Das klare Sommerlicht des Nordens - Petra Oelker - E-Book

Das klare Sommerlicht des Nordens E-Book

Petra Oelker

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Beschreibung

Zwei Frauen, ein Traum. Freiheit. Sidonie Wartberger führt ein von materiellen Sorgen unberührtes Dasein in einer Villa an der Hamburger Außenalster. Doch die junge Ehefrau aus jüdischem Haus fühlt sich eingezwängt wie in ein Korsett. Sie träumt von einem anderen, viel freieren Leben. Dora Lenau wohnt am unteren Ende der Stadt, im Hafenviertel, in kümmerlichen Verhältnissen. Sie träumt von finanzieller Unabhängigkeit, von einem kleinen Atelier für Avantgarde-Mode. Als ihre Not am größten ist, kreuzen sich die Wege der beiden Frauen. Gemeinsam wagen sie es, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben ...

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Petra Oelker

Das klare Sommerlicht des Nordens

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Zwei Frauen, ein Traum. Freiheit.

Sidonie Wartberger führt ein von materiellen Sorgen unberührtes Dasein in einer Villa an der Hamburger Außenalster. Doch die junge Ehefrau aus jüdischem Haus fühlt sich eingezwängt wie in ein Korsett. Sie träumt von einem anderen, viel freieren Leben.

Dora Lenau wohnt am unteren Ende der Stadt, im Hafenviertel, in kümmerlichen Verhältnissen. Sie träumt von finanzieller Unabhängigkeit, von einem kleinen Atelier für Avantgarde-Mode.

Über Petra Oelker

Petra Oelker, geboren 1947, arbeitete als Journalistin und verfasste Sachbücher und Biographien. Mit «Tod am Zollhaus» schrieb sie den ersten ihrer erfolgreichen historischen Kriminalromane um die Komödiantin Rosina, neun weitere folgten. Zu ihren in der Gegenwart angesiedelten Romanen gehören neben «Tod auf dem Jakobsweg», «Der Klosterwald» sowie «Die kleine Madonna».

Für Jonathan, Romy und Mia

Prolog

Herbsttage 1905 in Wien

Es war dieses Bild, das alles verändern sollte. Auch später, nachdem so viel geschehen war, das schwerer wog als das Bildnis einer unbekannten Dame, blieb sie dessen sicher.

Sie hatte es nicht gleich beim Eintreten bemerkt. Rosas unermüdliche Plauderei forderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie hatten sich an der Ringstraße von Viktor verabschiedet und ihm nachgesehen, wie er über den Heldenplatz davoneilte, den Spazierstock leicht in der Hand, als warte er nur darauf, ihn herumzuwirbeln.

«Der liebe Viktor», hatte Rosa gesagt und bedächtig genickt. «Er ist immer noch so ansehnlich, dabei ein wirklich feiner Mensch, was selten zusammengeht. Trotzdem», sie hatte die Tüllwolke auf ihrem ausladenden Hut in eine verwegenere Position gezupft, «ein bissel fad ist er schon.»

«Fad? Das kann nur an Wien und dem Vergleich mit den Wienern liegen», hatte Sidonie amüsiert gekontert. Sie mochte ihre Schwägerin. Rosa war oft zu eilig mit den Worten, dafür ohne Falsch und meistens mit einer Prise Humor. Wenn sie es mit der Etikette genau nahm, dann auf eine Weise, wie sie unter reichen und sehr reichen Wienern gepflegt wurde, von Damen und Herren aus jungem Adel, arrivierten, zumindest skandalträchtigen avantgardistischen Künstlern, von weitgereisten illustren Gästen. «Bei uns an der Alster», hatte Sidonie betont, «käme niemand auf die Idee, Viktor langweilig zu nennen. Ich muss es wissen, ich bin seit sechs Jahren seine Ehefrau.»

«Hm», seufzte Rosa, und Sidonie verstand: Ach, Schatzerl, was wissen denn Ehefrauen?

Da hatte der Mann auf dem Kutschbock vernehmlich geschnalzt und die beiden Schimmel mit den Hufen scharren lassen, und sie waren in den Fiaker gestiegen.

Der offene Wagen war die Ringstraße hinuntergerollt. Durch das frühherbstliche Laub der Platanen flirrten Sonnenstrahlen und malten tanzende Muster aus Licht und Schatten. Alles war in Bewegung, und alles war schön. Sogar die vorbeiratternde Tram und die Automobile, die sich mit quäkendem Lärm und dem seltsamen Geruch ihrer Maschinen einen Weg durch Kutschen, Droschken und flanierende oder geschäftig eilende Fußgänger bahnten.

Sidonie Wartberger war erst zum zweiten Mal in Wien, als Finanzrat konnte Viktor nicht so viel reisen wie seine beiden älteren Brüder, die in Bankhäusern in London und Amsterdam arbeiteten. Rosa, deren einzige Schwester, hatte sich fröhlich nach Wien verheiraten lassen.

Der Fiaker hielt vor der Tür des Couture-Salons der Schwestern Flöge, ein Page öffnete dienernd den Schlag und rief etwas, das nach «Küss die Hände, schöne Damen» klang, um gleich auch die Tür zum Salon aufzuhalten. Er war besonders hübsch, dunkel wie ein Levantiner, fast noch ein Kind, nur die vollen Lippen schon mit männlicher Linie. Sidonie war entzückt.

Der Salon empfing sie ganz in Schwarz und Weiß und geraden Linien, dabei hell wie ein Gartenzimmer. Statt der üblichen Diwane und Kanapees wenige schmale Stühle mit sehr aufrechter Lehne, Tische auf überschlanken Beinen, kerzengerade gleichsam in der Luft schwebend. Auch Glasvitrinen und mit Reispapier bespannte Paravents, an den Wänden Spiegel, facettiert als zierliches Mosaik oder glatt und deckenhoch. Keine Kristalllüster, nur karge, gerade Lampen; statt der üblichen Palmen, der Samt- oder Damastvorhänge und Portieren federleichte weiße Stores und duftige Sommersträuße.

Wie arm, war der erste Gedanke, wie schmucklos, und dann: wie licht, wie frei. Da war etwas Verwirrendes, Radikales.

Aus den Probierräumen mit den japanischen Wänden traten zwei Damen, gewiss Mutter und Tochter, eine Schneiderin folgte ihnen, über jedem Arm Kleider, Röcke, Blusen, Seide, Mousselin, Spitzen und Samt. An einem der Tische, Sherrygläser und Teetassen vor sich, schwatzte ein in elegante pastellfarbene Nachmittagskostüme gekleidetes Damentrio, über eine Modezeitschrift gebeugt. Ungewöhnlich erschien nur die ganz in Schwarz und Weiß gewandete Dame unbestimmbaren Alters, hell gepudert, die Augen tiefschwarz umrandet, selbst der Hut auf ihrem ebenholzdunklen Haar blieb bis in die winzigste Garnitur aus abstrakten weißen Gebilden ohne Farben – von Kopf bis Fuß eine Reverenz an den Flöge’schen Salon und seinen Architekten. Nur aus der Vitrine, vor der sie stand und die schönsten Stücke einer Sammlung von volkstümlichen Blusen, Gewändern, Stickereien und Spitzen aus Mähren, der Slowakei oder China betrachtete, leuchteten intensive bunte Farben.

Dann erst begegnete Sidonie diesem Bild, das sie lange nicht vergaß. Sie sah ein schmales Gesicht unter blondem feingelocktem Haar, der Mund klein und schmal, ohne Lächeln, die Augen unter gewölbten Brauen dunkel und auf eigene Weise drohend. Die ganze junge, überschlanke Gestalt steckte in einem Kleid aus vielen Bahnen federleicht fließenden Stoffes. Wie ein Wasserfall im Nebel – Weiß, blasses Rosé, ohne feste Kontur, doch eng geschlossen bis unters Kinn, in der Taille geschnürt, als sei kein Fleisch darunter, die bis über die Handgelenke reichenden Ärmel eng anliegend wie Fesseln. Sie saß ganz hell vor einer schwarzen Wand, eine aufragende Blütenranke über ihrer Schulter wie ein Grabstrauß. Und noch etwas wirkte beunruhigend – diese angespannte Hand auf der Sessellehne.

Es war nur ein Bildnis, nichts als Farben auf Leinwand. Dennoch schlug Sidonies Herz, als müsse sie einem schwarzen Traum vom Rand einer Klippe entkommen, als kämpfe sie um die rettende Balance.

«Sidonie? Liebe, so komm doch her.» Rosas Stimme klang besorgt und weiter entfernt, als der Raum es erlaubte. «Lass mich dir Fräulein Flöge vorstellen.»

Neben Rosas fülliger kleiner Gestalt wirkte Emilie Flöge so ungewöhnlich wie ihr Salon. Zwar trug sie keines der berüchtigten Reform- oder Kunstkleider, die böswillige Stimmen Sack- und Kittelmode nannten, obwohl es auch darunter kunstvoll gearbeitete, die Weiblichkeit unterstreichende Modelle gab. Doch das zu Linien und Quadraten in Grüntönen gewebte Stoffmuster ihres Kleides wirkte bei aller Eleganz streng, die Taille war ungeschnürt, die sandfarbene Schulterpasse nur von einer quadratischen Brosche aus Silber, Emaille und Rosenquarz geschmückt. In der Mitte gescheiteltes tiefdunkles Haar umrahmte ihr Gesicht hingegen in kaum gebändigten Locken.

Sidonie hörte Rosa nach dem lieben Klimt fragen, ob er sich wieder am Attersee seiner Kunst widme und wann er endlich wieder einmal nach Wien komme. Emilie Flöges Haltung verriet wenig von der üblichen Ehrerbietung einer Schneiderin gegenüber ihrer wohlhabenden Kundschaft. Ihr Blick war nicht devot, nur aufmerksam. Sie reichte der neuen Kundin die Hand. «Ein interessantes Bild», sagte sie. «Ein wenig beunruhigend, aber auch sehr schön.»

«Beunruhigend», rief Rosa. «Finden Sie? Es ist nur die liebe Sonja Knips. Modern ist es schon, aber auf seine Art sehr nett. Was macht es überhaupt hier? Mag sie’s nicht mehr?»

«Aber nein. Es soll im Bouquet etwas nachgebessert werden, Klimt ist ja nie zufrieden. Manches Bild muss man ihm geradezu entführen, sonst bleibt es ewig in seinem Atelier. Ihm ist einerlei, wenn die Auftraggeber einfordern, was sie bestellt haben.»

Rosa kicherte. «Man spricht darüber, ja. Und amüsiert sich, wenn’s einen nicht grad selbst trifft. Aber sagen Sie, liebe Emilie, dieses entzückende Gewand beim Paravent – das haben Sie uns von Ihrer jüngsten London-Expedition mitgebracht?»

Sidonie bemühte sich, die seegrüne Robe zu würdigen, die, wie sie nun hörte, aus Wien stammte – «Entwurf, Modell, jeder Stich – alles aus unserer eigenen Werkstatt» – und bald in Rosas Ankleidezimmer zu finden sein würde. Aber das Bild ließ sie noch nicht los. Wie hatte der Maler das gemacht? Dieses Fließende, Schwirrende, dieses betörend Helle vor dem dunklen Abgrund? Abgrund? Seltsam, man konnte sich auch in Gedanken versprechen. Hintergrund war das richtige Wort. Das Undurchdringliche der Schwärze wirkte trotzdem wie ein Abgrund. Das Bildnis stand für eine Lüge. Oder für den Moment des Erkennens einer Illusion? Jedenfalls für einen Schrecken.

Gleich springt sie auf und schüttelt die Enge ab, die rosenfarbenen Seidenfesseln, und fliegt davon, dachte sie.

Rasch beugte Sidonie sich mit bewundernder Miene über die Seidenrobe mit der schwarz-silbrigen, perlenbesetzten Spitzeneinfassung an Ärmeln und Dekolleté. Und fliegt davon, dachte sie immer noch. Törichte Gedanken …

Kapitel 1

Hamburg im März 1906

Irgendetwas hielt sie immer auf und brachte ihren Zeitplan aus der Balance. Oder irgendjemand. Heute wieder einmal Theo. An seiner guten Jacke fehlte ein Knopf, und da just an diesem Tag tadelloses Aussehen lebenswichtig schien, mindestens über sein Wohl und Wehe für die nächsten Jahre entscheiden konnte, hatte sie flink Nadel und Faden holen müssen. Leider musste sie vorher einen passenden Knopf im Nähkasten finden, der alte war verloren, und Theo hatte sich nicht die Mühe gemacht, danach zu suchen.

Also war Dora Lenau in Eile, wie meistens auf ihrem morgendlichen Weg zur Arbeit. Nach dem «lebenswichtigen Anlass» hatte sie nicht gefragt. Sie war bereit, den Knopf anzunähen, auch, den winzigen Riss im rechten Ärmel auszubessern, nicht aber, eine seiner Hochstapeleien anzuhören. Nicht so früh am Morgen. Er war ihr Vetter, sie sollte ihn lieben wie einen Bruder, zumindest mögen und respektieren – das hatte sie viele Jahre getan, inzwischen tat sie es nicht mehr.

Der Tag versprach schön zu werden, die Sonne blinzelte vom diesigen Himmel, der verschleierte sich allerdings weniger mit frischem Morgennebel als mit dem Rauch aus zahllosen Schornsteinen an Land und auf dem Wasser. Trotzdem war es immer noch Frühlingsluft. Kein Vergleich zu dem klebrigen Dunst, der sich besonders hier am Hafen an den meisten Wintertagen auf ihr Gesicht legte, das Atmen schwerer machte und das Weiß der Kragen in schmuddeliges Grau verwandelte.

Sie drängte sich geschickt durch den Pulk Männer, die zu den Vorsetzen unterwegs waren, um wie an jedem Morgen auf eine Schicht Arbeit zu warten. Dort standen oft Hunderte, an machen Tagen, so hieß es, Tausende, was sie allerdings für übertrieben hielt. Ein halbes Dutzend Schupos sorgte dann für Ordnung.

«Irgendwann marschieren die Männer los und wehren sich», hatte Theo neulich gesagt und bedeutungsvoll die Brauen gehoben. Dora hatte nicht ganz verstanden, wie und wogegen sich tausend Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter wehren konnten, wenn das nächste Tausend schon in der Warteschlange stand, allzu bereit, ihre Plätze einzunehmen. Darauf hatte er nur etwas wie «Das wirst du dann schon sehen» gemurmelt.

Er hatte selbst oft hier gestanden, in den letzten Monaten nur noch selten. Heute sicher nicht. Für Hafenarbeit taugte keine gute Jacke. Die Männer gingen mit hochgezogenen Schultern und unbewegten Gesichtern nah beieinander, wenige sprachen. Selbst Nachbar, Freund oder Bruder wurden hier zum Konkurrenten bei der Hoffnung auf Arbeit.

Früher hatte Dora mehr von ihnen gekannt. Seit die südliche Neustadt saniert wurde, waren die meisten der billigen alten Quartiere verschwunden. Neue Häuser wurden gebaut, größere, bessere, somit auch teurere – das war schön, aber keine passende Bleibe mehr für Tagelöhner.

Ab und zu fragte sie sich, was aus denen geworden war, die hier nun fehlten. Ob sie in den Fabriken in Hammerbrook, Barmbek oder Altona Glück gehabt hatten – wurden dort überhaupt Tagelöhner und Männer ohne richtige Ausbildung gebraucht? Oder ob viele von ihnen ausgewandert waren, über den Ozean nach Amerika.

Solche Gedanken schob sie weg. Die bedeuteten, zurückzuschauen, nach links und rechts, und sie wollte nur nach vorne schauen. Es war einzig eine Frage der Zeit, bis sie dies alles hinter sich lassen konnte. Dora Lenau war achtzehn Jahre alt, sie glaubte mit Entschlossenheit und Zuversicht an ihre Zukunft. An das große Los, hatte ihre Tante, Anna Römer, gesagt.

Eilig bog sie in die Eichholz genannte Straße. Hier standen schon lange keine Eichen mehr, inzwischen auch kaum noch Gebäude. Nur einige in jüngerer Zeit solide erbaute Häuser waren inmitten des Schutts und der Relikte ihrer ehemaligen Nachbarn stehen geblieben, auch alte Grundmauern und Keller waren hier und da noch zu erkennen. Wo sich die Möglichkeit geboten hätte, darüber ein provisorisches Dach zu installieren und den Unterschlupf als neue Wohnstatt zu benutzen, patrouillierten von den Bauherren angeheuerte Wächter. Wer denen in der Dunkelheit begegnet und von ihnen vertrieben worden war, nannte sie Schläger.

Dora empfand den Weg durch dieses Areal, in dem vorne schon neu gebaut wurde, während hinten noch die Abrissarbeiter schufteten, als beklemmend. Es erinnerte sie an die Erzählungen der alten Männer vom Großen Brand, der vor etlichen Jahrzehnten die halbe Stadt vernichtet hatte. Der Gedanke an Feuer, an brennende Häuser, war ihr schrecklich. Sie sollte mittlerweile an dieses dauernde von Straße zu Straße und Stadtteil zu Stadtteil wandernde Abreißen und Aufbauen gewöhnt sein, an das Durcheinander, an Lärm und Staub und an die Pfiffe der Arbeiter auf den Gerüsten, wenn sie für einen Sprung über Schutt und zersplitterte alte Balken ihre Röcke raffte und die Knöchel zeigte. Und auch gewöhnt an angstvoll aufwiehernde Zugpferde und Maultiere, wenn eine Handbreit vor ihren Nüstern Steine und Gebälk zu Boden krachten und barsten.

Die Straße war einmal akkurat gepflastert gewesen, jetzt lag sie halb unter Schutthaufen begraben und war von morastigen Furchen durchzogen. Kurz bevor sie in den Schaarmarkt mündete, warteten noch drei Reihen wahrlich maroder Hinterhäuser auf ihr Ende. Sie waren längst geräumt – offensichtlich aber nicht gründlich genug.

Das Schreien aus dem mittleren Hof ging durch Mark und Bein, am schauerlichsten war jedoch, dass es so plötzlich verstummte. Vor dem Durchgang hatte sich eine Traube von Neugierigen gebildet. Geschrei war immer eine willkommene Abwechslung, sie waren noch uneins, ob es entsetzt, hilflos und verzweifelt oder nach mörderischer Wut geklungen hatte.

Bei aller Eile blieb auch Dora stehen. Jetzt hielt eine tiefe männliche Stimme in entschiedenem Ton gegen eine jammernde Frauenstimme, ein Kind begann zu weinen, es klang stoisch, als sei es sein Elend gewohnt und erwarte keine Beachtung. Die Männerstimme wurde laut und ruppig.

«Das Geschrei hat überhaupt keinen Zweck. Sie wissen seit Wochen, dass hier Schluss ist. Ich hab lange genug beide Augen zugedrückt. Aber Schluss ist Schluss, und das ist heute. Wir packen jetzt den Krempel auf die Karre, und dann verschwinden Sie. Sonst wird Ihnen die Bude überm Kopf eingerissen. Also los, Jungs, holt den Rest raus und …»

«Wie können Sie so unmenschlich sein!?», rief eine helle weibliche Stimme, sie klang nicht nach Jammer, sondern ein wenig atemlos und eindeutig nach Zorn. «Sie sind Polizist. Da haben Sie geschworen, die Bürger der Stadt zu beschützen. Nun wollen Sie diese arme Frau und ihren Enkel einfach auf die Straße setzen? Bis heute dachte ich, dies ist eine christliche Stadt. Wo sollen die beiden denn hin?»

«Und was geht Sie das an? Sind Sie verwandt? Ach nee, hab ich mir schon gedacht, Sie haben hier gar nichts zu suchen. Das ist eine amtliche Handlung. Wo die Madam mit dem Kind hin soll, ist nicht meine Sache und Ihre schon gar nicht. Sie hatte lange genug Zeit, ’ne neue Bleibe zu finden. Das hier ist uraltes Fachwerk, paar Steine, feuchtes Stroh, morsche Balken. Eng und düster. Ich würd meine Kinder hier nicht wohnen lassen. Sobald die Flut mal ’ne Handbreit höher steigt als normal, laufen Keller und Erdgeschoss voll. Hier kommt doch alles durch die Siele hoch, und die Höfe stehn unter Wasser. Das ist ekelhaft, Schimmel und Gestank, das halten kaum die Ratten aus. Da kriegt man die Schwindsucht, die galoppierende. Und die Kinder die Englische Krankheit, Knochen wie Gummi. Ist das etwa schön? Sie kann froh sein, dass ihr die Mauern nicht auf den Kopf gefallen sind. Das ist ’ne Schande für unsere Stadt. Hier muss neu gebaut werden.»

«Ha!», rief die helle Stimme triumphierend. «Da sind wir uns endlich einig. Reißt die Bruchbuden ab! Aber die Leute, die hier gewohnt haben, manche ihr ganzes Leben lang, die brauchen doch andere Wohnungen, die sie auch bezahlen können. Und zwar, bevor ihr ihnen das Dach über dem Kopf einreißt.»

Der für diese Amtshandlung zuständige Mann mit der tiefen Stimme schnaufte. «Das ist keine politische Versammlung, Fräulein. Ich muss nicht debattieren, ich muss nur dafür sorgen, dass geräumt wird. Irgendwen wird die Madam in der Stadt wohl kennen, keine hat keinen. Sonst hilft die Kirche. Fragen Sie bei St. Michaelis, sind ja nur ’n paar Schritte. Oder sind Sie katholisch? Oder», er stockte für einen kaum wahrnehmbaren Moment, eine neue Nuance schwang in seiner Stimme mit, als er fortfuhr, «oder jüdisch? Wohl nicht, die Juden haben alle ihre Sippen, da wärn sie längst untergeschlüpft.»

«Ach, du meine Güte», murmelte Dora. Sie war ein weniger schönes als apartes Mädchen, das Gesicht unter dem in Eile aufgesteckten ebenholzdunklen Haar ein wenig streng und auch im Blick dunkel. Mit ihrem farbenfrohen Schultertuch wirkte sie an diesem unwirtlichen Ort wie ein Paradiesvogel. Der dicke Mann neben ihr, ein Glatzkopf in abgewetzter Arbeitshose und einem Hemd wie ein Flickenteppich, die nackten Füße in Holzpantinen, nickte und pfiff matt durch die Lücke, die einmal Vorderzähne ausgefüllt hatte. «Mit den Juden hat er recht, die halten zusammen.»

«Nich besser als wir», knurrte ein anderer hinter Doras Schulter und paffte ein stinkendes Wölkchen aus seiner Pfeife.

Alle wollten aus der Nähe sehen, was dort im Hof geschah. Leider versperrte ein Schupo mit seinem Hund den Durchgang. Beide blickten grimmig.

Die Stimmen klangen nun leiser, aber kaum weniger heftig. Die helle war am deutlichsten. Sie ließ den Polizisten, der der Arbeit des Gerichtsvollziehers und des Räumkommandos Nachdruck verleihen sollte, kaum zu Wort kommen, was, wie jede kluge Frau weiß, schlimme Folgen haben kann. Männer, erst recht solche in Uniform, lassen sich gar nicht gerne niederreden, und am wenigsten von einer Frau, selbst wenn sie jung und ziemlich ansehnlich war.

Es war noch nicht lange her, dass Dora Lenau sich versprochen hatte, genau solcher Art Konflikten aus dem Weg zu gehen und nur noch an sich zu denken. Wenn man erst einmal Ausnahmen erlaubte, das wusste sie nur zu genau, konnte man einen klugen Entschluss vergessen. Aber in diesem Fall half kein Seufzen. Hier war eine Ausnahme unabdingbar. Sie musterte den Schutzmann vor dem Durchgang genauer und wusste, es würde klappen. Sie hatte ihn im Schatten des vorkragenden schiefen Obergeschosses nicht gleich erkannt. Unter seiner Pickelhaube sah er einfach zu albern aus. Manche Männer kleidete dieser Helm gut, denen gab er etwas Männliches, Ernsthaftes, Autorität. Gottlieb Schanz nicht.

Sie schob sich nach vorn, umklammerte mit kindlicher Hilflosigkeit ihre dicke Leinentasche, schaffte auch einen tragischen Augenaufschlag und seufzte: «Ach, Gottlieb, du musst mich reinlassen, Marlene ist da drin und macht Ärger. Sie bringt sich in Teufels Küche.»

Der Polizist war trotz seiner fünfundzwanzig Jahre und des dicken Schnauzbartes mit einem rosigen Kindergesicht geschlagen, er bekam umgehend rotfleckige Wangen und einen starren Blick. Er war in derselben Gasse wie die junge Frau vor ihm aufgewachsen, im engen Lieschengang hinter dem Schaarmarkt, und hatte einige Jahre mit ihrem Vetter die Schulbank gedrückt. Leider blickte ihn nicht nur Dora mit ihren verwirrenden umbra-grünen Augen erwartungsvoll an, sondern die ganze versammelte Traube von nichtsnutzigen Gaffern.

«Das geht nicht, Dora, das weißt du genau. Was glaubst du, warum ich hier stehe?» Mit einem ärgerlichen Zischen und hartem Ruck zog er seinen Dobermann zurück, der sich mit vor Behagen halbgeschlossenen Augen von Dora hinter den Ohren kraulen ließ und dabei ganz und gar ungefährlich aussah.

«Aber du kennst sie doch», beharrte Dora schmeichelnd. «Marlene hat ein viel zu großes Herz. Wenn wir sie da nicht rausholen, landet sie in einer Zelle im Stadthaus, und das war’s dann mit ihrer Lehrerinnenkarriere. Das willst du doch nicht.»

Schutzmannanwärter Schanz hatte auf der Wache gehört, Polizisten sollten nicht in den Vierteln Dienst tun, in denen sie aufgewachsen waren. Jetzt verstand er, warum, und fand diese leider noch nicht zur Dienstvorschrift gediehene Theorie absolut richtig. Natürlich war es keiner Überlegung wert, Dora durchzulassen. Im Dienst zählte nur der Befehl. Eigentlich war Schanz immer im Dienst, ohne seine Uniform fühlte er sich nackt. Der Befehl war alles, das Gesetz zu kompliziert, um sich darin als einfacher Schupo gründlich auszukennen. Dazu gab es höhere Dienstgrade und Vorgesetzte.

«Schau nur einen Moment zur Seite, Gottlieb, einen kleinen Moment. Oder lass den Hund laufen und renn hinterher. Das musst du doch, der war teuer, wie jeder sehen kann. Staatseigentum lässt ein Pflichtbewusster wie du nicht einfach weglaufen.»

«Der läuft nicht weg, Fräulein Lenau.» Er betonte das Fräulein energisch. Im Dienst gab es keine Vertraulichkeiten. Im Übrigen war ein so absurdes Ansinnen leicht zurückzuweisen. Hinter seinem Rücken siegte ohnedies gerade die staatliche Übermacht, wie es der guten Ordnung entsprach: Der Hof wurde geräumt.

Als Erste trat eine überschlanke junge Frau aus dem Durchgang. Ein graues Kleid über einer weißen Bluse ließ ihr tiefrotes Haar noch stärker leuchten, obwohl es straff geflochten am Hinterkopf zum Knoten gesteckt war. Sie zerrte einen Bollerwagen hinter sich her, hoch bepackt mit Säcken und Kästen, darüber lag die Bettdecke, der wahre Schatz der Hofbewohner. Dass sie höchst unappetitlich aussah, störte den rittlings darauf sitzenden Jungen gewiss nicht. Er lutschte heftig am Daumen, obwohl er schon vier oder fünf Jahre alt sein mochte. Sein rechtes Auge war von einem eiternden Gerstenkorn verklebt, sein Kopf gegen die Läuseplage kahl geschoren.

Eine alte Frau folgte ihnen, zahnlos und schmuddelig entsprach sie dem Vorurteil, das man den Bewohnern der Gänge und Höfe gegenüber pflegte. Es wäre jedoch ein Zeichen von Unaufmerksamkeit, bezeichnete man sie nur als ein Bild des Jammers. Die alte Herweck mochte arm und schmutzig sein, dazu von stets geschwollenen Füßen geplagt, sodass sie sich mehr auf den Bollerwagen stützte als ihn zu schieben, ihr Gesicht zeigte trotzdem kämpferischen Grimm.

Das Schlusslicht bildete ein Wachtmeister, hinter ihm nagelten zwei Abrissarbeiter mit wenigen Hammerschlägen von innen Bretter vor den Durchgang. Der Wachtmeister marschierte, nach einem letzten strengen Blick auf die aus dem Hof getriebenen Frauen und die Zuschauer, zum Schaarmarkt davon, Schanz und seinen Dobermann im Gefolge.

«Warum machst du das?», schimpfte Dora, nahm Marlene die Deichsel des Bollerwagens aus der Hand und ließ sie in den Staub fallen. «Was passiert, wenn dich einer bei der Wache meldet? Denkst du etwa, die lassen dich dann noch Lehrerin sein?»

Marlene lächelte sanft, nur in ihren Augen blitzte etwas Übermütiges. «Gerade eine Lehrerin muss Rückgrat beweisen. Ich finde, das heißt auch, einer armen Witwe und ihrem Enkel beizustehen. Geht weiter, Leute», rief sie den beiden letzten noch ausharrenden Gaffern zu, die wenigstens auf ein Gezänk unter Frauen hofften, «oder nein, halt.» Rasch fasste sie den jüngeren der beiden am Arm. «Du bist doch Lüder Hopf, deine Schwester ist in meiner Klasse. Witwe Herweck braucht Hilfe mit ihrem Karren, du willst ihn unbedingt ziehen, das sehe ich genau. Es ist nicht weit, erst mal kann sie samt ihrem Enkel im Hof hinter dem Milchgeschäft am Zeughausmarkt unterkriechen.»

Nach einer kurzen Verhandlung, die durch den Wechsel einer Münze aus der Rocktasche eines Lehrerinnenkleides in die klebrige Hand eines Burschen beendet wurde, der schon um diese frühe Stunde eine Bierfahne vor sich her trug, suchte sich die kleine Bollerwagenkarawane ihren Weg durch die Schuttberge.

Die beiden jungen Frauen sahen ihr nach, eine zufrieden, die andere skeptisch.

«Dein Geld ist verschwendet», erklärte Dora knapp. «Hinter der nächsten Ecke lässt er die Alte mitsamt Karre und Enkel stehen und trägt den Groschen in die nächste Kneipe.»

«Das wagt er nicht», widersprach Marlene heiter. «Er weiß, dass ich seine Schwester fragen werde. Die ist ein kluges und fleißiges Mädchen, aber auch eine leidenschaftliche Petze. Das ist natürlich ein unfeiner Charakterzug, den ich als Lehrerin bekämpfe, aber manchmal», sie faltete fromm die Hände vor der Taille, «sehr praktisch. Übrigens – nicht ich, sondern du kommst zu spät zur Arbeit. Ich habe eine Freistunde, dir wird jede Minute vom Lohn abgezogen.»

«Du willst mich nur los sein. Wenn die Frau beim Zeughausmarkt eine Unterkunft hat, wieso …»

«Ach, Dora, die Herweck hat ihr Leben lang hier gewohnt, sie ist schon zum dritten Mal zurückgekommen. Sie ist einfach ein bisschen trotzig, und ich kam gerade vorbei, als sie mit dem Wachtmeister stritt. Das Gottliebchen stand mit seinem Cerberus noch nicht vor dem Gang, den hat der Wachtmeister erst rausgeschickt, als ich drin war.»

«Dann war das eine sinnlose Streiterei, Marlene. Die Häuser werden abgerissen, es sind allesamt Bruchbuden, das hast du selbst gesagt. Hier kann keiner mehr wohnen.»

«Nicht sinnlos, Dora. Wenn man alles hinnimmt, was von oben kommt, machen sie mit uns, was sie wollen.»

«Und wenn man gegen Windmühlenflügel rennt, zerbricht man.»

«Ach was.» Marlene lachte. «So leicht nicht. Frau Herweck brauchte ein bisschen moralische Unterstützung, das war alles. Ab und zu brauchen wir alle jemanden, der für uns streitet, oder? Egal wie es ausgeht. Dann fühlen wir uns weniger verloren in der Welt. Die Arbeiter, die hier die Häuser einreißen, sind nicht dafür bekannt, mit Störenfrieden freundlich umzugehen, selbst wenn es nur eine zahnlose Witwe mit ihrem zitternden Enkel ist. Aber was sollte mir passieren? Ich gelte höchstens als hysterisches Frauenzimmer. Damit kann ich leben. Und jetzt beeil dich, Dorchen, hier weht es kalt, dein Schultertuch ist viel zu dünn.»

«Lenk nicht ab.» Dora berührte mit den Fingerspitzen die Stirn ihrer Freundin. «Du fieberst wieder, bleich wie Hafergrütze bist du auch. Wenn …»

«Ich hab mich nur ein bisschen aufgeregt.» Marlene trat einen halben Schritt zurück. «Mir geht’s gut, Dora, wirklich. Kein Husten mehr, kein Schwindel. Und vielleicht schicken sie mich im Sommer mit den Mädchen von der Paulsenstiftschule ins Ferienheim an der Ostsee. Das wäre allerdings wunderbar.»

Marlene verbarg es geschickt, wenn sie kränkelte. Dora konnte sie nichts vormachen. Sie waren Nachbarskinder gewesen und Freundinnen seit ihren ersten Schritten. Gleichwohl hatten sie wenig gemein. Marlene war die Ältere und Klügere, sie las ständig und steckte in Sachen Bildung jeden Oberlehrer in die Tasche. Wer sie glücklich machen wollte, schenkte ihr ein Billett für das Thalia-Theater beim Pferdemarkt oder das neue Deutsche Schauspielhaus an der Kirchenallee, sie liebte sogar diese trübseligen modernen Stücke, in denen es absolut nichts zu lachen gab.

Sie hatte auf einer Freistelle des Paulsenstifts die höhere Schule besucht und nie verstanden, warum Dora damals dasselbe Privileg ablehnte. Die wollte unbedingt Schneiderin werden. Ihre Schulnoten waren nicht so gut, wie es ihrem klaren Verstand entsprochen hätte, das Schulkuratorium hatte ihr trotzdem die begehrte Freistelle angeboten. Dora war nicht dumm oder faul, ihr blieb nur zu wenig Zeit für die Bücher. Alle wussten, dass sie als Waise bei ihrer Tante lebte und wie viele, tatsächlich die meisten Kinder, zum Lebensunterhalt beitragen musste, was in ihrem Fall Näharbeiten häufig bis in die Nacht bedeutete, in der dunklen Jahreszeit beim müden Schein einer Petroleumlampe. Erst in der neuen Wohnung, die sie mit Tante und Vetter vor einem halben Jahr bezogen hatte, gab es Gaslicht.

Dora hatte das Ende ihrer Schulzeit nie bedauert, sie mochte nicht so klug wie Marlene sein, aber sie war schlauer. Um ihr Ziel zu erreichen, musste sie viel lernen, das wusste sie längst – aber nicht auf der Höheren Mädchenschule.

Marlene hatte ihr erstes Etappenziel erreicht. Sie wollte immer nur Lehrerin sein, und dann – das große Ziel – an einer Höheren Mädchenschule. Diese kleine Schwäche ihrer Lunge hielt sie nicht auf.

Dora blickte sie grimmig an. «Bis zu den Ferien im Sommer dauert es noch ewig. Bis dahin … ach, mach, was du willst.» Ihre Stimme klang schroff genug, sie selbst zu erschrecken.

Marlene hörte in dem harschen Ton nur die Sorge. «Versprochen», sie nickte ernsthaft, «ich mache, was ich will. Ich gehe in die Schulküche und trinke einen Becher heiße Milch mit Sirup, und erst dann beginne ich mit dem Unterricht.»

Ein widerwilliges Lächeln hob Doras Mundwinkel. Sie umarmte die Freundin, eine seltene Geste, und eilte davon, unter dem linken Arm die pralle Leinentasche. Mit der Rechten hielt sie die Röcke gerafft und schwor sich, trotz der Pfiffe der Bauarbeiter die Säume endlich auf ein praktisches Maß zu heben, egal wie unschicklich Kollmann das finden mochte. Sollte er sie doch entlassen. Einfach auf die Straße setzen. Ihr fiel schon etwas anderes ein, dann konnte sie endlich … Sie blieb stehen, abrupt, beinahe wäre ihr die Tasche entglitten. Natürlich würde sie brav sein. Noch eine Weile. Wenn er sie jetzt entließ, kam sie nur vom Regen in die Traufe.

Kollmanns sogenannte Damenmoden-Manufaktur war kein Paradies für Näherinnen und kein Hort der Eleganz (erst recht nicht der Extravaganz), sie war eine Tretmühle. Aber wenn Kollmann ihre Anregungen auch stets mit einer ausladenden Handbewegung abwehrte und verkündete, in seiner Werkstatt werde solide Ware für sicheren Verkauf produziert, «kein Klickerklackerkram», übte er Nachsicht, sogar wenn sie zu spät kam oder zu flüchtig, somit fehlerhaft gearbeitet hatte. Beides kam selten vor. Natürlich zog er versäumte Zeit vom Lohn ab, aber immer gerecht, er schikanierte sie nicht. Obwohl sie ihm nie schmeichelte oder wenn er in der Nähe war, die oberen Knöpfe ihre Bluse öffnete, vermeintlich von der Arbeit und Stickigkeit der Luft im Nähsaal erhitzt, behandelte er sie besser, als sie es in anderen Manufakturen erwarten konnte. Und wer weiß, vielleicht unterbreitete er ihre Vorschläge doch einmal einem seiner Kunden.

Irgendwann, dachte sie und sprang über die Reste eines morschen Balkens. Aber ewig, das war gewiss, würde sie nicht warten.

***

Am Kiosk auf dem Schaarmarkt lehnte ein hochgewachsener Mann und konzentrierte sich auf das umständliche Drehen einer Zigarette. So sah es jedenfalls aus. Tatsächlich konnte er im Schlaf Tabak ins Papier wickeln, besonders seit er sich besseren leistete – aromatischer, in feinerem Schnitt –, der nicht gleich Löcher ins Papier drückte. Unter der Krempe seines Hutes hervor beobachtete er die Menschen auf dem langgestreckten Platz. An diesem Morgen tat er das ohne besonderen Grund, sondern weil es sich angenehm anfühlte, wie eine verdienstvolle Beschäftigung, und immer eine gute Übung war. Er war nicht so dumm, seine Beobachtungen grundsätzlich für wichtig zu halten, aber Bemerkenswertes konnte auch zufällig in alltäglicher Harmlosigkeit entdeckt werden. Für gewöhnlich wurde er jedoch erst zum aufmerksamen Beobachter, wenn er einer vorgegebenen Spur folgte. Heute ließ er seinen Blick nur ziellos über den Platz schweifen.

Was er sah, war vertraut, und das gefiel ihm. Alles war Bewegung. Männer unterwegs zu ihrer Arbeit, Frauen, manche in der Tracht der Köchinnen und Dienstmädchen, eilten mit Körben zu Läden oder Marktständen oder schon zurück in ihre Küchen, Kinder mit Ranzen auf den schmalen Schultern oder zusammengeschnürten Bücherpaketen unter dem Arm zu ihren Schulen – hüpfend, rennend, lärmend –, die älteren, die sich schon für Erwachsene hielten, mit manierlichem Gang und selbstgewisser Miene. Ein paar Bettler, Krüppel auch. Lumpenproletariat. Einer hockte ganz in seiner Nähe, der war fremd hier. Als gäbe es nicht schon genug von der Sorte in diesem Viertel.

Neulich schon hatte er ihn vorbeihumpeln sehen, der Mann war noch jung, er hatte ein steifes, zu kurzes Bein und eine verkrüppelte rechte Hand. Ein Straßenköter hatte an seinen dreckigen Stiefeln geschnüffelt, der Kerl hatte ihm übers räudige Fell gestrichen und etwas in fettiges Papier Gewickeltes aus seiner Joppe gezogen. Ein Stückchen Wurst, eine Hälfte hatte er abgebissen, die andere dem Hund gegeben. So einer war das also. Erst braven fleißigen Leuten ihre Pfennige abwinseln, dann teure Wurst kaufen und die Hälfte an streunende Vierbeiner verfüttern.

Nun saß er im Schatten einer der Linden, den Hut neben dem ausgestreckten steifen Bein. Er hatte eine verschorfte blutige Schramme an der Stirn, ein Raufbold war er also auch noch. Oder jemand hatte ihm eine Abreibung verpasst. Theo stieß sich von der Kioskwand ab, schlenderte über den Platz und blieb vor dem auf dem Pflaster hockenden Bettler stehen. Er sah lächelnd auf ihn hinunter, aber der Blick des Mannes verriet Unsicherheit, Furcht, auch Hoffnung. Keine Gleichgültigkeit, er hatte noch nicht aufgegeben. Dann senkte er ergeben den Blick.

Theo sah sich nicht um, er trat einfach blitzschnell zu, traf beim ersten Mal das Knie des Bettlers, beim zweiten Mal den Hut, der flog im hohen Bogen über den Platz, die wenigen Münzen darin flogen und kullerten in alle Richtungen, verschwanden ebenso blitzschnell in fremden Händen. Theo lächelte immer noch und schlenderte leise pfeifend zurück zu seinem Posten am Kiosk. Nichts hatte sich ereignet, niemanden hatte der Schrei des Bettlers gekümmert, niemand war ihm zu Hilfe gekommen. Theo waren nur Blicke gefolgt, irritierte, empörte, vor allem zustimmende.

Er lehnte sich wieder an die Kioskwand und beobachtete träge, was geschah. Von einem Wagen herunter verkaufte ein Mann mit dem geröteten Gesicht der Landleute, stoppeligem Kinn und fast kahlem Kopf, was seine Mieten und Keller so spät im Frühjahr noch hergaben. Eine ganze Traube von Frauen drängelte sich vor dem Wagen, trotz des besonders milden Frühlings dauerte es noch lange, bis die ersten frischen Feld- und Gartenfrüchte geerntet werden konnten. Auf den großen Märkten am Meßberg oder bei der Nikolaikirche gab es schon junges Gemüse und Obst aus wärmeren Regionen, sogar aus Italien oder Spanien, aber wer konnte sich solche Eskapaden schon leisten? Die Leute in der Hamburger Neustadt kaum.

Er lächelte. Die Leute in der Neustadt. Er war in den Straßen dieses tatsächlich alten Stadtteils nahe dem Hafen aufgewachsen und kannte jede Ecke, jeden Stein, jedes Versteck. Es gab schlechtere Viertel. Inzwischen konnte man hier den Fortschritt erkennen, wenn man nur die Augen aufmachte, die rasante neue Zeit. Er lebte immer noch gern in diesen Straßen – nur für seine Zukunft hatte er andere Pläne. Hier war ihm zu viel Vergangenheit. Der Tod des Vaters und der kleinen Schwester, Hungertage, die immer hart und viel zu oft bis tief in die Nacht arbeitende Mutter – er stutzte und wiederholte die Worte flüsternd. Das klang gar nicht schlecht. Es passte gut. Sogar besonders gut. Das klang nach einem Mann, der sich nicht unterkriegen ließ.

Sie wollten keine in ihren Reihen, die mit dem silbernen Löffel im Mund geboren waren. Das wäre auch zwecklos, solche verirrten sich nicht in den Verband. «Warum sollte einer kämpfen, wenn er schon oben ist», hatte Horning gesagt. «Der hat ja schon alles, und um nach unten zu treten, damit keiner hochkommt und ihm seinen Platz und seine Löffel streitig macht, hat er Leute.» Da hatte Horning gelächelt und mit seiner leisen, zugleich unüberhörbaren Stimme gesagt: «Wir sind aber nicht die, die sich treten lassen. Nicht wahr, Römer? Wir nicht mehr, wir …»

Eine Glocke schlug an. Das Totenglöckchen. Er sah auf und schob mit einem tiefen Atemzug den Hut in den Nacken.

Am Ende der leicht bergan führenden Straße, in die der Platz nach Norden mündete, ragte die Michaeliskirche auf, das markante, gleichwohl freundliche Wahrzeichen der Stadt an der Elbe. Ihr kupfergrüner Turmhelm mit der kecken wetterfähnchenbewehrten Spitze war heimkehrenden Seeleuten der weithin sichtbare Willkommensgruß. Theo besuchte die Gottesdienste selten, dennoch war ihm diese Kirche der Mittelpunkt seiner Stadt – nicht das Rathaus, nicht der Hafen. Sein Vater war ständig in die Kirche gerannt, die Cholera hatte ihn trotzdem als einen der Ersten geholt. Er mochte den weit hallenden Klang der großen Glocken, und er mochte es, wenn der Türmer mit seiner Trompete am Morgen und am Abend in alle vier Himmelsrichtungen einen Choral blies. Aber diese dumpf mahnenden Schläge – immer noch gab es Momente, in denen sie ihn frösteln und sein Herz hastiger schlagen ließen. Dann war auch der Geruch wieder da, gefolgt vom Knirschen schwer rollender Räder auf dem Pflaster, das Ächzen, wenn der Karren stehen blieb, schon beladen mit den in Tücher gewickelten Toten der Nacht. Das Jammern, die Schreie, das Schluchzen. Immer war es dämmerig. Wie im Morgengrauen. Das fand er seltsam, sonst brachte das Licht am Morgen die Zuversicht zurück. Damals nicht.

Er schüttelte sich, nur in den Schultern und leicht wie ein Zittern. Es war lächerlich. Alle Tage starben Menschen, das gehörte zum Leben. Das Totenglöckchen war oft von einer der vielen Kirchen in der Stadt zu hören, wenn der Wind den matten Klang nicht forttrug oder der Lärm aus Werkstätten, Schmiede und Hinterhoffabriken es nicht übertönte. Es war wirklich lächerlich.

Theo Römer steckte seine Zigarette in den Mundwinkel, riss ein Streichholz an und hielt das Flämmchen an den Tabak, er straffte die Schultern und verzog sein Gesicht zur Andeutung eines mokanten Lächelns. Das hatte er geübt, wenn die Frauen bei ihrer Arbeit waren. Annas Spiegel – er nannte seine Mutter bei sich gern Anna, an schlechteren Tagen manchmal «die alte Anna» – war von bescheidener Größe und an der rechten Seite stockfleckig, aber er reichte. Es durfte keinesfalls nach einem Feixen aussehen, es musste diese Überlegenheit zeigen, die aus solidem Selbstbewusstsein entsteht, aus natürlicher Autorität.

Er nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette, genoss den würzig-süßlichen Tabakduft und fand, heute sei ein schöner Tag. Sein Lächeln wurde breiter, als zwischen all dem Schwarz, Braun und Dunkelblau der Kleider ein buntes Flattern auftauchte.

Dora war wieder in Eile, immer zu viel vor, immer ein bisschen spät. Die Frisur verrutscht, die Röcke eine Handbreit zu hoch gerafft, hastete sie über den Platz, schob sich geschickt an zwei Matronen vorbei, die über einen Korb mit Stiefmütterchen- und Vergissmeinnichtsetzlingen gebeugt um den Preis verhandelten, warf dem Uhrmachergesellen, der vor der Ladentür in der Morgensonne etwas Glänzendes noch glänzender polierte, eine Kusshand zu und war schon durch das Portal zu Kollmanns Modemanufaktur verschwunden.

«Hübsch», sagte eine Stimme hinter ihm, «wirklich hübsch, Ihre Cousine.»

Theo fuhr herum, er kannte die Stimme und fühlte sich ertappt, was ebenso überflüssig war, wie beim Gedanken an die lange zurückliegende Choleraepidemie zu frösteln.

«Guten Morgen, Römer.» Die Stimme gehörte einem Mann im dunklen Dreiteiler, den Bowler akkurat auf dem Kopf, den Schnauzer gebürstet, Hemdkragen und weiße Manschetten noch makellos.

Wilhelm Horning war ein Mann mittleren Alters von unauffälliger Größe und Statur, selbst sein Gang war unauffällig und lautlos. Sein Haar trug er so kurz geschnitten, dass es kaum unter dem Hut hervorsah. In seiner Miene lag etwas Joviales, als er Theo zunickte und den Blick seiner sehr hellen Augen über den Platz gleiten ließ, als folge er noch Doras raschem Lauf und heiterer Erscheinung.

«Hübsch, unbedingt. Und recht extravagant. Nun, das wächst sich aus.»

Theo war zu sehr damit beschäftigt, einen guten Eindruck zu machen, als er an Hornings Seite mit energischen Schritten und sehr aufrecht über den Platz ging. Sonst hätte er sich womöglich gefragt, woher Horning wusste, dass Dora seine Cousine war? Und wieso er sie überhaupt kannte? Vielleicht hätte ihn das beunruhigt, wahrscheinlicher war jedoch, dass es ihm als Zeichen von Beachtung und als Beweis seiner Wichtigkeit geschmeichelt hätte.

Kapitel 2

Am anderen Ende der Stadt, wo die Straßen breiter waren, die Luft klarer erschien und aus Gärten der Duft des Frühlings aufstieg, zwitscherte in der Hecke einer der den See säumenden weißen Villen eine Singdrossel ihr Lied, obwohl es längst heller Tag und die große Stunde der Vogelkonzerte vorüber war. Vielleicht verführte sie das frische Birkengrün zum Übermut, vielleicht der weite Blick über den Alstersee, sofern Vögel weite Blicke genießen können, was nicht gewiss ist, schon weil die für sie alltäglich sind. Ein Rotkehlchen und ein Zaunkönig ließen sich zum Mitsingen verführen und machten den Moment zur Idylle – Vogelgezwitscher an einem sonnigen Tag, das glitzernde Wasser des Sees, weiße Segel und die reichen Gärten und Villen in diesem klaren nördlichen Licht, in der Ferne die Silhouette der Stadt mit ihren grünen Türmen. Wer hier lebte, lebte behaglich.

Meistens.

Sidonie Wartberger fühlte sich alles andere als behaglich. Sie lehnte matt in ihrem Sessel, zog den zu üppig wirkenden Morgenmantel enger um den Leib und schloss die Augen. Nur, um sie gleich wieder weit zu öffnen. Die Dunkelheit der Nächte war genug. Hinter den von burgunderroten Damastgardinen halb abgedunkelten Fenstern schien die Sonne jetzt hell, ein Eindringling, der daran erinnerte, dass es außerhalb dieses Zimmers Leben und sogar Heiterkeit gab.

Die Sonne. Das Zentralgestirn, ging es flüchtig durch ihren Kopf, und sie überlegte, warum ihr dieses sperrige Wort einfiel. Vielleicht hatte Viktor es einmal benutzt? Das passte zu ihm, er hielt gern den korrekten Begriff bereit. «Meine Sonne» hatte er sie oft genannt, in übermütigen Stunden «Sunny». Er hatte zwei Jahre in einem englischen Internat verbracht, und obwohl er sich dort wenig willkommen gefühlt hatte, flocht er gern englische Wörter in seine Gespräche ein. Damit befand er sich in dieser Stadt in guter Gesellschaft. England – in den hiesigen Salons meinte das gewöhnlich London, in den Kontoren, Speichern, auf den Kais oder an der Börse auch Liverpool, Hull, Newcastle und Manchester oder Plymouth – galt als «nur einen Katzensprung» entfernt. Was stark untertrieben war, wenn man in See-Meilen rechnete, in Seelen-Meilen – ein Wort aus dem blumigeren Teil des Wortschatzes der sonst so vernünftigen Nachbarin Claire Blessing – stimmte es allerdings.

Seemeilen, Seelenmeilen – die Gedanken zerfaserten wie Wolken im Wind. Das war recht angenehm, es enthob Sidonie der Zeit und allen Geschehens, aber nun versuchte sie sich zu konzentrieren. Auf was? Sunny. Das hatte ihr gefallen, obwohl es sich fremd anhörte. Oder weil es sich fremd und deshalb richtig anhörte? Auch das mochte stimmen, denn sie fühlte sich oft fremd mit den Menschen. Selbst mit Viktor, immerhin seit sechs Jahren ihr Ehemann. Ihr geliebter Ehemann. Dass sich Liebe und Einanderfremdsein nicht ausschlossen, gehörte zu den verwirrendsten Erkenntnissen ihrer Ehe. Sie hätte gerne gewusst, woran es lag, dieses Sichfremdfühlen mit einem vertrauten Menschen, dem man sich in anderen Momenten innig verbunden wusste.

Ein Windhauch bauschte die Stores, die Fensterflügel standen einen guten Spaltbreit offen. Frische Luft schade nur an wirklich eisigen Tagen, hatte Dr. Peheim erklärt und selbst die Fenster aufgeschoben, an allen anderen sei es eine Wohltat für Kranke wie für Gesunde, an einem schönen Tag wie diesem gar das reinste Lebenselixier.

Viktors Mutter hatte nicht widersprochen, obwohl sie Zugluft für die Wurzel allen Übels hielt und stets für geschlossene Türen und Fenster plädierte. Sie verehrte den Hausarzt. Weniger, weil sie entfernt, wirklich sehr entfernt verwandt seien, hatte Viktor ihr einmal amüsiert zugeflüstert, sondern wegen seiner warmen dunklen Augen.

Sidonie hatte gelacht – die strenge und sich gern im Besitz der Wahrheit dünkende Esther Wartberger als verliebte reife Dame war eine so amüsante wie erleichternde Vorstellung. Das fiel ihr jetzt ein, nicht zerfasert, sondern ganz deutlich: Sie hatte gelacht, und nun sehnte sie sich nach diesem Lachen. Und nach Viktors Heiterkeit, die sie von Anfang an an ihm geliebt hatte. Seine Heiterkeit war verloren. Niemand als sie trug daran die Schuld.

Als habe jemand Stöpsel aus ihren Ohren gezogen, hörte sie plötzlich die Vögel im Garten, die duftige weiße Gardine erinnerte sie an eine Sommerwolke. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, alles verschwamm, das Licht, die Sommerwolke, der Vogelgesang. Aber nicht mehr die Gedanken. Die Tränen bezeugten keinen Jammer, sie waren auf seltsame Weise tröstlich. Und dann hörte sie die Stimmen aus dem Garten.

«Es geht nun seit Wochen so», seufzte Esther Wartberger. «Ich hatte gedacht, mit dem Frühling und den langen hellen Tagen wird sich auch ihr Gemüt erhellen. Wir alle haben das gedacht», sie räusperte sich dezent in ihr Spitzentüchlein, «gehofft, sollte ich besser sagen. Wir haben es gehofft. Es wäre doch nur natürlich, nicht wahr? Viktors Wahl hat uns damals so glücklich gemacht. Endlich, dachten wir. Und nun – in sechs Jahren Ehe zwei Fehlgeburten und obendrein diese Melancholie. Mein bedauernswerter Sohn. Er wünscht sich so sehr Kinder. Wie jeder gesunde Mann, nicht wahr? Kinder und ein Haus voller Fröhlichkeit.»

«Ja.» Dr. Peheim nickte bedächtig. «Das Leben ist ungerecht.» Er war von kräftiger Statur, seine eisgraue Mähne brauchte einen Schnitt, dafür war sein fast bis zu den Mundwinkeln reichender Backenbart umso akkurater gestutzt. Er suchte und fand seine dünnen Lederhandschuhe in einer der Gehrocktaschen und streifte sie umständlich über. Meistens kutschierte er seinen leichten Einspänner selbst und fand, Hornhaut gehörte nicht auf die Hände eines Arztes.

«Für viele Frauen ist ihre beständige Fruchtbarkeit ein Fluch – verzeihen Sie, Esther, wenn ich so ungeschminkt von diesen Dingen rede. Anderen, die selbst ein gutes Dutzend durchfüttern könnten, ohne auf Seidenkissen und indischen Tee zum Frühstück verzichten zu müssen, zeigt sich das Schicksal furchtbar knauserig. Ja, das ist ungerecht. Andererseits …», seine Rechte strich eine störrische Strähne aus der Stirn, «verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Kinder sind Gottesgeschenke, aber ich stelle mir nicht vor, dass Gott abzählt und nach menschlichem Maß gerecht verteilt. Hier ebenso wenig wie in anderen Belangen. Ich will sagen», er prüfte angelegentlich den Sitz seiner Handschuhe, «es gibt auch glückliche Ehen ohne Kinder.» Esther Wartbergers Blick verdunkelte sich, und der Arzt, der sie lange genug kannte, fuhr hastig fort: «Das ist nicht das Wünschenswerte, aber mir schien Viktors Gemeinschaft mit seiner jungen Ehefrau immer sehr liebevoll und vertraut.»

Viktors Mutter nickte, es sah ungeduldig aus. «Mein Sohn ist ein vorbildlicher Ehemann, selbstverständlich. Gibt es denn keine Mittel mehr, meiner Schwiegertochter – wie soll ich es sagen? Keine Mittel mehr zu ihrer Stärkung? Ich habe neulich von einer Novität gelesen, einem speziellen Kraut aus den Hochtälern des Kaukasus. Oder war es Anatolien? Gewiss haben Sie auch davon gehört.»

Dr. Peheim schob die Unterlippe vor, seine buschigen Brauen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen, was ihm ein überraschend jungenhaftes Aussehen gab. «Ja, der Kaukasus. Eine interessante Gegend. Sehr wild, da wuchert manches Kraut. Ich werde meinen Apotheker fragen. Der kennt sich mit dieser Art – Novitäten am besten aus. Und Sie kennen meine Überlegungen zu diesem Thema. Ebenso Viktor.»

Man habe doch alles probiert, Trink- und Badekuren, neue Präparate wie altbewährte Elixiere, kalte und heiße Güsse, auch Gebete, natürlich, und der jungen Ehefrau damit viel zugemutet. Selbst mit den Mondzyklen sei etwas im Spiel gewesen, habe er gehört. Nicht von ihm empfohlen, ganz gewiss nicht. «Aber wenn es zur beruhigenden Überzeugung beiträgt, nichts unversucht zu lassen – bitte sehr. Für den Körper der jungen Frau kann es nicht schädlich sein. Allerdings denke ich, man sollte es nun einfach mal der Zeit überlassen. Sie ist noch jung genug.»

«Es ist doch nur ihre natürliche Pflicht», wandte Esther Wartberger ein. Sie überging die letzten Sätze des Arztes, die Sache mit den Mondzyklen stammte als diskrete Empfehlung von einer Dame aus ihrer Bridge-Runde, die sich ein wenig über Gebühr für diese neuen, der Natur besonders verbundenen Lebensgemeinschaften interessierte, selbstverständlich nur theoretisch. «Ich meine, unsere vornehmste Pflicht als Ehefrauen.»

«Das mag sein, und Ihre Schwiegertochter hat nie protestiert oder etwas verweigert. Sie ist eine brave Person.»

Unter ihrem wachsam prüfenden Blick zögerte er. Selbst die aufgeklärtesten Menschen verlangten stets einfache Erklärungen und Lösungen, was ihm häufig Probleme bereitete. Man forderte Pillen und Pulver, notfalls das Chirurgenmesser. Natürlich gab es Krankheiten, die mit dem immer gleichen Mittel kuriert werden konnten, sogar die Mehrzahl. Die Medizin machte rasante Fortschritte, doch er war überzeugt, dass in vielen Fällen die Seele dem Körper die Heilung erschwerte, sie womöglich gar unmöglich machte, dass also die Seele Hilfe brauchte und behandelt werden musste. Was ein für gewöhnlich schmerzlicher und langwieriger Prozess mit unwägbarem Ergebnis war. Die Wucherungen des Körpers waren bekannt und gefürchtet, die Wucherungen der Seele jedoch – das war ein weites Feld.

Wann immer es seine Zeit erlaubte, beschäftigte er sich mit diesen Dingen und versuchte zu verstehen, was es dazu an Neuigkeiten gab. Er vermutete – mehr wagte er in dieser wahrhaft schwammigen und geheimnisvollen Wissenschaft nicht –, dass es sich letztlich um uraltes Menschheitswissen handelte, um ein tiefes Verständnis von Gefühlen, von Sehnsüchten und Ängsten, nicht zuletzt unerlaubten, mit Tabus belegten Gedanken und Wünschen.

Wenn er diesen eigenen, aus Lektüre und langer Praxis gewachsenen Überzeugungen treu blieb und danach handelte, verlor er Patienten. Eine Lücke entstand, die zu seinem Verdruss von neuer Kundschaft der Art gefüllt wurde, die in seiner Praxis Wunderheilerei erwartete. Als sei er ein zweiter Rasputin – dieser selbsternannte Heilige, von dem man aus St. Petersburg hörte.

«Womöglich ist sie ein wenig zu brav», fuhr er endlich fort. «Betrachten wir es mal ganz einfach. Ihre Sidonie war immer eine muntere junge Frau, nun leidet sie an einer großen Erschöpfung des Geistes und des Körpers. Obwohl sie doch ein so schönes Leben hat, Dienstboten und eine Wohnung an der Außenalster, wenige Pflichten – was will eine Frau mehr? Kinder? Soll sie sich doch zusammenreißen und welche bekommen. Schauen Sie mich nur misstrauisch an, Esther, denn Sie haben natürlich recht: Ich spotte ein wenig. Wir sind so stolz auf unsere bürgerliche Disziplin und unseren freien Willen. Wie frei oder unfrei wir aber wirklich sind – wer weiß das schon?»

Es gebe da einen recht bedeutenden Kollegen in Wien, fuhr er nach neuerlichem Zögern fort, der erstaunliche Erkenntnisse über die menschliche Psyche gewonnen habe, insbesondere die weibliche, und – zugegeben – eigenwillige Schlüsse ziehe, er sei nun sogar Ordinarius für Psychopathologie an der …

«Ich muss doch sehr bitten», unterbrach Frau Wartberger scharf. «Meine Tochter lebt in Wien, wir haben also von diesem Herrn gehört, umso mehr, als seine Gattin von hier stammt. Zum Glück sind wir nicht mit ihr verwandt. Das wäre uns höchst unangenehm. Ich werde niemals dulden, dass Sie ein Mitglied unserer Familie mit diesem Irrenarzt oder auch nur mit seinen skandalösen Schriften in Verbindung bringen.»

An Dr. Peheims linker Schläfe trat eine Ader hervor, ein sicheres Zeichen, dass er an diesem Abend eine heftige Kopfschmerzattacke zu erwarten hatte. Wie meistens, wenn er auf dem richtigen Weg falsch verstanden worden war und eine ganz vorne auf seiner Zunge liegende scharfe Antwort hinunterschlucken musste. Es war ungeschickt gewesen, Esther Wartberger gegenüber von Professor Freud zu sprechen, selbst ohne den Namen zu nennen. Sie war klug, wirklich gebildet für eine Frau – in der Ahnenreihe ihrer Familie fanden sich zahlreiche Ärzte und Gelehrte –, und sehr starrsinnig. Sie war ihm eine ebenbürtige Kontrahentin, er gestand es ungern zu, und hatte ihre Familie fest im Griff.

«Ich bitte wirklich sehr, mich nicht falsch zu verstehen. Mir liegt doch nichts ferner, als die liebe Gattin Ihres Sohnes irgendwelcher Wahnideen zu verdächtigen. Das wäre absurd. Die Melancholie, oder die Depression, wie ich es lieber nennen möchte, ist ein Leiden der Seele, über das wir noch viel zu wenig Verlässliches wissen. Um jedoch zu verstehen, dass die Seele einer jungen Ehefrau nach zwei Fehlgeburten leidet, bedarf es keiner neuen Wissenschaft. Alle erwarten doch, dass sie gesunde Kinder gebiert, von Söhnen gar nicht erst zu reden, nicht zuletzt sie selbst. Das ist der vornehmste Auftrag in ihrem Leben, Sie sagten es gerade. Was sonst noch? Blumen arrangieren? Dem Tisch mit den Gästen vorstehen? Ihren Gatten mit Plauderei und Klavierspiel unterhalten? Mildtätiges tun? Komitees vorsitzen? Ich muss schon wieder um Verzeihung bitten, ich bin heftig geworden. Ich vertraue der jungen Frau Wartberger», schlug er einen anderen Ton an. Er war es müde, sich zu rechtfertigen, zu erklären, zu missionieren (wie seine Frau es mit Sorge nannte).

Er wollte nach Hause und eine Tasse starken Tee trinken, am besten mit einem Schuss Rum. Leider war er zu diszipliniert für Leichtfertigkeiten wie Schnaps am Vormittag. «Sie haben es sicher auch bemerkt: Heute ist ihr Blick fester, die Wangen sind rosiger. Ich denke, die Zuversicht gewinnt bald wieder die Oberhand. Wie Sie schon sagten», er bemühte sich versöhnlich zu klingen, schmeichelnd, gestand er sich ein, «die langen hellen Tage bewirken doch viel, und das üppige Grünen und Blühen in unserer Stadt macht manche trübe Seele wieder froh. Nicht in jedem Fall, leider, häufiger geschieht das Gegenteil. Aber Ihre Schwiegertochter hat bei aller Empfindsamkeit einen starken Charakter. Das ist nur von der Trauer über den schmerzlichen Verlust verdeckt.»

Und dem ständigen Gefühl des Versagens, fügte er in Gedanken hinzu, man muss aufhören, ihr die Freuden der Mutterschaft zu schildern und sie daran zu erinnern, dass ihr Ehemann und die ganze Familie nichts sehnlicher erwartet, als endlich …

Das sprach er nicht aus. Esther Wartberger wusste es, und sie wusste auch, was er dachte. Sie würde es ignorieren. Er wollte noch einmal mit Viktor darüber sprechen. Der war ein aufgeschlossener Mann, und er liebte seine Frau. Allerdings liebte er auch seine Mutter, und der Respekt vor der älteren Generation war ihm selbstverständlich. Ein hoher Wert an sich, in dieser sich rasant verändernden Welt, aber manchmal der reinste Hemmschuh.

Esther Wartbergers Miene war unergründlich, als sie ihrem Hausarzt, der auch zu den Freunden ihrer Familie gehörte, die Hand zum Abschied reichte. Dass just in dem Moment in der oberen Etage ein Fenster geschlossen wurde, bemerkte sie nicht. Sie gab es nie zu, aber ihr Gehör war nicht mehr so gut wie in ihren jungen Jahren, dafür sprach sie lauter, was nur in sehr großen Gesellschaften von Vorteil ist. Dr. Peheim, obwohl noch einige Jahre älter, hörte ausgezeichnet. Er hatte vergessen, dass das Fenster noch offen gestanden hatte, ein dummer Fehler. Was er sah, als er erschreckt hinaufblickte, beruhigte ihn. Das Gesicht hinter dem Fenster war das Claire Blessings, schon an ihrer schmucklosen Brille leicht zu erkennen.

Auch die Blessings zählten zu Dr. Peheims Patienten. Er sah sie selten, denn sie waren von erstaunlicher Widerstandskraft gegen alle Arten von Unpässlichkeiten. Selbst die Kinder wurden von lebensbedrohlichen Krankheiten wie Keuchhusten, Masern oder Diphtherie nur in erträglichem Maß erwischt oder ganz übersehen.

Claire Blessing, dachte er jetzt und wunderte sich, dass er nicht früher daran gedacht hatte, konnte den Wartbergers als fabelhaftes Beispiel für das Vertrauen in die Zeit gelten. Bei ihrer Heirat – es musste etwa neun Jahre her sein – war sie schon über dreißig gewesen, und inzwischen hatte sie fünf putzmuntere Kinder geboren. Die Blessings lebten recht zurückgezogen, was auch einem Skandal zu verdanken war, der Claires Familie vor Jahren in alle Welt hatte auseinanderdriften lassen. Blessing war damals Prokurist in der großen Handelsfirma gewesen, die Claires Familie gehörte. Inzwischen führte er längst selbst die Grootmann’schen Geschäfte mit beachtlichem Erfolg, und in der jetzt Blessing’schen Villa an der Außenalster lebte eine fröhliche, also bisweilen ziemlich laute, womöglich sogar glückliche Familie.

So oder so – was damals allgemein als Vernunftehe angesehen worden war, hatte sich als Liebesheirat entpuppt. Und die Liebe, an dieser Stelle erlaubte Dr. Peheim sich ein Quäntchen Sentimentalität, war im gemeinsamen Alltag noch gewachsen. Die Liebe, das Glück, die Gesundheit – das war eine interessante Verknüpfung, darüber musste er noch mehr nachdenken. Er hatte auch glückliche Menschen an Krankheiten viel zu jung und qualvoll sterben sehen. So einfach war es mit dem Glück und der Zufriedenheit nicht. Das Schicksal, Gott, wer oder was auch immer hatte eigene, für den kleinen Menschen unberechenbare Pläne.

Claire hatte es nicht leicht gehabt, bis sie ihr Glück entschieden festhielt. Davor musste ihre Seele sehr gelitten haben; unter dieser Schale von humorvoller Vernunft erlebte er sie als empfindsame Frau. Er hatte sie nicht als Mädchen gekannt, wahrscheinlich hatte sie aber schon immer dieses Fürsorgliche gehabt, auch diese Ruhe, die nur dumme Menschen mit Farblosigkeit verwechseln. Ihr Gesicht hinter dem Fenster dort oben wertete er als gutes Zeichen. Niemand war in diesen Tagen eine passendere Gesellschaft für Sidonie Wartberger, womöglich sogar eine heilsame. Wenn es gutging.

 

Claire Blessing hatte rasch das Fenster geschlossen, als bei ihrem Eintreten ein Windstoß Briefbögen vom Teetisch aufwirbelte und zu Boden segeln ließ. Sie hob sie auf und legte sie ohne einen einzigen Blick auf Inhalt oder Absender zurück.

Sidonie war nicht im Zimmer, und Claire erschrak, wie immer, wenn etwas ganz anders war, als sie erwartet hatte. Sie galt als unerschütterlich; wie dünn ihre Haut oft war, wusste niemand als ihr Mann, und so sollte es bleiben. Das Fenster war halb geöffnet gewesen, unten auf der Terrasse hatte sie die Stimmen Dr. Peheims und der alten Frau Wartberger gehört, ruhig, also war nichts … vorgefallen? Gnädiger Gott, hinuntergefallen, das war es, was sie tatsächlich gedacht hatte. Nur für einen Wimpernschlag. So etwas wollte sie sich nicht vorstellen.

Das neue Mädchen – Betty? Berta? Immer vergaß sie den Namen – hatte sie melden wollen, bevor sie die Besucherin in die Privaträume der Wartbergers ließ. Als Claire aber abwinkte und schon die Treppe hinauflief, war sie achselzuckend wieder in die Küche verschwunden.

«Sidonie?» Claire sah sich suchend um. «Sind Sie hier? Ich bin’s, Claire. Störe ich?»

Wieder keine Antwort, stattdessen hörte sie etwas fallen, dann ein Rumpeln, und war schon bei der Tür zum Ankleidezimmer, riss sie auf und stieß erleichtert den Atem aus.

Eigentlich war es ein hübsches Bild gewesen, so dachte sie später, jedenfalls ein interessantes. Wenn sie malen könnte, hätte es sie inspiriert. Leider entsprachen ihre künstlerischen Talente dem Niveau ihrer viereinhalbjährigen Zwillinge.

Sidonie Wartberger kniete in ihrem in den Farben orientalischer Teppiche schimmernden Morgenmantel auf dem Boden ihres Ankleidezimmers, das, wie Claire nun erkannte, zugleich Versteck für ihre Bilder war. Versteck klang zu melodramatisch, aber was taten Bilder anderes in einem Ankleidezimmerschrank, als sich zu verstecken? Die Vormittagssonne fiel durch ein kleines Fenster auf Sidonies Haar und verwandelte das matte Blond der Kranken in warmes Honigblond, was die an Schranktüren und Kommode lehnenden Bilder noch bedrückender erscheinen ließ. Claire zählte sieben, allesamt dunkle Nachtmahre.

«Sie sind scheußlich», stieß Sidonie hervor. «Es stimmt! Ich kann nichts. Nicht mal Farben mischen. Nicht mal auf Bildern Leben erschaffen. Sie sind tot. Tot. Schwarz. Wie endlose Nächte.»

Wütend fuhr ihre Faust in das nächste Bild, ließ die Leinwand vom Rahmen platzen und blieb im Riss gefangen. Ein trockenes Schluchzen wie ein unterdrückter gequälter Schrei …

Da war Claire bei ihr, nahm sie in die Arme wie ein Kind, hielt sie warm und wiegte sie sanft. Sie spürte die Nässe der Tränen auf ihrer Bluse und wurde ganz ruhig.

«Weinen Sie nur», flüsterte sie und fühlte den Jammer, den furchtbaren Verlust und zugleich Erleichterung. Diese Tränen bedeuteten Hoffnung. Es mussten noch viele Tränen fließen, zweifellos ganze Bäche, aber sie verhießen das Ende der bleiernen Starre, in der ihre junge Nachbarin seit Wochen gefangen war. «Weinen Sie nur, meine Liebe. Manchmal muss man einfach weinen, damit all der Ballast fortgeschwemmt wird. Auch wenn man Angst hat, man könne nie wieder aufhören.»

***

Der weiße Fährdampfer brauchte von der City kreuz und quer über die Außenalster bis zur Uhlenhorst am nordöstlichen Ufer zwanzig Minuten. Mit dieser kurzen, für viele Männer und einige Frauen täglichen Fahrt blieben Enge und Lärm der geschäftigen Innenstadt zurück, mit jeder Minute wurde der Blick weiter und das Bild der grünen Ufer und ansehnlichen Villen schöner. Für manche war diese kurze Zeitspanne der erholsamste Teil ihres Tages. Doch immer, wenn man an einem Ort lebt, von dem andere träumen, wird er alltäglich und somit kaum mehr wahrnehmbar.

Viktor Wartberger genoss die Fahrt zwischen seiner Wohnung und dem Anleger Jungfernstieg, von dem es nur wenige Minuten zu Fuß bis zu seinem Bureau im Rathaus waren, immer noch und besonders im Morgenlicht. Manchmal fuhr er in der Kutsche eines Nachbarn mit in die Innenstadt, oder, wenn es unterwegs etwas zu erledigen gab, mit der stets überfüllten Elektrischen durch die Vorstadt St. Georg und an der enormen Baustelle für den zentralen Hauptbahnhof vorbei zur City. Danach wusste er seine Alsterfahrten umso mehr zu schätzen.

Auf der Heimfahrt über den See las er für gewöhnlich die Abendzeitung, wenn er jedoch den Blick hob und die grünen Ufer vorbeizogen, fühlte er sich leicht und atmete tief und zufrieden die mit jedem Meter Entfernung von Trubel und Enge der Innenstadt frischer werdende Luft. Oder wenn es im Herbst und Winter neblig war, wenn die Geräusche dumpf und geheimnisvoll klangen und ein Kribbeln im Bauch verriet, dass er doch einen Zusammenstoß mit einer anderen Fähre oder einem verirrten Lastkahn fürchtete, genoss er zugleich die Fahrt wie ein Schuljunge, der auf uralte Seeungeheuer lauert.

Seine Brüder lebten in London und Amsterdam, Rosa in Wien. Zu Besuch in Hamburg neckten sie ihn gern mit seiner Bodenständigkeit und betonten, wie wörtlich sie es meinten. Es sei kurios, dass er bis auf seine Studienjahre sein ganzes Leben in seiner Heimatstadt verbringe. Erster Rat in der Finanzdeputation und eine weiterhin solide Beamtenkarriere seien gewiss nicht zu verachten, sicher verdienstvoll und Ausdruck echter Verbundenheit mit der Heimatstadt, aber die Welt warte darauf, entdeckt zu werden! Darauf parierte er gern augenzwinkernd, London, Wien, Amsterdam – das sei weder originell noch abenteuerlustig. Mexiko und Tasmanien, Shanghai oder Sibirien seien interessantere Ziele. Womöglich brauche man irgendwo in der Welt bald einen Experten, der sich mit Juristerei und Finanzverwaltung auskenne. Dann stehe er bereit, sie würden schon sehen. Nicht nur Bank- und Maklergeschäfte verbanden die ganze Welt.