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Eine ganz persönliche Auswahl von Gedichten der österreichischen Lyrikerin und Erzählerin Christine Lavant, getroffen von Jenny Erpenbeck. Christine Lavant ist eine der bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie schrieb Gedichte, die in ihrer sprachlichen Eigenwilligkeit und existenziellen Zerrissenheit für Thomas Bernhard zu den "Höhepunkten der deutschen Lyrik" zählen. Er beschrieb ihre Lyrik als "das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern missbrauchten Menschen". Lavant selbst sprach von ihrer Kunst als "verstümmeltes Leben, eine Sünde wider den Geist, unverzeihbar" und war sich dennoch ihrer poetischen Kraft gewiss. Ihre Gedichte, je zur Hälfte etwa veröffentlicht zu Lebzeiten bzw. aus dem Nachlass, erzählen von verletzten Kinder- und Frauenseelen, von Armut, Krankheit und Ausgrenzung, von der Suche nach Gott und der Auflehnung gegen ihn, aber auch von der befreienden Kraft der Liebe.
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Seitenzahl: 99
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Christine Lavant
Seit heute, aber für immer
Gedichte
Ausgewählt und mit einem Nachwort von Jenny Erpenbeck
Wallstein Verlag
In doppelter Ährenhöhe
Beschwörung
Heute tu ich Sterne zählen
Bitte um Regen
Kauf uns ein Körnchen Wirklichkeit!
Unsere Mutter ist keine Dame gewesen
Übe übe den Apfelzweig
Am Fensterblech läutet der Abendregen
Erinnerung an ein Abendgebet
Christus, bist du wirklich auch in mir?
Meiner hat mich nie angerührt
An die Ahnen
Seit heute, aber für immer
Du ergriffest mein Herz schon als ich dich ansah am Abend
Wie soll ich altern jetzt da sich der März
Ist unsre Liebe wirklich heimatlos?
Schlief ich sehr lange unterm Sonnenbaum?
Trau der Mannschaft deines Seglers zu
Mit der sanften Hostie des Monds
Leg auf meine Schulter deine Hand
Sind das wohl Menschen? – Wie man das vergißt!
Erbarme dich! Mein Leib geht sonderbar
Zwei gehen ein ins ewige Leben
Ich habe die Last von meinen Schultern geschoben
Was ist das Größre vor dem Herrn?
Geh heim jetzt, du Lieber, im Maiwinde glänzen die Gräser
Höllenfahrt
Morgen hängst du im Sonnennetz
Kaum habe ich die Lampe ausgelöscht
Zwischen den vielen Stunden der Zeit
Drehe die Herzspindel weiter für mich
Erlaube mir traurig zu sein
Wer wird mir hungern helfen diese Nacht
Hole von allen Gedächtnisstätten
Zeig an mir die Kräuter, welche bestärken
Zerschlage die Glocke in meinem Gehör
Im Zeitungsstand sitzt eine gute Frau
Laß doch die Hoffnung in der flachen Glut!
Der Mondhof war noch nie so groß
Wär ich ein Iltis und du wärst ein Knecht
Lieber Gott, lass mir die Liebe
So eine wildfremde Sonne!
Wenn du Zeit hast, rette schnell mein Herz
Früher wenn mich was erschreckte
Ach schreien, schreien! – Eine Füchsin sein
Ich kann dir jetzt nichts mehr verheißen
Auf meinen Fingernägeln glänzt das Licht
Mein Schicksal ist übrig geblieben
Von Mund und Herzen hab ich abgespart
Es riecht nach Weltenuntergang
Daß du nicht größer als ein Sperlingshaupt
Wer ist sternäugig?
Bettlerlied
Alter Schlaf, wo hast du deine Söhne?
Nur des Schlafes wilder Nebenzweig
Unverdient wärmst du mich Sonne
Die Zeitungsfrau grüßt mich seit Tagen nicht
Daß mir jetzt nichts mehr begegnet!
Gerädert von deiner Sonne
Mein Augenlicht ist nichts mehr wert
Solchen gibt man für Zärtlichkeit Saures
Wind, wart ein wenig unterm Segenbaum
Unten Wurzeln, oben Sterne
Fremd geht der Schlaf an mir vorbei
Abwendig hängt der Mond im Dunst
Erde, wenn du zwei Lippen hättest
Der gelbe Autobus fährt immer noch
Ich habe durch dich gefroren
Ich lerne das A und das O
Das Zittern in meiner Handwurzel kommt
Durch meinen schwarzen Schatten geht
Selbstzuspruch
Zählbar sind schon die Blätterknoten
Hundert Briefe in einer Nacht
Von der Nachtmitte weg
Welchem Hunger untertänig
Du hast mich fast begriffen
Du hättest mich nicht verlassen dürfen
Ich bin ein einfaches und durchtriebenes Geschöpf
Allen Schmerz will ich verfressen
Mutter schick den Tod zu mir
Aus meinem Schälchen nahm mir über Nacht
Ich weiß nicht, ob es verabredet war
Einäugig ist mein abgenutzter Würfel
Die Angst ist in mir aufgestanden
Du hast die Landschaft zwischen uns verändert
Deinen Augen die Bilder
Hab ich den Vogel erfunden
Was will das Tier mit meiner Zunge jetzt?
Du hast mich aus aller Freude geholt
Morgen wird die ertrunkene Hälfte der Welt
Meine Augen, die beiden schwarzen Nägel
Wie oft muß ich noch Atem holen?
Verborgene Spindel im Mond
Ölbergstunde
Getränkt von allem was die Erde hat
So also geht Erleuchtung vor?
Die Menschen reden zu leise für mich
Es riecht nach Schnee, der Sonnenapfel hängt
Wieder brach er bei dem Nachbar ein
Mit weißen Pillen breche ich jede Nacht
Herz, löse hier den Hausstand auf
In der Regenrinne badet ein Vogel
Die Schläfen füllen sich mit Föhn
Möstlein ich kann dich nicht trinken
O Gott, heb auf den schweren Stein
Bei mir kannst du nicht übernachten
Ganz erblinden will ich, lieber Herr
So seltsam stehen die Sterne
Jesus hat harte Worte gesprochen
Hast du meine Mutter erstickt?
So hat die Einsicht mich noch nie versengt
Kreuzzertretung! – Eine Hündin heult
Im Traum, der kein Traum ist
Du hast meine einfachen Wege durchkreuzt
Wirf ab den Lehm, nimm zu an Hauch
Mond, Wind und Vögel haben es nimmer für mich getan
Nimm den blutlosen Stern
Das war mein Leben, Gott, vergiß das nicht!
Heute wurde ich wach, ohne zu wissen, wer ich sei
Darüber, Herr, besprich dich mit dem Tod
Mein Schlaf ist ins Wasser gegangen
Mein Herz dreht sich nie mehr im Leibe um
Schaukelt die Erde schaukelt der Mond
Von meiner Seele, Herr, rede ich nimmer
Stell ab die Zeit, zerschlag den Ring
Verlorner Himmel wenn auch überklar
Mit leergetrommeltem Herzen
Ich will vom Leiden endlich alles wissen!
Über Nacht ergraute mein Himmel
Gesteinigt hänge ich am Lebensrand
Unter verdorrenden Apfelbäumen
Ich will das Brot mit den Irren teilen
Samenkugel die du wehst über allem
Nachwort
In doppelter Ährenhöhe
schweben die Engel der Unkrautsamen
langsam zum Friedhof hinüber.
Verlöscht sind die heurigen Kerzen
der goldenen Löwenzähne,
feurig werden sie aufgehn
über den Leibern der Toten
und mir im Herzen schon bald.
I
Und stürbe ich am Rande einer Straße,
wie Hunde sterben, abgehetzt und einsam,
mit keiner Kreatur gemeinsam,
von nichts betreut als vom verstaubten Grase
und ein paar unscheinbaren Tropfen Tau; –
und würde alles mir schon fremd und ungenau,
der Wald, die Straße und die kahlen Bäume,
dann kämen alle armen Träume
scheu zu mir her und böten sich zur Wacht
und hielten aus der angebrauchten Nacht
dein Angesicht mir noch einmal entgegen …
Dies Angesicht, das sich mir nie gewährte
und welches doch als lichter Trostgefährte
und wie ein göttlich zugedachter Segen,
den ich als Gnade feierlich empfing,
durch meines Lebens bittre Armut ging.
II
Einmal wird kommen die Nacht aller Nächte!
Dann wird meine Seele ein Großes sein.
Es werden ihr helfen die Winde, der Stein
und alle nur irgend erdenklichen Mächte,
mit denen sie jetzt so furchtbar noch ringt …
Die Form wird nichts sein … Vielleicht nur ein Glas,
das, halb angefüllt mit irgend etwas,
vor dir steht und plötzlich dich ansieht und zwingt,
die Mauern zu lassen, die du dir erbaut;
ein ganz alltäglicher einfacher Laut,
eine Falte des Vorhangs, der sich bewegt,
ein Blatt Papier, vor dich hingelegt,
ein Nichts; – doch du wirst emporgerissen,
auf einmal erwachen und wissen! und wissen!
Denn nichts wird dir helfen, bevor du es spürst,
wie maßlos du meine Seele berührst!
Heute tu ich Sterne zählen.
Es sind wohl noch weit mehr als drei,
auch sagten sie beim Türkenschälen,
daß ein Gespenst am Boden sei.
Der Knecht von drüben lachte laut;
er ist ein Mann der finster schaut
und niemand mag ihn gerne.
Dem hol ich keine Sterne!
Bloß unsrer Mutter und dem Hund,
dem Sultan, der mit seinem Mund
mich aus dem Teich gezogen.
Der Knecht ist so verlogen!
Er sagt, die Kinder bringt ein Schaf
zu Bettelleuten, bloß ein Graf
kann aus dem Engelshaufen
sich ganz ein schönes kaufen!
Mich heißt er oft »die blinde Laus«,
dann geh’ ich traurig in das Haus.
Dort sagt die Mutter: »Zartelein«
und tut mich in ihr Bett hinein
wo wir beisammen schlafen.
Ich mag zu keinem Grafen!
Türken Mais
Türkenschälen Entfernen der Hüllblätter um den Maiskolben
Zartelein verzärteltes, bevorzugtes Kind
Herr, willst du nicht durch deine Dörfer gehen? –
Sieh sie nur an, wie sie verändert sind!
Wie seltsam sich die Scheunentore drehen
mit einem Knirschen, wenn dein großer Wind
vom Morgen bis zum Abend sie bewegt …
Merkst du das frühe Altern an den Dächern?
Das Grau, das sich an alle Wände schlägt.
Und dass der Bach in immer kleinerm, schwächerm
und trüberm Maß sein armes Wasser trägt?
Und hörst du, Herr, ob noch ein Vogel singt
wie einst in Tagen, da du Regen sandtest?
Da ist kein Lied, das du schon einmal kanntest,
das ist ein neuer Sang und ein Beschwören!
Ich weiß wohl, Herr, uns kannst du nicht erhören! –
Doch rührt’s dich nicht, wie alt und wie erschrocken
die leeren Brunnen vor den Häusern hocken? –
Wie Greise, die zu nichts mehr nütze sind! …
Sieh deine Dörfer, Herr, und stelle dich nicht blind,
sieh dir die Not der armen Dinge an! …
Die haben dir ja niemals was getan –
ich kann begreifen, dass du deinen Segen
uns Menschen weigerst, um uns zu verderben! –
Doch diesen Häusern, Vögeln, Brunnen schicke Regen
und mache diese zu dem großen Erben
von deiner Gnade! – Komme, sie zu segnen …
Komm in die Dörfer, Herr, und lasse regnen!
Kauf uns ein Körnchen Wirklichkeit!
Wir könnten doch endlich auch Schwarzbrot essen
statt eingezuckerte Engel.
Ich mag nicht mehr hungrig schlafen gehn,
ich mag nimmer meinem murrenden Magen
zur Strafe die Engel versalzen.
Schaff her einen doppelten Branntweinkrug,
wir müssen uns endlich richtig betrinken
und Du zu uns sagen von Mund zu Mund,
nicht ewig vom Weihwasser taumeln.
Ich mag nicht mehr durstig schlafen gehen,
ich mag auch die fluchende Kehle nimmer
mit Essig ans Beten gewöhnen.
Unsere Mutter ist keine Dame gewesen.
Einmal hat sie dem Rauchfangkehrer
seinen Glückswunsch zu Neujahr nicht bezahlt
weil kein Bisschen im Haus war.
Der hat dann bei allen Bauern erzählt
dass sie ein geiziges Weiblein sei
und schon so ausschaut wie eine Hexe.
Im Winter haben die Bäurinnen Zeit
und da sind gleich drei auf einmal gekommen
mit Wäsche zum Flicken und anderen Fetzen
und haben ihr alles wiedererzählt
von dem Lümmel dem Rauchfangkehrer.
Damals ist mir zum ersten Mal
in Mutters winzigem Mundwinkellächeln
die Blume der Armut so aufgefallen
dass ich die Stube verlassen musste
weil niemand wert ist das anzuschauen
und gar zu erkennen.
Seit diesem Tage habe ich Gott
immer um diese Blume gebeten
aber die Armut allein tuts wohl nicht
denn mein Lächeln ist bloß eine Distel.
Übe übe den Apfelzweig
in deinem Auge in deinem Innern,
übe wie er den Himmel teilt
leise schwankend mit noch drei Blättern.
Lege dies Bild deinem Herzen auf
lege dies Bild deiner Stirne auf,
später teilt dann dein Blut dir mit
was jetzt im Herbste die Wurzeln tun.
Übe übe den Vogellaut
in deinem Ohre in deiner Kehle,
übe wie er die Stille bricht
leise einfach und ohne zu locken.
Lege den Ton deinem Munde auf
lege den Ton deiner Kehle auf,
später teilt dein Gefühl dir mit
welche Worte zu Herzen gehn.
Am Fensterblech läutet der Abendregen.
Mein Teppich aus braunem Packpapier
ist voll von ermüdeten Faltern.
Daß ich nur keinen zerkniee in Gottes Namen!
Mein Augenlicht ist ja schon schwach geworden
in den letzten bitteren Wochen.
Was werden wir beten, Herz, solange es läutet?
Zuerst für die Seelen im Fegefeuer,
dann für alle, die am Verzweifeln sind:
Zuchthäusler, Krebskranke und Tuberkulose.
Nicht die gefangenen Tiere vergessen,
die eingehn an Heimweh und Entsetzen!
Aber wir müssen noch weiterknieen
für die lange Reihe der geistig Verwirrten
auf den gläsernen Stufen der Schwermut,
bis hinab zum höllischen Irrsinn.
Ist das überstanden, dann helfe uns Gott,
daß uns einfällt jeder gewesene Freund,
jeder Wohltäter auch, denn ohne sie wären wir jetzt
mitten im Regen und hätten kein Dach überm Kopf,
nur Elend außen und innen.
Eine bräunliche Nacht, die das Zimmer behält,
weil die Mutter die Lampe so tief abgedreht,
dass nur die Spur eines Lichts auf die Arbeit ihr fällt
und ringsum das Atmen der Schwestern …
Und ein Nachklang vom endlosen Abendgebet
und alles Schwere von gestern …
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Ob der heilige Joseph wohl helfen kann,
dass die Schwester den Posten wird kriegen?
Und das mit der Stube … Damit nimmer dann
der Bruder im Keller muss liegen.
– Ob der liebe Gott bestimmt allmächtig ist?
Und ob er am Ende nicht doch noch vergisst,
dass die Mutter kein Geld für die Milch hat?
– Ich will gar nicht weinen, wenn morgen beim Bad
die Wunden wieder so brennen