zusehends. Das Fest dauerte bis spät in die Nacht. Als auch der letzte Gast zu seiner Kutsche geführt war, überließ Armen das Löschen der Lichter seinem Bruder und eilte nach Hause. Er trat in das Zimmer seiner Frau und fand sie schlafend. Doktor Altunian hatte ihm versichert, es wäre nichts Ernstes und nach einer durchschlafenen Nacht sei alles wieder in Ordnung. Er näherte die Kerze dem Gesicht der Frau und streichelte sanft ihre Wange. Sie öffnete die Augen, erkannte ihn und stützte sich auf einen Ellenbogen: »Wenn es ein Junge wird, wollen wir ihn Krikor nennen, wie deinen Vater«, sagte sie entschlossen.

5

Es wurde tatsächlich ein Junge. Er kam am Nachmittag des 8. November, an einem Mittwoch, und mit ihm kam die Kälte eines frühzeitigen Winters. Die Mazloumians hatten das Hotel du Parc verlassen und wohnten inzwischen in dem großen, strengen Gebäude, dem Schmuckstück der Familie. An jenem Nachmittag, während der anhaltende Regen dem dunklen Gemäuer des Barons einen düsteren Glanz verlieh, reichte Ieranik in dem Zimmer im Erdgeschoss im schwachen Licht der Kerzen erst dem Ehemann und anschließend dem alten Krikor ein wimmerndes Bündel aus weißem Leinen und Spitze. »Er wird Euren Namen tragen, Vater«, sagte sie stolz, »Eure Klugheit und Euren Mut.«

Schon durchpflügten die ersten Kutschräder die schlammige Straße. In Windeseile hatte sich die Nachricht in der Stadt verbreitet: Freunde und Bekannte trotzten dem schlechten Wetter, um Baron Krikor zur Geburt seines dritten Enkels und Baron Armen zum dritten Kind zu gratulieren.

Aus den Fenstern des Barons schimmerte bis tief in die Nacht Licht hinaus in die regenerfüllte Dunkelheit. Im Salon drängten sich Freunde mit erhobenen Gläsern, Trinksprüche, Champagner, armenische Gesänge und Familiengeschichten mengten sich zu einem stetigen Crescendo. »Seine Geburt ist ein Fest, also wird auch sein Leben ein Fest«, prophezeite der alte Pater Magardich, während der Gegenstand und Urheber all dieser Aufregung in einem der Nachbarzimmer, geborgen durch die wärmende Nähe zur Mutter, sein erstes Schläfchen hielt. Als die Lichter im Saal erloschen, holte Krikor die Familienbibel hervor. Erneut las er die wenigen Zeilen, die er vor vier Jahren notiert hatte. Sie galten seiner Ehefrau Turvanda, ihrem Aufbruch nach Jerusalem: »Möge der Herr sie auf ihrem Weg begleiten und ihr die Rückkehr gewähren.« Auf einer leicht vergilbten Seite hielt er die Erinnerung an das neue Ereignis fest: »Mein Sohn Armen hat um vier Uhr nachmittags einen Sohn bekommen.« Drei Wochen später ergänzte er: »Wir haben ihn getauft und ihm den Namen Krikor gegeben.«

Oder Koko, wie alle ihn von Anfang an nannten.

Es war ein kalter, regnerischer Herbst und ein denkwürdiger Winter. Nach Weihnachten verwandelte sich der Regen in Schnee. Es schneite vierzig Tage lang hintereinander. Aleppo fiel in eine Art Winterschlaf. Im Suk, in den überdachten Gassen, herrschte noch ein kleiner Rest Leben, außerhalb davon dagegen nicht. Sich auf die schnee- und eisbedeckten Straßen zu wagen war riskant, barg Gefahren für Mensch und Tier. Ein Fehler, sich dem grauen Tageslicht anzuvertrauen, das unmerklich schwand, bis die von schwachem Schimmer erhellte Nacht sich über alles senkte. Der alte Krikor ging hin und wieder in den Garten, um einen Blick auf die Bäume zu werfen und sicherzugehen, dass die jungen Zweige nicht unter den Schneemassen brachen und die mit Stroh umwickelten Olivenbäume vor dem Frost geschützt waren. Bald schon kam der Frühling und Garten und Gemüsebeete nahmen ihn ganz in Anspruch. Er nahm auch Koko mit. Frische Luft und Sonne sollten nicht gut für kleine Kinder sein? Er bettete ihn in einen großen Korb, wählte den wärmsten und geschütztesten Platz und begann ein einseitiges Gespräch mit diesem Korb, während seine Hände mit Tomaten, Auberginen, Kräutern und Salatreihen beschäftigt waren. Als Koko seine ersten wackligen Schritte machen konnte und anfing zu verstehen, drückte er ihm eine kleine Schaufel in die Hand. »Weißt du, dass es hier Gold gibt?«, sagte er. »Du musst graben, ganz lange graben, um es zu finden.« Dann saßen sie nebeneinander, um sich auszuruhen. Krikor zog zwei in eine bestickte Serviette gewickelte Stücke Biskuitkuchen aus der Tasche: das dickere für Koko, das kleinere für sich und die Krumen für die Vögel. Im Sommer, wenn sie im Schatten des Pistazienbaumes saßen, oder im Winter auf den sonnenbeschienenen Stufen, ging Krikor mit Koko auf Reisen, hinaus aus Aleppo in jenes Armenien, das nur noch im kollektiven Gedächtnis und in den Träumen seiner Söhne lebendig war. Krikor erzählte oder las vor und Koko lauschte. Mit der Dämmerung kehrten sie ins Hotel zurück, kurz bevor der Gong ertönte. Ein erster Schlag, ein zweiter und schließlich der letzte, endgültige. Hotelgäste und Eigentümer aßen gemeinsam in dem großen Saal zu Mittag und zu Abend. Die Gespräche der Gäste gingen kreuz und quer über die Tische hinweg. Es waren Ingenieure der Bagdadbahn, Abenteurer, die im Dienst der großen Mächte auf Jagd nach Informationen waren, Archäologen auf den Spuren der unzähligen, von Sand und Zeit verschütteten Kulturen im Norden Syriens. Koko lauschte fasziniert den Berichten dieser Erbauer ganzer Imperien und Entdecker versunkener Welten, die von Hethitern und Kreuzfahrern, von Assyrern, Franken und von den Untertanen des Kaisers oder seiner Majestät, König Georg V., bevölkert wurden.

Einige, wie etwa Max, Freiherr von Oppenheim, entsprachen all diesen Rollen, vielleicht gar noch weiteren. Er war in die Gegend von Aleppo gekommen, um den Bau der sich immer weiter nach Süden erstreckenden Bahntrasse zu verfolgen. Dann hatten die Geheimnisse eines verdorrten Hügels – Tell Halaf – seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Dort drunter, so schwor er, ruhe ungestört und seit Jahrhunderten Gozan, die antike aramäische Hauptstadt. Irrsinn!, antwortete man ihm, aber der Freiherr war von hartnäckigem Schlag. Ein Entlassungsschreiben gewährte ihm die nötige Freiheit für die Suche seines Lebens. 1911 kam er erneut nach Aleppo. Als Archäologe und ganz darauf erpicht, sich nicht die geringste Information entgehen zu lassen, die dem für die Expansionspolitik seines Kaisers so wichtigen »Vorstoß nach Osten« dienlich sein könnte, stieg er im Hotel Baron ab, wo er zwischen einer Grabungskampagne und der nächsten zum Stammgast wurde. Koko begriff schnell, dass man dieser gepflegten, faszinierenden Erscheinung nicht allzu nahe kommen durfte. Denn der Freiherr trennte sich nie von einem dicken Spazierstock, und er hatte die schlechte Angewohnheit, diesen beim Nachdenken zerstreut hin und her zu schwenken, ohne darauf zu achten, ob jemand in der Nähe war. Will man den Gerüchten Glauben schenken, die fast ein Jahrhundert später noch immer in Aleppo grassieren, so lernten auch die Damen rasch, einen gewissen Abstand zwischen sich und dem Archäologen zu wahren: Seine Hände waren ebenso zerstreut und gefährlich wie sein Spazierstock. Selbst ein gebrochenes Bein hatte ihn nicht harmloser werden lassen, wie die Krankenschwestern der Klinik erleben mussten. Er war ein großartiger Redner, der das R rollte und das G in die Länge zog wie ein echter Pariser und der ganze Tischgesellschaften mit Berichten über »seine« assyrische Hauptstadt in den Bann schlug. Er entführte sie in das Labyrinth des großen, auf dem Hügel gelegenen Palastes, ließ sie vor riesigen, in die Tempelmauern gemeißelten Sphinxen und Löwen niederknien. Gleichsam vertraulich, als lüfte er neueste Geheimnisse, erzählte er von den bewegten Schicksalen der seit Jahrtausenden unter Staub begrabenen Könige und Regierungsbeamten. Koko lauschte selbstvergessen, fasziniert.