Erzählungen aus dem Nachlass - Christine Lavant - E-Book

Erzählungen aus dem Nachlass E-Book

Christine Lavant

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Beschreibung

Der vierte und abschließende Band der Werkausgabe enthält 15 Erzählungen aus dem Nachlass, die hier größtenteils erstmals gedruckt werden. Eine einzigartige Entdeckung. Vierzig Erzählungen etwa hat Christine Lavant geschrieben, aber viele davon zu ihren Lebzeiten nie veröffentlicht. Aus Scheu, zu viel von sich preiszugeben, hielt sie den Großteil ihres Prosawerks zurück. Der vierte und abschließende Band der Werkausgabe versammelt fünfzehn Erzählungen aus dem nachgelassenen Bestand. Nur zwei davon, "Das Wechselbälgchen" und "Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus", sind in den letzten Jahren schon veröffentlicht worden, alle anderen werden hier erstmals gedruckt. Außerdem enthält der Band lebensgeschichtliche Dokumente wie Briefe und eine Selbstdarstellung für den Rundfunk, die nicht nur einen intimen Einblick in ihr Leben, ihr Denken und Empfinden erlauben, sondern in erstaunlichem Maße die literarischen Texte des Bandes biographisch befestigen und beglaubigen. Christine Lavant erzählt von dem, was sie am besten kennt: von verletzten Kinder- und Frauenseelen, von feinen und weniger feinen gesellschaftlichen Unterschieden, von Armut, Krankheit und Außenseitertum, von Bigotterie, Wunderglauben und von den Irrwegen religiöser Erlösungshoffnungen; aber immer wieder auch von weiblichem Begehren, vom Rebellieren und von der befreienden Kraft der Fantasie und der Liebe. Vor allem aber erzählt sie - auch in allerhand Verkleidungen - von sich. Und sie zeigt sich dabei völlig ungeniert, schonungslos und ungeschützt. Ihre Prosa aus dem Nachlass ist eine singuläre Entdeckung. Sie ist formal souverän, inhaltlich kompromisslos und oft unerhört komisch.

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Christine Lavant: Werke in vier Bänden

Band 4: Erzählungen aus dem Nachlass

Im Auftrag des Robert-Musil-Instituts der Universität Klagenfurt und der Hans Schmid Privatstiftung, Wien,

herausgegeben von Klaus Amann und Doris Moser

Christine Lavant

Erzählungen aus dem Nachlass

Mit ausgewählten autobiografischen Dokumenten

Herausgegeben von Klaus Amann

und Brigitte Strasser

Mit einem Nachwort von Klaus Amann

Wallstein Verlag

Herausgeber und Verlag danken dem Robert-Musil-Institut und Frau Ursula Haeusgenfür die Unterstützung der Edition

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Wallstein Verlag, Göttingen 2018

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf,

unter Verwendung einer Fotografie von Sepp Schmölzer

ISBN (Print) 978-3-8353-1394-1

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4231-6

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4232-3

Inhalt

Das Wechselbälgchen

Eine Mutterstube

Natternkrönlein

Gottes kleiner Finger

Der Taschendieb

Bloß drei Tage

Freundinnen

Berte

Honighälslein

Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus

Das Sieben-Rosen-Tuch

Kubinchen

Hier setze ich meine Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus fort

Die dunkle Wölbung meines Herzens

Mein ganzes merkbares Glück

Autobiografische Dokumente

Herz-Zeichnung. Ein Brief über Armut und Liebe (1948)

»Meine geistige Situation liegt außerhalb jeder Norm«. Christine Lavants ›Selbstdarstellung für den Dänischen Rundfunk‹ samt fünf damit verbundenen Briefen (1957)

Interview für den Österreichischen Rundfunk (1968)

Anhang

Anmerkungen und Glossare

Zur Edition

Editorischer Kommentar

Nachwort

Quellen und Literatur

Das Wechselbälgchen

Wrga die Einäugige hatte ein Wechselbälgchen. Aber sie tat so, als ob sie das nicht wüsste und nannte das Bälgchen manchmal bei seinem schönen Namen. Ja, sie fand diesen Namen überaus schön, obgleich der Duldiger-Pfarrer gesagt hat, dass der Name eigentlich eine Strafe sei, weil die verräterische Königin so geheißen hat und wenn es ein Bub wäre müsste es nach dem verbrecherischen Kaiser Napoleon heißen. Nein, er kannte kein Erbarmen, wo es um eine große Sünde ging und ein Kind bekommen, zu dem man keinen Vater hat, ist eben eine große Sünde. Nein, er hatte auch bei Wrga keine Ausnahme gemacht, wenn sie auch ein gläsernes Auge hatte, das größer und viel schöner als das andere war. Er war gerecht und wenn er mit seiner eigentümlichen schwarzen Kappe durch das Dorf ging legte er immer die Hände auf den Rücken, verstrickte sie dort zu einem Knäuel, so dass er sie beim besten Willen nicht mehr voneinander und nach vorne bringen konnte, wenn etwa Kinder daherkamen und ihm diese Hände hätten küssen wollen. Dorfkinder haben ab und zu noch solche unbegreifliche Einfälle, nicht wahr, und vielleicht denken sie an bunte Bildchen dabei. Und wie leicht könnte es dann sein, dass unter diesen Kindern welche dabei sind, denen man es zuerst gar nicht anmerkt und die vielleicht gar nicht viel schmutziger und ungekämmter als die anderen sind und die zum Schluss dann doch ganz unschuldig sagen, dass sie Zitha oder Napoleon heißen. Davor hatten die Hände des Herrn Pfarrer Angst und so wollten sie lieber ganz und gar ungeküsst bleiben als solches auf sich nehmen. Aber deshalb braucht es noch immer nicht wahr zu sein, dass er – wie die Leute sagten – Vögel unter seiner schwarzen Kappe hätte. Er war einfach gegen die Sünde und für die Gerechtigkeit und wenn er allein herumging beredete er das mit sich und wurde wohl auch manchmal ein bisschen laut dabei und dachte vielleicht, er sei auf der Kanzel – mein Gott, was ist auch dabei? Ein Pfarrer kann schließlich reden wo und wann er will und wenn die Leute dann behaupten, er hätte auch noch ein Spinnrad unter seiner Kappe, so war das nicht nur erlogen, sondern auch unmöglich. Aber so sind die Menschen. Da gehen sie her und streuen unwahre Reden über einen aus und wenn sie dann einmal so oder so in Not sind, dann gehen sie wohl am Ende gerade zu diesem einen, von dem sie eben noch Ungeheures behauptet haben und bekommen gleich im Voraus schon beim Frühbirnenbaum vor dem Pfarrhof Tränen in die Augen und Kummerfalten um den Mund und sagen drinnen dann Hochwürden hin und Hochwürden her und wie schön er beim letzten Hochamt wieder gesungen hätte, so recht zum Herzergreifen und wenn sie dann fortgehen, haben sie das Geld für einen Anzug oder eine Nähmaschine oder was sie halt sonst unbedingt gebraucht haben. Und oft ist es sogar so, dass von dem Geld ausgerechnet eine Zitha oder ein Napoleon ein Paar Schuhe bekommt zum Schulanfang. Denn die Gerechtigkeit hat zwei Seiten und Willibald der Pfarrer muss mit seinen Händen immer wieder daran herumdrehen und dabei werden sie alt und fangen an zu zittern. Seine Kappe und sein Anzug werden dünn und sein Atem kurz. Nur bei der Taufe wagt er nicht an der Gerechtigkeit zu drehen, da bleibt er unerbittlich, auch wenn es noch solche Kämpfe gibt.

Bei Wrga hatte es keine Kämpfe gegeben. Sie hatte das Kind selbst zur Taufe getragen, weil sie niemanden belästigen wollte und vielleicht auch, weil sie es niemandem sagen wollte, woher sie das Kind genommen hat. Und als er sie um der Gerechtigkeit willen strafen musste, begriff sie es gar nicht und geriet vor Freude über diesen feinen Namen außer sich und ihr gewöhnliches Auge erstrahlte fast so schön wie das gläserne. Was hätte er da anderes sagen sollen als einfach: »Gehe hin und sündige nicht wieder!« Ach nein, das wollte sie gewiss nicht, denn zwei Mädchen können nicht Zitha heißen und Napoleon gefiel ihr nicht und einen Vater würde sie kaum je haben, wo sie doch bloß eine alte einäugige Kuhdirn war.

Vielleicht wäre sie nie in ihrem Leben daraufgekommen, dass sie ein Bälgchen hat, wenn nicht Lenz der tüchtige Knecht gekommen wäre. Er kam von den gläsernen Grenzbergen herauf und wusste vielleicht deshalb schon um so viel mehr in allem Bescheid als die anderen Leute. Er hatte mehr mitgemacht als hunderttausend Pfarrer zusammen. Ein ganzes Jahr lang war er zum Beispiel mit der Hacke des Wilden Jägers im Kreuz herumgegangen, hatte dabei seine Arbeit so gut wie jeder andere gemacht, hatte überdies in den Mondnächten den Kampf mit der Truta mora aufgenommen, immer so mit einem aufgestellten spitzen Messer zwischen den gefalteten Händen und den uralten Abwehrspruch auf den Lippen. Und nichts hatte sie ihm anhaben können, nicht das Geringste! Und pünktlich nach einem Jahr war er wieder im Hohlweg zwischen den Radspuren gelegen und der Wilde Jäger hatte voll Freude gesagt: »Da liegt der Klotz ja wieder, in dem ich ferten mein Hackl vergessen hab!« Ja, der Lenz kannte sich in allem aus. Er wusste wie man den Blitz bannt, kannte den Weg zum Schwundweiblein und wer in den Nächten von Verstorbenen heimgesucht und geplagt wurde, brauchte sich bloß an ihn um Hilfe zu wenden. Und als er genau drei Tage beim Feidel-Peter in Dienst war, konnte er es Wrga schon sagen, dass ihr Kind ein Wechselbalg sei.

»Lass mich in Ruh, du Lotter!« sagte diese zwar und wendete ihm ihr gläsernes Auge zu, dass es nur so funkelte, aber das half ihr nicht im mindesten. Er nahm ihr den schweren Futterkorb ab und war überhaupt voll Güte und Mitleid: »Tu einmal hinterdenken, Weibsbild, hast es gar immer einmal allein wo liegen lassen draußen?« … Über so viel Dummheit hatte sie hellauf lachen müssen und ganz vergessen, dass man ihre Schelchzähne dabei sehen konnte. »Ja glaubst denn, ich habs wie eine Stadtmadam in einem Seidenwagen herumführen können? Alle Sommer ist es allein im Baumgarten und tut beim Brunngrabn spielen, wenn nicht grad die Keuschen-Kinder nachschaun kommen. Glaubst ich kann mir eine Kinderdirn halten?«

Nein, das glaubte er natürlich nicht, aber er wunderte sich nun auch über nichts mehr. Ausgerechnet beim Brunnen, wo die alten Wechselbälger ihr Unwesen am liebsten treiben! … »Und wahrscheinlich noch bei diesem Brunnen da, was? Kann mirs denken, kann mirs denken! Und die Stinkwurzn unds Hexenkraut! Ja denkst du denn gar nichts, du Weibsbild du. Wird dir nichts andres übrigbleiben jetzt, als neunmal schlagen. Was denn auch? Neunmal schlagen und zwar so grob, dass es ganz jämmerlich schreit. Dann wird der alte Wechselbalg daherkommen und wird sagen: Ich hab deins gradelt und badelt, hab ihm neunmal ein Mehlmus kocht, du aber hast meins neunmal ghaut! … und wird dann dein Kind wieder dalassen und seins mitnehmen. Aber tu’s gleich und neunmal und sehr grob. Verstehst?!«

»Lass mich aus mit deine blöden Faxen!« hatte sie bloß gesagt und ihm auch noch das Glasauge entzogen. Ja ja, Undank ist der Welt Lohn … Aber beim Essen dann in der Leutstube hatte er wieder damit angefangen: »Schau nur wie es frisst!« hatte er gesagt. Nun ja, es hatte eine gewisse absonderliche Art zu essen, das hatte Wrga selbst schon bemerkt. Wenn es mit beiden Fäustchen die fetten Nudeln in den Mund schob und dazu schmatzte und zischte, so war es fast genauso wie bei den kleinen Schweinen. Aber was ist schon dabei? Bei einem Herrentisch kann ein Dirnkind so nie essen. »Ja glaubst, Dienstleut sind keine Menschen und uns grausts vor gar nichts?« hatte die Weiddirn gesagt und dabei dem Lenz Augen gemacht. Er aber war nicht darauf eingegangen trotzdem sie noch recht jung war und hatte erklärt, dass es gar nicht von wegen dem Grausen sei, aber man soll eben bloß nicht leichtsinnig sein und dulden, dass ein Wechselbalg aufgeziegelt wird. »Hat es nicht Augen wie zwei schwarze Glaskugeln und ist es nicht rot und weiß wie’s Schneebittchen?« Doch, das mussten sie der Einäugigen lassen, ja, es war eigentlich lieb anzuschaun und gar nicht wie ein richtiger Wechselbalg. Aber das merkt man eben oft erst mit der Zeit und wenns schon zu spät ist. Und Wrga würde bis zu ihrem Tod sich schinden müssen, bloß um den Balg da anzufüttern. Wie alt war es jetzt? Was, vier Jahr schon?! Und hatte es je ein Wort geredet? Also bitte, was will man noch mehr an Beweis? … »Nein, da musst du schon alle Möbel in Bewegung setzen, dass du es wieder los wirst!« sagte er voll Ernst. »Wieso Möbel und ich hab ja gar keine?!« sagte Wrga, aber da wurde er wild und sagte: »Tu was du willst. Vielleicht heißts auch Hebel, aber der Alte vom Gutshof hat immer so gesagt, wenn was hat sein müssen und das da muss halt sein. Vielleicht probiersts mit Eierschalen, wenn dir das neunmal Schlagen so hart ankommt?« Aber sie fragte ihn gar nicht mehr, was er mit den Eierschalen meine und selbst trug er ihr auch nichts mehr an, beleidigt wie er war.

So hatte das Bälgchen lange noch Ruhe und Frieden gehabt und heimlich hatte es Wrga immer noch dann und wann mit Stolz Zitha genannt und so getan als hätte sie keine Furcht einen Wechselbalg und Vielfraß aufzuziehen.

*

Zitha das Bälgchen hatte ein wunderbares Leben. Niemand war da, der es schlug. Wohl waren welche da, die das Recht dazu gehabt hätten. Zum Beispiel der alte Bauer. Aber dem lag wohl nichts daran ein Kind zu schlagen, wenn es auch bloß ein Dirnkind war. Vielleicht hatte er auch bloß zu viele Gedanken, so dass es ihm einfach nicht einfiel. Ach, er hätte fast ein Bruder vom alten Pfarrer sein können, wie er so dahinging und immer etwas mit sich selbst auszureden hatte. Er redete zwar nicht von Gerechtigkeit und so hohen Dingen, das hätte auch zu seinem ziegelbraunen, kreuz und quer geflickten Rock nicht so gut dazugepasst wie zu einem schwarzen Pfarrerrock und vielleicht wusste er das und begnügte sich deshalb mit minderen Dingen. Meist sagte er auch nichts anderes als: »Mchm, mchm, mchm … Wird schon werden, wird schon werden, wird schon werden …« Oder er beredete Dinge vom nächsten oder übernächsten Tag. Hatte er vor ein Schwein zu schlachten, so ging er schon Tage vorher um dasselbe herum und redete ihm auf seine Art Trost zu: »Mchm mchm, mchm mchm, wird nicht lang dauern, wird nicht lang dauern. Ist nur einmal ein Überlauf … Wenn der Schmerz nachlasst, ist’s auch schon aus … Mchm, mchm mchm mchm …« … Die längste Rede hielt er wohl immer vor seinem Ochsenverschlag. Es war immer dieselbe und das ganze Dorf kannte sie schon auswendig und die Keuschen-Kinder hatten sich schon ein Spiel dazu ausgedacht. Auch das Bälgchen ging nie durch den Stall ohne vor dem Ochsenverschlag stehenzubleiben, die Hände am Rücken zu verschränken und bedächtig mit dem Kopf zu nicken. Manchmal traf es sich wohl auch, dass sie beide zugleich davorstanden, der Alte in seinem ziegelbraunen Rock, das Kind in seinem braungefärbten Rupfenkittel, und sie verschränkten beide die Hände und nickten beide und die bitteren schwarzen Augen des Bälgchens hörten voll Andacht auf die lange Rede … »Mchm, mchm, mchm mchm … Schöne Ochsen, schöne Ochsen, schöne Ochsen … Guten Morgen Feidel-Peter, werden sie sagen … Guten Morgen auch, werd ich sagen … Schöne Ochsen, werden sie sagen. Ja, werd ich sagen … Was denn schatzen? werden sie sagen. Dreihundert! werd ich sagen … Ohoooo!? werden sie sagen … Mchm, mchm mchm mchm! Schöne Ochsen, schöne Ochsen, schöne Ochsen!« … Dann ging er wieder weiter zu seinen anderen Tieren, für die er aber nicht mehr so viel Worte verschwendete. Wenn ihm das Bälgchen dabei manchmal gar zu oft unter die Füße kam, schlug er nicht darnach, auch trat er es nicht mit dem Fuß, sondern schob es einfach ein bisschen zur Seite, so wie einen Holzpflock oder einen Futterkorb und hie und da sah er es wohl gar an und sagte: »Mchm, mchm, mchm, mchm, wird schon werden, wird schon werden, wird schon werden!« Weiß Gott, was er damit meinte und vielleicht wusste es sogar das Bälgchen selbst, denn seine bitteren Augen bekamen dabei immer einen sanften Schein. Nein, vor dem Alten brauchte das Bälgchen keine Angst zu haben. Auch nicht vor Plona, seiner Tochter, welche seit dem Tod der Bäurin die Hausmutter war. Nicht dass sie ein freundliches Wesen gehabt hätte oder viel geredet oder gar gelacht hätte, o nein. Das alles war ihr wohl schon längst vergangen. Seit zehn Jahren pflegte sie immer um den Herbst herum den Alten zu fragen: »Wie ist’s dann, Vater … Darf ich den Franz heiraten?« … »Mchm mchm mchm mchm … Wasfüreinen, wasfüreinen, wasfüreinen?« … »Den Spital-Franz!« sagte sie dann jedes Mal mit ihrem alten Trotz … »Mchm, mchm mchm mchm … Tuts wie’s wollts, tuts wie’s wollts, tuts wie’s wollts. Die Hube kriegt der meine …« Ja, so war es … Er hatte aus der weitschichtigen Verwandtschaft einen Franz für sie bestimmt und dachte wohl Franz sei Franz und meinte, sie würde mit der Zeit schon daraufkommen, dass der seine auch nicht schlechter ist als der ihre und ging weiter und sagte begutend: »Wird schon werden, wird schon werden, wird schon werden!« … Sie aber musste dann ihren Franz, welcher im Spital Krankenwärter war und weit lieber Bauer gewesen wäre, wieder auf ein Jahr vertrösten und konnte dabei auch nichts anderes sagen als: »Wird schon werden!« Er aber glaubte immer weniger daran und begann zu trinken und konnte dann mit allerlei Andeutungen von anderen Bauerntöchtern drohen. Wie hätte sie da besonders freundlich oder liebevoll sein sollen? Aber wenn das Bälgchen an kalten oder regnerischen Tagen zu viel in der Küche und um ihre Füße herumwuzelte, schlug sie nie darnach, nein, sie sagte höchstens: »Bist schon wieder da, du Knäser? Geh in den Stall oder zu den Keuschen-Kindern!« Wenn es dann mit seinen bitteren Augen zu ihr hinaufsah, strich sie ihm oft noch ein Butterbrot, ehe sie es bei der Türe hinausschob.

Nein, niemand schlug es, niemand trat nach ihm und es konnte den ganzen Tag herumkugeln, wo es wollte ohne dass es jemand vermisste. Meist war es dann wohl bei den Keuschen-Kindern, welche eine Mutter und einen Vater hatten und auf den Zöpfen farbige Bänder. Denn die Mutter war nicht bei den Bauern in Dienst und brauchte nicht auf den Feldern zu arbeiten, sie brauchte nur bei der Nähmaschine zu sitzen und viele schöne Kleider für die Leute im Dorf zu machen. Und so hatte sie immer Flecke und Bänder in allen Farben und manchmal sagte sie: »Komm her, Zitha, kriegst eine Masche!« … Dann sagte wohl eines von den Kindern: »Warum denn die schönste, Mutter? Sie ist ja so bloß ein Tschappel!« Aber die Mutter strich ihr die Haare ganz schön und leise glatt und sagte: »Schau, wie sauber du jetzt bist!« und zu den eigenen Kindern sagte sie: »Tuts euch nicht versündigen und seid’s froh, dass euch der Herrgott kein Hascherl hat werden lassen!« Und dann waren die Kinder wirklich froh und streichelten Zitha wohl auch ein bisschen und nahmen sie mit zu ihren Spielen. Und bei diesen Spielen konnte es manchmal sein, dass das Bälgchen in seinem Eifer vergaß, dass es stumm ist und plötzlich irgendeinen Laut von sich gab. Das erste Mal war dies beim Florianspiel geschehen. Sie hatten sich alle über dem Brunnenstein im Kreise gedreht und dazu gesungen: »Florian, Florian hat gelebet sieben Jahr, sieben Jahr sind um, der Florian dreht sich um.« Nachdem sich dann einer aus dem Kreise umgedreht hatte, sangen sie weiter: »Florian hat sich umgedreht, hat den ganzen Kreis verdreht, Florian, Florian hat gelebet sieben Jahr, sieben Jahr sind um, der Florian dreht sich um.« … Als alle schon mit dem Rücken nach innen standen und nur das Bälgchen richtig und allein das Gesichtchen nach innen gedreht dastand, da konnte es den Abgesang wohl nicht mehr erwarten – aus Furcht oder Einsamkeit oder weiß Gott was? – jedenfalls hatte es mitten in ihr Singen hinein laut und deutlich gesagt: »um!« und hatte sich den anderen nachgedreht. Damals waren die Keuschen-Kinder sehr erschrocken und so, als hätte sich wirklich was verdreht, als wäre etwas geschehen, das nicht nur unheimlich, sondern auch unrichtig wäre und sie sahen sich an und wussten, dass sie es niemandem sagen würden. Lange vermieden sie darnach das Florianspiel, als wäre es eine Sünde, von der man noch nicht wusste, ob es nicht gar eine Todsünde wäre. Später wurden sie mutiger, ja, es kam vor, dass sie nun absichtlich das Spiel wählten, bloß um dem Bälgchen das eine und einzige Wort zu entlocken. Nie aber sprachen sie zu den Großen darüber, auch dann nicht, als sie sich schon daran gewöhnt hatten das Bälgchen »Autubella« oder »Ibillimutter« zu nennen.

Dies kam so: Der Bauernknecht Thoman der Barfüßer, der nie einen Lohn verlangte, hielt sich einen Hund, den er vielleicht liebte. Thoman war schwarz, obwohl er schon viele graue Haare hatte war er immer noch irgendwie schwarz, aber nicht so, dass ihn die Kinder fürchteten. Es lag vielleicht nur in seinen Augen, mit denen er anders nach den Dingen sah als andere Menschen. Vielleicht war er auch nur dunkel und traurig und wusste etwas, was niemand sonst weiß und die Kinder begriffen es nicht und nannten ihn den schwarzen Thoman. Sein Hund aber war blond und hieß Bella. Es kann wohl sein, dass er sich manchmal einen anderen Herrn wünschte, einen lichteren und lustigeren. Weil er aber ein Hund war, konnte er sich seinen Herrn nicht wählen und es blieb ihm nichts anderes übrig als dann und wann fortzugehen und mit den Kindern zu spielen. Sie nahmen ihn auch ohne weiteres auf und wollten ihn sogar dazu abrichten sich mit ihnen im Kreise zu drehen, aber das wollte er nicht und das Florianlied ging ihm wohl auch auf seine Hundenerven, so dass er jämmerlich zu heulen begann, bis sie alle unwillig wurden und ihn beschimpften, mit dem Fuß nach ihm stießen und sagten: »Fahr ab, du Krott!« oder: »Krott du, Bella, verschwind!« Dann konnte er wohl für eine Zeitlang sehr gekränkt sein und zog sich zurück bis ihm sein Herr wieder zu dunkel wurde und er neuerdings bei den Spielen erschien. Aber sie konnten es ihm niemals ganz recht machen. Ob sie nun Leinwandverkaufen oder Ich-schenk-dir-einen-Pfennig-darfst-keinem-was-sagen spielten, immer fand er sich irgendwie gereizt und sprang ihnen zwischen die Füße oder heulte zum Gotterbarmen. Sie aber verloren darüber alle Geduld und ließen sich erst gar nicht mehr auf lange Auseinandersetzungen ein, sondern sagten immer gleich, wenn er irgendwo auftauchte: »Krott du, Bella, verschwind!« … Am wenigsten ertrug er es immer, wenn sie Lausiges Weiblein spielten. Sein Hundehirn begriff es einfach nicht, wieso sich auf einmal eines von den Kindern und dazu noch vor seinen wachsamen Augen in ein altes zerlumptes Bettelweib verwandelte. Und gerade das verstanden sie über die Maßen gut. Immer hatte die Mutter einen Haufen alte zerrissene Kittel, welche sie für die Mägde wieder schlecht und recht zusammenflicken musste und wer das lausige Weiblein zu spielen hatte, bekam dann immer den zerrissensten und dazu noch ein altes Kopftuch und wurde darunter alt und gebeugt, begann zu hinken, kratzte sich am ganzen Leib und war in allem so echt und so lausig, dass es dem Hund eigentlich nicht zu verdenken war, wenn er darüber immer so in Aufregung geriet. Einmal dann hatten sie vorgehabt, Zitha als lausiges Weiblein zu verkleiden. Irgendwie fühlten sie sich wohl wieder dunkel im Unrecht dabei und so verließen sie den Platz vor der Keusche und gingen hinter den Pflaumenkogel zur alten leeren Bienenhütte. »Wir sollen nicht Gspött mit ihr treiben!« hatte wohl eines gesagt und: »Sie kann ja nicht reden, wie soll sie da die Bäurin um Brot bitten und sie immer wieder fortlaxeln bis sie alle Kinder gestohlen hat?« Denn so verlangte es dieses seltsame Spiel, dass das lausige Weiblein, welches eigentlich eine verkleidete Hexe ist, die Bäurin-Mutter immer wieder mit allerlei Ausreden aus der Stube treibt, bis es ihr gelingt, alle Kinder zu stehlen. Wie sollte das stumme Bälgchen dies bloß anstellen? Aber darum war es ihnen ja gerade zu tun. Nicht dass sie Spott treiben wollten damit, es war nur eine Gier, einzudringen in das Seltsame und Geheimnisvolle dieses stummen Wesens, das alle Tage um sie war und doch so fremd und unzugänglich blieb fast wie ein Stein oder ein Gewächs. Und sie verkleideten Zitha und zeigten ihr voll Eifer und Langmut, was sie zu tun hätte –: hinken, kratzen, husten, jammern, mit den Händen bitten und sagen: »Brot! Brot!« … Ja, sie vermeinten tatsächlich, sie würden ihr noch ein neues Wort beibringen und sagten immer eindringlich: »Brot, Brot, musst du sagen!« … Mein Gott, »Brot« ist doch ein so leichtes und kurzes Wort und bestimmt auch nicht schwerer zu sagen wie »um«, nicht wahr? Ja, so dachten sie und vergaßen darüber das Gefühl des Unrechtes und wurden voll heiligen Eifers und verstiegen sich zu dem Plan, dem Bälgchen in aller Stille und Heimlichkeit das Reden beizubringen. »Denkts, dann kann es übers Jahr vielleicht schon mit uns in die Schule gehn!? …«

Und das Bälgchen bekam wahrhaftig ganz mutige Augen unter dem alten Kopftuch und kratzte sich so heftig und hinkte so wunderschön und wimmerte dazu so echt, dass es für alle das hellste Entzücken war und sie liebten es wie eine Schwester und riefen ihm immer wieder aufmunternd zu: »Brot musst du sagen, Brot! Zitha sag schön Brot!« … Aber Zitha lallte nur und konnte es nicht und bekam darüber wieder die alten bitteren Augen und alles wäre umsonst gewesen, wenn nicht Bella der Hund aufgetaucht wäre. Er konnte Zitha an und für sich nicht leiden, vielleicht war sie ihm auch irgendwie zu dunkel und nun kam noch der fremde Geruch der schmutzigen Kleider dazu und das unheimliche Wimmern, das er vielleicht deutlicher empfand als die Kinder … Nein, er konnte es nicht länger mit ansehen, er sprang auf das Bälgchen zu wie ein Besessener. Ehe aber noch die Keuschen-Kinder eingreifen konnten geschah das zweite dunkle Wunder. Zitha hob voll Wut ihr Holzschuhfüßchen, stieß den Hund wie etwas Lästiges von sich und sagte ganz laut: »Autubella!« … Nein, »Brot« hatte sie nicht vermocht zu sagen, aber seit diesem Tag konnte sie das zweite Wort und es hieß »Krott du, Bella!« … Der verschreckte Hund pflegte ihr nun auszuweichen, weil ihm der Hass aus dem stammelnden »Autubella« zu sehr dunkel war. So war das Bälgchen bei den Kindern und nur wenn sie ganz unter sich waren, zu diesem Namen gekommen. Es liebte ihn nicht sehr und als sie dies merkten, nannten sie es nur dann noch so, wenn sie es aus irgendeinem Grund fort haben wollten. Auch das Spiel Ochsenverkaufen mochte es nicht. Wenn die anderen anfingen zu leiern: »Mchm, mchm, mchm. Guten Morgen Feidel-Peter, werden sie sagen« dann pflegte sich das Bälgchen fortzuschleichen, bis sie damit wieder zu Ende waren. Vielleicht liebte es den Alten im ziegelbraunen Rock und meinte, es geschähe diesem damit was Böses? Wer kann auch je ergründen, was so ein Bälgchen in seinen stummen langen Tagen alles erdenkt? … Sein liebstes Spiel aber war Kind und Mutter und es traf sich so glücklich, dass auch die Keuschen-Kinder dieses am liebsten spielten. Fast täglich kam es an die Reihe und immer durfte eine andere die Mutter sein, darin waren sie sehr gerecht. Nur Zitha musste es lange Zeit ertragen immer nur das kranke Kind zu sein, an dem sie herumtaten wie an einer Puppe, das sie auf ihre Art wohl auch verwöhnten und verhätschelten, so dass es auf solche Weise zu Zärtlichkeiten kam, die einem Dirnkind gar nicht zustehen und die ihm sonst wohl auch zeit seines Lebens fremd geblieben wären. Vielleicht kam davon das Sanfte, das es verborgen unter dem bitteren Aufblick mit sich herumtrug um es dann, wenn es ganz allein in seiner Stallstube war, vor dem Pfefferbüchschen und dem Teufelspüppchen auszubreiten? Nein, auch vor den Keuschen-Kindern zeigte es sein Sanftes nicht und wenn sie es auch noch so süß »Pflaumenkernchen« oder »Honighäfelein« oder sonstwie liebevoll benannten, sah es sie, wenn schon nicht bitter, so doch bloß stumpf und dumm an. Sie aber merkten das nicht und kämmten voll Güte und Geduld seine schwarzen verwilderten Haare, kleideten es an und kleideten es aus und wenn der Tag der strengen oder der Stiefmutter war, dann wurde es auch wohl geschlagen und eingesperrt oder verstoßen, ganz wie es eben in einem richtigen Spiel sein musste. Auch das ertrug es stumm und dumm und dann liebten sie es wieder und sagten »Schatzkäferlein« und »Schneewittchen« und fütterten es mit ihrem eigenen bisschen Brot. Oft trugen sie alte Töpfe, leere Büchschen, Eierschalen, alte verrostete Messer und Gabeln und lauter solches Zeug zusammen und kochten Gras und Kartoffeln, was sie dann gemeinsam als Sterz und Kaffee verschlangen. Einmal war ihnen dabei ein altes Pfefferbüchschen verschwunden, das sie alle besonders geliebt hatten. Niemand wusste wohin und lange Zeit hatten sie Bella im Verdacht, weil das Bälgchen immer, wenn darauf die Rede kam oder wenn sie sich wieder einmal dazu entschlossen alles darnach abzusuchen, auf den Hund zeigte und heftig und aufgebracht »Autubella!« sagte. So hätten sie es mit der Zeit wohl ganz vergessen, trotzdem es ein so schönes dunkelrotes Büchschen war und auf allen vier Seiten ein anderes wunderbares Bild hatte. Aber Gott ließ es nicht zu, dass ein armer unschuldiger Hund auf die Dauer ins Unrecht gesetzt ward. Als es einmal in Strömen regnete und die Mutter eine Beamten-Frau als Kundschaft in der Stube hatte, sodass sie, um Ruhe und Platz zu haben, die Kinder einfach hinausjagen musste, da fühlten sie sich so gekränkt und zurückgesetzt, dass sie zueinander sagten: »Wenn wir Dirnkinder wären, hätten wir es noch weit besser als so, dann könnten wir wenigstens in die Stallstube gehn und hätten unseren Frieden vor den blöden feinen Funzen, die sowieso alles immer schuldig bleiben!« Und sie beschlossen, trotzdem sie Keuschen-Kinder waren in die Stallstube zu gehen und dort so lange zu spielen bis sie ordentlich nach Stall riechen würden, was die Mutter eben wegen der paar feinen Kundschaften nicht haben wollte. »Aber wenn sie so hart sein kann zu uns, können wir auch hart sein. Das ist doch keine Mode so mir nichts dir nichts die eigenen Kinder bei so einem Wetter einfach hinauszujagen!« Und in dieser Stimmung also machten sie Zitha dem Bälgchen den ersten Besuch in seiner Stallstube. Ganz leise schlichen sie sich hinein, weil sie sich vor Lenz dem neuen Knecht ein wenig fürchteten. Er war zwar nicht so dunkel wie Thoman, aber sie fürchteten ihn trotzdem auf eine größere und fremdere Art. Thoman vermochten sie dann und wann immer auch ein wenig zu lieben, besonders wenn er am Karfreitagabend in der Streuhütte die Palmbesen band. Sie konnten ihm dabei voll Andacht zusehen und heimlich seine großen, immer nackten Füße bewundern, mit denen er bloß so, mit den Zehen am Boden schreiben konnte. Irgendetwas, vielleicht einen Zauberspruch – einen frommen, versteht sich! – oder ein Gebet. Mit den Händen konnte er nicht schreiben, das hatte er wohl nie gelernt. Aber was seine Zehen da zustande brachten, war wohl eine viel höhere Kunst und bestand aus lauter Kreuzen, Ringen und Ecken, aus Fischen, Lämmern und anderen heiligen Tieren. Nein, so war Lenz nicht. Ihn zu fürchten war in keiner Weise angenehm und wenn er fluchte tat er es in einer anderen Sprache, was vielleicht wohl noch schwerer war als mit den Zehen Gebete zu schreiben, aber wahrscheinlich auch gefährlicher.

Dieser Knecht Lenz war also schuld, dass die Kinder das Bälgchen überraschen konnten. Warm und dunkel war es in dem Stall und der Verschlag, in dem das Bett der Wrga stand, war durch die halbmannshohe Bretterwand noch um vieles dunkler, aber trotzdem sahen sie es sofort, sahen es eher noch als das Bälgchen selbst, welches in seinem braunrupfenen Kittelchen davor auf dem Boden kniete. Und sie schrien erfreut und empört zugleich auf: »Da ist es ja, da ist es ja, unser Pfefferbüchschen!« … Zitha aber schnellte hoch als ob sie wer geschlagen hätte und hatte doch so viel Mut in ihren stummen Augen, dass keines von den stolzen Keuschen-Kindern die paar Stufen zum Verschlag vollends hinaufzugehen wagte, sie sagten immer nur noch von neuem: »Unser Pfefferbüchschen, unser Pfefferbüchschen!« … Aber da sagte Zitha das Bälgchen – und hielt dabei in einer Hand das Pfefferbüchschen und in der anderen das kleine rote Teufelspüppchen –, sagte mit heftig errötetem Gesichtchen: »Ibillimutter!« Und sie verstanden es alle trotzdem sie verbittert und zornig waren, verstanden es sogar so tief in ihren Kinderherzen, dass sie darüber mild und sanft wurden und leise und begutend sagten: »Ja Zitha, ja Herzkäferlein, du bist die Mutter!« Daraufhin wagten sie es dann auch alle in die Stallstube einzutreten und sie ehrten das stumme Bälgchen wie eine Gastgeberin und aßen Gras und rohe Rüben aus dem Pfefferbüchschen, von dem sie nun nicht mehr sagten, dass es das ihre sei. Zitha aber ging von einem zum andern, legte jedem nach der Reihe und schön gerecht einmal für einen Augenblick das kleine rote Wollteufelchen in den Schoß und zeigte damit, dass jedes auch hier einmal Mutter spielen dürfte. Von da ab brauchte es nun nicht immer mehr bloß das arme kranke Kind zu sein und wenn die Reihe an ihm war, wusste es dies immer schon ganz genau und stellte sich vor alle hin und sagte fordernd: »Ibillimutter«. Und da zeigte es sich, dass es alles schon ganz richtig zu spielen verstand, die sanfte und die strenge Mutter, ja sogar die bösartige Stiefmutter. Weil die Keuschen-Kinder aber nicht bloß stolz, sondern auch gerecht waren, ließen sie sich ohne weiteres von dem stummen Bälgchen stoßen und schlagen, wenn an ihm die Reihe war dies zu tun, trotzdem es ja eigentlich bloß ein Dirnkind und dazu noch ein Tschappel war. Nur, wenn eines einmal seinen allerbösesten Tag hatte, konnte es ihm einfallen zu sagen: »Autubella, bring unser Pfefferbüchschen zurück!« Dann pflegte – aus weiß Gott welchem Grunde – das Bälgchen sein rupfenes Kleidchen hochzuheben, so dass man auf seinem weißen schmalen Leib die vielen roten Narben sehen konnte, die es an jenem schrecklichen Tag bekommen hatte, wo es in die siedendheiße Saukaschpel gefallen war. Damals hatten die Keuschen-Kinder um sein Bett in der Stallstube herum geweint wie Verzweifelte und hatten ihm dann ihr so geliebtes rotes Teufelspüppchen geschenkt. Und wenn sie nun die roten Flecken an dem weißen Körperchen zu sehen bekamen wurden sie immer wieder alle ganz weich und sagten: »Nein nein, Ibillimutter, du brauchst es nicht hergeben das Pfefferbüchschen, es gehört dir ganz allein und bis du tot bist!« … Darüber lernte nun Zitha das Wort »tot« sagen, aber sie sagte es so verändert und weich, dass es wie »doood« klang und gar nichts Schreckliches hatte, sondern wie eine schöne Verheißung war.

So hatte das Bälgchen also ein Leben wie der Herrgott in Frankreich es nicht schöner haben konnte. Das behauptete zumindestens die junge Weiddirn, welche das Bälgchen nach Lenz dem Knecht vielleicht am wenigsten leiden mochte. Aber auch sie schlug es nie, denn wenn der Bauer und die Bäurin solches nicht tun, steht es einer Weiddirn schon gar nicht an. So viel Sinn für das was sich schickt hatte sogar sie, die Jula. So konnte das Bälgchen oft im Winter, wenn die Keuschen-Kinder in der Schule waren und es aus Furcht vor Lenz dem Knecht gerade nicht im Stall sein wollte, hinter dem Ofen in der Leutstube sitzen und sein verstecktes Püppchen streicheln und leise, fast nur in den Gedanken vor sich hin sagen: »Ibillimutter!«

Nein, laut wagte es nie in Gegenwart der Großen zu reden und keines von ihnen, nicht einmal Wrga die einäugige Mutter hatte eine Ahnung, wie viele Worte es schon sagen konnte. Und so war es also auch eigentlich gar nicht zu verdenken, dass Lenz der Knecht sooft er den Kopf bei der Leutstubentür hereinsteckte und das Bälgchen hinter dem Ofen gewahrte, mit seiner alten Leier anfing: »Verrecken will ich, wenn das kein Wechselbalg ist! Immer hinter dem Ofen, immer hinter dem Ofen, das ist schon so die rechte Manier! So treiben sie es ja und werden dann dick und fett und uralt und fressen zum Schluss eine ganze Hube arm … Ja, ja, wers derlebt, wirds derleben, das sag ich, der Lenz, der mehr kann wie Rosenkranzbeten … Und wenn du es schon nicht schlagen willst du vernageltes Weibsbild du dann mach wenigstens das mit den Eierschalen! … Pass nur auf, wie es dann gleich herkommen wird hinter dem Ofen und seinen Namen sagen oder gar noch mehr … Habs schon derlebt, habs schon derlebt … Kommen dann her und schütteln den Kopf und sagen ihren Spruch und wenn sie tausendmal früher nichts haben reden können oder so getan haben als ob sie es nicht könnten … Denn sie sind falsch, sie sind alle saufalsch diese Bälger da. Dann können sie Kopfschütteln, dann können sie reden, dann geht ihnen das Maul auf und sie sagen: Jetzt bin ich schon so alt, dass da neunmal war Wiesen und neunmal wieder Wald, aber so viel Scherben und Häfen hab ich noch nie gsehen wie heut … Ja so reden sie dann und können es nimmer wieder verleugnen, von wo sie herkommen, wenn sie diesen Spruch einmal ausglassen haben … Und wenn es schon so weit nicht kommt müssen sie wenigstens ihren wahren Namen sagen. Ja ja, wers derlebt, der derlebts, das sag ich, der Lenz …«

Anfangs hatte bei solchen Reden Wrga noch immer mit dem schönen Namen Zitha großgetan und gesagt, dass es diesen in der heiligen Tauf bekommen hätte … »Ja deins vielleicht, das irgendwo bei einem alten Wechselbalg aufwachst, wo es auch die heilige Tauf noch verlieren wird, aber das da, das sie dir untergeschoben haben, das heißt vielleicht ganz anders … Wirst’s ja derleben, wirst am End noch derleben und hinterdenken auf mich …«

Aber sie hätte es vielleicht nie erlebt, wenn Gott der Herr ihr nicht diese schreckliche Krankheit geschickt hätte, diese heimtückische da, von der der Lenz behauptete, dass sie ihr jemand angeworfen hätte. Zuerst glaubte sie ihm auch das nicht, aber als dann das ganze Doktorgehen für die Katz war und sie schon Nacht für Nacht im Stall auf- und abgehn musste und vor sich hin weinen wie ein kleines Kind, so dass die Kühe aufwachten und sich nach ihr umwandten und zum Schluss vor Mitleid oder Aufregung laut zu brüllen begannen, da fing sie an dem Lenz alles zu glauben was er nur wollte. »Es schabt mir immer wer wie mit einem Messer was vom Knochen ab und da schau nur her, was für Lucken ich da schon hab und um wie viel sie schon kleiner ist wie die andere!« und sie zeigte ihm die Hand immer wieder und nur ihm allein und er drehte sie hin und her und sagte: »Ja ja, wie ich’s gesagt hab, genau wie ich’s gesagt hab. Da muss wo wer im Dorf sein, der dir das angewunschen hat und sein tuts der Schwund, nichts als der Schwund!« »So ist das am End nicht genug, du Lotter du?!« schrie sie ihn an, aber er vergab es ihr vom Mund weg und war die Güte selbst und sagte: »Musst nur fest glauben, musst alles fest glauben, was ich dir sag und heut über acht Tag, wenn der Vollmond da ist, bittest dich beim Alten aus und wir gehn zum Schwundweiblein!« »Acht Tag noch?« schrie sie auf und hatte in ihrem armen Verstand wohl gar gedacht, er würde ihr gleich so vom Fleck weg helfen können. Aber so einer war er nun auch wieder nicht, nein mit Zauberei hatte er persönlich sich noch nicht so tief eingelassen. Und da weinte sie vor ihm, einäugig wie sie war, auf ihre ganz besondere Art, wobei ihr gläsernes Auge um sich besonders hervorzutun und zu zeigen um wie viel es besser und mächtiger als das andere sei, immer ganz wunderbar aufglänzte. Und da erkannte er es mehr als je, dass sie, diese schelchzahnige und gar nicht mehr junge Kuhdirn es sein müsse, welche ihm in jenem bedeutungsvollen Traum der Thomasnacht vorhergesagt worden war, wo er mit allerlei Sprüchen und Beschwörungen seine Zukunft befragt hatte. Ein Weib war auf ihn zugekommen mit nichts als einer mächtigen Glaskugel als Kopf, aber diese Glaskugel hatte von innen her geredet und gesagt: »Bald du mich nimmst, hört dein Bauerndienst auf, bald du mich nicht nimmst, wirst ewig der Knecht bleiben!« … Nein ewig wollte er bei Gott nicht Knecht bleiben, wie denn auch, wo er doch viel klüger war als tausend Bauernschädel zusammen, nein das konnte kein Mensch nicht von ihm verlangen. Wenn nur dieser verfluchte Wechselbalg nicht dagewesen wäre! Von dem war in dem Traum damals keine Rede gewesen … Aber es würde sich schon ein Mittel finden so oder so … Ganz aus Glas war ihr Kopf ja gerade nicht, aber das konnte man von einem menschlichen Weibsbild ja schließlich auch nicht erwarten. Sein tut sie es und nehmen muss ich sie, wenn ich nicht ewig im Unglück bleiben will! Ohne Schelchzähne und ein bisschen jünger, besonders aber ohne den Balg wäre sie ihm wohl lieber gewesen. Aber alles kann ein armer Mensch ja sowieso nie nicht haben … Solcherart also waren die Gedanken des Knechtes, wenn Wrga vor ihm weinte und ihr Glasauge dabei verheißungsvoll auffunkelte. »Gesund wirst du werden, so wahr ich da steh, aber du musst mir nur ganz fest und alles aufs Haar glauben, was ich dir sag, verstehst!?« »Ja, Mensch Gottes, alles, was du nur willst glaub ich dir!« sagte sie, weil ihr eben wieder wer mit einem Messer vom Knochen was abschabte … »Wirst dann aber auch das mit den Eierschalen tun, wie?« … Sie wollte eigentlich nein sagen, aber das Messer schabte noch tiefer in ihren Knochen und da sagte sie in ihrer Verzweiflung: »Wenn du mir hilfst und bald ich keine Schmerzen mehr hab, tu ich es.« … Da war er mit ihr ganz und gar zufrieden und lobte sie über den grünen Klee und sagte: »Du bist ein gescheites Weibsbild und bei dir kann einer einmal direkt froh sein …« Da vergaß sie für einen Moment alle Schmerzen, sie waren einfach wie fortgewischt und ihre beiden Augen funkelten fast ganz gleich mächtig und beinah so wie wenn sie beide aus Glas gewesen wären und sie fragte: »Meinst du das im Ernst?« … Ja, er meinte das ganz im Ernst und sagte: »Wart nur bis du gesund bist!« Und da wartete sie dann eben darauf und wenn sie in den Nächten im Stall auf und ab ging weinte sie nicht mehr so laut und verzweifelt und dachte an allerhand Dinge, die ihr noch bevorstehen mochten.

Zitha das Bälgchen sah ihr mit immer mehr bitteren Augen nach und verstand so wenig und dabei wieder so vieles, dass es mit der Zeit nicht nur vor Lenz dem fremden Knecht, sondern auch vor seiner Mutter Angst empfand. Wie gerne hätte es da sein Teufelspüppchen und sein Pfefferbüchschen bei sich im Bett gehabt und ganz leise und zärtlich zu ihnen gesagt: »Ibillimutter!« aber auch das wagte es nicht, denn seine schwere Furcht ging mehr um diese beiden geliebten Dinge als um sich selbst. Und so hatte es sich schon lange daran gewöhnt beide immer über Nacht in das Heu zu verstecken. Wenn dann die Mutter gegen den Morgen, wo ihre Schmerzen immer nachzulassen pflegten, kalt und verweint ins Bett kroch, spürte sie wohl die Wärme ihres kleinen Mädchens wie etwas unendlich Gutes, aber sie dachte dabei doch schon immer mehr an eine andere Wärme, die vielleicht noch besser sein würde, jedenfalls aber seltener. Nein sie war ja nicht aus Holz, die alte Wrga mit den Schelchzähnen und dem Glasauge. Einmal war sie jung gewesen und da hatte man die Schelchzähne noch nicht so gemerkt und Augen hatte sie auch noch zwei richtige gehabt, aber Gott hatte es nicht gewollt, dass sie mit zwei richtigen Augen sterben sollte und der Hofbauer hatte ihr vieles versprochen und dann war doch nur ein Glasauge daraus geworden, weil sie so ungeschickt von dem Heuboden heruntergesprungen war, dass sie die Mistgabel in das eine Auge bekommen hatte. Freilich, das was der Bauer gewollt hatte, war sie dabei losgeworden und dass es ihr auch das Aug gekostet hatte, dafür konnte er bestimmt nichts, aber anständig wie er einmal war, hatte er ihr doch ein so schönes und kostbares dafür einsetzen lassen. Ja, in der Weis konnte man ihm schon nichts nachreden, alles was recht ist, wenn sie dann auch gleich nach dem Spital einen anderen Dienst hat suchen müssen. Vergessen würde sie es ihm trotzdem nie, dass er sie nicht mit einem Loch im Kopf einfach verjagt hatte, wie er es ja auch hätte tun können und so betete sie manchmal noch ein Vaterunser für ihn. Mehr aber betete sie freilich für den anderen, der ihr nichts versprochen hatte und ausgewandert war auf Amerika um viel Geld zu verdienen für sie und das Schneebittchen, aber er war dann an einer fremden und bösen Krankheit gestorben. Ja, das hatte er ihr noch schreiben lassen, ihr, der einfachen Kuhdirn, richtig schreiben auf einem feinen Brief mit vielen ausländerischen Marken, für die ihr der Postherr viel Geld versprochen hatte. Aber sie hatte sie ihm erst dann gegeben, wie der Doktor so oft hat zum Bälgchen kommen müssen, weil es in die heiße Saukaschpel gefallen war. Da hatte die Krankenkassa gerade die Salbe nicht gezahlt, die es hat haben müssen. Ja, so war es gekommen, dass der Brief nun kein ordentlicher Brief mehr war und sie würde ihn nun wohl morgen oder übermorgen ganz verbrennen. Wer weiß auch, was der Lenz dazu sagen würde, wenn er ihn einmal unter ihren Brustleibchen finden möchte? … Ja, so weit war sie in ihren Gedanken schon und darüber erschrak sogar das Messer in ihren Knochen und vergaß dann und wann das Schaben … Sie aber vergaß ihr Schneebittchen und nannte es nie mehr bei seinem schönen Namen und wenn es ihr im Schlaf manchmal mit seinen Füßchen in den Magen trat, woran nur Bella der Hund schuld war, von dem es oft träumte, so konnte es sogar vorkommen, dass sie voller Unwillen sagte: »Tritt mir nicht den Bauch ein, du Balg du!« Freilich meinte sie es nicht ganz so schlimm, aber wenn Zitha darüber wach wurde, waren ihre Augen so dunkel und so bitter, dass Wrga das helle Entsetzen überkam … Und so war alles vorbereitet für Lenz den Knecht, damit sich sein Thomasnachttraum erfüllen konnte.

*

Auf Lenz den Knecht war Verlass. Er hatte den Alten wahrhaftig so weit gebracht, dass er ihnen beiden den Sonntag freigab … »Mchm mchm mchm mchm, tuts wie’s wollts, tuts wie’s wollts, seid’s wenigstens nicht harb!« hatte der gesagt. Eine volle Zustimmung war das ja nicht, aber Lenz genügte dies vollkommen. Es war Samstagabend und die Vollmondnacht stand bevor. Ihr Weg war weit, aber er führte über den Schatzkogel. Lenz hatte ihn eigentlich schon längst so gut wie aufgegeben, aber nun da er die Glasäugige mit hatte, wollte er es noch einmal versuchen. Wer weiß, das Glück hat neunhundertneunundneunzig Wege und vielleicht konnte sie es ihm auf diese Weise zubringen? Nehmen wird er sie ja sowieso wohl müssen, wo die Glaskugel doch gesagt hat: »Bald du mich nimmst, hört dein Bauerndienst auf!« Aber es ist schließlich doch nicht ganz gleich, ob man eine mit oder ohne Schatz nimmt. Und warum sollte sie den Schatz nicht finden, wo sie doch ein Glasauge hatte? Und wer weiß, wozu die Schelchzähne gut sind? Umsonsten bekommt kein Mensch nicht so auffällige Zeichen mitten ins Gesicht … Aber er hatte seine ehrliche Plage mit ihr. Himmelherrgott, war das Weibsbild vernagelt! Zwanzigmal hatte er ihr wohl schon den Zauberspruch vorgesagt und dazu ganz genau gezeigt, wie sie die Haselrute zu halten hat. Und man möchte wohl meinen, dass ein Mensch, der bald gegen die Vierzig geht, sowas mit der Zeit doch begreifen wird, nicht wahr? Aber keine Idee davon! Ihre saudummen Hände zitterten wie ein Lämmerschweif und wenn sie den Spruch sagen sollte heulte sie immer bloß auf: »Es schabt, es schabt, es schabt! … Mensch Gottes, die Schmerzen, die Schmerzen!« … »Du musst dich überwinden!« sagte er und: »Bedenk bloß, was für ein schönes Leben wir haben werden, wenn wir den Schatz finden!« Und da bedachte sie es und kam endlich so weit, die Rute ganz richtig zu halten und den mächtigen Spruch vor sich herzuheulen:

»Spitz, eben

Berg, Tal

Knall, Fall Zahl Wiesengral

Kessel, Rübe

Maus.«

»Spürst noch nichts, Weibsbild, spürst denn um Gottes willen noch nichts? … Hast auch dreimal das verkehrte Kreuz gemacht? Das verkehrte Kreuz, sag ich dir!« … »Hab schon, hab bei meiner Seel schon, Lenz, aber es schabt, es schabt, es schabt!« … »Lass es schaben und denk nicht drauf! Geh siebenmal um die Lärchen, siebenmal, sag ich dir! … Da hab ich ja das Licht derblickt in jener Samstagnacht …«

Und sie gehorchte ihm wie ein Kind und ging siebenmal herum und wollte nicht an das Messer in ihren Knochen denken und biss ihre Schelchzähne so gut sie konnte aufeinander und dann kam das Licht, kam aus dem dunklen Wald her und gerade auf sie zu und sie erschrak und wo sie eben »Wiesengral« sagen wollte, sagte sie nun: »Jesus, Maria und Josef!« und ließ die Wünschelrute fallen. Auch Lenz, welcher schon seine Spitzhacke aus dem Rucksack genommen hatte um den Schatz zu heben erschrak so sehr, dass er zu seinem Feind, mit dem er noch nie ein Wort geredet hatte »Guten Abend, Bartl-Thoman!« sagte.

»Guten Abend auch!« sagte der, welcher das Licht trug und: »Wenn ihr so weitertut, werdet ihr keinen Segen haben.« … Dann ging er um die Lärche und bückte sich um allerlei Kräuter und man konnte hören, dass er dabei den Schmerzhaften Rosenkranz betete … Als er an Wrga vorbeikam spiegelte sich das Licht der Windlaterne in seinen Augen und sie musste daran denken, dass er ihr einmal gesagt hatte: »Wenn du einmal gar nicht aus und ein weißt, arme Haut, dann komm zu mir.« … Sie aber hatte nie zu einem kommen wollen, der barfuß ging und seinen ganzen Lohn dem Bauern beließ, was hätte sie auch von so einem an Hilfe erwarten können? Und um seinetwillen war sie dann vom Bartlbauer weg zum Feidel-Peter gegangen, damit sie nicht immer seine dunklen Augen und nackten Füße anzusehen brauchte. Jetzt aber sagte sie in seine dunklen Augen die das Licht spiegelten hinein: »Es schabt Thoman, es schabt!« Er aber versprach ihr nichts, er sagte bloß: »Musst es dertragen bis es nachlasst. ER hat auch alles dertragen.« … Aber das Messer in ihren Knochen verhöhnte diese Rede und als sie zu Lenz zurückging, für den sie sich entschieden hatte, da verhöhnte dieser abermals Thoman den Mann mit dem Lichte und sagte: »Wenn du den zum Liebsten nimmst, dann gib nur acht, dass er nicht einen lucketen Buckel hat …«

Da errötete sie ein wenig und ihr richtiges Auge senkte sich schamhaft als sie sagte: »Was denkst du denn bloß? In meinen Jahren braucht man wohl keinen Liebsten mehr.« Aber ihr Glasauge, so schön es auch war, konnte sich nicht schämen, nein das war ihm nicht gegeben und das Prächtigste was es hervorbringen konnte, war eine verborgene Verheißung. Trotzdem sagte sie noch allerlei bedenkend: »Meinst du wirklich, dass er vom Leibhaftigen ist? … Nein, alles Schlechte brauchst du von mir grad auch nicht zu denken, so weit bin ich mit ihm nie gekommen, dass ich hätt sehn können, ob er einen lucketen Buckel hat. Und das kannst mir ehrlich glauben.«

Gut, das glaubte er ihr, aber im Übrigen war er für seine Person fest davon überzeugt, dass Thoman einen hohlen Rücken hätte, wie alle, die mit dem Gottseibeiuns umgehen … »Mit dem Schatz ist es heut wohl nichts« sagte er und: »den hat der Lotter uns wohl für lange Zeit abgewunschen und wer weiß ob das Messer in deiner Hand nicht von ihm kommt? … Hast gemerkt wie er dich angschaut hat?«

Ja, das hatte sie wohl gemerkt und da war sie nun froh, dass sie so einen wie den Lenz neben sich hatte, der sich in allen verhexten Dingen so gut auskannte. »Bei dir ist eine schon einmal gut aufgehoben!« sagte sie und ihr gläsernes Auge triumphierte über das andere, das sich dummerweise ein wenig schämen wollte. »Ja, das ist einmal sicher!« sagte der Lenz und führte sie sorgsam durch die Wälder dem Hof der Schwundbäurin zu.

Es war schon sehr spät, als sie dort ankamen, aber der Lenz war ja bekannt und wurde trotzdem eingelassen und sie bekamen nicht nur ein Nachtessen, sondern auch ein Lager im Heu.

Als der Hahn zum ersten Mal krähte, fragte die Glasäugige den Mann: »Wird mir die Sünd wohl nicht schaden und dem Heilen einen Abbruch tun?«

»Was heißt Sünd?« fragte der Lenz und tat sehr gekränkt: »Hab ich vielleicht einen lucketen Buckel? Und was Mensch ist kommt zu Mensch, das kann doch nirgendswo eine Sünde nicht sein. Auch stehts nirgends noch geschrieben, dass ich dich nicht einmal heirat …«

Da schwieg die vom Glück überwältigte Magd bis der Hahn zum zweiten Mal krähte, dann aber fragte sie: »Lenzi, wirst du auch wohl das Kind annehmen?«

»Welches Kind?« fragte er, der an seinen Thomasnachttraum gedacht hatte. Dann, nachdem er sich ein wenig besonnen: »Du meinst doch nicht den Wechselbalg?«

»Ja, den« sagte sie leise, während der Hahn zum dritten Mal krähte.

»Das wird sich schon noch derweisen, bald es seinen Namen sagen muss … Jetzt aber tu beten. Bis die Sonn aufgeht und die Alte kommt, musst noch schnell so viel du kannst beten.«

»Hilf mir dabei, dass es mehr ausgibt« sagte sie und das wollte er auch, aber da zeigte es sich, dass er, so bewandert er auch sonst in allem war, das Beten doch noch nicht so richtig heraus hatte. Immer bei jedem heiligen Namen verhaspelte sich seine Zunge auf eine so dumme Art, dass ganz etwas anderes dabei herauskam. Und weil das Messer wieder schabte, wurde sie ungeduldig und sagte: »Sei still und lass mich allein beten, du verdrehst mir ja alles. Wie soll da was heilen?«

»So also bist du?« sagte er gekränkt und nahm die Wünschelrute und ging in den Sonntagmorgen hinaus. Vielleicht dachte er, sie würde ihn rufen? Aber das tat sie nicht. Denn es war so, dass sie sich alleingelassen nicht mehr allein fühlte. Vielleicht schlief sie noch halb und träumte es nur? Weit fort war das schabende Messer und man konnte denken, es sei ein Werkzeug tief angesetzt unter Gestein, daran es schürfte und schabte und jemand sagte Sprüche dabei, die heilsam waren. Vielleicht war es Thoman der Barfüßer und Vorbeter beim Gottesdienst? Thoman der Mann mit dem Licht, welches durch das härteste Gestein brach … Bet du mit mir! bat sie und er tat es. Dabei zeichnete er mit seinen nackten Zehen heilige Tiere über die Erde. Und immer schabte und schürfte das Werkzeug und wo ein Stein überwältigt war, hob sich das Gesicht des Bälgchens daraus hervor und war bleich, weil das Dunkle seiner bitteren Augen verdeckt war … Ist es tot? fragte sie. Noch nicht ganz, wirst es aber noch derleben, sagte Thoman und betete weiter. Dann war es auf einmal ein altes Weib, das Augen hatte wie alte Vögel, welche auf alle sicheren Nester verzichtet haben und dafür weit über alle Vogelgrenzen hinausfliegen können, bis dahin, wo das Reich der Sterne beginnt, von wo sie in Neumondnächten ihre Nahrung holen, die keine Vogelnahrung mehr ist. In ihren kralligen Händen trug sie die Tiere, die Thoman so heilig gezeichnet hatte und sie wanden sich nicht darin, sondern verhielten sich wie Geopferte und waren versteint. Wrgas schwindende Hand hob sich wie von selbst den Krallen entgegen, welche mit den heiligen Steinen darüber kreuzweis zu streicheln begannen auf eine so sanfte Art, dass Wrga vermeinte, es wäre ihr Bälgchen, das sie mit einem Male wieder so lieben konnte, dass es ihr fast das Herz brach. Weit fort und wie von einer Schlucht herauf sagte die Stimme des Lenz: Wenn du sie nicht neunmal haust, musst du sie ins Wasser werfen, wohin die Wechselbälger alle gehören … Nein! schrie Wrga so hart und so laut, dass sie selbst darüber ganz wach wurde. Die Alte mit ihren tiefen Vogelaugen sah sie milde an und betete weiter, während sie mit den seltsam geformten Steinen immer noch die Schwundhand streichelte:

»Fleisch zu Fleisch und Bein zu Bein!

Die Menschennot wird ewig sein …

Der alles teilt

der alles heilt

im Stein verweilt

nichts übereilt,

dem tu gemach

dein Weh und Ach

vertrauen wie es ist!

Im Namen unsres HERREN CHRIST

lass nach, lass nach,

o Schmerz lass nach!«

Dann besprengte sie die Magd mit Weihwasser, als wäre sie eine Tote. Ehe sie aber noch sagen konnte, dass sie noch lebe, war die Alte lautlos im Spalt der Scheunentüre verschwunden.

Da dachte die Wrga zuerst sie sei wirklich schon tot, denn alles was sie bisher gefühlt hatte war ausgelöscht, sogar das schabende Messer in ihrer Hand.

Als Lenz der Knecht, welcher seinen Schatz noch immer nicht gehoben hatte, zu ihr trat, schlief sie wie ein Stein. »Na alsdann, der hat sie wieder einmal geholfen!« sagte er zu sich selbst und war mit sich, mit der Schwundbäurin und auch sonst aller Welt zufrieden, bis auf Thoman den Schleicher, der ihm eben wieder zwischen die Beine gelaufen war – nein das heißt: nicht Thoman selbst, aber sein Hund, dieses blonde Scheusal – und ihm alles wieder über den Haufen geworfen hatte, seine Sprüche und Beschwörungen, und was er aus der Erde gehoben hatte war das Gerippe einer toten Katze gewesen … Dieser Thoman sollte von ihm aus verflucht sein ewig nach Schätzen zu graben! Er aber würde sein Glück schon noch so oder so zu fassen bekommen, das ist einmal sicher … Hier lag sie vor ihm wie ein ganz gewöhnliches Weib und hatte doch ein Auge aus Glas und war ihm versprochen worden. Wozu also sollte er sich noch lange ärgern über einen, der verrückt war und barfuß ging und sich dazu wohl noch einbildete Macht über Geister zu haben.

Als er mit seinem Geld vor die Schwundbäurin trat, sah diese durch ihn und das ganze schöne Geld hindurch und sagte: »Bald du sie nimmst und gut mit ihr bist, kannst über die Zeit alles einmal abdienen. Früher aber komm mir lieber nimmer unter die Augen.« Da wurde er nach außen hin zahm wie ein kleines Tier und sagte: »Vergeltsgott, Schwundmutter, Vergeltsgott!« Innen aber im Herzen war er böse und begriff es nicht, dass eine mit der er von der Großmutter her noch weitschichtig verwandt war, so hart zu ihm reden konnte. Sie aber gab das Vergeltsgott mit einer leisen Bewegung nach innen in ihre Austragstube weiter, dorthin, wo Thoman stand und die neugefundenen heiligen Heilsteine unter lautlosen Gebeten vor dem Herrgottswinkel aufschichtete. Ein Büschel Kräuter lag immer wieder dazwischen und es war zu merken, dass die Stube davon ihren seltsamen alten Geruch bekam … Dem also hatte sie es vererbt? Dem?! Und schon bei Lebzeiten? Und vielleicht gar auch den letzten und stärksten Schatzspruch? … Rücklings und das Gesicht mit allem verheimlichten Hass den beiden da drinnen zugekehrt wich er hinaus und erst als er vom Geruch nichts mehr um sich spürte, wagte er es sich umzudrehen und allem was ihm entgegenkam den Hass zu zeigen. Als erstes traf er den blonden Hund, der vor ihm mit gesträubten Haaren zurückwich, als zweites Wrga die Magd, welche aber mit Hilfe ihres Glasauges darüber siegte.

»Es schabt nicht mehr« sagte sie »und wir werden uns bedanken müssen und nach der Schuldigkeit fragen.«

»Da ist nichts mehr zu fragen. Hab schon alles gleichgemacht. Als Einziges hat sie verlangt, dass du den Balg abschaffst. Und jetzt klaub dich zusammen, wir müssen heim.«

Viel wurde auf diesem langen schweren Heimweg nicht mehr geredet. Wrga hatte damit zu tun ihre Tränen immer wieder fortzuwischen, obzwar sie ja nur aus einem Auge kamen.

»Schabt es wieder?« fragte der Knecht. Es hätte ihn kaum gewundert, seit er wusste, dass Thoman hinter der Heilung stand.

»Nein« sagte Wrga, welche nicht zugeben wollte, dass das Messer von der Hand in das Herz gewandert war und dort schabte und schabte, als müsste es einen Schatz zutage bringen.

*

Lange Zeit schien es, als ob Wrga die Glasäugige das undankbarste Geschöpf auf Gottes weitem Erdboden wäre. Ja, es kam sogar vor, dass sie wieder: »Lass mich in Ruh, du Lotter du!« sagte, wenn er von den Eierschalen anfing. Aber dann, nach einem Sonntagnachmittag, wurde es anders. Wrga war nämlich bei dem alten Pfarrer gewesen. Weiß Gott was alles sie sich davon erhofft hatte! Vielleicht hatte sie gar gedacht, er würde ihr um ihres schönen Auges willen noch einmal und ohne viel Begehens vergeben? Aber das tat er nicht. Nein er konnte es einfach nicht. So sehr seine zitternden Hände auch an jedem Wort drehten und wendeten, es kam nichts anderes dabei heraus als: »Da müsst ihr halt heiraten. Freilich wohl, was denn auch sonst. Wirst doch nicht einen Napoleon zur Welt bringen wollen oder noch eine Zitha. Soll denn die Welt nur mehr Sündenkinder hervorbringen? Wofür ist unser Herr Heiland dann gestorben, wenn keiner mehr das tut was recht ist?«

Ob es denn recht wäre wenn sie den Lenz heiratet, ob dann alles recht wäre, hatte sie gefragt. »Alles wohl nimmer aber so viel als ein Mensch wie du halt noch recht machen kann … Aber von was wollts euch denn fortbringen?« hatte er gleich darauf gefragt und sich so mit seiner Gerechtigkeit selbst einen Klotz zwischen die Beine geworfen. Ordentlich aufgeseufzt vor Erleichterung hatte sie da und gesagt: »Ja das ist es ja auch, Hochwürden Herr Pfarrer, dass die Bauersleut alle keine verheirateten Dienstmenscher nicht haben wollen. Wird halt nicht sein können von wegen dem und am End hat der Herrgott noch einmal so viel Einsicht?«

Aber davon hatte der Herr Pfarrer wieder nichts wissen wollen, nein nein, das wäre Missbrauch treiben mit der Güte Gottes, sowas darf man sich erst gar nicht einreden, weil man dann aus der Sünde überhaupt nicht mehr herauskommt … Und damit verschlug er ihr wieder die Rede womit sie ihm alles hatte sagen wollen, von der Angst vor Lenz, von dem Messer im Herzen und von den schrecklichen Eierschalen, wogegen sie sich bis jetzt noch immer gewehrt hatte.

Seltsam hatte sie den alten Hochwürden da angeschaut mit einem strahlenden, immerzu zuversichtlichen und einem überaus traurigen und bedrängten Auge. Er aber hatte ihre Bedrängnis falsch gedeutet und tröstlich gesagt: »Wenn ihr den Willen habt zu heiraten, werde ich dem Lenz zur freigewordenen Gemeindebotenstell verhelfen, sag ihm das und einen schönen Gruß und dass er sich bald einmal blicken lassen soll.«

Ja, und das hatte sie ihm dann auch gesagt, immer noch in der Hoffnung, es könnte irgendwie anders kommen und der Lenz würde vielleicht nein sagen und fällt mir gar nicht ein, ich der Lenz soll etwa den Pudel fürs ganze Dorf machen? … Aber es war nicht so gewesen. Nein der Lenz hatte sich in keiner Weise dagegen gewehrt, sondern nur ganz seelenruhig gemeint: »So, jetzt geht die Uhr recht. Und manchmal ist ein Pfarrer doch auch noch für was gut. Möcht man gar nicht denken, gar nicht denken …«

Von da an wusste sie nun, dass es wohl Gottes Wille sei, der ihr Lenz den Knecht von weit hinter den gläsernen Grenzbergen her zum Manne bestimmt hatte. Ihr altes Magdherz wusste nun, dass sie ihm untertan sein müsste in allem und jedem.