Das Kind - Christine Lavant - E-Book

Das Kind E-Book

Christine Lavant

4,9

Beschreibung

Zum 100. Geburtstag der großen Kärntner Autorin am 4. Juli 2015 Diese 1945/46 entstandene Erzählung ist das Debüt der Autorin Christine Lavant, sie erzählt darin vom Leben eines Kindes in einer Heilanstalt; ganz bleibt sie in der Denkwelt des Mädchens, das die so geheimnisvollen wie existenziellen Vorgänge um sich herum noch kaum versteht. Viele der späteren Themen werden schon hier eindrucksvoll angeschlagen: Krankheit, körperliche Beeinträchtigung - der diskriminierende Umgang der Gesellschaft damit und dagegen die Würde der Betroffenen, in rückständigen, von Religion und Aberglauben geprägten Verhältnissen die eigene Existenz zu behaupten. Seit früher Kindheit war Christine Lavant selbst von verschiedenen schweren Krankheiten gezeichnet; sie konnte sich auf besondere Weise in das Schicksal ihrer Figuren einfühlen: Es war ihr eigenes oder beruhte zumindest auf realen Erfahrungen während ihrer zahlreichen Krankenhausaufenthalte. Nicht Mitleid ist, was aus den Texten spricht, sondern genaues Wahrnehmen und Ernstnehmen aus wirklicher Nähe. Daraus entsteht die ungeheuerliche Kraft der Lavantschen Literatur. Erstmals erschien die Erzählung 1948. Seit Jahren ist sie vergriffen. Dieser Neuausgabe liegt die Originalhandschrift der Autorin zugrunde, neu durchgesehen und nur bei offensichtlichen Verschreibern und Fehlern korrigiert.

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Christine Lavant

Das Kind

Neu herausgegeben undmit einem Nachwort versehenvon Klaus Amann

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2015www.wallstein-verlag.deVom Verlag gesetzt aus der Stempel GaramondUmschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf,unter Verwendung der Fotografie »Mädchen mit Kopftuchim Schlafsaal« von Roger und Renate Rössing aus dem Bestand der SLUB / Deutsche FotothekDruck: Hubert & Co, GöttingenISBN (Print) 978-3-8353-1672-0ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2783-2ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2784-9

Inhalt

Das Kind

Glossar

Nachwort

Kontexte

Entstehung und Überlieferung

Zur Edition

Quellen und Literatur

Den Unmündigen aber

wird es offenbar werden

I

Da ist ein langer Gang. Und er hat weißgestrichene Türen rechts und links – viele weißgestrichene Türen. Oben, ganz hoch oben, wo vielleicht schon der Rand vom Himmel anfängt und wo man auch mit ganz weit aufgerissenen Augen nicht hinaufsieht, ist etwas Schwarzes. Was dieses Schwarze ist, wird man vielleicht einmal wissen, wenn man gestorben ist, weil dann weiß man alles.

So denkt das Kind, das schwer kurzsichtig ist und von nummerierten Türen nichts weiß. Eine richtige Türe, die wirklich bloß eine Türe ist – und auch diese hat noch genug Seltsames an sich! – sieht so aus wie zu Hause die Stubentüre, die braun und gefleckt ist und immer so fremd wird, wenn sie die Mutter vor Weihnachten oder Ostern mit einem nassen Tuch abwäscht. Am liebsten muss man sie im Winter haben. Da hat sie oben und unten und auf den Seiten Streifen von einer alten Kotze angenagelt wie ein Kleid und man möchte sie manchmal ausziehen wie eine Puppe, aber der Vater lässt nicht. Sonst ist sie eine richtige und gute Türe, aber nicht wie diese hier. Diese Türen sind sowieso keine richtigen Türen. Die tuen bloß so. In Wirklichkeit sind sie ganz was anderes und gehören zu dem Gang, der wie die Ewigkeit ist.

Am Ende dieses Ganges ist durch eine weißgestrichene Türe ein kleiner Raum abgeteilt, in dem allerliebste kleine weiße Tische und Bänke stehen. Er ist als Spielraum für die Kinder gedacht, wenn es draußen regnet oder kalt ist.

Von dieser einen Türe ist noch das Besondere zu sagen, dass sie halb aus Glas ist. Hat jemand schon sowas gesehen?

Vielleicht gehen alle Kinder mit einer kleinen Furcht durch diese Türe? O das wäre wohl sehr zu vermuten! – Denn: Wozu sonst schleichen sie sich heimlich wie ausgewachsene Verbrecher durch den langen Gang der Ewigkeit und durch die Besenkammer in der Männerabteilung, um sich von dort aus über den niederen Balkon ins Freie zu lassen. Wo es drinnen doch so warm ist und soo sauber und ein Ball liegt auch in irgendeiner Ecke. Und draußen regnet es in einer unfreundlichen, geradezu verdrossenen Art, wie es eigentlich zu Hause nie regnet. Wenn es zu Hause regnet, dann kann man, wenn es in der Stube zu langweilig ist oder die Mutter Kundschaften bekommt, die alte Leintücher zum Flicken bringen, sodass eigentlich nirgends mehr ein rechter Platz zum Spielen bleibt, in den Stall vom Bauern gehen, der so groß ist wie eine Kirche und auch zwei Säulen hat. Und der Knecht hat eine abgeteilte Kammer drin mit einem Bett. Wenn man die Schuhe auszieht, darf man hineinsitzen und an allerhand denken. Und soo warm ist es dort. Und die Tiere sind alle angehängt, Gott sei Dank! – Die können nichts tun.

Hier braucht man vor Tieren freilich keine Angst zu haben, weil keine da sind. Höchstens Vögel. Aber heute, wo es regnet, sind sie wohl alle heimgegangen. Denn: Daheim sind sie da bestimmt nicht. Niemand ist da daheim, bloß so lang wie man krank ist. Bloß der Primariusdoktor, aber der ist ja kein richtiger Mensch. Der gehört zu den Türen, die auch keine richtigen Türen sind und wohnt wahrscheinlich von Rechts wegen im Himmel. Der wird wohl auch wissen, was das ganz Schwarze oben bei den Türen ist. Er weiß ja alles!

Ja, es ist tatsächlich ein verdrossener Regen. Sein Rauschen hat nicht die Melodie, die jener Regen hat, der auf Keuschen, Heuhütten, Ställen und Maisstrohhecken fällt. Er ist abgehackt und hart und vielleicht schämt er sich dessen und geht deshalb mit dem wilden Wein, der sich so zärtlich an die Dächer der Holzgänge zwischen den Abteilungen des Krankenhauses anrankt, so wüst um. Er reißt die zarten Ranken herab und formt sie zu wilden Ruten, vor denen selbst die anderen Kinder, die alle viel mehr Mut haben als dieses Kind, erschrecken.

Ihr liebstes Spiel – denn wozu würde es sonst immer wieder wiederholt? – an solchen Tagen ist es, in der Kreuzung zweier Gänge – sehr zum Verdruss der schlechtgelaunten Erwachsenen – zusammenzuhocken und sich gegenseitig mit feuchten Steinen oder weggeworfenen abgebrannten Zündhölzern das Zuhause aufzuzeichnen. Fast jedes wird von dem anderen unterbrochen und fast stets mit denselben Worten: »– Ach, das heißt gar nichts, was du da machst! Bei uns ist es viel schöner. Schaut einmal soo! – Ja, so ist es bei uns! –« Dann entstehen Treppen und Türen und die unmöglichsten Sachen. Ja, es wäre zu vermuten, dass alle diese Kinder in wahren Prunkbauten hausen. Besonders die eine Große mit den herrlichen Zöpfen – Liselotte heißt sie auch noch – man denke bloß: Liselotte! – die vermag trotz der häufigen Wiederholung dieses Spieles immer wieder alle in neues Unbegreifen und Staunen, ja in geradezu nichtzuverhehlenden Neid zu versetzen. Da ist ein Kinderzimmer. Wer hat früher schon einmal etwas von einem Kinderzimmer gehört? Da schlafen nämlich bloß Kinder oder auch nur ein Kind. Eigentlich: – ? – Im Keller schlaft ja auch bloß der Bruder und sonst niemand. Höchstens wenn Besuch kommt, auch eine von den großen Schwestern. Aber ein Kinderzimmer wird das wohl bestimmt trotzdem nicht sein. Da sind ja auch keine himmelblauen Wände mit Bildern von Schneewittchen und Hänsel und Gretel. Wer wohl solche Bilder malt? Wahrscheinlich eine Fee. Aber dann muss Liselotte schon ein sehr braves Kind sein!

»– Ja –« sagt die Große » – und hier, schaut bloß her! Hier steht das Klavier …«

Dieses war nun allerdings etwas ganz Neues! Ein Klavier ist bisher noch nie vorgekommen. Konnte sie so etwas Großes, Wichtiges tatsächlich so lange vergessen haben oder wollte sie es bloß aufsparen für eben jetzt?

In das leise entstandene Misstrauen hinein, ja förmlich in eine große Verstimmung, beginnt das Kind, das immer am meisten Furcht hat, irgend etwas Unbestimmtes, Verlorenes, das nicht den mindesten Eindruck auf die anderen macht, zu zeichnen. Und man denke bloß ja nicht, dass irgend jemand Interesse an diesem Gekritzel hätte. Mein Gott! Wie wird denn auch ein Zuhause von so einer, die immer auf und auf verbunden ist – wer weiß, was für eine schreckliche Krankheit sie hat?, eine Arme-Leute-Krankheit jedenfalls – wie wird so ein Zuhause auch ausschauen?

Die Große, die ein ausgesprochenes Gerechtigkeitsgefühl und unleugbar die Noblesse ihrer Schicht hat – wenn sie auch verarmt sind! – fragt schließlich doch mit einem Anflug von Wärme: »Na Kleine, was zeichnest denn du da? Hm?« – Nun sehen auch die andern hin. Aber da ist überall Herablassung bis an die äußersten Ränder, wo eigentlich schon der Spott beginnt.

Das verbundene Gesicht um ein Weniges tiefer duckend: »Ach, das ist bloß ein Stein!« »Hach!« sagt Pepi – sie hat gestern einen noblen Onkel – Schnellzugkondukteur! – zu Besuch gehabt und er hat eine Torte dagelassen und Schnitten, viele Schnitten, sodass es ein Leichtes war, jedem eine zu geben. – »Hach!« sagt sie, »ihr habt zu Hause wohl bloß Steine – was? Ihr wohnt wohl überhaupt bloß auf Steinen! Und wenn ich hingehe und den Stein aufhebe und wegwerfe, dann habt ihr überhaupt keine Wohnung mehr!«

»Aber wir haben wohl eine Wohnung. Ja, bestimmt! – Eine grooße Stube. In der ist alles drin. Ja, eine Nähmaschine auch. Ja, schwör bei Gott! Eine Nähmaschine auch!«

»Na – und der Stein?« »Ja der Stein, der liegt halt bloß so da. Vor der Haustür und wo der Brunnen ist. Und aufheben kann den niemand. Er ist ja so groß und schaut aus wie eine Truhe, wo jemand drin aufgebahrt ist. Und alle, die herausgehen, müssen darauftreten und – und die Mutter auch – –«

»Jetzt heult sie schon wieder, Liselotte. – Du, wenn du heulst, gehen wir alle hinein und sagen zu der Oberschwester, dass du allein herausgegangen bist. Dann kannst was erleben!«

»Schaut!« – sagt Liselotte und nimmt ihre langen Zöpfe schnell in die Hand – »Dort kommt der Teufel. Jetzt aber fix! –«

Der Teufel ist natürlich gar kein richtiger Teufel. Er ist bloß ein kleiner dicker Mann mit einem Strohhut. Bloß hat er die unangenehme Eigenschaft, dass er immer da auftaucht, wo die Kinder sind und eigentlich nicht sein dürfen. Eine richtige Angst hat wohl keines vor ihm, aber immerhin genügt sein Erscheinen, um den Rückzug durch den Balkon etwas über das normale Ausmaß zu beschleunigen. Wieder ganz behütet im sauberen warmen Gang ist es geradezu prickelnd, sich alle Möglichkeiten auszudenken – wie er geschimpft und mit den Händen gefuchtelt hätte, wenn er sie erwischt hätte. –

Der Einzug durch die Glastüre geht lebhaft und ohne jede Verheimlichung vor sich. – Nein … Es dürfte doch nicht ganz stimmen, das mit der Angst! Die gehen alle hinein, als ob es eine ganz gewöhnliche Türe wäre und gar nichts dabei hindurch zu gehen.

Nur das Kind, in dem stets eine irgend geartete Furcht ist, kann es nie ohne leises Zögern tun.

Wird, wenn man da so mir nichts dir nichts hineingeht, nicht doch eine Verzauberung geschehen? – So eine Glastüre war ja bestimmt auch beim Zwerg Nase? … Wie er den Krautkopf zu der Zauberin hat tragen müssen. – – Meine Mutter möchte mich bestimmt nie und nie zu so einer Hexe schicken und wenn ich auch noch so unfolgsam bin. Aber er wird vielleicht bloß eine Stiefmutter gehabt haben? – – Wenn ich jetzt hineingehe, wer weiß, was alles passiert? Der Boden glänzt so verdächtig und dunkelrot ist er auch! – Überhaupt: Es sind ja gar keine Bretter da und nicht einmal ein Mausloch, wie bei einem richtigen Boden. Etwas stimmt da nicht! Vielleicht kriegt man unversehens einmal, wenn man hineingeht, Nussschalen an die Füße und wird zu lauter Eichkatzen oder Wildschweinen verwandelt? – nein, das waren Meerschweinchen oder ist das am Ende das Gleiche? –

Immerhin ist stets von Neuem die Vorsicht geboten, hineinzusehen, ob die andern, die schon drinnen sind, wohl noch richtige Kinder sind. – – Merkwürdigerweise ist das immer wieder der Fall.

Mit einem raschen Grübeln, ob es am Morgen wohl andächtig genug gebetet habe, ob nicht die andern am Ende doch vielleicht mehr und besser gebetet hätten und nur deshalb nicht verzaubert werden könnten, geht es schließlich doch, mit einer Gebärde des Mutes und allergrößter Zusammenraffung allerdings, durch die seltsame Türe.

Ach, und es geschieht nichts. Gar nichts! – – Das ist eine Erleichterung, aber am Rande hat sie ganz heimlich was angehängt, das aussieht wie eine Enttäuschung.

Immer setzt es sich in eine Ecke. Das ist immerhin und auf alle Fälle das Beste. Ecken geben immer von zwei Seiten Schutz und tun so wie etwas Bekanntes. Auch kann man von diesen Ecken aus durch das Fenster sehen. Ach, dieses wunderbare Fenster! Natürlich auch kein richtiges. Dazu ist es viel zu groß und Gitter hat es auch keine. Und vielleicht ist es von allem, was hier ist, überhaupt das Wunderbarste? Denn hier ist es ja geschehen, das erste Wunder und kann alle Tage wieder geschehen, wenn man bloß gut aufpasst und nicht zu lang mit den andern draußen spielt. Gleich am ersten Tag ist es geschehen. Damals, wie die große Schwester, die mit hergekommen ist, gesagt hat, sie geht bloß was einkaufen und kommt dann gleich wieder zurück. Aber gekommen ist sie nicht. Und damit hat sie wieder eine Sünde mehr und die darf man beim Beten am Abend nicht vergessen.

Wenn es bloß auch ein richtiges Wunder gewesen ist? – – Dies bis ganz zu Ende zu denken, dieses leise Zweifeln, war nie ohne eine seltsame, bittere Furcht möglich. Denn: Wenn es kein Wunder war – dann hatte die Große, die sogar Liselotte heißt, es bestimmt gewusst und hatte gelogen. Und wenn das gelogen war, dann stimmt auch das nicht mit dem Kinderzimmer. Dann gibt es nirgendswo Kinder, die ganz allein für sich ein Zimmer haben und himmelblaue Wände mit Märchenbildern und die ihren Eltern vor dem Schlafengehen die Hand küssen müssen und im Bett nicht mehr pfeifen dürfen. Aber schließlich: Die Sr. Berta ist ja auch dabei gewesen und wenn die nicht gesagt hat: »Liselotte du lügst!« – so kann es nicht gelogen gewesen sein.

Sie hat bloß gelacht. Und ein Mensch wie