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Leor Zmigrod gilt mit nur 29 Jahren als Begründerin eines neuen Wissenschaftsfelds: der politischen Neurobiologie. Darin erforscht sie den Zusammenhang zwischen politischen Einstellungen und der Biologie unseres Gehirns. Sie zeigt, dass unsere Überzeugungen nicht als flüchtige Gedanken losgelöst von unseren Körpern existieren. Vielmehr verändern Ideologien unser Gehirn. Und zur gleichen Zeit macht eine bestimmte neurobiologische Veranlagung empfänglich für gewisse Glaubenssätze. Weshalb sie mit einem einfachen Kartensortier-Experiment beispielsweise in der Lage ist, erschreckend akkurat auf die Weltsicht ihrer Probanden zu schließen. In zahlreichen weiteren Experimenten beweist sie den Konnex zwischen extremen politischen Positionen und unserem Gehirn und revolutioniert damit unsere Vorstellungen von Radikalisierung, Extremismus, demokratischer Meinungsbildung.
Das ideologische Gehirn leistet unverzichtbare Aufklärung in Zeiten maximaler Polarisierung. Die Wissenschaftlerin und Pionierin der politischen Neurobiologie Leor Zmigrod etabliert ein neues Verständnis davon, wie unsere Überzeugungen entstehen und was wirklich helfen kann, im Kampf gegen das, was unsere Demokratie grundlegend gefährdet.
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Seitenzahl: 370
Veröffentlichungsjahr: 2025
Leor Zmigrod
Das ideologische Gehirn
Wie politische Überzeugungen wirklich entstehen
Aus dem Englischen von Matthias Strobel
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5485.
Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025© Leor Zmigrod, 2025
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Umschlaggestaltung: Brian Barth, Berlin
eISBN 978-3-518-78247-7
www.suhrkamp.de
In Liebe für meine Familie
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Prolog Aktionspotenzial
Teil 1 Icons
1 Ideologischer Besitz
2 Ein Experiment
3 Glauben in Metaphern
Teil 2 Geist und Mythos
4 Die Geburt der Ideologie
5 Das Zeitalter der Illusionen
6 Ein Gehirn sein
7 Ideologisches Denken
Teil 3 Ursprünge
8 Ein Henne-und-Ei-Problem
9 Junge Autoritäre
10 Gedankenwäsche eines Babys
11 Das rigide Bewusstsein
12 Das Dogmatismus-Gen
Teil 4 Konsequenzen
13 Darwins Geheimnis
14 Polioptische Illusionen
15 Gefühl in den Fingerspitzen
16 Eine Ideologie legt sich unter den Gehirnscanner
Teil 5 Freiheit
17 Hinein- und herausdrehen
18 Die Bedeutung von Nestwärme
19 Anders
Epilog Vom Skript abweichen
Danksagungen
Anmerkungen
1 Ideologischer Besitz
2 Ein Experiment
3 Glauben in Metaphern
4 Die Geburt der Ideologie
5 Das Zeitalter der Illusionen
6 Ein Gehirn sein
7 Ideologisches Denken
8 Ein Henne-und-Ei-Problem
9 Junge Autoritäre
10 Gedankenwäsche eines Babys
11 Das rigide Bewusstsein
12 Das Dogmatismus-Gen
13 Darwins Geheimnis
14 Polioptische Illusionen
15 Gefühl in den Fingerspitzen
16 Eine Ideologie legt sich unter den Gehirnscanner
17 Hinein- und herausdrehen
18 Die Bedeutung von Nestwärme
19 Anders
Epilog Vom Skript abweichen
Informationen zum Buch
Alle deine, unsere, eure1
Tagesgeschäfte, Nachtgeschäfte
sind politisch.
Ob du es willst oder nicht,
die Vergangenheit deiner Gene ist politisch,
die Haut hat politischen Schimmer,
die Augen politischen Aspekt.
Wovon du sprichst, hat Resonanz,
wovon du schweigst, ist beredt,
so oder anders politisch.
Wisława Szymborska, »Kinder der Zeit«
Prolog
Wir müssen nur überzeugt sein. Überzeugungen geben uns Gewissheit oder zumindest den Anschein von Gewissheit, wenn wir eigentlich unsicher sind. Überzeugungen verraten, wofür wir brennen – oder bieten uns etwas, für das wir brennen können. Überzeugungen verbinden Menschen in einer geteilten Absicht, schweißen fremde Menschen zu einer Gemeinschaft zusammen. Wie schön! Wenn all diese Überzeugungen zu einer Weltanschauung verschmelzen, die einigermaßen kohärent ist, können wir jubelnd erklären, dass wir es mit einer Ideologie zu tun haben: eine Ansammlung von Wahrheiten und moralischen Prinzipien, nach denen wir uns richten und die wir mit anderen teilen. Es ist so einfach!
Wir brauchen Überzeugungen. Ob unsere ideologische Mission alt oder neu ist, religiös oder säkular, konservativ oder reaktionär, digital oder persönlich kommuniziert: Sie helfen uns, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, zwischen gut und böse, zwischen ethisch begründet und dumm oder egoistisch. Unter der weisen Führung einer Autorität erschaffen wir den Himmel auf Erden und entwerfen Strategien, um drohende Desaster und moralische Katastrophen zu verhindern. Wir scharen uns um Symbole, folgen einer neuen Mode, fügen uns in eine neue Familie ein, nehmen an faszinierend dunklen Ritualen teil, spüren das ekstatische Eintauchen in ein Kollektiv, das uns mit offenen Armen empfängt. Unser Gehirn – unser Gehirn ist entzückt von unserer neuen ideologischen Heimat.
Was soll daran falsch sein?
*
Ich saß in einem abgedunkelten Labor, einem kleinen Raum mit schwarzen Wänden. Normalerweise wurde das Labor von Schlafforscherinnen benutzt, die die Gehirnaktivitäten ihrer Studienteilnehmer messen, wenn sie in den Schlaf gleiten. Mich hingegen interessierte das genaue Gegenteil von Schlaf: Ich wollte die neuronale Signatur der Wahl entdecken, des freien Willens. Einen ganzen Sommer lang verkabelte ich den Schädel von Studienteilnehmerinnen und beobachtete den Tanz ihrer Gehirnwellen auf dem Monitor, unruhige Linien, die anstiegen und absackten und dabei unsichtbare Prozesse sichtbar machten. Bei diesen Experimenten erforschte ich, was in einem Gehirn vor sich geht, das Befehlen gehorcht, im Vergleich zu einem Gehirn, das eine freie, spontane Entscheidung trifft. Mit Hilfe der Neurowissenschaft fand ich heraus, dass Akte des Gehorsams neuronale Muster erzeugen, die sich von Akten des freien Willens markant unterscheiden.
Damals war ich Studentin der Psychologie an der University of Cambridge und interessierte mich für sensorische Wahrnehmung und die Neurowissenschaft des freien Willens. Ich erkannte, dass die Neurowissenschaft das Potenzial hatte, grundlegende Fragen des menschlichen Bewusstseins zu beantworten – wie fühlt es sich an, wenn man sich einer Empfindung bewusst ist oder nicht, wie entstehen unbewusste Eindrücke –, also meldete ich mich freiwillig, um an Wochenenden und Feiertagen bei den Forschungsprojekten meines Professors zu assistieren.
Ich verbrachte die sonnigen Sommernachmittage in einem kleinen, fensterlosen Raum, klebte Sensoren mit einer gallertartigen Substanz auf die Haut, befestigte ein Netz aus metallischen Scheiben und Kabeln auf den Köpfen der Teilnehmer. Abends wertete ich die Ergebnisse aus, zoomte mich an die kleinste Einheit der Neurowissenschaft heran: das Aktionspotenzial, das jeder Bewegung, ob freiwillig oder erzwungen, vorausgeht. Hinter den leuchtenden Pixeln neuronaler Impulse suchte ich nach den unbewussten Markern der menschlichen Willensfreiheit.
Aber es war das Jahr 2015, und draußen in der Welt hatte eine neue Form von Fundamentalismus Gestalt angenommen. Als ich hörte, dass junge britische Frauen nach Syrien aufbrachen, um sich dem IS anzuschließen, stellte sich mir die Frage: Warum fühlten sich speziell diese jungen Frauen vom Extremismus angezogen? Viele Kommentatoren verwiesen auf demografische Faktoren und die Gefahren des Internets: die Naivität der Jugend, die illiberale Erziehung, den Mangel an Bildung, die finanziell prekären Umstände. Doch diese Erklärungen schienen allesamt ungenügend. Viele Menschen müssen mit schwierigen sozioökonomischen Bedingungen und neuartigen technologischen Risiken umgehen. Demografie ist kein Schicksal. Wieso also zogen speziell diese Frauen in einen ideologischen Krieg, der sie zu Heimatlosen machte und ihrer Freiheit ein Ende setzte? Warum sie und nicht andere? Vielleicht ergaben Demografie und Küchenpsychologie kein vollständiges Bild, vielleicht war da noch etwas anderes, das diese jungen Menschen verführbar machte, etwas an ihrem Gehirn?
Ich fragte mich, ob ich kognitive und neurowissenschaftliche Methoden so miteinander verbinden konnte, dass sie auf Politik anwendbar waren, auf das Thema Ideologie. War die Neigung zu extremistischen Ansichten auf Eigenarten in der Kognition und Biologie zurückzuführen? Veränderte sich das menschliche Bewusstsein grundlegend, wenn es einer dogmatischen Ideologie anhing?
Ich nahm meine Experimente in den turbulenten Monaten des Brexit-Referendums und kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen 2016 auf und gehörte zu der ersten Welle von Wissenschaftlern, die kognitive und neurowissenschaftliche Methoden anwandten, um die Ursprünge und Auswirkungen von ideologischem Denken zu erforschen. Dafür rekrutierte ich Teilnehmer aus allen gesellschaftlichen Schichten und mit allen möglichen politischen Ansichten von traditionell bis ultraprogressiv: von radikalen Aktivistinnen, die für rechte Plattformen schrieben, über deutsche Jugendliche aus Berlin bis zu Rentnern in abgelegenen britischen Ortschaften. Ich nutzte neue Methoden, bei denen Tausende von Teilnehmerinnen die Experimente bequem zu Hause durchführen konnten, und arbeitete weltweit mit Kollegen zusammen, um in Uni-Laboren Gehirn-Scans und genetische Samples zu sammeln.
Ich war mit meinem Ansatz, Methoden der Kognitionswissenschaften und Gehirn-Scans zur Erforschung von Ideologie zu kombinieren, ein ziemlicher Paradiesvogel. Nur eine Handvoll Forscherteams weltweit hatte überhaupt ein Interesse daran, Biologie und Politikwissenschaften zusammenzuführen. Es war eine hochriskante Strategie, die aber auch eine hohe Belohnung versprach. Und sie zahlte sich aus.
Mit modernen wissenschaftlichen Techniken sind wir inzwischen in der Lage, näher bestimmen zu können, wie tief ideologische Systeme sich in der Architektur des menschlichen Gehirns festsetzen, wie tief Indoktrination in Körper und Geist eindringen können. Wir fanden heraus, dass ein ideologisch geschultes Gehirn ein lohnender Forschungsgegenstand ist. Eine detaillierte Studie konnte zeigen, was Ideologien in unserem Körper anrichten und wie rigide Moralvorstellungen bis in die hintersten Winkel des menschlichen Bewusstseins vordringen können. Sie bot auch neue Erkenntnisse darüber, wer zu Extremismus neigt und warum manche Gehirne besonders anfällig sind, während andere sich als flexibel und resilient erweisen.
Die britischen Jugendlichen, die sich zu Hause, bei Freunden und auf ihren Smartphones radikalisierten, waren außergewöhnliche Beispiele für gewöhnliche Prozesse, Prozesse, für die jedes Gehirn empfänglich ist, aber manche Gehirne mehr als andere. Wie sehr wir gefährdet sind, hängt von unseren Zellen, unseren Körpern und unseren persönlichen Narrativen ab.
Ein dogmatisches Umfeld erzeugt Gewohnheiten und Zwänge, die von außen betrachtet passiv und automatisiert zu sein scheinen – geradezu gedankenlos –, doch wenn wir das ideologische Gehirn näher untersuchen, sehen wir, dass im Inneren komplexe und dynamische Prozesse ablaufen. Neuronen feuern synchron und aktivieren Aktionspotenziale. Ideologische Überzeugungen entstehen in unseren Körpern, und auch die Auswirkungen dieser ideologischen Überzeugungen können in unseren Körpern sichtbar gemacht werden.
Dieses Buch verknüpft Neurowissenschaft, Politik und Philosophie, um besser zu verstehen, was es heißt, als Mensch in einem Meer von Dogmen zu treiben und sich im Sturm der Orthodoxien über Wasser zu halten. Anwendbar ist dieser Ansatz auf alle möglichen Ideologien – nationalistische Bewegungen, religiöse Ideologien, rassistische Weltanschauungen, verschwörungstheoretische Kulte, »rechtsextreme« und »linksextreme« Ideologien.
Auch wenn wir uns mit der Wissenschaft der Überzeugungen und den Ergebnissen von Laborexperimenten beschäftigen, ist die Kritik an Ideologien keine reine Theorie. Sie hat auch praktische Implikationen. In Betracht ziehen muss sie auch die Gefühle von Menschen, ihre Liebe für Tradition und Geschichte, für Gruppen und Kollektive, für den Glauben und für die Menschen, die ihnen in den Sinn kommen, wenn sie das Wort »Ideologie« hören. Sehr viele Arten von Liebe stehen auf dem Spiel. Der Einsatz ist unermesslich hoch.
Dieses Buch verfolgt einen neuen und radikalen wissenschaftlichen Ansatz, der darauf abzielt, unsere Ideologien und die Gefahren ihrer rigiden Auswüchse zu überdenken. Es zeigt, dass politische Haltung kein Oberflächenphänomen ist, sondern uns bis in unsere Zellen hinein prägen kann. Wir werden in das ideologische Gehirn hineinzoomen mit dem Mikroskop einer Wissenschaftlerin, der Sorge einer Philosophin, der Hoffnung einer Humanistin und der Empathie und Fantasie einer engagierten Bürgerin, und wir hoffen, dass wir durch die Gegenüberstellung von Offenheit und Hass, Neuerung und Tradition, Evidenz und aufgezwungenem Schicksal herausarbeiten können, wie ein freies, authentisches und tolerantes Gehirn aussieht.
Teil 1
Wir sprechen davon, dass Menschen eine Ideologie »haben«, als wäre es ein Koffer oder eine Banane. Wie einen Gegenstand, den wir halten, pflegen oder wegwerfen können, stellen wir uns Ideologien als etwas vor, das uns äußerlich ist. Manchmal tauschen wir eine alte Ideologie gegen eine neuere, schillerndere aus. Und manchmal sind wir Evangelisten, die den Ungläubigen unsere Ideologie aufzwingen wollen. Hier, nimm!
Wir tauschen und handeln mit diesen ideologischen Besitztümern, prahlen mit dem Wert unserer neuesten Anschaffungen. Aber vielleicht liegen wir falsch, wenn wir denken, Ideologien seien Waren, die wir in der Hand halten können, Gepäck, das wir tragen können, also etwas, das irgendwie außerhalb von uns existiert.
Wir besitzen Überzeugungen, ja, aber wir können auch von ihnen besessen sein. Mit präzisen Messwerkzeugen können wir heute die Folgen ideologischer Rigidität sichtbar machen bis hinein in die menschliche Wahrnehmung, Kognition, Physiologie und sogar neuronale Prozesse. Unsere Körper sind nicht immun gegen die Ideologien um uns herum: Was wir glauben, spiegelt sich wider in unserer Biologie.
Im Gegensatz zu Abdrücken im Sand sind ideologische Prägungen nur schwer zu beseitigen. Die neueste Forschung zeigt, dass das menschliche Gehirn ideologische Überzeugungen geradezu aufsaugt. Schließlich ist unser Gehirn ein fantastisches Organ, das spielerisch von seiner Umwelt lernt. Und gefährlich schnell. Wenn wir also eintauchen in ein dogmatisches System, absorbiert unser Körper bereitwillig dessen Rigiditäten. Das ständige Reproduzieren von Regel und Ritualen wirkt sich lähmend auf unseren Geist aus. Jede Wiederholung und jede mechanische Ausführung stärkt die dafür verantwortlichen Nervenbahnen, während geistige Alternativen – die origineller sind, aber nicht so häufig einstudiert werden – tendenziell verkümmern. Viele von uns wissen intuitiv, dass Ideologien unser Verhalten und unsere moralischen Affinitäten steuern, aber nur wenigen ist bewusst, dass das Reproduzieren von ideologischen Regeln und Ritualen sich bis hinein in unsere Zellen auswirkt.
Eine rigide und autoritäre Umwelt ist nicht nur ein soziales und politisches Problem. Es ist auch ein persönliches Problem für jeden Einzelnen. Ideologien können unsere geistige Gesundheit und unsere Fähigkeit zu Authentizität angreifen. Unsere Körper verinnerlichen ideologische Überzeugungen auf eine beunruhigende Weise. Solange wir nicht verstehen, was Ideologien sind und was sie in uns anrichten, wird Extremismus in unterschiedlichsten Formen entstehen, mutieren und ungehindert unsere offenen und toleranten Gesellschaften zersetzen. Und solange wir nicht zeigen, wie das Gehirn sich unter dem Druck von ideologischen Doktrinen verwandelt, werden wir nie wirklich frei sein.
Ideologien werden uns als zeitlos und beständig verkauft, dabei sind sie in Wahrheit höchst fluid und veränderlich. Die Ideencluster verändern sich permanent und treten in jeder Generation in neuen Gewändern auf. Ideologische Weltanschauungen können die Seite wechseln und ihre politischen Präferenzen ändern. Konservative Parteien setzen sich für radikale Reformen ein, während fortschrittliche Parteien Innovationen behindern. Waffen werden erhoben im Namen des Lebens. Friedensbotschaften werden benutzt, um regressive Gewalt zu verschleiern. Terrorismus kann den Freiheitskampf kapern, und die Forderung nach Freiheit kann terroristische Züge annehmen.
Ideologische Kämpfe ähneln Sprachspielen. Man wirft mit Wörtern um sich und verwendet rhetorische Tricks, um Gegner zu attackieren oder Fragen auszuweichen. Reaktionär, revolutionär, konservativ, progressiv, verschwörungstheoretisch, suprematistisch, rassistisch, radikal, heuchlerisch. Wir wissen selten, was diese Label bedeuten oder wen sie eigentlich meinen. George Orwell stellte einmal fest, dass »politische Sprache1 darauf ausgelegt ist, Lügen als Wahrheit und Mord als respektabel erscheinen zu lassen und überhaupt, dem Festigkeit zu verleihen, was wie der Wind ist«. In unserer Sehnsucht nach Klarheit und Identität stecken wir Menschen und Ideen in Schubladen. Unser Nachbar ist ein Fanatiker! Unser Sohn ist naiv! Solche Kategorisierungen entzücken und schockieren uns. Doch diese linguistischen Einordnungen maskieren, wie Ideologien tatsächlich gelebt werden, nämlich unsauber, heuchlerisch, stolz, selbstzerstörerisch, mit Verlust, Freude, Humor, Bedauern, Rückschlägen, Rückzügen, Grübeleien, Intimität und Trauer, mit Tränen, Klagen, strahlendem Lächeln und verwirrten Seitenblicken.
Bei aller Komplexität und Widersprüchlichkeit gibt es Gemeinsamkeiten in der Art und Weise, wie Ideologien praktiziert und gepredigt werden, und zwar unabhängig von ihren Zielen und Forderungen. Ob nationalistisch, rassistisch oder religiös, es gibt Parallelen in der Art, wie Ideologien das menschliche Bewusstsein infiltrieren. Diese Gemeinsamkeiten sind kein Zufall. Vielmehr sind sie dem ideologischen Denken inhärent. Der politische Philosoph Eric Hoffer schreibt in Der Fanatiker: »Alle Arten von Hingabe, Glauben, Machtstreben, Eintracht und Selbstaufopferung haben etwas Uniformes an sich2.« Ideologien mögen bunt erscheinen oder in unterschiedlichen Gewändern auftreten, aber es deutet vieles darauf hin, dass quer durch alle ideologischen Gruppierungen die Mechanismen ideologischen Zwangs im Großen und Ganzen dieselben sind.
Wenn wir die Ähnlichkeiten quer durch alle Ideologien herausarbeiten wollen, brauchen wir ein Gefühl dafür, was Ideologie ist und was nicht. Zunächst einmal ist eine Ideologie eine Art von Erzählung. Eine fesselnde Geschichte über die Welt. Aber nicht alle Geschichten sind Ideologien, und nicht alle Formen des kollektiven Erzählens sind rigide und repressiv. Es gibt einen Unterschied zwischen Kultur und Ideologie. Ideologie ist eine absolutistische Schilderung der Welt und geht einher mit Geboten, wie wir denken, handeln und mit anderen umgehen sollen. Ideologien legen fest, was erlaubt und was verboten ist. Im Gegensatz zur Kultur – die Exzentrizität und Neuinterpretation gutheißen kann – wird bei Ideologie Nonkonformismus nicht geduldet und Unterordnung abverlangt. Wenn Abweichen von der Regel zu Bestrafung und Verbannung führt, haben wir uns von Kultur entfernt und befinden uns im Bereich der Ideologie.
Ob Faschismus oder Kommunismus, Öko-Aktivismus oder spiritueller Evangelismus: Allen ist gemeinsam, dass sie absolute und utopische Antworten auf gesellschaftliche Probleme anbieten, strikte Verhaltensregeln und eine durch Praxis und Symbole heraufbeschworene Eigengruppen-Mentalität. Diese Merkmale ziehen sich durch das gesamte Spektrum ideologischer Systeme, sogar dann, wenn die Ideologie von den lautersten Absichten und edelsten Idealen getragen wird, wenn sie für sich in Anspruch nimmt, dass sie Wohl und Würde des Menschen schützen will.
Typischerweise treten Ideologien im Gewand großer Visionen auf. Sie sind eher atmosphärisch und schwer fassbar. Nur wenige von uns wüssten zu sagen, welchen Zielen großtönender Konservatismus, Liberalismus, Faschismus, Kommunismus, Rassismus, Sexismus, Theismus oder Populismus nun genau verpflichtet sind bei all den unzähligen Bedeutungen und Interpretationen. Als kämen diese Ismen direkt aus dem Himmel, geben sie dem Leben einen Rahmen und schreiben den Menschen vor, wie sie zu handeln haben, erklären den Kosmos und sagen, wie man sich anderen gegenüber verhalten soll. Gläubigen erscheint die Utopie der Ideologie den Wolken der Ewigkeit entnommen. Einer Kraft, die über uns schwebt und verehrt werden will.
Mit dem Bild von Ideologie als etwas Himmlischem und Statischem hatte ich schon immer Probleme. Ideologien existieren unter uns, in uns, hier auf Erden. Nicht in den Himmeln der Geschichte oder in den Türmen der politischen Eliten. Sie existieren nicht in transzendentalen Höhen und schweben dann, vollständig ausgeformt und sakrosankt, zu uns herab. Ideologien sind menschengemacht. Menschen verwandeln soziale Doktrinen in ideologisches Denken, in dem strenge Regeln und sorgfältig orchestrierte Gedankengänge herrschen.
Während die meisten Definitionen Ideologien als historische Strömungen und soziologische Bewegungen begreifen, begreife ich Ideologien eher als psychologische Phänomene. Durch die Linse der Psychologie betrachtet, können wir fragen, was eine Ideologie bei ihren Anhängern bewirkt und wer sich von ihr am leichtesten angezogen fühlt. Indem wir die Prozesse in Augenschein nehmen, die im menschlichen Gehirn ablaufen, können wir untersuchen, wann eine Ideologie das Bewusstsein ihrer Anhänger einschränkt und wann sie vielleicht sogar befreiend wirkt.
Selbst wenn eine Ideologie redlich, ethisch, vital oder schön erscheint, sollten wir meiner Meinung nach sehr genau hinsehen. Wir können die Struktur einer Ideologie untersuchen, ihre Entstehung und ihre Wirkung, das, was sie im Bewusstsein ihre Anhänger verändert. Wir können erforschen, was eine Ideologie in einem Bewusstsein beschneidet oder unterdrückt, welche biologischen und geistigen Prozesse sie verzerrt. Schränkt eine Ideologie ihre Anhänger ein? Oder macht sie sie freier?
Jede Weltanschauung kann, ins Extrem getrieben, dogmatisch werden. Jede Art von kulturellem Narrativ, das die Welt erklären will, kann ins Totalitäre kippen. Daher genügt es auch nicht, näher zu bestimmen, zu welchem Denken uns eine Ideologie verleitet, sondern wir müssen auch analysieren, wie sie unser Denken beeinflusst. Wenn eine Ideologie rigides und rituelles Denken einfordert, dann heißt das, dass wir voreingenommen sein sollen, alle inneren Zweifel unterdrücken, alle unsere subjektiven Ansichten und kreativen Möglichkeiten aufgeben. Wenn eine Ideologie rigides und rituelles Denken einfordert, dann heißt das, dass wir jemand anderer werden sollen. Jemand, der weniger einzigartig ist, weniger neugierig, weniger frei.
Normalerweise beurteilen wir eine Ideologie nach ihren Stärken, Schwächen und logischen Fehlern. Voreingenommen, voreingenommen, voreingenommen, rufen wir. Wir untergraben das Glaubenssystem unserer Gegner, bringen Widersprüche und Heucheleien ans Licht. Unterschiedliche Schichten von Naivität, Herzlosigkeit oder Ignoranz, die Spott verdienen. Wir kritisieren die Ansichten unserer Widersacher dafür, dass sie vorverurteilen, ökonomisch ungerecht sind, soziale Probleme erzeugen oder älteren Weltanschauungen ähneln.
Ich hoffe zu zeigen, dass wir Ideologien auch anders kritisieren können: indem wir den Fokus auf den Einzelnen legen. Auf das einzelne Gehirn. Ich glaube, dass wir eine Ideologie danach beurteilen können, was sie im menschlichen Körper und Gehirn anrichtet, danach, ob sie unsere Bewegungsfreiheit und Flexibilität einschränkt, unsere Reaktionsmöglichkeiten reduziert und uns zu Gewalt animiert. Wenn sich unser Spielraum für Plastizität und Veränderung verkleinert, wenn wir einen schlechteren Zugang zu unseren Gefühlen haben, dann laufen wir Gefahr, uns und andere zu entmenschlichen. Wir werden weniger sensibel, weniger elastisch, weniger authentisch. Wenn wir die Realität durch eine ideologische Linse betrachten, dann verzichten wir auf den Reichtum des Lebens zugunsten einer eingeschränkten und klischeehaften Erfahrung. Heutzutage können wir das ideologische Gehirn mit neurowissenschaftlicher Bildgebung und kognitiven Tests erforschen und Zwänge aufdecken, die bis dahin nicht sichtbar gemacht werden konnten. Die Werkzeuge der Wissenschaft eröffnen uns neue Möglichkeiten, Ideologien zu kritisieren.
Einige Ideologien werden unseren kritischen Test vielleicht bestehen. Viele aber nicht. Vielleicht werden uns unsere liebsten ideologischen Besitztümer plötzlich verdächtig erscheinen. Eine Wissenschaft der Ideologie kann dazu führen, dass wir unsere Idole, unsere Ikonen, unsere Metaphern und unsere Utopien in Frage stellen. Sie kann uns dazu ermuntern, uns sorgfältig und aufrichtig selbst zu analysieren. Sie kann zur Grundlage dafür werden, dass wir uns privat oder gesellschaftlich engagieren. Wenn wir den neurokognitiven Ursprung und die Folgen unseres Glaubenssystems untersuchen – woher es kommt und wie es unseren Körper verändert –, dann gibt uns dies die Mittel an die Hand, um zu entscheiden, welches Glaubenssystem wir beibehalten und welches wir vielleicht lieber aufgeben wollen.
Der Glaube an eine rigide Doktrin ist ein Prozess, der sich bis hinein in unsere Neuronen erstreckt, der unseren Körper vereinnahmt. Ideologien sind nicht nur Hüllen, sie dringen auch in uns ein, in unsere Haut, in unsere Schädel, in unsere Nervenzellen. Totalitäre Ideologien formen unser Gehirn immer und jederzeit und nicht nur dann, wenn es sich mit Politik auseinandersetzen muss. Die Wissenschaft beginnt zu entdecken, dass Ideologien auch dann im Gehirn wirksam sind, wenn es sich überhaupt nicht mit Politik beschäftigt. Da unser Gehirn Indoktrinationen tief verinnerlicht, können die sozialen Rituale, die wir vollziehen, zur biologischen Realität unseres Bewusstseins und unseres Körpers werden. Es besteht also die Gefahr, dass der Glaube an eine rigide Ideologie nicht nur unsere politischen Meinungen und moralischen Ansichten formt, sondern auch unser Gehirn selbst.
Ich bitte Sie, auf diesem grauen Stuhl Platz zu nehmen – ja, dem da am Schreibtisch – und es sich bequem zu machen. Dann deute ich auf den Monitor vor Ihnen und erkläre Ihnen, dass dort das Experiment stattfinden wird. Wenn ich jetzt gleich den Raum verlasse, erhalten Sie über diesen Bildschirm Anweisungen, die Sie sorgfältig durchlesen müssen. Wenn Sie Fragen haben, drücken Sie auf diesen Klingelknopf oder heben einfach den Arm und winken, dann komme ich sofort zu Ihnen. Das ganze Experiment wird nur ein paar Minuten dauern. Aufgrund unserer ethischen Richtlinien können Sie das Experiment jederzeit beenden, aber ich bitte Sie, dies nicht zu tun.
Klingt das okay?
Sie nicken zögerlich.
Perfekt. Viel Glück!
Bitte drücken Sie ENTER, wenn Sie bereit sind.
Sie drücken ENTER.
Hallo! Willkommen bei dem Experiment. Heute werden Sie sich mit einer Reihe von Denkspielen und Problemlösungsaufgaben beschäftigen. Für das erste Spiel bekommen Sie einen Satz Karten. Auf jeder Karte wird eine Anzahl von geometrischen Objekten mit einer spezifischen Farbe und Form sein, zum Beispiel drei rote Kreise oder ein einzelnes blaues Dreieck.
Bei diesem Spiel müssen Sie Karten sortieren. Eine Karte wird am unteren Rand des Bildschirms erscheinen, sagen wir eine mit vier orangefarbenen Quadraten, und Sie müssen dann entscheiden, zu welcher der Karten, die Sie bereits am oberen Rand des Bildschirms sehen, sie am besten passt.
Sie werden eine fröhliche Melodie hören, wenn die Zuordnung RICHTIG ist.
Sie werden ein verärgertes BEEP hören, wenn die Zuordnung FALSCH ist.
Seien Sie so genau und so schnell wie möglich.
Drücken Sie bitte ENTER, wenn Sie die Anweisungen verstanden haben.
Drücken Sie bitte ESCAPE, wenn Sie die Anweisungen noch einmal lesen möchten.
Sie drücken ENTER.
Auf Ihrer ersten Karte sind drei grüne Sterne.
Sie ordnen sie den zwei blauen Sternen zu. Stern könnte zu Stern gehören.
BEEP!
Sie seufzen. Nächster Versuch. Vielleicht gehören die drei grünen Sterne zu den vier grünen Kreisen? Grün zu Grün?
Ziehen, drücken, loslassen … Fröhlicher Jingle! Also richtig.
Sie sind stolz auf sich.
Grün zu Grün. Einfach.
Die nächste Karte: ein rotes Dreieck.
Sie folgen der Regel: Farbe zu Farbe. Sie ziehen Rot auf Rot … Bingo! Wieder ein Jingle.
Sie mögen diese Regel. Sie wenden sie in der nächsten Runde erneut an. Und auch in der übernächsten. Grün zu Grün, Rot zu Rot, Orange zu Orange, Blau zu Blau.
Diese Routine fühlt sich merkwürdig gut an. Um die Karte richtig zuzuordnen, müssen Sie kaum nachdenken. Es geht wunderbar automatisch. Farbe. Farbe. Farbe. Gerade war es noch eine neue Welt für Sie, jetzt haben Sie alles unter Kontrolle.
Sie sehen nur noch Primärfarben. Die anderen Merkmale der Karten vergessen Sie. Sie zählen nicht.
Sie klicken, Sie liegen richtig, der Belohnungsjingle ertönt.
Farbe – Jingle. Farbe – Jingle. Pawlow wäre stolz auf Sie.
Sie haben ein Ritual entwickelt, und es ist großartig. Sie haben alles unter Kontrolle.
Nach fünf, zehn oder fünfzehn Runden – Wiederholung lässt die Grenzen der Zeit verschwimmen – sind auf der nächsten Karte zwei blaue Quadrate. Sie wissen, was zu tun ist. Sie ziehen Sie zu der blauen Karte am oberen Bildschirmrand. Sie streicheln über die Maus und machen sich bereit. Dann drücken Sie die Taste und warten auf den Dopaminrausch.
BEEP!
Ein verärgerter Ton dröhnt aus den Lautsprechern.
Damit haben Sie nicht gerechnet. Sie fühlen sich betrogen. Sie hatten schon vergessen, dass es im Experiment einen solch nervtötenden Ton gibt. Sie sind beleidigt.
Vielleicht war es ein Irrtum.
Sie wählen noch einmal die blaue Karte. Es ist schon fast ihre zweite Natur: Blau zu Blau.
BEEP!
Wie kann das sein? Das Experiment ist so widersprüchlich, dass es schon an Verrat grenzt. Sie sind so wütend, dass sie am liebsten aufstehen und den Raum verlassen würden.
Doch inzwischen sind Sie süchtig. Der Jingle hat Ihnen das Gefühl (die Illusion?) vermittelt, die Kontrolle zu haben, clever zu sein.
Und jetzt fühlen Sie sich im Stich gelassen, verloren, ohne Gewohnheit, ohne Ritual, an das Sie sich halten können. Was soll nur aus Ihnen werden in dieser trostlosen virtuellen Landschaft?
In einem Wutanfall ziehen Sie die Karte mit den zwei blauen Quadraten zu der mit den drei orangen Kreisen. Es gibt kein verbindendes Element zwischen diesen Karten, keine Zahl, keine Farbe und keine Form, aber das ist Ihnen egal, Sie sind jetzt sauer. BEEP! Der Ton ist kaum verklungen, als Sie die Karte erneut über den Bildschirm ziehen, diesmal zu der Karte mit den vier grünen Sternen. BEEP! Inzwischen sind Sie außer sich vor Wut, und Sie bewegen den Cursor wie wild hin und her. Sie dachten, Sie hätten einen Deal innerhalb des Experiments. Ein Abkommen. Eine gemeinsame Grundlage. Die Regeln dürfen nicht einfach so mitten im Spiel verändert werden. Sie ziehen die Karte zur letzten noch übrigen Option und schwören sich: Wenn das jetzt kein Match ist, wenn der Jingle nicht ertönt, werden Sie nach draußen stürmen, werden den Experimentleiter herbeiwinken und nach Antworten verlangen, Sie werden – Jingle! Es hat geklappt! Sie kneifen die Augen zusammen und versuchen herauszufinden, warum die heißersehnte Melodie doch noch ertönt ist, was die Gemeinsamkeit war. Auf der Karte waren zwei rote Dreiecke. Zwei. Zwei! Ah! Die Anzahl der Formen auf beiden Karten war identisch. Halleluja! Vielleicht stellt sich jetzt die Ordnung wieder ein. Oder vielleicht war alles nur eine Fehlfunktion. Ein Glitch.
Doch was tun, wenn gleich die nächste Karte auf dem Bildschirm erscheint? Sollen Sie der alten Regel folgen und die Farben zuordnen oder das neue Muster anwenden und nach Anzahl der Formen zuordnen? Sollen Sie an der ursprünglichen Regel festhalten – und die Anomalie ignorieren – oder sollen Sie verändern, erforschen, anpassen, überdenken und erkennen, dass …
An dieser Stelle beende ich das Experiment und erkläre Ihnen, dass Ihre natürliche Reaktion auf Veränderung mir sehr viel über Sie sagt. Ihre spontane Einsicht in die Tatsache, dass die alte Regel nicht mehr funktionierte und Sie eine neue entdecken mussten, um zu überleben, ist eine Art unfreiwilliges Geständnis. Bei diesem schlichten Spiel mit Sternen und Kreisen haben Sie unwillkürlich Ihre innersten Überzeugungen erkennen lassen.
Warum? Weil es zwei Versionen Ihrer selbst gibt. Da ist einmal der Teilnehmer, der die Regeländerung bemerkt und damit reagiert, dass er sich den neuen Anforderungen anpasst. Diese Version Ihrer selbst ist der anpassungsfähige, kognitiv flexible Mensch. Wenn die Welt sich verändert, werden Sie vielleicht überrascht sein, aber Sie haben keine Angst. Sie passen sich den Anforderungen der Umwelt an. Sie sind nicht stark regelgebunden. Sie haben kein Problem damit, zwischen Gewohnheiten hin und her zu switchen, ja Sie brauchen überhaupt keine Gewohnheiten. Sie können spielerisch zwischen verschiedenen Denkmodi hin und her wechseln. Sie sind fluid und elastisch, sie passen sich an.
Aber da ist auch noch die andere Version Ihrer selbst. Und diese Version hasst Veränderungen. Sie bemerken, dass die alte Regel nicht mehr funktioniert, aber Sie sträuben sich dagegen. Sie versuchen wieder und wieder die erste Regel anzuwenden, aber vergeblich. Sie werden sogar bestraft, wenn Sie der ursprünglichen Gewohnheit folgen. Das verärgerte BEEP ist jedes Mal wie ein Schlag ins Gesicht. Trotzdem rühren Sie sich nicht, weichen dem Schlag nicht aus. Sie halten starrköpfig fest an dem falschen Glauben, dass dieses entnervende BEEP irgendwann durch eine fröhliche Melodie ersetzt werden wird. An dem nostalgischen Glauben, dass die alte Umwelt wie durch Zauber wiederkehrt und Sie sich nicht verändern müssen. Sie machen störrisch weiter, obwohl es schneller gehen würde, wenn Sie die Fesseln abwerfen und anders weitermachen würden. Dies ist die kognitiv rigide Version Ihrer selbst.
Welche der beiden Versionen sind Sie nun? Die flexible oder die rigide? Die anpassungsfähige oder die störrische?
Vielleicht weder die eine noch die andere. Sie könnten etwas dazwischen sein: manchmal anpassungsfähig, manchmal rigide. Vielleicht hängt Ihre Flexibilität von den Umständen ab. Wenn Sie entspannt sind, sind Sie fluid, passen Sie sich ruhig an Neues und Überraschendes an. Doch sobald Sie unter Stress stehen, schränkt sich Ihr Spielraum ein, werden Ihre Gedanken härter. Angst macht Sie starr.
Für mich als Wissenschaftlerin und Experimentleiterin steht am Ende die Erkenntnis: Ihr Verhalten in dem Spiel lässt Rückschlüsse auf Ihr Verhalten im Leben zu. Der Grad an Rigidität in diesem neuropsychologischen Test liefert Hinweise darauf, mit welchem Grad an Rigidität Sie in der sozialen und politischen Welt an Ideologien glauben. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Ihren Wahrnehmungsreflexen und Ihren ideologischen Reflexen.
Tatsächlich spiegelt Ihr Gehirn Ihre politischen Einstellungen und Vorurteile auf eine so merkwürdige, tiefe und überraschende Art wider, dass es unsere Vorstellungen vom Wechselspiel zwischen Anlage und Umwelt, zwischen Risiko und Resilienz, zwischen Freiheit und Schicksal auf den Prüfstand stellt. Wenn unsere ideologischen Überzeugungen eng mit unseren kognitiven und neuralen Reaktionsmustern verknüpft sind, dann müssen wir uns neue Fragen stellen darüber, wie unsere Körper politisiert werden und wie wir dem widerstehen und unsere Handlungsfreiheit bewahren können.
Nachdem meine Kolleginnen und ich3 Tausende von Menschen kognitiven Tests für mentale Flexibilität wie dem Wisconsin Card Sorting Test4 unterzogen hatten, gelangten wir zu der Schlussfolgerung, dass die Teilnehmer, die sich bei den neuropsychologischen Aufgaben als anpassungsfähig erwiesen hatten, auch diejenigen waren, die in Sachen Ideologie, Pluralität und Differenz am offensten waren. Die Menschen, die mental am flexibelsten sind, können auch am besten trennen zwischen einer Person und ihren Ansichten. Sie hassen den anderen nicht. Sie hassen vielleicht dessen Meinung, aber sie übertragen den Hass nicht auf den Menschen, der diese Meinung vertritt. Kognitiv rigide Menschen hingegen, also diejenigen, die sich nur schwer anpassen können, wenn sich Regeln verändern, tendieren zu Dogmatismus. Sie hassen es, wenn jemand anderer Meinung ist, und sind auch dann nicht bereit, ihre Überzeugungen zu ändern, wenn ihnen glaubwürdige Gegenbeweise vorgelegt werden.
Kognitive Rigidität wird zu ideologischer Rigidität.
Dies mag wie eine Binsenweisheit erscheinen: Ein rigider Mensch ist ein rigider Mensch. In Wahrheit aber sind diese Muster keineswegs offensichtlich. Wenn wir Neurowissenschaftlerinnen von Kognition und Perzeption sprechen, dann sprechen wir von Informationsverarbeitung, die auf einfache Reize reagiert, auf einfache sensorische Informationen in einem neutralen Kontext. Kognitive Aufgaben bestehen aus unkomplizierten Elementen – farbige Formen und wandernde schwarze Punkte –, die auf einem schlichten Bildschirm präsentiert werden. Mit diesen Aufgaben analysieren wir keine Informationen, die Ihre Gefühle triggern – wie Sie auf etwas reagieren, was Sie ängstigt oder abstößt. Wir verwenden auch keine Aufgaben, die kognitiv zu anspruchsvoll oder komplex sind und Sie nur sinnlos in die Verzweiflung treiben würden. Wenn wir Neurowissenschaftler Kognition und Perzeption messen, interessieren wir uns dafür, wie das Gehirn zu Entscheidungen gelangt, von seiner Umgebung lernt und auf der grundlegendsten Ebene auf Herausforderungen und Widersprüche reagiert.
Die individuellen Unterschiede sind implizit, das heißt: Wir haben wenig bewussten Zugang zu ihnen und können ihre Expression nur sehr bedingt steuern. Ein kognitiv rigider Mensch kann sich für extrem flexibel halten und ein anpassungsfähiger Denker glauben, er sei geistig nicht sehr beweglich. Es ist manchmal erstaunlich, wie wenig wir uns kennen.
Daher birgt der festgestellte Zusammenhang zwischen geistiger Inflexibilität und ideologischer Rigidität auch eine wichtige Erkenntnis darüber, wie unser Gehirn arbeitet und wie Ideologien es durchdringen. Eine charakteristische Rigidität, eine Rigidität, die zutage tritt, wenn wir auf Informationen reagieren – und seien es orange Sterne und blaue Kreise –, kann sich zu einer Rigidität auf höherer Ebene entwickeln und ihren Ausdruck in unserem ideologischen Denken und Handeln finden.
Selbst wenn wir nicht explizit über Politik nachdenken, ist die Wirkung unserer ideologischen Überzeugungen spürbar und messbar. Ideologische Prägungen des Gehirns können auch dann beobachtet werden, wenn unser Geist frei schweben darf, wenn wir fantasievoll und erfinderisch sind, wenn wir neutrale Situationen beobachten und deuten. Die Rigiditäten und Idiosynkrasien unseres Gehirns manifestieren sich dort, wo wir sie am wenigsten erwarten, in unseren intimsten Gefühlen und physiologischen Reaktionen, unter der Oberfläche unserer öffentlichen Überzeugungen und bewussten Gefühle. Dogmatische Ideologien haben also nicht nur politische Auswirkungen, sondern auch neuronale, individuelle und existenzielle.
Wenn wir uns einen Körper vorstellen, der im Bann einer Ideologie steht – ein Bewusstsein mit Neigung zu Ritual und Rigidität –, dann sehen wir eine Gestalt ohne klares Gesicht vor uns. Die Metaphern, die wir benutzen, um ein ideologisch gekapertes Gehirn zu beschreiben, verstärken diese Unklarheit noch. Da sind die Metaphern vom entleerten Bewusstsein. Vom hypnotisierten Bewusstsein. Vom getäuschten oder sedierten Bewusstsein. Vom infantilisierten Bewusstsein. Von einem verdummten Bewusstsein, einem vor lauter Falschheit benommenen Bewusstsein.
Einige dieser Analogien benutzen Bilder der Überschwemmung: ein mit falschen Ideen getränktes Bewusstsein. Der Ideologe fließt über vor Täuschungen und Gefühlen: Er ist voller Hass, voller Angst, voller Abscheu, ist überflutet von frustrierter Liebe und Machtgier. Alles nur Lügen, Lügen, Lügen, wirbelt es in seinem Kopf, einfache Slogans springen in seinem Schädel umher. Zurück in die Vergangenheit! Vorwärts in die Zukunft! Überall lauern Nirgendwo-Menschen. In diesen Metaphern ist der Gläubige angefüllt mit negativen Dingen, und zu viele negative Dinge tun bekanntlich nie gut. In seinem Wahn verliert der Ideologe die Beherrschung und wird stattdessen beherrscht.
In anderen Analogien ist der Kopf der Gläubigen leer und hohl. Klopf, klopf. Kein Inhalt. Keine Gedanken. Kein Bewusstsein. Oder ein falsches Bewusstsein. Nur eine Hülle. Ideologien saugen alle Substanz heraus, zurück bleibt eine innere Leere. Eine Fanatikerin ist ein Zombie, der Befehle mechanisch und nahezu unbewusst ausführt.
Die Idee des Löschens hat ihren Weg bereits in die Sprache gefunden: Bei einer Gehirnwäsche wird alles aus dem Kopf herausgewaschen. Die Fähigkeit zu selbständigem Denken wird einfach weggeschrubbt.
So bequem und manchmal tröstlich solche Metaphern sein mögen – im Gegensatz zu den Gehirnen der anderen strotzen unsere Gehirne nicht vor Lügen oder inhaltsloser Leere –, so trügerisch können sie sein. Ideologisches Denken ist nicht einfach nur ein Übermaß an Mythos oder ein Mangel an Denken. Unser Bewusstsein ist kein passives Gefäß, das man füllen, leeren und wieder füllen kann. Ideologien leeren nicht einfach den menschlichen Geist und reichern ihn dann mit ihren Irrtümern an.
Die Metaphern, die wir verwenden, um diesen Prozess zu erläutern, sind insofern erhellend, als sie widerspiegeln, wen wir als Schuldigen ausmachen. Wenn wir uns das Bewusstsein als ein Gefäß vorstellen, das man leeren und wieder füllen kann, dann ist es immer jemand anderer, der leert und füllt. Der Gläubige trägt nichts dazu bei, ist nicht verantwortlich. Schädliche Ideen wurden ihm von außen verabreicht, quasi gegen seinen Willen: das Internet, die zwielichtigen Freunde, der charismatische Prediger! Das Opfer ist nicht schuld. Es wurde von fremden Mächten besetzt.
Solche Bilder helfen uns, den Rassismus eines Verwandten, den Sexismus eines Sohns oder die unausgegorenen Ansichten eines Freundes zu verharmlosen. Unsere Liebsten sind ahnungslose Narren, ignorante Gefäße für »schlechte« Ideen. »Wir alle haben Verwandte5, die blinde Flecke haben«, schrieb der Dichter Terrance Hayes, »aber wir können die Verwandten nicht einfach abschaffen.« In Augenblicken der Verzweiflung oder Paranoia würden wir unsere fanatischen Freunde am liebsten schütteln, sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen, ihnen Artikel schicken in der Hoffnung, dass sie das Gift ausspucken und stattdessen unser Elixier der Vernunft trinken.
Bei all diesen Metaphern dringen böse Ideologien nicht bis zum menschlichen Kern vor. Es besteht immer die Möglichkeit der Erlösung, der Rückkehr zur Unschuld. Etwas Saures und Ungenießbares hat sich in unseren Liebsten breitgemacht, aber nur in einem Teil von ihnen, der Rest ist – da sind wir uns sicher – rein und unversehrt.
Metaphern haben eine große Kraft, weil sie etwas zu erklären scheinen. Doch wenn man eine Analogie zu wörtlich nimmt, führt dies zu Irrtümern und Verwirrung. Tatsächlich ist eine Metapher, die man mit der Wahrheit verwechselt, schlimmer als ein Fehler, weil sie Aberglauben und Verharmlosung bestärkt. Eine falsche Metapher entschuldigt ein Verhalten, das genauer unter die Lupe genommen und verändert werden sollte. Die Linguisten George Lakoff und Mark Johnson schrieben in Leben in Metaphern, ihrer bahnbrechenden Studie zu Metaphern: »Metaphern können Wirklichkeit erschaffen6, insbesondere soziale Wirklichkeit. Eine Metapher kann so zu einer Anleitung für zukünftiges Handeln werden. Und dieses Handeln wird sich natürlich an der Metapher orientieren. Dies wiederum wird die Kraft der Metapher, Erfahrung kohärent zu machen, noch weiter verstärken. Und so können Metaphern zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden.«
Eines der bekanntesten Bilder zeigt den Ideologen als einen geistlosen Geist. Bekannt gemacht wurde es von der Philosophin Hannah Arendt, als sie den Prozess gegen den Nazi Adolf Eichmann analysierte. Arendt argumentierte, angetrieben habe ihn die »schiere Gedankenlosigkeit7«, er habe sich »niemals vorgestellt, was er8 eigentlich anstellte«. Charakteristisch für Eichmann sei seine »völlige Abwesenheit von Denken9«, eine »außergewöhnliche Oberflächlichkeit10«. Wer einer monströsen Ideologie folge, argumentierte sie, beweise vor allem eine »Unfähigkeit zu denken11«.
Dieses Nicht-Denken hat laut Arendt zur Folge, dass ein Führer, der eine neue Doktrin einführen will, »keine Gewalt12 und keine Überzeugungsarbeit – keinen Beweis, dass die neuen Werte besser als die alten sind – benötigt«. Als nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostdeutschland der Totalitarismus des Nazi-Faschismus ersetzt wurde durch den Totalitarismus des Sowjetkommunismus, sei dies auf keinen nennenswerten Widerstand gestoßen. Der Übergang von Hitlers rassistischen Hierarchien zu Stalins Zwangsuniversalismus wurde einfach nur zur Kenntnis genommen. Wer im Koma liegt, kaum bei Bewusstsein ist, lässt sich leicht erobern. Die Bürger können den Unterschied kaum erkennen, die Umkehr der Werte, den Verlust ihrer Freiheit an das nächste Regime.
Hannah Arendt nahm die Metapher des »gedankenlosen« Bösen wörtlich. Sie konnte damit das komplexe Phänomen der ideologischen Hundertachtzig-Grad-Wende erklären. Wo kein Denken ist, lassen sich heikle historische Phasen oder der ideologische Verrat einer geliebten Person leichter entschuldigen. Mit einem fehlenden Bewusstsein kann man besser umgehen als mit einem bewussten Bewusstsein, das weiß, was es tut, das sich seiner Verbrechen also bewusst (und sogar stolz darauf) ist und das auch anders handeln könnte.
Arendts Interpretation entzückte manche Leser – die Taten der Nazis waren eine Art Schlafwandeln gewesen – und entsetzten andere. Für viele Holocaust-Überlebende verharmloste sie die methodische Grausamkeit des faschistischen Regimes, die Brutalität, die systematische Verfolgung, die sorgfältige Planung des Genozids. Und Arendts Metapher vom unbewussten Bewusstsein hatte noch eine andere Implikation, die auf trügerische Weise attraktiv war: Sie machte aus der Gehirnwäsche einen einfachen Prozess. Etwas Situatives.
Situative Erklärungen gehen davon aus, dass wir unter den richtigen – oder falschen – Bedingungen alle zu Tyrannen werden können. Und wenn wir alle gleich sind, alle fehlbar, weil tief im menschlichen Herzen das Böse wohnt, dann ist niemand von uns verantwortlich. Konformismus und Gehorsam werden zu etwas Unausweichlichem. Ein fehlerhaftes moralisches Verhalten entsteht aus einer akuten Situation heraus, aus einer kranken Situation heraus, einer Situation jedenfalls, in der jeder sich selbst entfremden und grausame Taten begehen konnte.
In den 1950er- und 1960er-Jahren entwickelten Sozialpsychologen geradezu eine Obsession für diesen situativen Erklärungsansatz. Berühmte Psychologen setzten Universitätsstudenten Situationen inszenierter Folter und Gefangenschaft aus, lächerlichen (und skrupellos unethischen) Experimenten, in denen die Teilnehmerinnen darauf getrimmt wurden, zu gehorchen und fremden Menschen Schmerz zuzufügen. An der Yale University forderte Stanley Milgram13 Teilnehmer dazu auf, ihren unschuldigen Altersgenossen Elektroschocks zu versetzen, und die meisten kamen seiner Aufforderung nach. Am Swarthmore College untersuchte Solomon Asch14, ob Teilnehmerinnen sich der Mehrheitsmeinung anschlossen, auch wenn sie ihrer eigenen Erfahrung widersprach, was nach mehreren Testrunden bei den meisten wenigstens einmal der Fall war. An der Stanford University teilte Philip Zimbardo15 Studenten in zwei Gruppen auf und erklärte die eine Hälfte zu Gefangenen und die andere Hälfte zu Aufsehern. Wenn Studenten die Anweisung erhielten, die Gefangenen zu dominieren und zu kontrollieren, wurden viele zu Sadisten und verursachten viel Leid.
All diese irrsinnigen Experimente sollten beweisen, dass die Situation entscheidend war, nicht der Mensch. Millionen von Psychologie-Büchern verbreiteten diese Forschungsergebnisse und ihre Schlussfolgerungen, nämlich den angeblichen Beweis, dass wir alle zu Konformismus neigen und in Drucksituationen gehorchen. Wenn die Situation über uns bestimmt, dann lohnt sich der Blick in die Blackbox nicht, in diese geistlose Maschine namens Mensch. Ein Mensch kann gar nicht anders, als sich der Situation zu fügen.
Metaphern geben vor, welche Experimente wir durchführen, welche Theorien wir entwickeln und welche moralischen Urteile wir über uns und andere fällen. Wenn wir uns nur auf die Situation als die Ursache unseres ideologischen Handelns fokussieren, verlieren wir die individuellen Unterschiede und Variationen im Verhalten aus dem Blick. Schließlich lassen sich diese berühmten Studien, die universalen Gehorsam und absoluten Konformismus beweisen wollen, weiter ausdifferenzieren. In Milgrams Elektroschock-Experiment fügten 66 Prozent der Teilnehmer auf Befehl maximalen Schmerz zu, aber 34 Prozent taten dies nicht. In Aschs Konformismus-Experimenten schlossen sich 75 Prozent der Teilnehmerinnen, obwohl anderer Ansicht, irgendwann der Mehrheitsmeinung an, aber 25 Prozent taten dies nicht. In Zimbardos Gefängnis-Experiment rebellierten einige Teilnehmer, und andere fühlten sich durch die Bedingungen so sehr unter Stress gesetzt, dass sie einen psychischen Zusammenbruch vortäuschten, um die Studie verlassen zu können.
Was charakterisiert nun die stattliche Minderheit, die Widerstand leistet? Was geht in den Gehirnen und Körpern derjenigen vor, die nur zögerlich gehorchen? Wenn wir unsere Erklärung von bösem oder ideologischem Verhalten mit dem Hinweis auf »die Situation« beenden, dann stellen wir uns diese Fragen nicht. Wir sprechen von »blindem Gehorsam«, »unkritischem Konformismus«, »achtloser Passivität« und vernachlässigen Hinweise, die nahelegen, dass tiefere und komplexere Prozesse ablaufen.
Ein unbewusstes Bewusstsein kann man nicht zur Rechenschaft ziehen. Ein unbewusstes Bewusstsein kann nicht verantwortlich gemacht werden für sein Fehlverhalten oder seine Hirngespinste, für seine Schikanen und Verbrechen. Unbewusstheit ist kein Mechanismus, den wir messen oder beurteilen können, denn Unbewusstheit bedeutet ja, dass überhaupt kein Mechanismus am Werk ist. Wer Unbewusstheit als die Wurzel alles Bösen anführt, lenkt ab von einer wissenschaftlichen Erforschung dessen, was sich im Bewusstsein verändert, wenn es in totalitäre Ideologien eintaucht.
Die Vorstellung, das ideologische Bewusstsein sei passiv und unkontrollierbaren Kräften oder evolutionären Normen ausgesetzt, ist pessimistisch und falsch. Schon allein der Ausdruck »unbewusstes Bewusstsein« ist ein Widerspruch in sich. Wie kann ein Bewusstsein seiner selbst nicht bewusst sein? Das Gehirn ist kein apathisches, träges und vergessliches Organ. Es ist niemals abgeschaltet. Selbst im Schlaf arbeitet es hart und stellt sich alternative Wirklichkeiten vor. Wenn man ideologisches Denken als ein Nicht-Denken betrachtet, dann befreit man den Denkenden nicht nur von jeder Verantwortung, sondern man hat auch nicht begriffen, wie das menschliche Gehirn funktioniert.
Viele dieser Metaphern des Bewusstseins als eines Gefäßes – ob nun angefüllt mit falschen Informationen oder von jeglichem Inhalt entleert – sind ein Ausdruck der veralteten Vorstellung, dass Gedanken etwas Immaterielles seien, etwas Nicht-Physisches. Diese Vorstellung nennt man Dualismus. Der Dualismus geht davon aus, dass Geist und Körper unterschiedliche Dinge sind, die sich voneinander trennen lassen. Der Körper ist physisch und materiell, und der Geist ist nicht-physisch und spirituell. Die Anhänger des Dualismus glauben, dass das, was in unserem Kopf vorgeht – unsere Gedanken, unser Bewusstsein, unsere Persönlichkeit –, sich grundsätzlich von dem unterscheidet, was unser Körper ist: organische Materie, für die die Regeln der Chemie und der Physik gelten.
Am ausdrücklichsten formuliert hat diese Trennung von Körper und Geist René Descartes. Als Philosoph des 17. Jahrhunderts hatte er gehofft, das medizinische Verständnis des menschlichen Körpers als einer gesetzestreuen Maschine zu versöhnen mit der katholischen Lehre von der unsterblichen, körperlosen Seele. Im Gegensatz zum modernen Framing als »Körper-Geist-Problem« stritt Descartes anfangs ab, dass es überhaupt ein Problem gab. »Die Seele und der Körper16 sind zwei Substanzen, die von Natur aus ›unterschiedlich‹ sind«, schrieb er 1641 in Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Aber diese beiden Substanzen »können trotzdem aufeinander einwirken.« Allerdings hatte Descartes Mühe mit der Frage, wie die Seele, die keine räumliche Existenz besitzt, auf einen Körper einwirken kann, der geradezu dadurch definiert ist, dass er Raum einnimmt. Die Philosophin Elisabeth