Das Kaninchen im Mond - Ursula Thiemer-Sachse - E-Book

Das Kaninchen im Mond E-Book

Ursula Thiemer-Sachse

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Beschreibung

Das Kaninchen im Mond und im Kampf ums Dasein in der Welt der Tiere und Menschen Erzählungen - Mythen, Legenden, Märchen, eben Tiergeschichten jeder Art - in und von ethnischen Gruppen in Oaxaca, Mexiko. Übersetzungen aus den spanischsprachigen Versionen sowie Kommentare von Ursula Thiemer-Sachse

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Seitenzahl: 144

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Abbildung des Mondes auf dem Einband:

Vollmond zu Beginn der Nacht mit den Mondflecken, die wie ein Kaninchen wirken, das "Männchen macht", das nach links schaut, so wie es in Mexiko zu erkennen ist. Wenn der Mond dann in der Morgendämmerung am Westhimmel zu sehen ist, scheint das Kaninchen kopfüber herunterzufallen.

Untere Bildleiste: siehe Abbildungen im Text

Abbildungen auf der Einband-Rückseite:

links: Steinbildwerk aus Tlaxiaco in der Mixteca Alta in Oaxaca mit einem Relief des Kaninchens im Mond, der als Gefäß für den fermentierten Agavensaft, den Pulque, dargestellt ist. rechts: Kleines Keramikfigürchen eines musizierenden Kaninchens aus Tamazulapan, Region Mixe, Oaxaca.

Fotos, Digitalisierung und Zeichnung von Ursula Thiemer-Sachse

Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung

Mythos von Sonne und Mond bei den Zapoteken des Isthmus von Tehuantepec

Mythos von Sonne und Mond

Zapoteken von Zanatepec Sonnen- und Mondfinsternis

Mythos über die Entstehung von Sonne und Mond bei den Chatinos

Kaninchen und der Maiskolben

Bauer Kaninchen

Das schelmische Kaninchen

Isthmus von Tehuantepec

Kaninchen und Kojote

Kaninchen im Chilepfeffer-Beet

Kaninchen und Kojote

Kaninchen und Tapir

Kaninchen und Kaiman

Zapoteken des Isthmus von Tehuantepec

Zapoteken vom Isthmus von Tehuantepec

Jäger und Kaninchen

Geschichte vom Jäger

Über Kaninchen und Hirsch

Kaninchen,

Gott straft Kaninchen

Weitere Literaturhinweise

Amerindian Research

Edition Amerindian Research

Zur Einführung

Bei uns in Mitteleuropa ist die Vorstellung verbreitet, in den Flecken des Vollmonds könne man ein Gesicht erkennen oder einen "Mann im Mond". Dazu gibt es auch manche Geschichte, wie er da hingekommen sein könnte. In Weltregionen, die dem Äquator näher liegen, ist der Blick auf den Mond von einem minimal anderen Winkel bestimmt, so dass die Interpretation der Mondflecke auch anders gewesen ist und bis heute in den Volkstraditionen existiert.

Dieser andere Blickwinkel auf den Mond hat in Mexiko dazu geführt, dass man in den Flecken ein Kaninchen zu sehen meint, das sich aufrichtet, "Männchen" macht und nach der linken Seite hin aus dem Himmelslicht des Vollmondes herausschaut. Man hat sich wohl oft gefragt und überlegt, wie es dort hingekommen sein könnte. Diese Frage hat ihren Niederschlag im Erzählgut gefunden.

Aus den alten Schöpfungsmythen der Azteken in Zentralmexiko, welche durch Aufzeichnungen in der frühen Kolonialzeit überliefert sind, wissen wir: Es wurde erzählt, "dass Sonne und Mond ursprünglich mit gleichem Glanze leuchteten und gleichzeitig an dem Rande des Himmels erschienen, ihren Weg antraten. Aber die Götter, denen das nicht recht erschien, schlugen dem Monde mit einem Kaninchen ins Gesicht, so dass sein Glanz sich verdunkelte und das Kaninchen seitdem auf der Fläche des Mondes zu sehen ist. Andere erzählen, dass der Pulquegott dem Monde mit Papier in Gestalt eines ‚Kaninchengefäßes‘, eines Pulquekruges, das Gesicht verhüllte…" (Seler IV: 63).

Abb. 1: Kaninchen im Mond, der als Pulquegefäß erscheint, als Gefäß für den vergorenen Agavensaft (Codex Borgia 11)

Es ist bezeichnend, dass diese Ansichten bei unterschiedlichen indigenen Gruppen mit verschiedenen Sprachen in ganz ähnlichen Traditionen bewahrt worden sind. Sie vermögen uns auch viel über die gesellschaftlichen Bedingungen, die Lebensweise und Kultur im Wandel der Zeiten und über den Kontakt der verschiedenen indigenen Gruppen untereinander zu zeigen.

Einige Beispiele aus Erzähltraditionen bei verschiedenen ethnischen Gruppen im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca zeigen auch nach Verschriftlichung und Übersetzung große Unterschiede in Einzelheiten bei gleichen Motiven, was die Lebendigkeit eben dieser Traditionen zeigt. Es kann bei jeder Erzählsituation etwas hinzugefügt oder weggelassen worden sein oder erfährt eine andere Deutung durch den Erzähler und die Gemeinschaft der Zuhörenden. Zudem hat so manche Variante neben der Ähnlichkeit zur Lebenswelt der Menschen auch realitätsferne, märchenhafte Züge, die aber durchaus zur Erklärung realer Tatsachen dienen und deshalb gewählt worden sind.

Die unterschiedliche Begabung der Erzähler wird vor allem auch in Nebensätzen deutlich, in denen die natürlichen Umstände der beschriebenen Ereignisse oder auch die Charaktere der einzelnen Lebewesen wiedergegeben worden sind.

Bei der Verschriftlichung hat sich oft genug das schriftstellerische Talent des wissenschaftlichen Autors entfaltet und zuweilen den ursprünglichen Erzählmodus der mündlichen Tradition verändert. Dennoch zeigen manche der Beispiele, dass die schriftlichen Versionen einander keineswegs immer gleichen, also auch nicht als die nun eben festgeschriebene, einzig akzeptable Variante des Erzählgutes aufzufassen sind. Sie sind oft nur an einem historisch gegebenen Punkt in der Entwicklung der Traditionen aufgezeichnet worden, an dem die damals gegebenen Erfahrungen in einer Erzählung deutlich werden.

Glaubt man manchmal, die dargestellten Abläufe, die Motive und Ergebnisse wären gleich, kann es durchaus sein, dass man im Laufe des Berichtes auf eine erstaunlich andere Entwicklung der Ereignisse und Erklärungen trifft. So kann man sich oft genug nicht des Schmunzelns enthalten, da etwas ganz anderes an Einzelheiten hervorgehoben und in der Gemeinschaft beim Erzählen wichtig gewesen ist, als man erwartet hatte.

Es ist erstaunlich, wie solche Geschichten ausgehen können, auf welche Besonderheiten der vielfältigen Realität in den Varianten der Geschichten Wert gelegt wird, wer als Sieger aus den Konflikten hervorgeht und worauf sich die Anregungen zum Nachdenken und Verhalten richten.

Abb. 2: Tagezeichen Kaninchen, nahuatl: tochtli (Codex Laud, lám. 16)

Das Kaninchen, der Schelm, der allen anderen an Gewitztheit gewachsen scheint, wird in den Erzählungen einfach zum "Kaninchen", ohne dahinter eventuell überhaupt auf seine große Familie Bezug zu nehmen. "Kaninchen", im Spanischen conejo und in den verschiedenen indigenen Sprachen gemäß den Erzählungen unterschiedlich, wird wie ein Rufname behandelt. Selten genug wird in einer Handlung mehr als ein weiteres Individuum dieser Tiergattung nach dem in Erscheinung tretenden Ersten thematisiert. Auch handelt Kaninchen frei und ungefährdet von den normalen Zusammenhängen von "Fressen und Gefressen-werden" der in den Geschichten vorkommenden anderen Tiere. Es ist von Selbstsicherheit und Unverletzlichkeit geprägt, es prellt die anderen und wird zum Helden oder gar Sieger in Auseinandersetzungen stilisiert.

Abb. 3: Herr 10-Kaninchen-Jaguarfell (Codex Bodley, p. 5)

Dabei ist in den alten Vorstellungen in Mexiko des Öfteren von den "Vierhundert Kaninchen" die Rede. Sie werden dann auch – aber wegen der künstlerischen Wiedergabe erneut vereinzelt – in einem offenen Krug dargestellt: dem Gefäß, in dem üblicherweise der Pulque, der vergorene, der fermentierte Agavensaft, gereicht wird. Dieses Gefäß wird als Trinkgefäß und zugleich als Mond verstanden: so hat man hier die Wiedergabe des Kaninchens im Mond. Zuweilen aber wird dieses Gefäß auch nur mit einem halbmondförmigen Nasenschmuck dekoriert und so die Beziehung zum Mond angezeigt. Die Zahl 400 war gemäß dem in Altmexiko üblichen Vigesimalsystem (Rechnen nach Einheiten von Zwanzig) sowohl als reale Vierhundert zu verstehen, als auch als "unüberblickbar viele". Dies wird für die "Vierhundert Kaninchen" so ausgedeutet, dass eben die Kaninchen in großen Familienverbänden zusammenleben. Das jedoch spiegelt sich in den Geschichten von "Kaninchen" aus Oaxaca nicht wider. Es wird aber auch als Hinweis auf die vielen möglichen, die unterschiedlichen Formen der Trunkenheit interpretiert, die bei übermäßigem Pulque-Konsum auftreten könnten.

Abb. 4: Ein am Tag 2-Kaninchen Geborener mit dem vorbestimmten Schicksal des Trinkers (Codex Florentino, lib. IV, fol. 252 r)

An den Gedanken und Handlungen von "Kaninchen" können Erzähler und Zuhörer das "Allzu Menschliche" erkennen. Sie lernen, wie sich die einfachen, kleinen Tiere – und dann auch eben die Menschen – verteidigen oder gegen die Großen, die Brutalen, Gewalttätigen oder zumindest Machtvollen durchzusetzen vermögen. Auch über sie wird in den traditionellen Erzählungen wie mit einem Rufnamen als "Kojote", "Jaguar" oder "Kaiman" vereinzelt berichtet.

Kaninchen kann aber auch diejenigen übertrumpfen, welche die Situationen nicht zu überblicken vermögen oder denen es an Aufmerksamkeit und Klugheit mangelt. "Kaninchen" ist, in die Welt der Tiere transponiert, das Symbol für die Aktivität der einfachen Menschen, die sich gegen die Mächtigen zu verteidigen und zudem möglichst noch zu behaupten suchen.

Abb. 6: Herr "Kaninchen", Don Domingo Cortés Quapoltochin (Codex Azoyú 2, fol.14)

Mythen um das Kaninchen im Mond sind recht vielfältig, haben Ähnlichkeiten und doch auch wieder große Unterschiede. Oft wird eine chaotische Zeit vor der gegenwärtigen beschrieben, in der Dinge geschehen, die bei den Menschen späterhin nicht passieren sollten, die Manches erst so verwandelten, wie es später in der Zeit der Geschichtenerzähler existierte und funktionierte, also einst seinen Ursprung hatte.

Es sind also Ursprungsmythen, die sich jedoch nicht allgemein um die Fragen nach dem Entstehen alles gegenwärtig Existierenden bemühen, sondern nur die Frage nach Sonne und Mond thematisieren, den beiden für die Menschen – eben im landwirtschaftlich geprägten Oaxaca – so wichtigen Himmelslichter. Dies erklärt sich auch aus der allgemein im alten Mexiko verbreiteten Vorstellung von mehreren vorherigen Welten, deren Untergang und danach der Entstehung einer jeweils neuen Welt, oft "Sonne" genannt.

Wie Sonne und Mond an ihren Platz in der Lebenswelt der Menschen gelangen und für sie da sind, das markiert in den hier zu betrachtenden Geschichten die Überwindung des in der Vorzeit vermuteten Chaos und die Schaffung der gelebten Gegenwart. In letzterer findet "Kaninchen" weiterhin Beachtung, da es aktiv ist, und zwar in den Auseinandersetzungen ums Überleben durchaus in erstaunlicher Brutalität gegenüber Tier und Mensch.

Abb. 7: Kaninchen als Schreiber, Maya (sog. Princeton-Gefäß)

Zuerst wird hier ein Beispiel des Mythos erzählt, wie er in ganzer Länge von einem namentlich bekannten Indigenen aus Oaxaca berichtet worden ist. Nur an einer bestimmten Stelle ist dabei zum Kaninchen im Mond eine Erklärung eingefügt:

DieGeschichte von Sonne und Mond, von dem Chinanteken Florentino López López aus Santiago Comaltepecerzählt:

Vor sehr langer Zeit, als es Sonne und Mond noch nicht gab, war da eine sehr arme Familie: eine Alte, die hexen konnte, und ein sehr kranker Alter, der immer auf seinem Lager dahingestreckt lag. Die Alte pflegte alle Tage fortzugehen, um Kräuter zu sammeln, damit sie etwas zu essen hätten.

Eines Tages ging sie wieder, um Kräuter zu suchen, damit sie sie als Essen zubereiten könnte. Als sie so zwischen den Kräutern hindurchging, sah sie plötzlich zwei Eier zwischen den Pflanzen liegen. Eines war weiß und das andere gelb. Die Alte sammelte sie auf, verwahrte sie zwischen den gesammelten Kräutern und ging heim.

Als sie zu ihrer Hütte kam, nahm sie einen kleinen Kochtopf, um die Kräuter zuzubereiten; aber da entsann sie sich der Eier und warf die beiden samt den Kräutern in den Topf.

Als sie den Topf pfeifen hörte, dachte sie: "Warum pfeift der Topf?" Da fielen ihr wieder die Eier ein und sie beeilte sich, sie herauszunehmen. Sie ließ sie an der Seite ihres Herdes liegen, denn sie gefielen ihr sehr. Aber man erzählt, dass das Wasser daher pfeift, weil es auf die Glut gestellt wird, zuerst nur ein wenig beim Erwärmen und später dann beim Sieden.

So ging die Alte alle Tage auf der Suche nach essbaren Kräutern weg, bis sie eines Tages sah, dass die Eier nicht mehr da waren. Plötzlich merkte sie eines Tages, als sie mit gesammelten Kräutern zurückkehrte, dass Kinder in der Nähe ihres Hauses gespielt hatten und dass sie sehr kleine Hütten aus Ästchen mit Dächern aus grünen Blättern gebaut hatten. Die Alte fragte sich: ‚Wer kommt zum Spielen zu meiner Hütte?‘

Es waren Kinder in den Eiern geboren worden: aber sie wusste nicht, wer sie waren.

Eines Tages begab sie sich an einen Ort, wo sie lauschen konnte. Sie war nicht sehr weit entfernt auf ihrem Weg, Kräuter zu suchen. Wo konnte sie erkunden, wer jene waren? Sie lauschte und näherte sich und sah sie schließlich. Es waren ein Knabe und ein Mädchen. Als die Kinder die Alte sahen, fingen sie an davonzulaufen. Sie aber rief: "Rennt nicht weg, Kinder, ich bin eure Mutter." Die Kinder glaubten ihr und kehrten mit der Alten in ihre Hütte zurück. Als sie nun bei ihr waren, halfen sie, das Haus zu besorgen. Wenn die Alte wegging, um Kräuter zum Essen zu sammeln, übernahmen es die Kinder, dem kranken Alten zu essen zu geben. Die Kinder nannten ihn Vater Hirsch und die alte Hexe Mutter Tepescuintle [Paca, eine besondere Rattenart].

Die Kinder wuchsen sehr rasch heran; und als sie schon fast groß waren, begannen sie, etwas zu suchen, was es in den Lianen gab, die auf den Eichen wuchsen. Die Kinder schnitten diese Samen ab und kochten sie. Als sie gekocht waren, wuschen sie sie, und da kam auch schon der Schleim heraus. Dieser Schleim ist klebrig und dient dazu, Vögel zu fangen. Die Menschen von heute benutzen ihn noch.

Die mutwilligen Kinder begannen, Vögel zu jagen. Und damit beschäftigten sie sich jeden Tag und fingen sehr viele Vögel. Immer trugen sie Netze und füllten sie mit Vögeln. Die Mutter Tepescuintle war sehr zufrieden, denn sie aß nun jeden Tag Vögel und keine Kräuter mehr. Eines Tages aber sagten die Kinder zu Mutter Tepescuintle: "Die Vögel sind schon selten geworden, da müssen wir jetzt weiter weg gehen." "Bitte, geht nicht auf die andere Seite des Flusses!" sagte die Alte zu den Kindern und nannte jene Stelle cuaa , was ‚heißes Land‘ bedeutet. Sie nannte sie auch llano, ‚wo der Mahlstein ist‘, denn die alte Hexe wusste, dass an jenem Ort der Herr der Vögel weilte. Daher wollte sie nicht, dass die Kinder sich bis dorthin vorwagten.

Da sich aber die Kinder schon groß fühlten, sagten sie mit großem Nachdruck zueinander: "Nun denn, wir werden den Ort ansehen, von dem die Mutter spricht; mal sehen, was uns dort widerfährt." Und sie zogen los. Sie überquerten den Fluss und gelangten an den verbotenen Ort. Dort suchten sie Stöcke, um Leim darauf zu streichen, hängten sie auf und fingen so viele Vögel. Das Netz füllte sich, es füllte sich der Hut und es füllte sich auch die Schürze des Mädchens und sie gingen los. Sie waren erst wenig gegangen, als sie eine Stimme von oben aus den Bäumen sagen hörten: "Kinder, wohin geht ihr mit meinesgleichen?"

Die Kinder wandten ihre Gesichter aufwärts und sahen einen sehr großen Vogel, der ihnen zurief: "Lasst meinesgleichen frei! Wenn ihr sie nicht freilasst, töte ich euch. Ihr ernährt damit die alte Tepescuintle; das ist nicht eure Mutter. Eure Mutter starb an derjenigen Seite des Flusses, wo die alte Tepescuintle die Eier gefunden hat."

Aus diesem Grunde respektierten die Kinder, als sie diese Worte des Vogels gehört hatten, die Mutter Tepescuintle fortan nicht mehr. Die Kinder erschraken sehr und der Knabe sagte zu dem Vogel: "Aber wie können wir sie veranlassen, dass sie wegfliegen, wenn alle tot sind?"

"Seht!" antwortete der große Vogel, "holt die größten Vögel heraus, haucht ihnen unter die Flügel und ihr werdet sehen, dass sie sich wiederbeleben." So machten es die Kinder: sie nahmen die größten heraus, hauchten ihnen unter die Flügel und alle wurden wieder lebendig und flogen davon. Die Kinder hatten schließlich keinen Vogel mehr und ärgerten sich sehr darüber.

Als sie nach Hause kamen, waren die beiden, der Knabe und das Mädchen, sehr wütend und gehorchten der alten Hexe nicht mehr. Sie behandelten sie schlecht und wollten sofort davongehen. Die Alte sagte ihnen: "Geht nicht weg, ich bin eure Mutter." "Du bist nicht unsere Mutter", sagten die Kinder. "Unsere Mutter starb an jenem Flussufer."

Mutter Tepescuintle wollte nicht, dass die Kinder wegliefen, und die Kinder waren damit einverstanden, noch einen Tag zu bleiben, jedoch nicht länger. Aber diesen Tag, den sie blieben, planten sie allerhand Sonderbares, während die alte Hexe Kräuter zum Essen suchen ging, denn es gab ja keine Vögel mehr. Als sie nicht zu Hause war, beschlossen sie, den alten Hirsch zu töten; und so machten sie es denn auch: sie töteten ihn, holten seine Eingeweide heraus und füllten ihn stattdessen mit Wespen. Damit man nichts merken sollte, verschlossen sie den Bauch des Alten mit einer Hirschhaut. Die Innereien kochten sie, bereiteten daraus ein sehr schmackhaftes Gericht, um es der Hexe zu essen zu geben, wenn sie zurückkommen würde. Während die Innereien kochten, bereiteten sie einen Brei aus Jonote [dem Rindenbast des Jonote-Baumes] und schütteten ihn in einen Topf, den sie oberhalb der Lagerstatt hinstellten. Als die Hexe kam, führten sie sie hinters Licht, indem sie ihr sagten, dass sie ein Tier gefangen hätten.

"Setz dich, Mutter, wir werden dir das Fleisch in den Mund schieben und du kannst es essen." "Ja!" sagte die Alte. Sie setzte sich und die Kinder befahlen ihr, die Augen zu schließen. Sie schoben ihr das Fleisch in den Mund und eines der Kinder fragte: "Wie ist es, Mutter?" "Es ist sehr schmackhaft", antwortete die Hexe, ohne zu ahnen, dass sie die Innereien ihres alten Hirsches aß.

"Nun solltest du meinem Vater von dem Fleisch geben, damit er etwas davon isst", sagte der Knabe zu der Alten. "Sehr gut!" sagte die Alte. Dann kletterte sie auf die Schlafstatt, und als sie dorthin gelangte, wo ihr Alter lag, und ihn anrief, antwortete er nicht, denn er war ja tot. Die Alte wollte ihn schlagen und da kamen die Wespen hervor und stachen sie fast am ganzen Körper. Sie wollte schnell herabsteigen, aber der Topf mit dem Brei fiel hinab und die Leiter wurde so glitschig, dass die Hexe auch fiel.

Als die Kinder sahen, dass sie hinfiel, rannten sie davon, denn dies war ihre Absicht gewesen. Die Alte sagte noch zu den Kindern: "Rennt nicht davon, rennt doch nicht!" Aber die Kinder machten sich nichts daraus und verließen die Alte. Sie beschlossen wegzugehen, denn sie wussten ja bereits, dass die Hexe nicht ihre Mutter war. So zogen sie über Land und warteten darauf, dass sie ihr Schicksal ereilte.

Eines Tages gelangten sie in ein kleines Dorf und die Bewohner des Dorfes erzählten ihnen, dass es nicht weit entfernt einen Berg gäbe und dort lebe ein Adler, der Jungfrauen