Seit heute, aber für immer - Christine Lavant - E-Book

Seit heute, aber für immer E-Book

Christine Lavant

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Beschreibung

Eine ganz persönliche Auswahl von Gedichten der österreichischen Lyrikerin und Erzählerin Christine Lavant, getroffen von Jenny Erpenbeck. Christine Lavant ist eine der bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie schrieb Gedichte, die in ihrer sprachlichen Eigenwilligkeit und existenziellen Zerrissenheit für Thomas Bernhard zu den "Höhepunkten der deutschen Lyrik" zählen. Er beschrieb ihre Lyrik als "das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern missbrauchten Menschen". Lavant selbst sprach von ihrer Kunst als "verstümmeltes Leben, eine Sünde wider den Geist, unverzeihbar" und war sich dennoch ihrer poetischen Kraft gewiss. Ihre Gedichte, je zur Hälfte etwa veröffentlicht zu Lebzeiten bzw. aus dem Nachlass, erzählen von verletzten Kinder- und Frauenseelen, von Armut, Krankheit und Ausgrenzung, von der Suche nach Gott und der Auflehnung gegen ihn, aber auch von der befreienden Kraft der Liebe.

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Christine Lavant

Seit heute, aber für immer

Gedichte

Ausgewählt und mit einem Nachwort von Jenny Erpenbeck

Wallstein Verlag

Inhalt

In doppelter Ährenhöhe

Beschwörung

Heute tu ich Sterne zählen

Bitte um Regen

Kauf uns ein Körnchen Wirklichkeit!

Unsere Mutter ist keine Dame gewesen

Übe übe den Apfelzweig

Am Fensterblech läutet der Abendregen

Erinnerung an ein Abendgebet

Christus, bist du wirklich auch in mir?

Meiner hat mich nie angerührt

An die Ahnen

Seit heute, aber für immer

Du ergriffest mein Herz schon als ich dich ansah am Abend

Wie soll ich altern jetzt da sich der März

Ist unsre Liebe wirklich heimatlos?

Schlief ich sehr lange unterm Sonnenbaum?

Trau der Mannschaft deines Seglers zu

Mit der sanften Hostie des Monds

Leg auf meine Schulter deine Hand

Sind das wohl Menschen? – Wie man das vergißt!

Erbarme dich! Mein Leib geht sonderbar

Zwei gehen ein ins ewige Leben

Ich habe die Last von meinen Schultern geschoben

Was ist das Größre vor dem Herrn?

Geh heim jetzt, du Lieber, im Maiwinde glänzen die Gräser

Höllenfahrt

Morgen hängst du im Sonnennetz

Kaum habe ich die Lampe ausgelöscht

Zwischen den vielen Stunden der Zeit

Drehe die Herzspindel weiter für mich

Erlaube mir traurig zu sein

Wer wird mir hungern helfen diese Nacht

Hole von allen Gedächtnisstätten

Zeig an mir die Kräuter, welche bestärken

Zerschlage die Glocke in meinem Gehör

Im Zeitungsstand sitzt eine gute Frau

Laß doch die Hoffnung in der flachen Glut!

Der Mondhof war noch nie so groß

Wär ich ein Iltis und du wärst ein Knecht

Lieber Gott, lass mir die Liebe

So eine wildfremde Sonne!

Wenn du Zeit hast, rette schnell mein Herz

Früher wenn mich was erschreckte

Ach schreien, schreien! – Eine Füchsin sein

Ich kann dir jetzt nichts mehr verheißen

Auf meinen Fingernägeln glänzt das Licht

Mein Schicksal ist übrig geblieben

Von Mund und Herzen hab ich abgespart

Es riecht nach Weltenuntergang

Daß du nicht größer als ein Sperlingshaupt

Wer ist sternäugig?

Bettlerlied

Alter Schlaf, wo hast du deine Söhne?

Nur des Schlafes wilder Nebenzweig

Unverdient wärmst du mich Sonne

Die Zeitungsfrau grüßt mich seit Tagen nicht

Daß mir jetzt nichts mehr begegnet!

Gerädert von deiner Sonne

Mein Augenlicht ist nichts mehr wert

Solchen gibt man für Zärtlichkeit Saures

Wind, wart ein wenig unterm Segenbaum

Unten Wurzeln, oben Sterne

Fremd geht der Schlaf an mir vorbei

Abwendig hängt der Mond im Dunst

Erde, wenn du zwei Lippen hättest

Der gelbe Autobus fährt immer noch

Ich habe durch dich gefroren

Ich lerne das A und das O

Das Zittern in meiner Handwurzel kommt

Durch meinen schwarzen Schatten geht

Selbstzuspruch

Zählbar sind schon die Blätterknoten

Hundert Briefe in einer Nacht

Von der Nachtmitte weg

Welchem Hunger untertänig

Du hast mich fast begriffen

Du hättest mich nicht verlassen dürfen

Ich bin ein einfaches und durchtriebenes Geschöpf

Allen Schmerz will ich verfressen

Mutter schick den Tod zu mir

Aus meinem Schälchen nahm mir über Nacht

Ich weiß nicht, ob es verabredet war

Einäugig ist mein abgenutzter Würfel

Die Angst ist in mir aufgestanden

Du hast die Landschaft zwischen uns verändert

Deinen Augen die Bilder

Hab ich den Vogel erfunden

Was will das Tier mit meiner Zunge jetzt?

Du hast mich aus aller Freude geholt

Morgen wird die ertrunkene Hälfte der Welt

Meine Augen, die beiden schwarzen Nägel

Wie oft muß ich noch Atem holen?

Verborgene Spindel im Mond

Ölbergstunde

Getränkt von allem was die Erde hat

So also geht Erleuchtung vor?

Die Menschen reden zu leise für mich

Es riecht nach Schnee, der Sonnenapfel hängt

Wieder brach er bei dem Nachbar ein

Mit weißen Pillen breche ich jede Nacht

Herz, löse hier den Hausstand auf

In der Regenrinne badet ein Vogel

Die Schläfen füllen sich mit Föhn

Möstlein ich kann dich nicht trinken

O Gott, heb auf den schweren Stein

Bei mir kannst du nicht übernachten

Ganz erblinden will ich, lieber Herr

So seltsam stehen die Sterne

Jesus hat harte Worte gesprochen

Hast du meine Mutter erstickt?

So hat die Einsicht mich noch nie versengt

Kreuzzertretung! – Eine Hündin heult

Im Traum, der kein Traum ist

Du hast meine einfachen Wege durchkreuzt

Wirf ab den Lehm, nimm zu an Hauch

Mond, Wind und Vögel haben es nimmer für mich getan

Nimm den blutlosen Stern

Das war mein Leben, Gott, vergiß das nicht!

Heute wurde ich wach, ohne zu wissen, wer ich sei

Darüber, Herr, besprich dich mit dem Tod

Mein Schlaf ist ins Wasser gegangen

Mein Herz dreht sich nie mehr im Leibe um

Schaukelt die Erde schaukelt der Mond

Von meiner Seele, Herr, rede ich nimmer

Stell ab die Zeit, zerschlag den Ring

Verlorner Himmel wenn auch überklar

Mit leergetrommeltem Herzen

Ich will vom Leiden endlich alles wissen!

Über Nacht ergraute mein Himmel

Gesteinigt hänge ich am Lebensrand

Unter verdorrenden Apfelbäumen

Ich will das Brot mit den Irren teilen

Samenkugel die du wehst über allem

Nachwort

In doppelter Ährenhöhe

schweben die Engel der Unkrautsamen

langsam zum Friedhof hinüber.

Verlöscht sind die heurigen Kerzen

der goldenen Löwenzähne,

feurig werden sie aufgehn

über den Leibern der Toten

und mir im Herzen schon bald.

Beschwörung

I

Und stürbe ich am Rande einer Straße,

wie Hunde sterben, abgehetzt und einsam,

mit keiner Kreatur gemeinsam,

von nichts betreut als vom verstaubten Grase

und ein paar unscheinbaren Tropfen Tau; –

und würde alles mir schon fremd und ungenau,

der Wald, die Straße und die kahlen Bäume,

dann kämen alle armen Träume

scheu zu mir her und böten sich zur Wacht

und hielten aus der angebrauchten Nacht

dein Angesicht mir noch einmal entgegen …

Dies Angesicht, das sich mir nie gewährte

und welches doch als lichter Trostgefährte

und wie ein göttlich zugedachter Segen,

den ich als Gnade feierlich empfing,

durch meines Lebens bittre Armut ging.

II

Einmal wird kommen die Nacht aller Nächte!

Dann wird meine Seele ein Großes sein.

Es werden ihr helfen die Winde, der Stein

und alle nur irgend erdenklichen Mächte,

mit denen sie jetzt so furchtbar noch ringt …

Die Form wird nichts sein … Vielleicht nur ein Glas,

das, halb angefüllt mit irgend etwas,

vor dir steht und plötzlich dich ansieht und zwingt,

die Mauern zu lassen, die du dir erbaut;

ein ganz alltäglicher einfacher Laut,

eine Falte des Vorhangs, der sich bewegt,

ein Blatt Papier, vor dich hingelegt,

ein Nichts; – doch du wirst emporgerissen,

auf einmal erwachen und wissen! und wissen!

Denn nichts wird dir helfen, bevor du es spürst,

wie maßlos du meine Seele berührst!

Heute tu ich Sterne zählen.

Es sind wohl noch weit mehr als drei,

auch sagten sie beim Türkenschälen,

daß ein Gespenst am Boden sei.

Der Knecht von drüben lachte laut;

er ist ein Mann der finster schaut

und niemand mag ihn gerne.

Dem hol ich keine Sterne!

Bloß unsrer Mutter und dem Hund,

dem Sultan, der mit seinem Mund

mich aus dem Teich gezogen.

Der Knecht ist so verlogen!

Er sagt, die Kinder bringt ein Schaf

zu Bettelleuten, bloß ein Graf

kann aus dem Engelshaufen

sich ganz ein schönes kaufen!

Mich heißt er oft »die blinde Laus«,

dann geh’ ich traurig in das Haus.

Dort sagt die Mutter: »Zartelein«

und tut mich in ihr Bett hinein

wo wir beisammen schlafen.

Ich mag zu keinem Grafen!

Türken Mais

Türkenschälen Entfernen der Hüllblätter um den Maiskolben

Zartelein verzärteltes, bevorzugtes Kind

Bitte um Regen

Herr, willst du nicht durch deine Dörfer gehen? –

Sieh sie nur an, wie sie verändert sind!

Wie seltsam sich die Scheunentore drehen

mit einem Knirschen, wenn dein großer Wind

vom Morgen bis zum Abend sie bewegt …

Merkst du das frühe Altern an den Dächern?

Das Grau, das sich an alle Wände schlägt.

Und dass der Bach in immer kleinerm, schwächerm

und trüberm Maß sein armes Wasser trägt?

Und hörst du, Herr, ob noch ein Vogel singt

wie einst in Tagen, da du Regen sandtest?

Da ist kein Lied, das du schon einmal kanntest,

das ist ein neuer Sang und ein Beschwören!

Ich weiß wohl, Herr, uns kannst du nicht erhören! –

Doch rührt’s dich nicht, wie alt und wie erschrocken

die leeren Brunnen vor den Häusern hocken? –

Wie Greise, die zu nichts mehr nütze sind! …

Sieh deine Dörfer, Herr, und stelle dich nicht blind,

sieh dir die Not der armen Dinge an! …

Die haben dir ja niemals was getan –

ich kann begreifen, dass du deinen Segen

uns Menschen weigerst, um uns zu verderben! –

Doch diesen Häusern, Vögeln, Brunnen schicke Regen

und mache diese zu dem großen Erben

von deiner Gnade! – Komme, sie zu segnen …

Komm in die Dörfer, Herr, und lasse regnen!

Kauf uns ein Körnchen Wirklichkeit!

Wir könnten doch endlich auch Schwarzbrot essen

statt eingezuckerte Engel.

Ich mag nicht mehr hungrig schlafen gehn,

ich mag nimmer meinem murrenden Magen

zur Strafe die Engel versalzen.

Schaff her einen doppelten Branntweinkrug,

wir müssen uns endlich richtig betrinken

und Du zu uns sagen von Mund zu Mund,

nicht ewig vom Weihwasser taumeln.

Ich mag nicht mehr durstig schlafen gehen,

ich mag auch die fluchende Kehle nimmer

mit Essig ans Beten gewöhnen.

Unsere Mutter ist keine Dame gewesen.

Einmal hat sie dem Rauchfangkehrer

seinen Glückswunsch zu Neujahr nicht bezahlt

weil kein Bisschen im Haus war.

Der hat dann bei allen Bauern erzählt

dass sie ein geiziges Weiblein sei

und schon so ausschaut wie eine Hexe.

Im Winter haben die Bäurinnen Zeit

und da sind gleich drei auf einmal gekommen

mit Wäsche zum Flicken und anderen Fetzen

und haben ihr alles wiedererzählt

von dem Lümmel dem Rauchfangkehrer.

Damals ist mir zum ersten Mal

in Mutters winzigem Mundwinkellächeln

die Blume der Armut so aufgefallen

dass ich die Stube verlassen musste

weil niemand wert ist das anzuschauen

und gar zu erkennen.

Seit diesem Tage habe ich Gott

immer um diese Blume gebeten

aber die Armut allein tuts wohl nicht

denn mein Lächeln ist bloß eine Distel.

Übe übe den Apfelzweig

in deinem Auge in deinem Innern,

übe wie er den Himmel teilt

leise schwankend mit noch drei Blättern.

Lege dies Bild deinem Herzen auf

lege dies Bild deiner Stirne auf,

später teilt dann dein Blut dir mit

was jetzt im Herbste die Wurzeln tun.

Übe übe den Vogellaut

in deinem Ohre in deiner Kehle,

übe wie er die Stille bricht

leise einfach und ohne zu locken.

Lege den Ton deinem Munde auf

lege den Ton deiner Kehle auf,

später teilt dein Gefühl dir mit

welche Worte zu Herzen gehn.

Am Fensterblech läutet der Abendregen.

Mein Teppich aus braunem Packpapier

ist voll von ermüdeten Faltern.

Daß ich nur keinen zerkniee in Gottes Namen!

Mein Augenlicht ist ja schon schwach geworden

in den letzten bitteren Wochen.

Was werden wir beten, Herz, solange es läutet?

Zuerst für die Seelen im Fegefeuer,

dann für alle, die am Verzweifeln sind:

Zuchthäusler, Krebskranke und Tuberkulose.

Nicht die gefangenen Tiere vergessen,

die eingehn an Heimweh und Entsetzen!

Aber wir müssen noch weiterknieen

für die lange Reihe der geistig Verwirrten

auf den gläsernen Stufen der Schwermut,

bis hinab zum höllischen Irrsinn.

Ist das überstanden, dann helfe uns Gott,

daß uns einfällt jeder gewesene Freund,

jeder Wohltäter auch, denn ohne sie wären wir jetzt

mitten im Regen und hätten kein Dach überm Kopf,

nur Elend außen und innen.

Erinnerung an ein Abendgebet

Eine bräunliche Nacht, die das Zimmer behält,

weil die Mutter die Lampe so tief abgedreht,

dass nur die Spur eines Lichts auf die Arbeit ihr fällt

und ringsum das Atmen der Schwestern …

Und ein Nachklang vom endlosen Abendgebet

und alles Schwere von gestern …

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Ob der heilige Joseph wohl helfen kann,

dass die Schwester den Posten wird kriegen?

Und das mit der Stube … Damit nimmer dann

der Bruder im Keller muss liegen.

– Ob der liebe Gott bestimmt allmächtig ist?

Und ob er am Ende nicht doch noch vergisst,

dass die Mutter kein Geld für die Milch hat?

– Ich will gar nicht weinen, wenn morgen beim Bad

die Wunden wieder so brennen