Das kann gut werden - Bettina Musall - E-Book

Das kann gut werden E-Book

Bettina Musall

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Beschreibung

Von der Kunst, aktiv in Rente zu gehen – ein inspirierender Reisebegleiter für alle, die an der Schwelle zu dieser Lebensphase stehen

Die langjährige SPIEGEL-Journalistin Bettina Musall ist Teil der Generation Babyboomer, von der viele schon mit Mitte fünfzig und oft halbfreiwillig in den (Vor-)Ruhestand gehen. Wie sie selbst und ihre Altersgenossen den Ausstieg aus dem geregelten, verlässlich bezahlten und gesellschaftlich angesehenen Berufsalltag erleben, welche Ängste, aber auch welche Hoffnungen sie dabei begleiten, davon erzählt dieses Buch. Es berichtet von Menschen, die diese Lebensphase als Neuanfang sehen und auf der Suche sind – nach Aufgaben, womöglich finanzieller Aufbesserung, persönlicher Entwicklung, sich selbst, nach Lebensfreude und jenem Glück, das ein sinnstiftendes Dasein gibt. Musalls Buch ist die sehr persönliche Bestandsaufnahme einer Generation im Übergang und Inspiration zugleich – für all die Leserinnen und Leser, die ähnliche Fragen und Gedanken haben, wie ihr eigenes Leben weitergehen könnte.

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Seitenzahl: 351

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Zum Buch

Die langjährige SPIEGEL-Journalistin Bettina Musall ist Teil der Generation Babyboomer, von der viele schon mit Mitte fünfzig und oft halb freiwillig in den (Vor-)Ruhestand gehen. Wie sie und ihre Altersgenossen den Übergang aus dem geregelten, verlässlich bezahlten und gesellschaftlich angesehenen Berufsalltag ins Rentnerdasein erleben, welche Ängste, aber auch welche Hoffnungen sie dabei begleiten, davon erzählt dieses Buch. Es berichtet von Menschen, die diese Lebensphase als Neuanfang sehen und auf der Suche sind – nach Aufgaben, womöglich finanzieller Aufbesserung, persönlicher Entwicklung, nach sich selbst, nach Lebensfreude und jenem Glück, das ein sinnstiftendes Dasein gibt.

Zur Autorin

Bettina Musall, geboren 1956, war von 1985 bis 2021 Redakteurin beim SPIEGEL. Lange Jahre schrieb die Germanistin und Politikwissenschaftlerin für die Ressorts Politik, Gesellschaft, Sport und Kultur. Für die Reihe SPIEGEL Wissen konzipierte sie überwiegend gesellschaftspolitische Hefte, zum Beispiel zum Thema Bildung. Außerdem lieferte sie für SPIEGEL Geschichte zeitgeschichtliche Beiträge. Sie ist Herausgeberin mehrerer SPIEGEL-Bücher, darunter Endlich Zeit (2018) und Die Welt des Adels (2021). Heute lebt sie als freie Autorin und Journalistin in München.

www.cbertelsmann.de

Bettina Musall

Das kann gut werden

Wie der Einstieg in den Ruhestand zum Aufbruch in ein neues Leben wird

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Bei einigen Personen wurden die Namen aufgrund von Persönlichkeitsrechten geändert.

Copyright © 2023 C.Bertelsmann

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Regina Carstensen, Wien

Covergestaltung: Favoritbuero, München

Coverabbildung: Konstantin L / Shutterstock

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-29076-4V001

www.cbertelsmann.de

Für Leo

Inhalt

Einleitung Der blauviolette Karton

Abschiede

Feierabend · Beschwingt und wehmütig · Abschied nehmen wir gerade genug · Gerade hat man sich an sich gewöhnt · Schock und Chance · Leeres Nest

(ZWISCHEN-)BILANZ Teil I

Zeit des Umsteigens · Twist and Shout · Zwei Drittel Gestern · Ein (fast) schwereloser Anfang · Zeit der Widersprüche · Leichtlebige Sinnlichkeit · Alben und Altlasten · Mutters Albtraum · Schonungslos und nachsichtig

(ZWISCHEN-)BILANZ Teil II

Daumen rauf, Daumen runter · Was sind das für Leute? · Jenseits der Kirschblütenkultur · Machtmenschen und Tischlerinnen · Die Statik des Familienfriedens · Der Zorn der Millennials · Großmutter Dorothea oder: Schmieren und trainieren · Die Würde der anderen · Liebe, Begehren und Partnerschaft

Aufbruch Teil I

Was tun? · Wandlungen, Wechsel-Jahre, Willensbildung, Weichenstellung · Der nasse Fisch · Elegant rauskommen · Grenzen und Wachsen · Politik zwischen Wellness und Weiterrackern · Die Finanzierungslücke · Flexirente, Weiterbeschäftigung und kreative Konzepte · Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement · Was kann ich und was brauche ich? · Raus aus den Abstellkammern oder gar nicht erst rein

Aufbruch Teil II

Leben! Nur wie? · Allein? Zu zweit? Oder anders? · Fortsetzung Liebe, Begehren und Partnerschaft · Erotische Bedürfnisse · Altersmilde Gelassenheit? · Ein gelungenes Ganzes · Kinder und Großeltern – Noch eine Liebesgeschichte · Plädoyer für den Zufall

Ausblick

Spaß und Spurensuche – Das kann gut werden · Aktiv zur Ruhe kommen · Die Kunst des Wünschens

Danke!

Literatur und Links

Es sind nicht die Jahre in deinem Leben, die zählen, sondern das Leben in deinen Jahren.

Abraham Lincoln

Einleitung

Der blauviolette Karton

Der blauviolette, sorgfältig adressierte Schuhkarton, der zwei Wochen zuvor eingetroffen war, stand noch immer ungeöffnet da, als mein Sohn vom Studium übers Wochenende nach Hause kam. Mein Bruder hatte ausgemistet und ein Sammelsurium an Erinnerungen geschickt. Ich hatte das Paket zur Seite geschoben, kann gar nicht genau sagen, warum ich mich nicht gleich darüber hergemacht hatte. Als mein Sohn fragte, was denn in der bunt beklebten Kiste sei, griff ich zur Schere und bat ihn, den Karton zu öffnen.

Fotos, die meisten schwarz-weiß, viele noch mit Mäusezähnchenrand, handgeschriebene Zettel, Postkarten und ein Poesiealbum lagen durcheinander. Er holte ein Foto heraus. Es war ein wenig unscharf. Er hielt es unter die Lampe, die über dem Küchentisch hängt, dann musterte er mein Gesicht, dann wieder das Bild. »Da siehst du schon so aus wie heute«, sagte er. Ich nahm die Fotografie in die Hand.

Das Bild, das er so gründlich studierte, ist vermutlich an einem meiner Kindergeburtstage aufgenommen worden. Sieben oder acht Jahre alt muss ich gewesen sein. Umgeben von drei Freundinnen und einem Freund stehe ich in meinem Spielzimmer. Weil ich mich so gern verkleidete, mussten meine Gäste auch immer kostümiert erscheinen. Im protestantischen Bremen, Anfang Januar, war das eher unüblich. In diesem Jahr 1963 oder 1964 trug ich weiße Strumpfhosen, einen weißen Rolli und ein zitronengelbes Baströckchen.

»Wie heute doch nicht.« Ich lachte. »Doch Mama«, er bestand darauf, »ich hätte dich sofort erkannt.«

Mein Schuhkarton. Meine Fotos. Meine Geschichte. Die Jahrzehnte, die seit dem Baströckchenfoto vergangen sind, sind meine Jahrzehnte, mein Leben. Sechsundsechzig Jahre. So weit, so gut, dachte ich, während wir in den alten Fotos kramten. Wenn der zweiundzwanzigjährige Sohn seiner Mutter kurz vor dem Renteneintritt versichert, er hätte sie auf einem Bild wiedererkannt, das vor mehr als einem halben Jahrhundert aufgenommen wurde, ist hoffentlich nicht allzu viel schiefgegangen.

Er hat ja nicht gesagt: »Du hast dich gar nicht verändert«, das wäre frustrierend. Keine Veränderung nach so viel Leben. Das Lachen und die Tränen, die Euphorie und die Havarien, die  kleinen und größeren Triumphe, die Bruchlandungen und das Aufrappeln, die Glücksmomente, der Weltschmerz und die Traurigkeit, die Geschenke und die Verluste. Wenn das alles spurlos geblieben wäre, hätte ich, wie der Herr K. in Bertolt Brechts berühmter Parabel Geschichten von Herrn Keuner, erbleichen müssen, als ein Bekannter, den er nach langer Zeit wiedertraf, bemerkte, Herr K. habe sich gar nicht verändert.

Ich legte mir wohltuende Interpretationen der Behauptung meines Sohnes zurecht, er hätte mich wiedererkannt, so was wie: Das heißt vielleicht, sich treu geblieben zu sein, die Nackenschläge des Lebens irgendwie ganz gut weggesteckt, das freche Lachen noch nicht völlig verlernt zu haben. Als er gegangen war, krochen die Zweifel herauf. Bestimmt wollte er nur nett sein zu seiner Mutter. Nein, es sind nicht die Äußerlichkeiten, die sich gehalten haben. Aber was dann? Was ist aus mir geworden? Was von dem, was ich einmal vorhatte, habe ich getan? Verbindet die angehende Rentnerin noch etwas mit der jungen Person, die ich einmal war? Oder ist da nur Trauer über das, was vergangen und vorbei ist? Bin ich gerne der Mensch, der ich bin? Und reicht mir das? Oder will ich an mir weiterarbeiten? Mich weiterentwickeln? Und wenn ja, wohin? Hinter all dem lauert die Frage: War’s das, oder kommt da noch was?

Es ist klar, warum sich gerade jetzt heftige, widerstreitende Gefühle einstellen, denn es geht nicht nur darum, dass schon ziemlich viele Lebensjahre verstrichen sind. Mit dem Eintritt in den Ruhestand liegt die Zeit hinter uns, die den Menschen über Jahrzehnte definiert: als berufstätig. Als Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin. Als aktiven Teil des Bruttosozialprodukts. Als nützliches Mitglied der Leistungsgesellschaft.

All das ist mit dem Tag vorbei, an dem ich nach sechsunddreißig Jahren und 123 Tagen zum letzten Mal die Tür meines Büros beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel hinter mir zuziehe. Vorbei die Selbstverständlichkeit, mit der morgens um sieben Uhr der Wecker eine feste, regelmäßige, irgendwie beruhigende Tagesstruktur herbeiklingelt. Vorbei das Gleichmaß, mit der alle paar Monate der Arbeitsalltag durch einen Urlaub willkommen unterbrochen wurde – jetzt ist die freie Zeit Alltag. Vorbei die einfachen Antworten auf einfache Fragen wie die, was man so mache, wie der Tag war, ob am Wochenende schon etwas geplant sei. Und vorbei die Antworten auf Fragen, die schon immer schwierig waren, sich jetzt aber neu stellen: Was außer einkaufen, Freunde sehen, ins Kino gehen, den nächsten Besuch beim Friseur, beim Arzt oder im Fitnessstudio planen, sich auf Familientreffen freuen, gibt nicht nur dem Terminkalender, sondern der Person und ihrem Leben Halt und Inhalt?

Austausch auf Augenhöhe

Ruhestand. Das Wort löst widerstreitende Assoziationen und Empfindungen bei Menschen aus, die davon betroffen sind. Es löst Freude aus. Und Ängste. Vorfreude auf nicht endende Tage ohne Termine. Darauf, endlich zu tun, was wir schon immer wollten. Und zu lassen, was wir niemals wollten. Ängste davor, mit der neuen Freiheit gar nichts anfangen zu können. Die Leere einer Woche zu fürchten. Sich nutzlos und überflüssig zu fühlen. Die Hoffnung, gesund zu bleiben. Und die Sorge, dass es anders kommen könnte. Nicht viel weniger ambivalente Regungen löst der Vorruhestand aus, auf den es in Deutschland keinen Anspruch gibt, der jedoch von Unternehmen angeboten und von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zunehmend angenommen wird.

Mir ist bewusst, dass ich in dieser Situation nicht allein bin. Im Gegenteil. Wir sind viele, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren als Babyboomer gestartet sind und jetzt als Rentnerboomer eine Ziellinie überqueren, um den nächsten Lebensabschnitt anzugehen. Allein in Deutschland leben gegenwärtig achtzehn Millionen Menschen, die fünfundsechzig Jahre und älter sind, nimmt man die über Fünfundfünfzigjährigen dazu, sind es fast dreißig Millionen. Tendenz steil steigend: Bis zur Mitte des Jahrhunderts stellt die Gruppe der begütigend »Best Ager« Genannten fast die Hälfte der Bevölkerung. Die größte Generation, die das Land je hatte, bricht ihre Zelte auf der Arbeit ab und in eine oft undefinierte Zukunft auf. Eine Herausforderung für die Menschen wie für das Land – und eine Riesenchance.

Hinter allen, die in diese Lebensphase eintreten, liegen Lebensabschnitte voller Entscheidungen. Für eine Art zu leben. Für Arten zu lieben. Für Abzweigungen, die wir genommen haben, und solche, an denen wir vorbeigegangen sind. Die Frage ist nur: Was liegt vor mir? Vor uns?

Egal, ob der Tag, der unserer bisherigen Berufstätigkeit ein Ende setzt, wohlverdient herbeigesehnt oder sorgenvoll gefürchtet wird, fest steht: Je älter die Menschen werden, desto länger währt die Spanne, die mal als Lebensabend abzusehen war. In der Alterskohorte ab fünfundfünfzig gehen heute schon viele und in den kommenden Jahren mehr und mehr Mitglieder der Babyboomer-Generation mal mehr, mal weniger freiwillig in den (Vor-)Ruhestand. Selbst wenn die Firma den Abschied finanziell versüßt, sehen etliche dem Ausstieg aus dem aktiven, geregelten, verlässlich bezahlten und gesellschaftlich angesehen Berufsalltag mit gemischten Gefühlen entgegen. Umso komplexer, irgendwo zwischen bedrohlich und abenteuerlich, wächst die individuelle Hausaufgabe zur Lebensfrage: Was nun? Was tun?

Zweifellos macht es einen Unterschied, ob sich jemand freudig in die Frühpension davonmacht, mit einer Abfindung und einem gestreckten Gehalt fürs Spazierengehen. Oder ob eine Kollegin ausscheidet, weil es sie mürbe macht, wenn ihr in jeder Konferenz mehr oder weniger subtil zugeworfen wird, dass sie wohl noch eine Schulung für das letzte Update vom Betriebssystem braucht. Ob jemand mit der Partnerin schon die erste Traumreise gebucht hat oder ob man die geliebte Wohnung verlassen muss, weil die Miete ohne das Gehalt nicht zu stemmen ist. Ob die Kinder froh sind, weil die Großeltern endlich Hausaufgaben mit den Enkelinnen machen oder ob da nichts wartet als die Radiostimmen vom Deutschlandfunk. Ob ich endlich Zeit habe, den Magister in Germanistik mit einer Doktorarbeit zu krönen, oder ob ich zu ausgebrannt bin, um die Funktionsweise eines Tablets zu erlernen. Ob ich als Siebenundsechzigjähriger auf Parship eine Partnerin suche, mit der ich eine Familie gründen will, oder ob ich froh bin, wenn der Mann sich nach einem Schlaganfall wieder selbstständig duschen und anziehen kann.

Und doch haben Menschen, die mit fünfundfünfzig, sechzig, fünfundsechzig oder – wenn es nach sehr forschen Arbeitsökonomen geht – künftig erst mit siebzig aufhören sollten, unsere Renten zu sichern, bei allen Unterschieden Etliches gemeinsam. Wir fangen an, Abschied zu nehmen, von Möglichkeiten, Fertigkeiten, Zuständen, die uns bisher selbstverständlich erschienen. Von einer Art zu denken, zu empfinden, wahrzunehmen, zu lieben, zu planen, sich im Spiegel zu sehen, sich etwas zuzutrauen. Abschied von einem Ich, das wir jahrzehntelang gebildet und geschaffen haben, mit dem wir uns – wenn es gut gegangen ist – angefreundet und an das wir uns gewöhnt haben.

Spätestens wenn das Ziehen in der linken Hüfte einfach nicht mehr aufhören will, gerät die Gewissheit, sich auf die Person, die wir geworden sind, verlassen zu können, ins Wanken. Mit Mitte fünfzig lässt sich das oft noch eine Weile beiseiteschieben. Wer mit sechzig keine Veränderung zu seinem oder ihrem vierzigjährigen Selbst wahrnimmt, gehört medizinisch, geistig und psychologisch zu einer Kategorie von Angejahrten, die irgendwo in der mittleren Reife hängen geblieben sind: zu den Götterlieblingen, den Kraftmeiern oder Verdrängungskünstlerinnen.

Ich selbst zähle zu den Leuten, die ihre Lebensreise auf allen Abschnitten – ob es volle Fahrt voraus ins Blaue oder gebremst durch endlos lange Tunnel geht – bewusst wahrnehmen und annehmen, wenn möglich, genießen wollen. Ich habe gelernt, dass Umwege manchmal beglückender sind als die schnellste Route. Ich bin froh und dankbar, auf Erfahrungen aufbauen zu können. Und ich bin neugierig auf Unbekanntes. Ich fühle mich manchmal ramponiert vom Leben und entsprechend unsicher, was ich mir (noch) zumuten kann, aber ich bin auch gespannt auf das, was kommt. Ich gestalte lieber, als mich auszuliefern. Und ich will mich gern noch überraschen lassen. Kurz: Ich bin eine von denen, die wissen, was sie (nicht) wollen, und lernen wollen, was sie noch nicht wissen.

Dieses Buch will kein Ratgeber sein, der fertige Antworten präsentiert. Eher eine Einladung zum Dialog an Leserinnen und Leser, die wie ich am Anfang dieses nächsten Lebensreiseabschnitts stehen. An Frauen und Männer unterschiedlicher Berufe. An Menschen, die den Ausstieg aus ihrer geregelten Berufstätigkeit als Anfang sehen und auf der Suche sind. Nach Aufgaben, nach persönlicher Entwicklung, nach Zufriedenheit, nach sich selbst. Vielleicht auch nach finanzieller Aufbesserung. Nach Lebensfreude, wenn möglich: nach jenem Glück, das ein sinnstiftendes Dasein gibt.

Dieses Buch kann Reise- und Wegbegleiter sein. Für Passagiere im Transit. Das englische Wort transition für diese Lebensphase des Übergangs veranschaulicht, dass es weniger um einen Zustand als um eine Exkursion mit offenem Ende geht. Jede transition hat ihren individuellen Antrieb, jede Passagierin und jeder Passagier geht auf eine sehr persönliche Entwicklungsreise, mit unterschiedlichen Zielen. Und oft geht es darum, überhaupt erst mal ein Ziel (oder mehrere?) zu identifizieren.

Es wäre schön, wenn Leserinnen und Leser sich wiedererkennen in manchen Fragen und Gedanken. Vielleicht können sie bei einer ganz persönlichen Lebensreiseplanung helfen und Anregungen geben, wie die weitergehen könnte. Vielleicht stellt sich heraus, dass es sich lohnt, Bilanz zu ziehen, auf die persönliche Geschichte zurückzuschauen, die zusammenfiel mit der gesellschaftlichen Kindheit der Nachkriegsrepublik. Die Kalenderweisheit, das Leben lasse sich nur rückwärts verstehen, müsse aber vorwärts gelebt werden, eignet sich vermutlich auch in diesem Augenblick des Übergangs, um herauszufinden, wohin die eigene Expedition führen soll: weitermachen wie bisher, weil es genau das Richtige war und bleibt? Einem festen Plan folgen? Abgelegte Träume wiederentdecken? Oder sich abseits bisheriger Pfade völlig neu ausprobieren?

Egal in welchem Alter: Wer unbekannte Lebensräume betritt, sucht einen Austausch auf Augenhöhe. Anregende Gesprächspartner, die vielleicht schon ein paar Erfahrungen voraus sind und davon berichten können, ohne zu schlaumeiern. Bei der Recherche bin ich Menschen begegnet, die auf ihrer Weiterreise in den neuen Lebensabschnitt Überraschungen, Rückschläge und Fortschritte erlebt haben. Es sind öffentlich bekannte Leute darunter wie die Managerin Simone Menne, der Schauspieler Mario Adorf oder der protestantische Bischof Heinrich Bedford-Strohm. Psychotherapeuten, Soziologinnen, Resilienz- und Altersforschende stoßen dazu, weil ihre Fachkompetenz hilft, Gedanken zu ordnen oder individuelle Erfahrungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu vergleichen und womöglich Entscheidungshilfe zu leisten.

Sehr alte und ganz junge Menschen erzählen von beidseits beglückenden Gemeinschaftsprojekten. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen internationaler Konzerne schildern, wie das in der Praxis funktioniert: die Teambildung aus Innovation und Erfahrung. Töchter und Söhne von Eltern, deren Kriegsnarben bei den Kindern Verletzungen und Albträume hinterließen, berichten von sehr persönlichen Erlebnissen. Und dann sind da diejenigen, die durch ihre Persönlichkeit, ihren Mut, ihren Eigensinn und ihre Lebenslust beeindrucken. Sie und all die anderen Biografien, Gedanken und Herangehensweisen vorzustellen, bedeutet nicht, sie zur Nachahmung zu empfehlen. Aber es könnte sein, dass die eine oder andere Geschichte auf eigene Ideen bringt.

Was uns verbindet, außer dass wir nicht in Clubs, sondern in Discos abrockten, ist der Mut oder zumindest die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, dass die persönliche Entwicklung weitergeht. In einem Alter, von dem der römische Geschichtsschreiber und Politiker Marcus Porcius Cato so streng wie bündig befand, »von all den vielen Übeln«, die diese Lebensphase bereithalte, bringe »nichts so viel Unehre für einen Älteren wie untätiges, energieloses und faules Herumsitzen«.

Ein Wort zum »Wir«. Es ist eine Binsenweisheit, dass es ein Wir für die Generation Baby-/Rentnerboomer so wenig gibt wie für alle anderen. »Wir« sind so vielgestaltig wie jede einzelne Lebensgeschichte. Was »uns« geprägt hat, wie »wir« aufgewachsen sind, ergibt sich naturgemäß aus der Summe aller Einzelleben. Dennoch sprechen wir wie alle anderen Generationen von »uns«, wenn wir davon erzählen, was die Erlebnisse und Prägungen derer, die zwischen 1950 und 1970 geboren sind, von anderen unterscheidet.

Neben der Verantwortung für alles, was nach dem Zweiten Weltkrieg schiefgegangen ist, verbindet uns Boomer nach Ansicht vieler Jüngerer eine Neigung zu Starrsinn und Besserwisserei. Diese äußere sich unter anderem darin, dass viele Ältere sich schwertun mit sprachlichen Erscheinungen wie dem Gendern oder damit, sich vor weltanschaulichen Entscheidungen zu drücken wie der, entweder »woke« oder reaktionär zu sein.

Ich wünschte mir ein wenig mehr Gelassenheit bei Themen, die keinen Einfluss darauf haben, ob die Welt fortbesteht oder untergeht. In welche Schublade dieses Buch samt Autorin gehört mögen Leser, Leserinnen und Leser:innen beurteilen, am liebsten landete ich in gar keiner Schublade. Alle sind herzlich willkommen, weshalb ich sie, mehr der Sprachmelodie als einem Regelwerk folgend, mal so, mal so adressiere.

Abschiede

Feierabend

Der Kollege, der an diesem Montag im Flur an mir vorbeifederte, war nicht darauf eingestellt, stehen zu bleiben.

»Na, freuste dich?«, rief Felix mir zu und bog schon in sein Zimmer ein. Er spielte auf mein bevorstehendes Arbeitsende an, hatte wohl mit einem kurzen Jubelruf gerechnet, so was wie: »Und ob!« Den Gefallen konnte ich ihm nicht tun. »Eher nicht so«, brummte ich zurück.

Da er ein empathischer Kollege ist, stoppte er und sah mich verblüfft an. »Echt jetzt?« Und setzte nach: »Mensch, ist doch toll! Nie mehr Konferenzen! Keine Chefs mehr über dir! Du kannst jetzt tun und lassen, was du willst!« Und wie die meisten krönte Felix seinen Zuspruch damit, dass er mir seine ganz persönlichen Ruhestandsträume ausmalte: »Morgens einfach liegen bleiben. Nur noch Freizeit. Mit dem Motorrad durch Kalifornien. Easy Rider. Sechs Wochen Sommerferien mit den Kindern.« Er strahlte. Und sein Strahlen verlosch augenblicklich bei der Vorstellung, dass seine Sehnsüchte noch rund fünfzehn Jahre warten müssen.

Mir blieben an diesem Montag noch zwei Wochen, um meine letzte journalistische Auftragsarbeit zu beenden, mein Büro auszuräumen und das Fest vorzubereiten, zu dem ich anlässlich der Feier meines Aufbruchs ins Rentnerinnendasein eingeladen hatte. Felix nannte das »die große Freiheit«.

Lebensabschnitte vollziehen sich in Phasen, oft auch in Schüben. Meine Gemütsverfassung war zu diesem Zeitpunkt schon ohne besondere Vorkommnisse seit Längerem wechselhaft. Ich fühlte mich zurückversetzt in die Wochen vor und nach dem Abitur, manchmal fast berauscht von all dem, was nun möglich wäre, was ich jetzt beginnen, ausprobieren, werden könnte. Das waren die Felix-Momente. Aber meistens klang das Wort »Freiheit« wie der manipulative Versuch, einem etwas schmackhaft zu machen, was keiner haben will. Wie Diäturlaub. Oder Hypertonie-Tabletten. Freiheit, das schwante mir auch schon nach dem Reifezeugnis, schien ein Synonym für die druckvolle Erwartung zu sein, sich für etwas zu entscheiden, aus dem vielen Möglichen etwas Konkretes, Erfolg versprechendes zu machen.

Felix war nicht der Erste und schon gar nicht der Einzige, der mich auf mein herannahendes Arbeitslebensende ansprach in der sicheren Annahme, dass ich es kaum erwarten könne. Erika arbeitet in Leitungsfunktion in einem großen deutschen Medienbetrieb. Während ich damit haderte, an meinem allerletzten Arbeitstag in den zweifellos wohlverdienten Altersruhestand zu gehen, nahm die Kollegin den frühestmöglichen Termin, zu dem ihr Unternehmen ihr eine großzügige Vorruhestandsregelung anbot, um mit fünfundfünfzig, satte zwölf Jahre vor Regelrentenbeginn, die Arbeit einzustellen. »Ich kann es kaum abwarten«, gestand sie, »mir graut jeden Tag vor den schlecht gelaunten, missgünstigen Schreibtischnachbarn. Und vor mäkelnden Mitarbeiterinnen. Und vor dem Arbeitsberg, der ins Unbesiegbare wächst.« Sie wolle »ein Jahr erst mal nichts tun. Dann vielleicht reisen. Freunde besuchen. In den Tag hineinleben. Herrlich!«

Ich lächelte gequält, wollte Erika mit meiner Melancholie nicht die Aufbruchsstimmung vermiesen. Zumal ich mich im Verdacht hatte, meine Melancholie könnte auch nur eine Beschönigung für ganz ordinäres Selbstmitleid sein. Weil mir die Vorstellungskraft und die Kühnheit von Felix fehlten, das Ende als Anfang zu sehen. Weil ich mir – zu Recht oder zu Unrecht – Sorgen machte, ob ich meine Münchner Wohnungsmiete würde weiterzahlen können. Darüber müsse Erika sich nämlich keine Sorgen machen, erfuhr ich streng vertraulich in der Kantine, »Geld hat sie mehr als genug«. Vielleicht war ich einfach neidisch auf Felix’ Elan und auf Erikas finanzielle Unabhängigkeit?

Waidwund, anders kann ich den Gesichtsausdruck nicht nennen, den mir jene Arbeitsgefährten und -gefährtinnen entgegenbrachten, die nur zu gern mit mir getauscht hätten. Diejenigen, die das offizielle Ende aller Dienstreisen ähnlich wie ich bald vor sich hatten, reagierten bestenfalls verständnislos auf meine Unlust, auszuscheiden. Ich kam mir vor wie eine, die fünf Millionen im Lotto gewonnen hat und das Geld nicht abholen will. Die meisten wollten gar nicht wissen, warum ich nicht vor lauter Vorfreude Räder schlug.

Aus reiner Wohlerzogenheit fragte Felix, was ich denn »um Himmels willen« vermissen würde?

»Genau das, was du so gern loswerden willst«, sagte ich leise, weil es mir peinlich war, dass mir schon mal die Stimme wegrutschte, wenn ich mir mein arbeitsloses Morgen vorstellte. »Die Konferenzen. Die zwingen mich, aufzustehen. Und dann freue ich mich, besonders seit wir auch im Homeoffice arbeiten, die Kolleginnen allesamt auf dem Laptop zu sehen, die aktuelle Nachrichtenlage zu erfahren, hier und da meinen Senf dazuzugeben und mit sechzehn winkenden Händen in den Tag zu starten.«

Felix gab sich Mühe, mich zu verstehen, das erkannte ich an der Konzentrationskerbe zwischen seinen Augenbrauen. Aber bestimmt hat er abends zu seiner Frau gesagt: »Stell dir mal vor, die würde lieber bleiben. Irgendwie traurig. Mit Mitte sechzig.«

Kollegin Erika versicherte mir zugewandt, sie werde zu meinem Ausscheiden bei Häppchen, Musik und Wein erscheinen, eines wolle sie nämlich auf keinen Fall verpassen: »Wie man mit Stil und Contenance seinen Abschied feiert.« Ich war nicht sicher, ob ich ihr das würde bieten können.

Was war nur los mit denen? Und was war los mit mir? Waren die verrückt, ihre gut bezahlten und angesehenen Jobs vorzeitig verlassen zu wollen? Mir hätten sie noch so viel Abfindung anbieten können, ich hätte meine Stelle nicht freiwillig geräumt. Hatte ich ein Problem? Fehlte es mir an Selbstwertgefühl? War mir der Beruf zu wichtig? Definierte ich mich durch Erwerbsarbeit, während andere, selbstzufriedenere Zeitgenossen und -genossinnen über genug innere und äußere Reserven, innere und äußere Stabilität verfügten, um sich auf eine Freiheit zu freuen, die mir gar nicht so verführerisch erschien?

Was mich von den Vorruhestands-Kolleginnen und -Kollegen unterschied, die es gar nicht abwarten konnten, ihre feste Vollzeitstelle zu verlassen, war das Alter. Felix war siebenundvierzig, wie er träumen viele Fünfundvierzig- bis Fünfzigjährige davon, die Anforderungen einer Vierzig-, Fünfzigstundenwoche hinter sich zu lassen, verbunden mit den Aufgaben zu Hause, mit den Bedürfnissen von Partnerinnen und Partnern, den Ansprüchen von Kindern, Großeltern, Freundeskreis und womöglich weiteren sozialen Verpflichtungen. Stresssymptome, Überforderung, Burn-out zeigen sich verstärkt ab diesem Alter, kein Wunder, dass sich gerade dann nicht wenige Gutverdienende vornehmen, bis fünfzig finanziell so abgesichert zu sein, dass sie aufhören können zu arbeiten. FIRE (»Financial Independence, Retire Early«, übersetzt: Finanzielle Unabhängigkeit, früher Ruhestand) heißt die Bewegung, deren Anhänger gezielt daraufhin sparen, so früh wie möglich das Erwerbsleben hinter sich zu lassen, weder zu leben, um zu arbeiten, noch zu arbeiten, um zu leben, sondern die Work-Life-Balance endgültig gegen eine Life-Life-Balance einzutauschen.

Nicht selten verschwindet das, je näher das Datum rückt. Dann geht es plötzlich nicht mehr darum, eine Last abzuwerfen, sondern etwas loszulassen, das ein halbes Leben lang Halt und Anerkennung bedeutete, die Existenz sicherte und einen Platz in der Gesellschaft.

Ein Frankfurter Managementberater betreute ein Familienunternehmen, dessen Seniorchef seinen Nachwuchs jahrelang darauf eingeschworen hatte, ihn spätestens mit sechzig aus der Verantwortung zu entlassen. Zwei Söhne und eine Tochter standen wohlausgebildet und mit betrieblichen Auslandserfahrungen in den Startlöchern, als der Vater verkündete, einen wichtigen Unternehmensteil auszugründen, »meine Spielwiese«, die er dann zehn Jahre mit dem Ehrgeiz desjenigen bespielte, der es allen noch mal zeigen will. Mit Glück und Unerschrockenheit behaupteten die Kinder den Familienbetrieb gegen die väterliche Konkurrenz. An seinem zweiundsiebzigsten Geburtstag erklärte der Vater, »nun ernsthaft kürzertreten« zu wollen. »Wer’s glaubt«, kommentierte seine Älteste.

Selbstständige und Freiberufler können ihre Unlust oder Unfähigkeit, loszulassen, frei ausleben. Je nachdem, wie viel Spaß ihnen die Arbeit macht und wie gesund sie sind, können sie hinschmeißen oder sich allmählich daran gewöhnen, Abstand einzulegen von Pflichten und Aufgaben, aber auch von Autorität, Einfluss, Prestige, die ihnen die Arbeit verlieh. Angestellte müssen sich gefallen lassen, dass nicht sie selbst, sondern der Gesetzgeber den Zeitpunkt dieser Loslösung bestimmt. Bei mir war mit fünfundsechzig Jahren und zehn Monaten Schluss, bis 2029 steigt das Eintrittsalter für die Regelaltersrente schrittweise auf siebenundsechzig Jahre.

Für mich ging es nicht um Machtinsignien, die ich hätte loslassen müssen, keine Position, keinen Dienstwagen, keinen Stab. Immerhin war ich daran gewöhnt, Redakteurin in einem der einflussreichsten Medienhäuser des Landes zu sein. An die Stelle würde nun jene Freiheit treten, die ich erst lernen musste zu würdigen. Es war mehr das Abschiednehmen von Kollegen und Kolleginnen, von der Gewohnheit, etwas im Team zu erarbeiten, täglich neue, aktuelle Themen und Menschen kennenzulernen, sich darauf einzulassen, etwas Sinnvolles beizutragen zum Informationslabyrinth und dafür mit finanzieller wie immaterieller Anerkennung belohnt zu werden. Das zu verlieren, stand mir bevor.

Beschwingt und wehmütig

Abschied war noch nie mein Ding. Im Laufe des Lebens gibt es reichlich Gelegenheit, Abschiede zu üben. Abschied von der Kindheit, von der Jugend, von den Eltern, von Partnern und Partnerinnen, von Orten und Menschen, die uns viel bedeuten. Es gibt schmerzliche Abschiede und solche, nach denen wir uns erleichtert fühlen, weil wir etwas Belastendes hinter uns lassen. Servus, tschüss, adieu, good bye, güle güle oder ciao – die Abschiedsgrüße verschiedener Sprachen klingen mal beschwingt, mal wehmütig. Abschied kann Trennung bedeuten, Lebewohl oder auf Wiedersehen. Jeder Abschied ist eine Zäsur, die uns das Vergehen der Zeit bewusst macht. Und »die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit«, sagt die Psychotherapeutin Silke Ritterbach, die mache sowohl den Abschied wie das Loslassen schwer. Ritterbach betreut in ihrer Hamburger Praxis mehr und mehr Klienten und Klientinnen, die in der Lebensmitte vor einem beruflichen Umbruch stehen, die meisten von ihnen unfreiwillig. »Sie sind lost, sagen sich, hey, ich kann doch nicht nur zu Hause rumhängen, joggen gehen und ein Buch lesen. Ich hab doch dreißig Mitarbeiter geführt.«

In den kommenden Jahren werden etliche Ratsuchende aus der Generation Rentnerboomer hinzukommen. Die Themen und möglichen Probleme einer Midlife-Crisis tauchen einige Zeit später als Latelife-Crisis wieder auf. Es sind ähnliche Verunsicherungen, die aus Anlass elementarer Veränderungen wie einer Entlassung entstehen. »Mit dreißig oder vierzig krieg ich zwar auch eine Krise«, sagt Ritterbach, »aber mit sechzig denkt man, so viel liegt da nicht mehr vor mir. Und es sind Möglichkeiten vorbeigezogen, die ich nicht mehr nachholen kann.« Das Abschiednehmen wird mit zunehmendem Alter nicht leichter, bloß weil wir es schon so oft geübt haben.

Wie wir einen Abschied empfinden, hat mit äußeren Faktoren zu tun, aber auch mit der inneren Verfassung eines Menschen. Der gleiche Abschied, etwa von der Schulzeit, kann ein Gefühl der Erlösung hervorrufen, aber auch die Angst, Freunde und Freundinnen zu verlieren. Es gibt notorische Optimisten, die mit Abschied vor allem die Vorfreude auf die Zukunft verbinden. Sei sie auch noch so ungewiss. Und es gibt empfindsame oder sentimentale Naturen, die vor allem den Verlust von Vertrautem betrauern, die sich einen Neuanfang gar nicht vorstellen können.

So unterschiedlich die Assoziationen sein mögen, die der Begriff »Abschied« hervorruft, so viele Menschen denken dabei unwillkürlich auch an den Tod, den eigenen oder den von geliebten Menschen – auf Google ploppen auf den ersten Klick Angebote für Sterbehilfe auf, wenn Abschied das Suchwort ist.

Ganz so tragisch fühlte sich mein Arbeitsabschied dann aber doch nicht an, immerhin nannte ich die Party, die ich plante, lieber Ausstand statt Abschied. In meinem Leben waren Abschiede häufig unfreiwillig und mit Trauer verbunden. Aber auch gestandene Leute mit durchschnittlichen Abschiedsbiografien können zum Finale ihrer offiziellen Schaffenszeit in Seelennot geraten.

Dabei macht es gewiss einen Unterschied, ob jemand gern oder ungern aus dem Berufsleben ausscheidet. Ob ich jahrelang nur noch anwesend war, um die monatliche Überweisung meines Arbeitgebers zu rechtfertigen, oder ob ich mich immer wieder darauf freute, Aufgaben zu übernehmen, mir neue Ziele zu setzen und setzen zu lassen und mit Kolleginnen im Team zu arbeiten.

Mir hat die Ausstandsparty sehr geholfen, das Ende meiner Dienstfahrt leichtherzig ausklingen zu lassen. »Weißt du noch?« Die Frage, ohne die kein Klassentreffen und kein Familienfest auskommt, wurde in Dauerschleife wiederholt. Weißt du noch, was los war, als du achtundzwanzigjährig 1985 beim Spiegel angefangen hast? »Und ob! Wir saßen auf den Fluren und jubelten Boris Becker bei seinem ersten Wimbledon-Sieg zu. Nicht nur der Leimener ist langsamer geworden.« Weißt du noch, wie viele Frauen ihr in deinem Ressort wart? »Ist nicht schwer zu beantworten, ich war die einzige sogenannte Arbeitsredakteurin.«

Es tat gut, Kolleginnen und Kollegen wiederzusehen, die lange vor mir ausgeschieden waren. Dazu die Jüngeren, die in den letzten Jahren immer jünger wurden. Es tat gut, herzlich umarmt, viel zu viel gelobt und ausgiebig gefeiert zu werden, zurückzuschauen und – hochgestimmt vom Crescendo des musizierenden Sohnes samt Band – sogar einen Hauch von Zukunft zu spüren. Dieser geglückte Cocktail aus Gestern, Heute und Morgen passte dazu, dass ich alles in allem wirklich gern auf mein halbes Leben im selben Unternehmen schaue.

Abschied nehmen wir gerade genug

»Gesittete Menschen«, befand der Philosoph Immanuel Kant, nehmen aus dem Leben »wie aus der Gesellschaft« auf gefasste Weise Abschied, so als gingen sie davon aus, die Zurückgelassenen irgendwann »einmal wieder zu sehen«. So viel Disziplin und positives Denken ist nicht allen gegeben. Doch egal, zu welcher Sorte Abschiednehmer wir gehören: Für alle Berufstätigen hat das Ausscheiden aus der Erwerbsarbeit mit vorangegangenen Abschieden vieles gemeinsam – und ist doch einzigartig.

Es unterscheidet sich schon dadurch, dass die Lebenszeit, die übrig bleibt, einerseits für alle statistisch überschaubar ist. Andererseits leben heute Fünfzigjährige vom Renteneintritt bis zum Lebensende rund fünfzehn Jahre länger als 1970, Frauen werden im Schnitt dreiundachtzig, gleichaltrige Männer immerhin fast neunundsiebzig Jahre alt.

Vorruheständler, die mit achtundfünfzig ihren Schreibtisch räumen, haben je nach Geschlecht mit Glück und Gesundheit noch mehr als ein Vierteljahrhundert Leben vor sich. Verständlich, dass die Vorstellung von zwanzig bis dreißig Jahren »Ruhestand« agile Naturen nervös macht und sie nach Aufgaben und einem Daseinszweck suchen, die so etwas wie Sinn und Freude versprechen.

Völlig überraschend müssen Rentnerinnen und Pensionäre ihren letzten Lebensabschnitt nun obendrein in einer Welt planen, die seit der Pandemie und dem Krieg in Europa von globalen Erdbeben erschüttert wird. Mit der Coronakrise und dem russischen Überfall auf die Ukraine begann der Abschied von einem Leben, wie wir es kannten. Abschied von einer altersgemäßen Gesundheit, die allenfalls allmählich, aber noch nicht so bald schwinden würde. Abschied von einer für berechenbar gehaltenen Zukunft, wie lange sie auch dauern mag. Abschied von freudigen Erwartungen wie der, nun endlich Zeit zu haben für Kinder und Enkel, für Freunde, vernachlässigte Pläne und Träume. Plötzlich ist da die Angst, es könnte ausgerechnet jetzt, wenn der Druck des Alltags langsam nachlassen sollte, vorbei sein mit der elementarsten aller Sicherheiten, auf die doch zwei Drittel des Lebens für die Babyboomer Verlass war: Frieden. Nie wieder Krieg. Plötzlich werden sie bedrohlich lebendig, die Erzählungen der Eltern, von Bombennächten und Zerstörung, von Flucht und Vertreibung, wenn Millionen Menschen allen Alters vor dem Grauen in ihrer Heimat davonlaufen und bei uns Unterschlupf suchen.

Abschied nehmen wir gerade genug. Woher das Vertrauen in die eigene Zukunft nehmen, wenn die Gesellschaft auf wackeligen Füßen steht und rundherum die Gewissheiten bröckeln? Manchem fiel es schon nicht leicht, sich von fest entlohnter Arbeit zu trennen, solange wenigstens die Rente sicher war. Heute reicht das Altersgeld besonders für Frauen oft kaum zum Überleben. Freiberufler können weniger denn je daraufsetzen, durch regelmäßige Einkünfte genug für die Zeit danach zurücklegen zu können. Künftig wird es etlichen Fünfundfünfzig- bis Siebzigjährigen beängstigend erscheinen, ein monatliches Gehalt oder berechenbar honorierte Projekte dranzugeben, um noch mal durchzustarten, sich zu engagieren, frisch zu formatieren und eine vermeintliche Freiheit zu genießen – Freiheit wovon und wozu?

*

Es tröstete mich in den Monaten vor meinem Arbeitsende, wenn nicht nur mich diese Frage umtrieb. So beschämend mir die fröhlichen Aussteiger vor Augen führten, wie sehr es mir an Zutrauen in das Kommende fehle, so wohltuend überraschten mich andere, die ich bis dahin für unerschütterlich gehalten hatte. Zum Beispiel Tobias, mit dem ich Mitte September in den Starnberger See stieg, um eine Runde zu schwimmen.

Es hilft, in der Nordsee kraulen gelernt zu haben, wenn das Wasserthermometer gegen acht Uhr morgens achtzehn Grad zeigt.

»Warm heute«, sagte Tobias, der im Sommer mindestens zweimal täglich einen Kilometer in stabil gepolsterter Brust-Bauch-Lage absolviert, ohne Anspruch an sportive Leistung. Wir glitten ohne viele Worte durch den Voralpensee und waren schon auf dem Rückweg – ich freute mich insgeheim, ein, zwei Längen vorne zu liegen –, als Tobias rief: »Wann ist eigentlich dein letzter Tag?«

Einen Schwimmzug lang dachte ich, er meinte den Urlaub, aber dann war mir klar, was er wissen wollte. »In sechs Wochen«, rief ich zurück.

»Oha.« Beinahe verschluckte er sich und tauchte kurz ab. Und wieder auf. »Das sollten wir feiern, also irgendwie kann man das doch nicht einfach so vorbeigehen lassen.«

Feiern. Meinte er das ernst? Tobias? Der nicht mal Silvester Lust auf Party hat? Für den Weihnachten die größte familiäre Herausforderung ist? Den seine Frau jedes Jahr liebevoll nötigen muss, seinen Geburtstag nicht zu ignorieren? Tobias, fünfundfünfzig, selbstständig und stolz darauf, keinem Arbeitgeber je etwas schuldig gewesen zu sein, keine Anpassung, keine Dienstbeflissenheit und schon gar keine Dankbarkeit für eine sichere Festanstellung – was meinte er damit, man könne den Renteneintritt »doch nicht einfach so vorbeigehen lassen«? Meinte auch er, dass ich nun endlich frei sei? Das Joch der Angestelltenbuckelei hinter mir lasse? Dem, was Freiberufler gern mit Arschkriecherei assoziieren, allemal Tobias?

»Das ist schon ein Einschnitt auf vielen Ebenen«, prustete er herüber. »Da geht was zu Ende, nicht nur ein Job. Und wer weiß schon, was dann kommt. Das wird bestimmt nicht leicht für dich.« Ziemlich viele Sätze am Stück für Tobias. Auf den letzten Schwimmzügen. Da beschäftigte ihn etwas. Obwohl es für ihn als selbstständigen Mittfünfziger keinen Anlass gab, über Themen wie Arbeitsende und Ruhestand nachzudenken. Erstaunlich oft sagte Tobias in letzter Zeit, er fühle, dass er älter werde. Er lese Jean Amérys Buch Über das Altern, »ziemlich harter Stoff«. Es war Koketterie dabei, wenn er melancholisch umflort zitierte: »Was früher Welt als Teil und Anteil unseres Ichs war, schrumpft mit dem welkenden Körper und durch ihn; schlimmer: es wird die klare Negation unser selbst.«

Aber solche Zitate sind auch ein Zeichen dafür, dass Tobias nun begonnen hatte, sich selbst dabei zu beobachten, wie er das, was er jahrzehntelang für selbstverständlich halten konnte – die Verfügung über seine körperliche Unversehrtheit –, unaufhaltsam verlor. Tobias fing an, sich als etwas wahrzunehmen, was ihn kürzlich als noch allzu ferne Idee nicht berührt hatte: als vergänglich. Es sprach Wehmut aus seiner Beschäftigung mit dem österreichischen Schriftsteller Améry, der auch erst fünfundfünfzig war, als er seinen »Akt der Rebellion« gegen die Zumutungen des Alters niederschrieb, wohl wissend, dass er, wie jeder Mensch, der leben will, dem »Unentrinnbaren und Skandalösen« ausgeliefert ist. Mit fünfundsechzig brachte sich der Autor um.

Dass ausgerechnet Tobias mir nun vorschlug, meinen Renteneintritt zu feiern, schien mir auch ein solcher Akt der Rebellion zu sein. Vielleicht wollte er wirklich einfach nur feiern, die viel beschworene Freiheit. Aber vielleicht wollte er auch Ängste und Dämonen vertreiben, die ihn zusehends selbst heimsuchten.

Wäre es so, wäre Tobias kein Einzelfall. Obwohl ältere Männer, wie eine Studie des Fachjournals The Lancet Healthy Longevity 2021 zeigte, seltener verarmen und häufiger in festen Beziehungen leben als ältere Frauen, tun sie sich mit dem Ausstieg aus dem Arbeitsleben und dem damit empfundenen Altwerden deutlich schwerer. Für die Erhebung verglichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Singapur und den USA achtzehn Mitgliedstaaten der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die Selbstmordrate bei älteren und alten Männern liegt seit Jahrzehnten stabil dreimal so hoch wie bei Frauen, in Deutschland haben sich laut der zuletzt 2017 erfassten amtlichen Statistik 9241 Menschen selbst getötet, darunter 6990 Männer. Bedrückende Fakten, vor dem Hintergrund der ausgeprägten Ausstiegssehnsucht, die besonders viele männliche Arbeitnehmer – so wie mein Kollege Felix – Jahre vor dem Dienstende empfinden.

Abschied vom Beruf in einer schwankenden Gegenwart, Aufbruch in eine instabile Zukunft, darauf ist diese von existenziellen Bedrohungen weitgehend verschonte Rentnerboomer-Generation, die als Endlos-Jugendliche gestartet sind und als Kreuzfahrt-Senioren, als Silverager ins Ziel schlendern wollten, schlicht nicht vorbereitet. Zum Glück zählte zuletzt ein gutes Drittel deutscher Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu jenen überdurchschnittlich Verdienenden, die wenigstens für ihre finanzielle Absicherung noch etwas zur Seite legen konnten.

Herbert Kulenkampf gehört zu jenen, die ihrer Zukunft ganz und gar nicht ängstlich entgegensehen. Herbert arbeitet in einer Werbeagentur, mit ihm zoomte ich anlässlich meines Ausstands. Seit fünfundzwanzig Jahren begegnen wir uns alle paar Jahre bei beruflichen Anlässen und sind uns sympathisch. Er strich sich bei unserem Videomeeting durch das Haar, das ich dichter in Erinnerung hatte, und sah mich kokett durch die Kamera an. Herbert sollte fünf Monate nach mir mit seiner Arbeit aufhören, aber auch zehn Jahre bevor ihn der offizielle Rentenbeginn erwartete. »Projekte, Projekte, Projekte«, jauchzte er. »Ich muss mich richtig zwingen, mich noch auf die Arbeit hier zu konzentrieren.« Am liebsten würde er schon mit den Büchern beginnen, die er nach dem festen Job schreiben wolle. Das Honorar sei gar nicht so wichtig, »ist ja Vorruhestand. Aber ich arbeite selbstbestimmt!« Und dann wollte Herbert mich anspornen: »Du bist doch noch jung«, schäkerte er herbertmäßig, »du wirst sehen, da kommt noch ganz viel.«

Noch jung und ganz viel. Das sollte tröstlich klingen. Aber genau diese Absicht vertiefte meine Zweifel. Jung ist mein Sohn mit Anfang zwanzig, und selbst er fängt schon an, die Semester bis zum Master zu zählen, und fragt sich, ob er »noch jung genug« sein wird, wenn sein Bewerbungsmarathon um einen guten Job beginnt. Jung, das stimmt einfach nicht, wenn eine Fünf, eine Sechs oder Sieben vorne steht. Die Zusicherung, die vielen in diesem Alter zuteilwird, man habe sich »doch gut gehalten«, kam mir schon immer wie die gönnerhafte Anerkennung von Formel-1-Piloten beim Anblick polierter Oldtimer vor, als Museumsstück originell, aber bitte nicht zum Fahren. Abschiednehmen wird mit jedem vergehenden Jahr schwerer – oder dringlicher, je nachdem, ob wir etwas hinter uns lassen müssen oder wollen. Auf jeden Fall wiegen Abschiede jenseits der fünfundfünfzig schwerer als in einem Alter, das gefühlt noch eine kleine Ewigkeit vor sich hat, um neu anzufangen.

Herbert wusste natürlich, dass sein Komplimente-Turbo mit ihm durchgegangen war. Sein spaßiger Ton, das Augenzwinkern, verriet, dass er es nicht ganz ernst meinte. Ich bin eben nicht mehr jung. Herbert übrigens auch nicht. Die einstigen Babyboomer, die jetzt und in den nächsten Jahren pensioniert werden, sind zehn bis zwanzig Jahre älter als die deutschen Durchschnittsbürgerinnen und -bürger, die laut letzter Statistik 44,7 Jahre alt sind. Wir sind auf dem Weg ins Alter. Medizin und Ernährung zum Dank wird das Greisenalter mittlerweile zwar nicht mehr wie bei Jacob Grimm vor 200 Jahren in seiner berühmten »Rede über das Alter« zwischen sechzig und siebzig Jahren definiert, »da ist der Mensch schwachsinnig und närrisch, treibt alberne Dinge und wird ein Spott der Kinder«. Statistisch droht diese infantile Phase heute meist erst jenseits der fünfundachtzig.

Aber die Uhr tickt. Die erste Einladung, sich an der Wahl zur Seniorenvertretung der Kommune zu beteiligen, warf ein Freund angewidert in den Papierkorb: »Die spinnen doch! Ich bin gerade sechzig geworden!« Die erste Überweisung von der Rentenkasse läutet dann unwiderruflich die letzte Etappe ein. Diese Strecke mental und stilistisch möglichst aufrecht zu absolvieren und den Staffelstab im Büro in guter Haltung zu übergeben, darum geht es.

Gerade hat man sich an sich gewöhnt

Was also soll das »noch« in »noch jung« bedeuten, von dem Frohnatur Kulenkampf sprach? Noch jung im Vergleich zu wem?

Alt werde ich später hat die neunzigjährige Marianne Koch ihr jüngstes Buch genannt. Ihr sei bewusst, erzählte mir die Ärztin und frühere Schauspielerin, wie neckisch der Titel sei. Aber ihr gefalle der Satz der New Yorker Schriftstellerin Bel Kaufman, die mit über neunzig Jahren sagte: »Wenn ich mal Zeit habe, werde ich mich hinsetzen und alt werden, aber jetzt habe ich zu viel zu tun.« Wer Marianne Koch erlebt, wird sich vielleicht schon mit fünfzig ganz schön alt vorkommen. Nicht etwa, weil die Frau sich jugendlich trimmt, sondern weil sie offenbar gelassen und menschenzugewandt lebt, ohne auf ihr Geburtsdatum zu starren. Weil sie weiterarbeitet, mit ihrem Hund spazieren geht, gerne gut isst und die Abschiede ihres Lebens weder ignoriert noch in ihnen untergeht.

Positiv ausgelegt meinte PR-Mann Kulenkampf mit »noch jung« vermutlich, dass Leute jung bleiben, die aktiv im Leben stehen, sowohl körperlich wie geistig, sozial und emotional – was wissenschaftlich lange schon erwiesen ist. Und selbstverständlich zählt er sich dazu. Trotzdem geht es beim Übergang in diesen nächsten Lebensabschnitt auch darum, Abschied von einem Teil des Ichs zu nehmen, das einmal selbstverständlich war.

Gerade hat man sich an sich gewöhnt, hat einen Platz, hat Menschen und einen Lebensstil gefunden, die zu einem passen, da soll man etwas aufgeben, das zur Identität gewachsen ist. Allerlei Experimente haben Körper, Hirn und Herz über sich ergehen lassen. Ruinöse Räusche und Diäten haben ihre Spuren eingegraben. Wissen wurde akkumuliert, Erkenntnisse wurden gewonnen und verworfen. Liebes- und Leidgeschichten haben das Innerste beglückt und erschüttert. Eine komplexe Selbstwahrnehmung ist so entstanden, auf die wir in Krisenzeiten zurückgreifen konnten, ohne darüber nachzudenken. Eine Selbstwahrnehmung, die zur Gewissheit wurde, etwas, worauf wir uns verlassen konnten.