Die ungehorsame Tochter - Petra Oelker - E-Book

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Petra Oelker

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Beschreibung

Der Winter des Jahres 1769 ist lang und eisig. Die Schifffahrt in den Häfen von Hamburg und Altona ruht, nicht aber der Streit zwischen den Neumühlener Lotsen und ihren Konkurrenten vom hannöverschen Südufer. Als an einem nebelkalten Märzmorgen die Tochter des Neumühlener Oberlotsen tot in der Elbe gefunden wird, glaubt niemand an einen Unfall. Matthias Paulung, heimlicher Verlobter der Toten, gerät unter Mordverdacht. Wieder einmal macht sich die Komödiantin Rosina zusammen mit Großkaufmann Claes Herrmanns und Weddemeister Wagner an die Lösung eines mörderischen Rätsels ...

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Petra Oelker

Die ungehorsame Tochter

Ein historischer Kriminalroman

Über dieses Buch

Der Winter des Jahres 1769 ist lang und eisig. Die Schifffahrt in den Häfen von Hamburg und Altona ruht, nicht aber der Streit zwischen den Neumühlener Lotsen und ihren Konkurrenten vom hannöverschen Südufer. Als an einem nebelkalten Märzmorgen die Tochter des Neumühlener Oberlotsen tot in der Elbe gefunden wird, glaubt niemand an einen Unfall. Matthias Paulung, heimlicher Verlobter der Toten, gerät unter Mordverdacht. Wieder einmal macht sich die Komödiantin Rosina zusammen mit Großkaufmann Claes Herrmanns und Weddemeister Wagner an die Lösung eines mörderischen Rätsels …

Vita

Petra Oelker, geboren 1947, arbeitete als Journalistin und Autorin von Sachbüchern und Biographien. Mit «Tod am Zollhaus» schrieb sie den ersten ihrer erfolgreichen historischen Kriminalromane. Zu ihren in der Gegenwart angesiedelten Romanen gehören «Der Klosterwald» und «Tod auf dem Jakobsweg».

Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.

Friedrich Schiller

Das süßeste Glück, das es gibt, ist das des häuslichen Lebens, das uns enger zusammenhält als ein andres.

J.-J. Rousseau

Im September 1760

Eine Nacht Ende September

Die Hunde! Wenn nur die Hunde nicht bellten. Es waren gute Tiere, wachsam und schnell. Sie waren zu dritt und schienen doch überall zu sein. Wer immer sich dem Hof oder den Gärten, ja selbst dem hinteren Park näherte, wurde von ihnen bemerkt. Und wenn die Hunde bellten, käme der Torwächter, und wenn der Torwächter käme – dann musste sie eben schneller sein.

Sie schloss die Knöpfe der samtenen Kniehose, sie passte genau, und schlüpfte in die Jacke aus dickem wollenem Tuch. Die allerdings war viel zu groß, auch nicht mehr ganz heil, aber warm, und, was noch wichtiger war, der Gärtner würde sie nicht vermissen. Nicht bevor es kalt wurde. Sie hatte nie zuvor gestohlen und hoffte, Gott werde ihr vergeben. Natürlich auch der Gärtner und der kindliche Diener, dem die Kniehose gehörte. Sie selbst besaß nur Kleider aus Seide, Batist oder feinem Kattun, nicht die richtige Garderobe für das, was heute Nacht beginnen sollte.

Vom Glockenturm des Schlosses auf dem Hügel eine halbe Meile nördlich des Parks klangen zwei dünne Schläge herüber, und sie wusste, dass es nun Zeit war.

Als sie am Abend zu Bett gegangen war, hatte sie gefürchtet, doch einzuschlafen. Aber sie war wach geblieben, all die Stunden, hatte auf die Geräusche der Nacht gehört und von ihnen Abschied genommen. Zuerst von denen des Hauses: von den selbstbewussten Schritten ihres Vaters auf der Treppe, als er hinauf in sein Schlafzimmer ging, vom Klappen seiner Tür. Gleich darauf folgten die Schritte seines Dieners, kurze, fast militärische Schritte, gleichwohl von angemessener Ergebenheit, bis in seine Kammer unter dem Dach. Aus der Küche im Souterrain klapperten gedämpft die großen kupfernen Töpfe und Pfannen, die die Köchin frisch poliert an die Haken an der Wand über dem Arbeitstisch hängte. Sie hörte die huschenden Füße der Mädchen, hastig unterdrücktes Kichern, schließlich die schwereren der Köchin auf der hinteren Treppe für das Gesinde. Irgendwo schlug ein Fenster zu, alte Dielen knarrten. Dann war es still.

Still genug, das Flüstern des Windes in den Blättern der Bäume und Büsche vor ihrem Fenster zu hören. Sie wartete auf den Schrei der Schleiereule, die in dem alten, schon längst nicht mehr benutzten Backhaus wohnte, doch heute Nacht blieb er aus. Dafür glaubte sie das leise Plätschern des Baches und das sanfte Knarren des großen Wasserrades der Mühle in der Teichsenke zu hören. Das konnte nur ein Spiel der Phantasie sein. In der Nacht stand das Rad still, erst bei Sonnenaufgang würde der Müller wieder mit seiner Arbeit beginnen. Auch das schläfrige Scharren und Schnauben der Pferde im Stall hinter dem Gartenhaus waren nur in ihrem Kopf, Teil der vertrauten Abendmelodie ihrer Kindheit, die heute endgültig zu Ende ging.

Sie hatte gedacht, dass sie in dieser Nacht, besonders in diesen letzten Stunden, zornig sein würde, vielleicht auch angstvoll, gar schwankend in ihrem Entschluss. Sie hatte jedoch nicht erwartet, so traurig zu sein.

Nun lag alles in tiefem Schlummer, selbst der oft schlaflose Mann in seinem großen Bett mit dem schweren Baldachin. Und die Hunde? Sie griff nach dem Bündel auf ihrem Bett, prüfte die Knoten des Tuches und schob entschlossen das kleine rundliche Kinn vor. Sie spürte die Bewegung in ihrem Gesicht, und für einen Moment verflog alle Traurigkeit. Nie wieder würde jemand zu ihr sagen, vor lauter Trotz sei ihr Kinn schon wie das eines Mannes.

Die Schuhe, wie Jacke und Hose gestohlen, ein wenig zu groß und mit Wolllappen ausgestopft, verschwanden in den Taschen ihrer Jacke.

Die Hunde würden ruhig bleiben. Sie kannten sie ihr Leben lang, und sie hatte sie niemals geschlagen oder getreten, wie es der Torwächter manchmal tat. Sie lauschte ein letztes Mal in die Stille des Hauses, sah sich noch einmal in ihrem Zimmer um, atmete noch einmal den vertrauten Geruch von Lavendel, Puder und Melisse, stieg endlich auf das Fensterbrett und glitt sachte an der äußeren Mauer wieder hinunter. Trotz der Myriaden von Sternen war die Nacht dunkel, denn der Mond zeigte nur eine schmale Sichel. Vielleicht wäre es besser gewesen, in einer Neumondnacht zu gehen. Doch sie hatte in der Küche gehört, dass Neumond die Nächte der Straßenräuber waren, auch war ihr die Vorstellung der absoluten Dunkelheit zu schrecklich gewesen.

Der Duft des Gartens, trotz der Kühle des Abends immer noch süß von der Wärme des Tages, umschloss sie tröstlich, als wolle auch er sich verabschieden. Sie zog die Schuhe aus den Jackentaschen, schlüpfte hinein und huschte über den Hof. Zum Glück war nur die Auffahrt zur vorderen Treppe mit knirschenden Kieseln bestreut, so verschwand sie geräuschlos hinter den Rosenbüschen des Lustgartens.

Die Hunde erwarteten sie am Rande der dahinterliegenden, mit Obstbäumen bestandenen Wiese. Sie hörte ihr Knurren schon, bevor sie die schwarzen Körper in der Dunkelheit sah. Sie hockten da, einer neben dem anderen, mit aufgestellten Ohren und schiefgelegten Köpfen. Aber sie bellten nicht. Sie kamen heran, rieben ihre struppigen Köpfe an ihren Knien, stupsten ihre Nasen gegen ihre Hände, und der jüngste, schwarz wie die anderen, doch mit einer weißen Blesse auf der Brust, begleitete sie bis zu der Stelle an der Gartenmauer, an der ein kleines, hinter dickem Efeu fast verborgenes Tor ihr den Weg in die Freiheit öffnete. Sie schlüpfte hindurch, und als sie sich ein letztes Mal umsah, glaubte sie die Blesse noch in der Dunkelheit schimmern zu sehen. Sie lauschte auf das winselnde Jaulen des Tieres, wandte sich eilig um und verschwand in der Nacht.

Im Martius 1769

Kapitel 1

Mittwoch, Den 8. Martius, Morgens

In der Nacht waren die Pfützen wieder zu kleinen Inseln aus dünnem Eis gefroren. Sie zerbrachen knirschend unter den Stiefeln des Mannes, der, den Kopf gegen die feuchte Nebelluft gesenkt, entlang der Elbe nach Altona ging. Der dumpfe Klang der Stampfbalken in den Trögen der Neumühlener Pulvermühle versickerte schon hinter ihm in dem wattigen Dunst, trotzdem glaubte er noch den Schwefel und die Kohle aus Lindenholz zu riechen. Aber das war unwahrscheinlich, denn es fehlten nur noch wenige Schritte bis zu Butts Leimsiederei. Der Gestank der tagelang in mächtigen Kupferkesseln vor sich hin köchelnden Häute, Knochen und Fischschuppen, der Abfälle der Gerber, Schlachter und Abdecker ließ alle anderen Gerüche umgehend vergessen. Die von der Tranbrennerei vielleicht ausgenommen.

Doch dann fiel ihm ein, dass die Feuer unter den Kesseln in Butts Schuppen in den letzten Wochen kalt geblieben waren. Weil Butt bankrott sei, hieß es. Weil er nur noch Leim aus Waltran-Grieben kochen wolle, behauptete hingegen Butt, denn der sei der beste. Was gewiss nicht stimmte, aber tatsächlich konnte der Leimsieder den ausgekochten Walspeck nur bekommen, nachdem die Grönlandfahrer mit ihrer fetten Ware wieder eingelaufen waren. Das würde noch Monate dauern – bis zum Spätherbst. Noch lagen die wuchtigen kleinen Schiffe wie alle anderen in den Häfen fest.

Allerdings nicht mehr lange. Auch wenn es in den letzten Nächten wieder gefroren hatte, wenn auf der Elbe noch Eisschollen trieben, dünn und scharf wie Messer, würden bald Walfänger mit ihren großen Seeschiffen auslaufen. Deren Schiffsbäuche, am Bug innen durch Streben, außen mit Eisenplatten verstärkt, waren für die Meere am Rande der nördlichen Eiswüsten gewappnet, die letzten Schollen im Elbwasser konnten ihnen nichts anhaben. Auf den Schiffen der Walfänger, zumeist Fluiten und Barken, in den Häfen von Hamburg und Altona herrschte schon lange Geschäftigkeit, die Mannschaften waren längst geheuert, und es war nur noch eine Frage weniger Tage, bis die Walfangflotten in Hamburg und Altona Segel setzten.

Falls endlich Wind aufkam, den Nebel vertrieb und die Segel füllte. Seit Tagen schon lag die graue Decke über dem Land, als hielten sie die zahlreichen Arme, in die der breite Fluss sich südlich von Hamburg teilte, gefangen. Nur gegen Mittag wurde der Nebel dünner, und gestern hatte sogar die Sonne als matter weißer Fleck durch den Dunst geschimmert.

Zacharias Hörne kroch tiefer in seine dicke Jacke, bohrte die Fäuste in die Taschen und machte längere Schritte. Zwei Fischerknechte kamen ihm mit einer Schubkarre voller neuer Hanfseile entgegen und grüßten mehr als höflich, wie alle den Ältermann der Övelgönner-Neumühlener Lotsen stets grüßten. Er beachtete sie nicht, und die Knechte erzählten später dem Kalkbrenner, Zacharias Hörne sei heute mal wieder in ganz besonderer Stimmung. Wo doch einer, der es so weit gebracht habe wie er, alle Tage bester Laune sein müsste.

Zacharias Hörne war selten bester Laune, und in den vergangenen Monaten erst recht nicht. Sein hitziges Temperament gab ihm in leichten Zeiten die für sein Amt nötige Entschlossenheit und Autorität, in schweren brachte es den zornigen Mann zum Vorschein, der er tatsächlich war. Dieses Frühjahr, genau genommen der ganze letzte Winter schon, war für ihn eine schwere Zeit. Nicht nur wegen der nicht endenden Querelen unter den Lotsen.

Zacharias Hörne hatte noch einen anderen Grund für seinen Grimm: die Familie. Der erzürnte ihn mehr als jeder andere, weil er überflüssig war. Eine Familie hatte ein Oberhaupt, und dem war zu gehorchen. Da gab es nichts zu debattieren. Es war ihm nicht leichtgefallen, Anna, seine einzige Tochter, aus dem Haus zu geben. Aber das war Familienpflicht gewesen, und er hatte keine Sekunde gezögert, als Thea ihn darum bat. Und ebenso keine Sekunde daran gedacht, dass Anna das Leben im Haus seiner Schwester dazu benutzen könnte, ihn so bitter zu hintergehen.

Irgendwo im Dunst vor ihm bellte ein Hund. Das musste der schieläugige schwarze Köter sein, der die Segelmacherei bewachte. Jedenfalls tat er so. Er sah wohl aus wie ein Höllenhund, als Wächter war er trotzdem nicht besser als ein alter Hahn.

Er passierte die Wassermühle, die einst dem kleinen Ort am Elbufer westlich von Altona den Namen gegeben hatte, und schritt an den langgestreckten niederen Backsteinhäusern vorbei, die Fischer und Lotsen hier für ihre Familien gebaut hatten. Bald darauf erreichte er ein alleinstehendes, tief unter sein Reetdach geducktes Haus, das den vorigen bis zu den blaugemalten Fensterrahmen glich.

Er blieb stehen, zog die Schultern hoch, sah noch einmal zurück und klopfte. Er trat nicht einfach ein, wie es Sitte und bei Verwandten überall selbstverständlich war, sondern wartete, dass ihm die Tür geöffnet werde.

Ungeduldig rieb er die Fäuste aneinander, wandte sich um und sah hinunter zum Fluss. Der Nebel war immer noch so dick, dass Zacharias die breite Wasserfläche, keine zweihundert Fuß entfernt, nur erahnen konnte. Die Elbinseln, im Sommer eine grüne Idylle von saftigem Gras und Gebüsch und voller Vieh, jetzt noch bis auf die bewohnten größeren öde, grau und verlassen, verbargen sich vollends im Nebel.

Er atmete tief, doch der Zorn, der beim Blick auf diese trügerische Nebelwelt, Schrecken eines jeden Seemanns auf See, noch stärker in ihm aufstieg, ließ sich nicht so einfach verschlucken. Er glaubte das Eintauchen von Rudern zu hören und trat einige Schritte vor. Wer konnte verrückt genug sein, an so einem Morgen aufs Wasser zu gehen? Zwar hatte man beschlossen, mit dem Ausloten der Elbe fortzufahren; die Winterstürme, besonders die des Februars, hatten die Sände im Fluss verschoben, und die Lotsen brauchten genaue Auskünfte über die Veränderung des Fahrwassers. Bei diesem Wetter war das aber mehr als dumm. Auch der erfahrenste Pilot verlor bei dichtem Nebel schnell die Orientierung, und es war immer noch kalt genug, um im Labyrinth der Flussarme, Sandbänke und Inseln zu erfrieren. Auf der ganzen Elbe galt: Bei dichtem Nebel Anker werfen und beständig das Horn blasen. Was nicht ging, ging eben nicht. Das Wetter wurde nicht von den Lotsen, sondern immer noch von Gott gemacht, die Kaufleute und ihre Schiffer mussten warten, bis der Himmel sich klärte.

Ein geduckter dunkler Schemen glitt langsam am Ufer vorbei. Das konnte nicht die Schaluppe der Lotsgaleote sein, wahrscheinlich gehörte sie zu einem der Walfänger, die in Altona auf Reede lagen. Die hielten sich von jeher für unverwundbar. Er mochte die Walfänger nicht. Viele ihrer Schiffer und des Seevolks vom Schiffsjungen bis zum Steuermann kamen von Föhr, Amrum und dem holsteinischen Festland. Allesamt, so fand er, habgierige Kerle, die glaubten, dass ihre eigene und ihrer Steuerleute gute nautische Ausbildung schon reichte für eine gute Fahrt. Von den vierzig oder gar fünfzig Männern an Bord war aber der größere Teil in der Seefahrt unerfahren: jüngere Kätner- und Bauernsöhne, billige Herumtreiber aus den Schenken am Hafen oder andere Taugenichtse, die sonst niemand haben wollte. Kein Wunder, dass so viele von ihnen nicht vom Rand des Eises zurückkamen.

Er klopfte noch einmal, dieses Mal mit der ganzen Faust, und als er gerade zum dritten Mal gegen die Tür hämmern wollte, wurde sie geöffnet.

«Du magst schwerhörig sein, Zacharias Hörne. Ich bin es nicht.»

Eine Frau in schwarzer Witwentracht stand, auf einen Stock gestützt, in der Tür und sah ihren Besucher mit zusammengezogenen Brauen an. Thea Benning, fast sechzig und zwei Jahre älter als ihr Bruder Zacharias, war kleiner als er, so rundlich wie er hager und ihre Nase so klein und spitz wie seine kräftig. Sie hatte immer noch die rosige Haut einer weit jüngeren Frau. Während sein Gesicht von Wind, Wetter und zu viel schlechter Galle von tiefen Falten durchfurcht war, zeigte ihres nicht viel mehr als freundliche Runzeln. Thea Benning, sagten die Leute, sei in jungen Jahren heimlich zum Wunderbrunnen nach Borgfelde gepilgert und es sei ein Glück, dass Anna mehr ihrer Tante gleiche als ihrem Vater.

Theas Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. Viele fürchteten Zacharias Hörne, denn er war tatsächlich nicht besonders freundlich und forderte stets den größten Respekt. Für sie aber war er einfach nur ihr Bruder. Ein Mann, den sie mochte, meistens sogar liebte, seit sie denken konnte. Ein Mann, von dem sie wusste, dass er bei all seiner Knorrigkeit schwarze Kirschen über alles liebte, als Junge unter schrecklicher Seekrankheit gelitten hatte und bei einem besonders schönen Sonnenaufgang über der sommerlichen Flusslandschaft ergriffen schwieg.

«Davon, dass du mich so grimmig anstarrst, Zacharias, wird mir nicht wärmer. Sollen wir in der Kälte anfrieren? Pass auf, beinahe hätte ich dich bei einem Lächeln erwischt.»

«Behalt’s für dich», brummte er, nun tatsächlich schmal lächelnd, einem alten Geschwisterspiel folgend. Er trat ein und schloss die Tür. Behagliche Wärme und der würzige Geruch von Torf- und Buchenholzfeuer umfingen ihn, und ausnahmsweise knurrte er heute nicht, dass sie mal wieder verschwenderisch mit dem Feuerholz umgehe. Er zog seine Jacke aus schwerem schwarzbraunem Tuch aus, und während er sie an den Haken neben der Haustür hängte und seiner Schwester in die Wohnstube folgte, horchte er auf die Geräusche des Hauses. Da war das Knistern des Feuers, das Ticken der Wanduhr und das Maunzen des dicken rot-weißen Katers, der – respektlos wie seine Herrin – um seine Beine strich. Sonst war es still.

Als er in die Stube trat, saß Thea schon in ihrem Lehnstuhl am Fenster. An klaren Tagen ging der Blick von hier über den Uferweg und ihren dahinterliegenden, zum Strand abfallenden Garten, weiter über den Fluss zur Mündung des Köhlbrand genannten Nebenarmes der Süderelbe zwischen den Inseln bis hinüber ans andere Elbufer.

«Wenn du Kaffee magst, die Kanne steht auf dem Ofen, die Tassen – aber das weißt du ja.»

«Kaffee!?», sagte er, und sie nickte vergnügt: «Ja, Kaffee. Am Vormittag, zudem an einem ganz gewöhnlichen Dienstag. Nun setz dich endlich und mach auch ein Gesicht wie an einem ganz gewöhnlichen Dienstag. Oder», plötzlich saß sie sehr aufrecht, «oder ist etwas mit den Jungen?»

«Aber nein.» Zacharias schüttelte ungeduldig den Kopf. Immer sorgte sie sich gleich, dass etwas mit den Jungen sei. «Solange wir nichts von ihnen hören, gibt es keinen Grund zur Sorge. Jacob ist jetzt wohl auf seinem Holländer unterwegs nach der afrikanischen Goldküste, und Hanns – weiß der Teufel, wo sein Schiff sich rumtreibt. Kann gut sein, dass es schon vor Cuxhaven liegt und hier einläuft, sobald der Nebel und das letzte Eis weg sind. Die Hamburger Lotsen sind schon seit zwei Wochen draußen. Nein, es ist nichts mit den Jungen. Mit denen ist nie was.»

Er nahm eine Tasse aus dem verglasten Wandschrank, trat an den Kachelofen und bediente sich aus der messingnen Kanne. Er liebte Kaffee, auch wenn er es niemals zugegeben hätte und nicht fand, dass dieses teure Getränk, von dem auch viele sagten, es sei nicht gut für den Geist und nur der Sünde förderlich, in das Haus einer ehrbaren Lotsenwitwe gehörte. Er nahm reichlich Sahne und Zucker, wenigstens war es der billigere bräunliche, rührte um und sagte: «Nun.» Rührte weiter, und als seine Schwester immer noch beharrlich schwieg, blieb ihm nichts, als endlich zu fragen: «Und Anna? Wo ist Anna?»

«Das gute Kind.» Thea strich sanft über ihre schwarzen Röcke und zupfte zierlich ihr graues Schultertuch zurecht. «Deine Tochter hat sich trotz dieses schrecklichen Wetters nach Altona aufgemacht. Uns sind Butter und Honig ausgegangen, stell dir vor, und bei Rogge soll es noch chinesischen Tee geben. Es ist wirklich Zeit, dass die Elbe wieder frei wird. Das Eis und nun noch dieser Nebel. Glaubst du, dass es bald aufklart und endlich Wind aufkommt? Aber in diesem Jahr weiß man ja nicht, womöglich bringt der nur eine neue Nebelbank von der See mit. Wenn nicht bald …»

«Thea!!» Zacharias fand, seine Schwester plappere, und weil er nie begriffen hatte, dass sie so redete, wenn sie etwas nicht sagen wollte, war er gleich wieder da, dieser Zorn. Er war verflogen, als er sie so klein und auf ihren Stock gestützt in der Tür stehen sah. Obwohl die Entfernung zwischen ihren Häusern kaum eine halbe Meile betrug, sahen sie einander nicht oft. Selbst seit er nicht mehr ständig als Lotse arbeitete und häufiger an Land war. Doch stets, wenn er sie sah, spürte er das warme Gefühl einer besonderen Vertrautheit, das er nur für sie empfand. «Thea», wiederholte er, «du plapperst.»

«Tue ich das? Wahrscheinlich. So sind wir Frauen eben. Wir plappern. Nun gut. Ich werde schweigen, wenn du mir sagst, weshalb du gekommen bist. Sicher nicht, um Kaffee zu trinken, obwohl du hier unten am Fluss nirgends sonst welchen bekommen wirst, schon gar nicht am Vormittag. Was willst du von Anna?»

«Kann ich nicht einfach meine Tochter besuchen?»

«Natürlich kannst du das. In den vier Monaten, die sie in meinem Haus lebt, hast du das allerdings nur einmal getan, und wenn du plötzlich mit diesem Gesicht vor der Tür stehst – das sieht wahrlich nicht nach väterlicher Sehnsucht aus. Ich kenne dich, Zacharias, also mach mir nichts vor und sag, was du willst. Glaub mir, es ist besser.»

Es hieß, dass Anna bei ihr lebe, weil sie, die kränkliche Tante, Hilfe brauche. Sie beide, Zacharias und Thea, wussten, dass er dem nur zugestimmt hatte, weil er in seinem Haus Frieden wollte.

«Du hast nun Frieden in deinem Haus. Und Anna hat ihn hier auch. Sie ist eine gehorsame Tochter, Zacharias. Was willst du mehr?»

«Warum betonst du das so: eine gehorsame Tochter. Ich habe anderes gehört.»

«Hast du das. Oder hat Berte etwas anderes gehört?»

«Auch wenn du Berte nicht magst, erbitte ich mir Respekt gegen meine Frau. Es reicht, wenn Anna ihrer Stiefmutter das Leben schwergemacht hat. Außerdem hat es nichts mit Berte zu tun. Kocke hat sie mit diesem Menschen gesehen, am hellen Tag vor Melzers Kaffeehaus. Als hätte ich ihr nicht ein für alle Mal verboten, ihn zu treffen. Sie hat meine Verbote zu respektieren. Jung und dumm, weiß nicht, was gut für sie ist. Und sie will nicht wissen, was der für einer ist. Verdammt, Thea, ich erlaube nicht, dass jemand aus meiner Familie mit einem Paulung, mit einem Paulung …»

«Was mit einem Paulung?»

«Eine Liebschaft hat», brüllte Zacharias Hörne plötzlich und sprang auf.

«Liebschaft! So ein Unsinn. Dein blinder Zorn wird dir irgendwann den Kopf platzen lassen.» Thea Bennings rundliches Gesicht wurde schlagartig zu einer starren Maske, und nun glich sie ihrem Bruder auf erstaunliche Weise. «Jetzt will ich dir etwas sagen. Deine Tochter ist mit ihren fast zwanzig Jahren nicht mehr so jung, wie du glaubst, und ganz gewiss ist sie nicht dumm. Ein wachsweiches Lamm wie deine Berte ist sie allerdings nicht, sie hat ihren eigenen Kopf. Doch so oder so, es ist unerhört und absolut respektlos gegenüber deiner Tochter, ihr eine Liebschaft anzudichten, nur weil ein rotnasiger Bierbrauer Gespenster sieht. Ich müsste es wissen, und ich weiß davon nichts. Selbst wenn sie Matthias Paulung in Altona über den Weg gelaufen ist, warum sollte sie nicht mit ihm sprechen? Nur weil du dich mit dem alten Paulung, der in der Tat ein unangenehmer Patron ist, über euren Lotsengeschäften zerstritten hast, ist Matthias ganz gewiss kein Verräter und Tagedieb, wie du behauptest. Sie kennt ihn, seit sie laufen kann, und dass sie einen Sommer lang in ihn verliebt war – damals war sie fünfzehn!, diese kindliche Schwärmerei ist längst vergessen. Doch ganz abgesehen von der Sache mit Matthias, nein, du hörst mir jetzt zu, ganz abgesehen davon möchte ich dir empfehlen, anstatt immer nur auf den dir zustehenden Respekt zu pochen, an die Liebe zu denken, die deine Tochter dir zeigen würde, wenn du sie nur ließest. Du vergisst, dass Anna keiner von deinen Lotsknechten ist. An deinem dummen Respekt wirst du eines Tages erfrieren.»

Zacharias Hörne starrte auf das zorngerötete Gesicht seiner Schwester hinunter. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal so erlebt hatte. Thea konnte heftig werden, doch das kam selten vor. Sie war immer die gewesen, die alles mit einem raschen Lachen zurechtbog, die stets das richtige Wort fand. Er begriff nicht, dass sie auch diesmal die richtigen Worte gefunden hatte, sondern fühlte sich verraten. Er hatte gedacht, sie sei seine Verbündete, ganz besonders in dieser Sache, nun war er dessen nicht mehr sicher.

«Zacharias», Theas Stimme klang nun wieder ruhig, auch wenn sie noch ein wenig atemlos schien, «Anna tut nichts, was dir schadet.»

«Mir schadet? Es reicht, wenn sie sich selbst schadet. Dass sie an den Ruf meiner Familie denkt, erwarte ich schon gar nicht mehr. Glaube mir, Thea, wenn sie wieder etwas mit dem jungen Paulung angefangen hat, dann, verdammt, dann weiß ich nicht, was ich tue. Das kannst du ihr sagen. Und ihm auch, du scheinst sehr vertraut mit ihm zu sein.»

Bevor Thea auch nur nach ihrem Stock greifen und aufstehen konnte, stürzte er hinaus, riss seine Jacke vom Haken und ließ die Tür hinter sich zufallen. Sosehr sie sich auch beeilte, als sie vor ihr Haus trat, war er nur noch ein dunkler Schatten auf dem Weg nach Altona, den gerade der Nebel verschluckte. Sie stützte sich müde auf ihren Stock, es hatte keinen Sinn, ihm nachzurufen, er würde nicht umkehren. Es war dumm gewesen zu glauben, sie könne ihm so einfach den Kopf zurechtrücken und danach sei alles gut. Sie wünschte sich sehnlich, dass alles gut werde, doch vielleicht war ihr Weg der falsche. Hatte sie ihm die Wahrheit gesagt? Was wusste sie, und was wusste sie nicht? Wo war die Grenze zwischen wissen und nicht wissen?

Gegen Mittag

Der Mann schob seine Mütze in den Nacken, kratzte sich über dem linken Ohr und betrachtete mit vorgeschobener Unterlippe das kleine Stück Papier in seiner Hand. Ein Schnaps, ein paar Krümel Tabak oder eine Kupfermünze, der übliche Obolus für einen Fuhrknecht, wäre ihm lieber gewesen. Vielleicht hätte er die Truhe doch nicht ganz so achtlos von seiner Karre auf die Straße rutschen lassen sollen.

Helena Becker seufzte. «Na gut», sagte sie und griff ein zweites Mal in ihre Rocktasche. Leider holte sie auch diesmal kein Kupferstück heraus, sondern ein zweites dieser dummen Papierschnipsel. «Zwei Billetts sind aber wirklich mehr als genug. Jedes ist fünf Schillinge wert, und die Plätze auf der Galerie sind bei diesem Wetter die besten, da oben ist es immer hübsch warm.»

«Soso», brummte der Kärrner und noch etwas, das nach «Tanzmamsellen» und «fremdländischen Sitten» klang. Er stopfte die Eintrittskarten für die Becker’sche Komödie achtlos in seine Joppe, wuchtete die Karre hoch und verschwand im Gedränge auf der Elbstraße.

Noch immer hing über der Stadt ein Dunst, der alle Farben grau machte, doch der Nebel hatte sich etwas gelichtet, und nun, gegen Mittag, war es endlich taghell.

«Helena!» Eine schlanke Gestalt, wie Madame Becker in ein dunkelgraues Wolltuch gewickelt, drängte sich an einem mit Fässern beladenen Fuhrwerk vorbei, sprang über eine mit schwarzem Wasser und Unrat gefüllte Pfütze und landete direkt neben Helena vor der Tür von Melzers Kaffeehaus an der Einmündung der Brauerhof genannten Gasse.

«So ein grässliches Wetter. Wäre es nicht so kalt, fühlte man sich wie in einem Waschhaus.»

Sie zog mit einer raschen Bewegung das Tuch von Kopf und Schultern und schüttelte es kräftig. Rosina war Mitte zwanzig, etwa ein Jahrzehnt jünger als Helena, und wie sie Komödiantin in der Becker’schen Gesellschaft. Während die Ältere mit ihrer fülligen Gestalt, ihrer bei Bedarf und in zornigen Momenten äußerst würdigen Haltung auf der Bühne für die stolze Heroine, huldvolle Königin oder die entsagungsvoll Liebende prädestiniert war, gehörten zu den ersten Rollen der Jüngeren die heitere Schäferin, die Primaballerina oder die muntere, stets Schabernack treibende jugendliche Mamsell. Ihre Spezialität waren Hosenrollen, beim Publikum im Parkett wie auf der Galerie außerordentlich beliebt. Ganz und gar unverzichtbar für ihren Prinzipal machte sie jedoch ihr für ein Mitglied einer so kleinen Theatergesellschaft ungewöhnlich lieblicher Sopran. Und wie der größte Spaßmacher auf der Bühne im wahren Leben oft ein Griesgram und Misanthrop ist, waren auch die Temperamente der beiden Frauen, sobald sie das Theater verließen, oft vertauscht.

«Es nützt nichts», sagte Rosina und betrachtete grimmig den von der Feuchtigkeit schwer herabhängenden Umhang. «Weiß der Himmel, wann das Ding jemals wieder trocken sein wird. Ist das eine der neuen Truhen?»

Sie strich leicht mit der von der Kälte geröteten Hand über das Holz und nickte anerkennend. Zwar zeugten schon einige Risse und die an manchen Stellen brüchige Farbe von ihrem ehrwürdigen Alter, dennoch schien sie stabil. Die Malerei, Reihen von Blattranken und dunkelroten Äpfeln an den Rändern, in der Mitte ein pausbäckiges, einander die Hände reichendes Paar, konnte Rudolf mit nur wenig Mühe wieder wie neu erscheinen lassen.

«Was hast du dem Mann gegeben? Etwa ein Billett?»

«Zwei, Rosina. Eines reichte ihm nicht, jedenfalls machte er so ein Gesicht. Es kann nicht schaden, wenn wir jede Gelegenheit nutzen, das Theater zu füllen. Es schien ihn aber nicht sonderlich zu freuen.»

Rosina lachte. «Wahrscheinlich wusste er nicht, was es war. Oder glaubst du, dass er lesen kann?» Sie strich mit den Fingerspitzen über die dilettantisch, gleichwohl liebevoll gemalten Gesichter. «Ein hübsches Stück. Wo sollen wir sie hinstellen?»

«Eine sehr lästige Frage, Rosina. Darüber denke ich nach, sobald wir sie oben haben. Irgendwo wird sich schon ein Platz finden.»

An dem Problem mit der Truhe hatte sich am Abend zwar heftiger Streit entzündet. Die Becker’sche Komödiantengesellschaft, zu der die beiden Frauen gehörten, gastierte nicht zum ersten Mal in Altona. Die Wohnung über Melzers Kaffeehaus, in dieser Stadt stets ihr Quartier, war ihnen immer komfortabel und geräumig erschienen. In diesem Winter allerdings hatte der Prinzipal seine Truppe um zwei Köpfe vergrößert, Melzer wiederum zwei Dachkammern an einen Schiffszimmerer und dessen Frau vermietet, kurz und gut, die Becker’schen, nun zwölf an der Zahl, mussten sich mit mehr Köpfen und weniger Raum begnügen. Was nicht nur zu mehr Lärm und Streiterei, sondern vor allem zu mehr Unordnung führte. Und damit zu neuem Streit.

Gestern Abend, als Jean Becker, Helenas Ehemann und Prinzipal der Gesellschaft, am Tisch in der Wohnstube saß und Titus, Spaßmacher der Gesellschaft, und Filippo, Akrobat und jugendlicher Held, aus einem neuen Stück vorlas, kam es zum Eklat.

Das Stück, noch nicht mehr als das Fragment einer Komödie, stammte aus der Feder Gregor Beauforts, eines völlig unbekannten, dafür aber wohlhabenden jungen Mannes, der beschlossen hatte, sich als Dichter zu versuchen. Erst kürzlich hatte er Jean in einer Schenke angesprochen und ihm sein Werk angedient. Jean war begeistert. Mit einem neuen Stück, insbesondere einer Komödie, aus der Feder eines reichen Bürgers warb es sich auch leichter um die Gunst der Bürger.

Nun hatte er, wie es seine Art war, nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit Händen und Füßen deklamiert und schließlich in melodramatischer Emphase weit ausholend ein Tintenfässchen umgestoßen. Dessen Inhalt ergoss sich über den Tisch, färbte nicht nur die alte zerkratzte Holzplatte, was niemanden außer Melzer wirklich grämen würde, sondern eine bis dahin schneeweiße Alongeperücke, eine schon ziemlich zerlesene Ausgabe des ersten Teils von Gellerts wahrhaft ergreifendem Roman Leben der Schwedischen Gräfin von G., zwei Paar rosenfarbene Spitzenhandschuhe, ein gerade erst angeschnittenes Weißbrot und Gesines fein bestickten Nähbeutel. All das sog die Tinte begierig auf und färbte sich dunkelblau, nur die Handschuhe entschieden sich für ein frivoles Violett.

Was wiederum Gesine, auf der Bühne zumeist die grämliche Alte oder stumme Dienerin, als vortreffliche Kostümmeisterin aber eines der wichtigsten Mitglieder der Gesellschaft, zu einem vulkanischen Zornausbruch veranlasste. Ausgerechnet Gesine, die als die Bescheidenheit selbst galt und Unmut gewöhnlich mit nichts als abgrundtiefem Schweigen kundtat, was alle sehr angenehm fanden. Von ihrem ersten Schrei erschreckt, warf Filippo ein Glas um, und der rote Wein wandelte nun alle Tintenflecken umgehend in tiefstes Violett. Worauf Helena, die in diesem unpassenden Moment den Raum betrat, Gesines Gezeter mit einer Tirade über die ewige Unordnung ablöste, und warum Jean, zur Hölle!, nicht besser aufpassen könne, wenn er schon mit den Armen rudere wie eine Windmühle im Sturm, anstatt die Bedeutung seiner Worte wenigstens bei der Probe in Stimme und Mimik zu legen, wie es ein wirklich großer Komödiant täte.

Es würde zu weit führen, auch noch zu erwähnen, was daraufhin Jean und Titus zum Besten gaben. Nur Filippo war klug genug, während des ganzen Disputs zu schweigen, und Rudolf, Gesines Ehemann, Kulissenmaler und Maschinenmeister, hörte schon auf der Treppe das Geschrei und eilte, ohne den Raum auch nur zu betreten, umgehend zurück zu seinen Pinseln, Flugwerken und Donnermaschinen. Schließlich ging allen die Luft aus, und als selbst Jean nichts mehr einfiel, verkündete Helena in die plötzliche, nur noch von Gesines leisem Schluckauf unterbrochene Stille, da es dem Herrn Prinzipal nicht gelinge, eine geräumigere Wohnung für seine Leute zu finden, werde sie zumindest für neue Korbtruhen sorgen, um die kostbaren Kostüme und Bücher vor seinem Ungeschick in Sicherheit bringen zu können. Da könne Jean noch so viel jammern, dass deren Anschaffung zu teuer und im Budget nicht vorgesehen sei.

Am Morgen hatte sie sich gleich nach dem Frühstück auf den Weg zum Korbflechter im Pötgergang gemacht, zwei Korbtruhen mittlerer Größe in Auftrag gegeben und auf dem Rückweg dem Tischler in der Reichenstraße beim Nobistor eine kleinere Holztruhe abgeschmeichelt, die der Meister erst vor wenigen Tagen einer bedürftigen Witwe für sein eigenes Lager abgekauft hatte. Sie war in der Tat zu teuer, aber Helena fehlte an diesem Morgen die Geduld zu handeln. Es hätte auch wenig Erfolg versprochen. Wohl war Altona eine Stadt, nach der Hauptstadt gar die größte im Reich des dänischen Königs, aber doch klein genug, dass man einander kannte. Klein genug, dass es geradezu als Bürgerpflicht galt, so wenig geehrtes Volk wie wandernde Komödianten zu übervorteilen. Selbst wenn es sich um eine so schöne und trotz des kastanienfarben lohenden Haars durchaus gesittet erscheinende Komödiantin handelte.

«Wirklich», wiederholte Rosina, «ein hübscher kleiner Kasten, gerade recht für die Perücken. Besonders mit diesem Luftloch hier.» Sie schob einen Zeigefinger durch ein längliches Loch am Rande des Truhendeckels. «Aber wieso steht sie auf der Straße? Warum hat der Fuhrmann sie nicht hinaufgebracht?»

«Das wollte er nur zu gerne. Ich habe ihn aber nicht gelassen. Soll er etwa in der Stadt herumerzählen, die Komödianten hausen über Melzers Kaffeehaus wie die Wilden? Dieses kleine Ding schaffen wir auch allein die Treppe hinauf.» Sie zog ihr Tuch von den Schultern, griff auch nach Rosinas und warf beide in die Truhe, verknotete flink ihre Röcke vor den Knien und schob beide Hände unter den eisernen Griff. «Worauf wartest du, Rosina? Fass an.»

Rosina war nicht wie Helena, Titus oder Jean auf dem Komödiantenkarren geboren. Niemand außer ihr selbst wusste, woher sie gekommen war, als Jean sie an einem regnerischen Herbstabend auf einer Landstraße fand. Wenn auch ihr Gesicht unter den dicken blonden Locken einem flüchtigen Betrachter trotz des festen Kinns immer noch zart erscheinen mochte, war sie alles andere als zerbrechlich. Ihr Eigensinn war nicht nur bei den Mitgliedern der Becker’schen Gesellschaft gefürchtet. Nach etlichen Jahren als Komödiantin, Tänzerin und Sängerin, die bei den Fahrten über das Land auch auf dem Kutschbock saß und die Pferde lenkte, die wie alle anderen Kisten und Körbe, die Kulissen und andere Utensilien schleppte, war sie kräftiger, als ihre schmale Taille vermuten ließ. Was nicht bedeutete, dass das Herumschleppen schwerer Truhen, und sahen sie auch so harmlos aus wie diese, zu ihren liebsten Beschäftigungen gehörte.

«Lass den Fuhrmann erzählen, was er will», sagte sie und knotete gleich Helena ihre Röcke, «das tut er sowieso, und davon, dass du ihm bezahlte Arbeit ersparst, wird er uns noch lange nicht für ehrbare Leute halten. Du lieber Himmel!» Mit einem ärgerlichen Ächzer ließ sie die Truhe, die sie am eisernen Griff der anderen Seite gefasst und angehoben hatte, wieder fallen. «Machen die ihre Kästen hier aus Blei?»

«Aus Eiche», sagte Helena. «Das ist zwar unpraktisch und nur wenig leichter, aber haltbar, äußerst haltbar. Stell dich nicht an, ein bisschen Anstrengung kann uns nicht schaden. Wenn wir warten, bis einer der Männer …»

«Kann ich helfen? Wohin soll die Truhe?»

Zwar keiner der gerade geschmähten Komödianten, aber ein Mann von vielleicht dreißig Jahren in einer Jacke aus grobem Tuch hatte sich aus der Menge gelöst und war stehen geblieben.

«Danke», Helena beugte sich entschlossen wieder über den Griff, «aber das ist nicht …»

«Das ist sehr freundlich», fiel Rosina ihr ins Wort. «Wirklich sehr freundlich. Unsere Wohnung ist im ersten Stock und die Truhe schwerer, als wir dachten. Wenn Ihr aber an einem und wir beide am anderen Ende anfassen, wird sie leicht zu tragen sein.»

Der Mann nickte, zog seine Joppe aus und reichte sie einem Mädchen, das gerade aus Melzers Kaffeehaus getreten war und die beiden fremden Frauen mit unverhohlener Neugier musterte.

«Warte hier», sagte der Mann, «es dauert nur einen Augenblick.»

Als habe sie ihn nicht gehört, kam sie einen halben Schritt näher. «Seid Ihr von den Komödianten?», fragte sie. Ihre kleine Zunge flitzte wie die einer Eidechse über ihre Oberlippe, und sie sah fragend von Rosina zu Helena und wieder zurück.

«So lass doch, Anna. Komödiantinnen oder nicht, die Truhe muss schnell die Treppe rauf, das ist alles.»

Wieder hörte sie ihm nicht zu. «Verzeiht meine Frage, aber Madame Melzer hat gesagt, Ihr gehörtet zu denen, obwohl Ihr nicht so ausseht. Wie Fahrende, meine ich, ich kenne natürlich keine, aber die Leute sagen …»

«Anna. Es ist doch egal, was die Leute sagen. Die sagen immer irgendwas.»

Helena ließ sich mit einem Seufzer auf die Truhe plumpsen, schob ihre kalten Hände unter die Achseln, und Rosina lachte schon wieder.

«Da hat er recht», sagte sie. «Es ist egal, was geredet wird. Trotzdem sehen viele Komödianten ganz manierlich aus.»

Das Mädchen nickte ernsthaft, als habe es gerade etwas Bedeutungsvolles gelernt. «Manierlich. Madame Melzer sagt, auch wenn die Kirche den Pastoren verbietet, das Theater zu besuchen, so sei es doch nicht so unchristlich, wie manche glaubten. Madame Melzer sagt, sie selbst habe schon viele Eurer Aufführungen gesehen, es sei sehr vergnüglich. Die Musik und die Kostüme …» Sie verstummte seufzend unter dem strengen Blick ihres Begleiters.

«Warum probiert Ihr es nicht einfach selbst aus?» Helena erhob sich von der Truhe. Sie fror und sehnte sich nach einer Tasse heißen Tees. «Heute Nachmittag», fuhr sie fort und zog zwei Billetts aus den Tiefen ihrer Rocktasche, «um fünf. Wir geben ein Lustspiel mit Gesang. Natürlich auch ein Ballett. Ich versichere Euch, obwohl in den Gasthäusern das Gegenteil behauptet wird, tanzen wir niemals unbekleidet. Sollte das Spiel Euch trotzdem nicht behagen, könnt Ihr ruhig früher gehen.»

«Unbekleidet? O nein.» Anna errötete bei dieser Vorstellung. «Das hätte ich niemals geglaubt. Aber es geht nicht, leider.» Hilfesuchend sah sie sich nach ihrem Begleiter um. «Es geht doch nicht, Matthias?»

«Nein, es geht nicht. Vielleicht später einmal, Anna, wenn ich …» Er sprach nicht weiter, sah auf seine breiten schwieligen Hände und zog die Schultern hoch.

«O doch», rief Rosina, die begriff, was die beiden an dem Besuch der Komödie hinderte, und wandte sich an den Mann, den das Mädchen Matthias genannt hatte. «Es geht ganz einfach. Ihr helft, die Truhe die Treppe hinaufzutragen, und wir bedanken uns mit zwei Billetts.»

Anna zögerte nur eine Sekunde, dann griff sie blitzschnell nach den Billetts, die Helena ihr entgegenhielt, und ließ sie in ihrem Korb verschwinden. Ihr Begleiter öffnete den Mund, als wolle er protestieren. Doch dann sagte er nur: «Ihr habt recht, zuerst muss die Truhe aus dem Weg. Warte hier, Anna, ich bin gleich zurück.»

Kapitel 2

Donnerstag, Den 9. Martius, Morgens

Anne Herrmanns lächelte mit ungewohnter Nachsicht über ihren törichten Gedanken. Die resedagrüne Seide ihres neuen Negligés, hatte sie gerade beschlossen, stehe ihr ganz ausgezeichnet. Auch wenn ihr Ehemann es nicht zu bemerken schien, gab sie ihren graugrünen Augen selbst jetzt, am Morgen, der eine Frau im reifen Alter von neununddreißig Jahren ja stets blass macht, den richtigen Glanz. Töricht, dachte sie und unterdrückte einen Seufzer. Solche Gedanken schlichen sich eben ein, wenn man sich keine gewichtigeren zu machen hatte. Sie lauschte auf das leise Knacken der Buchenscheite im Kamin, beobachtete, wie der Honig dick von ihrem Löffel auf das Weizenbrot tropfte, und seufzte wohlig. War es nicht doch ganz wunderbar, keine als diese leichtfertig-resedagrünen Probleme zu haben? Die Wärme des Feuers in ihrem Rücken umfing sie wie eine Hülle und erinnerte sie an die Hitze der vergangenen Nacht. Ihr Blick wanderte vom Honig zu ihrem Ehemann, der ihr, in seinem Stuhl zurückgelehnt und in die neue Ausgabe des Hamburgischen Correspondenten vertieft, gegenübersaß. Sie liebte die Gemächlichkeit des beginnenden Tages, gerade weil sie sich dieses Luxus sehr bewusst war. Die Zeiger der Uhr auf der Kommode zwischen den hohen Fenstern zeigten schon halb zehn.

Tatsächlich begann nur für sie der Tag erst jetzt. Claes Herrmanns hatte wie an jedem Morgen um diese Zeit schon zwei Stunden in seinem Kontor verbracht. Niklas, ihr jüngerer Stiefsohn, saß längst auf seiner Bank in der Lateinschule Johanneum, und Christian, der ältere und schon Kaufmann wie sein Vater, war bald nach Sonnenaufgang zum neuen Herrmanns’schen Speicher am Hafen gegangen.

Selbst Augusta Kjellerup, die Tante des Hausherrn, hatte sich heute schon früh ins Johanniskloster zu Domina Mette van Dorting kutschieren lassen. Die beiden Damen planten ein neues Unternehmen, aus dem sie zwar ein großes Geheimnis machten, von dem dennoch die halbe Stadt wusste: Nachdem sie sich lange und genussvoll über die Qualität der Holberg’schen Komödien gestritten hatten, waren sie zumindest darin einig gewesen, dass die deutschen Übersetzungen miserabel seien. Eine wie die andere altmodisch und ohne den Biss, der den großen dänischen Dichter doch gerade auszeichnete. Eben durch und durch brav. Da sie mit dieser Meinung in der Stadt ziemlich alleine waren und trotz aller Missionsversuche auch blieben, fand sich niemand, der eine bessere zu machen bereit war. So beschlossen sie, selbst zur Tat zu schreiten. Seitdem hockten sie an drei Vormittagen der Woche im Salon der ersten Dame von St. Johannis, tranken unanständig viel Kaffee, weil das ihren Geist beflügelte, und strapazierten die Nerven eines jungen Hilfsgeistlichen, der bestellt war, ihre zwar guten, doch ebenfalls recht altbackenen Dänischkenntnisse aufzupolieren.

Alle im Hause Herrmanns waren beschäftigt, auch Claes würde bald wieder seinen Geschäften nachgehen, und sie – Anne Herrmanns seufzte ein zweites Mal, diesmal allerdings nicht wohlig, sondern ratlos. Alle waren ständig beschäftigt, nur sie nicht. Im Januar hatte sie beschlossen, doch noch eine gute Hausfrau zu werden, und alle Leintücher der Tisch- und Nachtwäsche zu zählen. Auch dem Tafelsilber wollte sie eine neue Ordnung geben. Zur besseren Übersicht hatte sie lange Listen angelegt, die Elsbeth an den Rand der Verzweiflung gebracht hatten. Die Köchin und eigentliche Herrin des Haushaltes hatte alles im Kopf und brauchte diesen unnötigen Papierkrieg so dringend wie ein Schoßhund Flöhe. Sicherheitshalber hatte sie gestern ihrer Herrin diskret bedeutet, dass deren Hilfe bei der großen Waschwoche, die wie immer im März bevorstand, nicht vonnöten sei.

Immerhin würde Anne sich, sobald dieser endlose Winter vorbei war, wieder ihrem Garten vor der Stadt widmen können. Soweit die Gärtner es zuließen.

Sie mochte den Winter nicht, der in diesem Land noch weniger ein Ende nehmen wollte als anderswo. Die kleine englische Insel nahe der französischen Küste, von der sie stammte, lag nur um wenige Breitengrade südlicher als ihre neue Heimat, aber je länger sie fort war, umso lieblicher und wärmer wurde sie in ihrer Erinnerung. Wohl gab es auch dort in manchen Jahren eisige Winterwochen, aber im März blühten schon Veilchen und Apfelbäume, leuchteten in den Gärten der großen Häuser Tulpen und Narzissen – nun gut, nicht in jedem Jahr, aber doch in den meisten. Selbst der Nebel, der hin und wieder auch die weite Bucht von St. Aubin heimsuchte, gab dort stets nach wenigen Stunden auf.

«Hör mal, Anne, das ist interessant.» Claes Herrmanns warf seiner Frau einen kurzen Blick zu und begann vorzulesen:

«‹Von Neu-York wird gemeldet, dass zwei Söhne zweier vornehmer Indianer die englische Sprache erlernt hätten und dass sie nun mit allem Fleiß die Arzneikunst und Chirurgie studieren, sonderlich die Wissenschaft der Inoculation, da die Blatternkrankheit jährlich unter den Indianern grassiert und sehr viele hinwegrafft. Die Indianer werden immer geneigter, sich zum Christentum zu bekennen und gesittete Leute zu werden.›

Erstaunlich», schloss er, «höchst erstaunlich. Findest du nicht?»

«Unbedingt, Claes. Wirklich erstaunlich.» Sie hatte schon vor geraumer Zeit aufgegeben, ihm zu erklären, dass sie es nicht liebte, ausgewählte Häppchen aus einer Zeitung vorgelesen zu bekommen, die sie später selbst lesen wollte. «Möchtest du noch Tee?»

«Unglaublich», murmelte er und nickte, wobei er nicht den Tee meinte, sondern die Nachricht, dass aus wilden Indianern Chirurgen werden konnten. «Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass ein Chirurg nicht viel mehr als ein Bader und noch lange kein Arzt ist, ist das für Kerle, die für ihre Sprache nicht einmal Buchstaben kennen und ihren Feinden bei günstiger Gelegenheit das Fell über die Ohren ziehen, eine beachtliche Leistung.»

Rasche Schritte sprangen die Treppe von der Diele zum kleinen Salon im ersten Stock herauf, die Tür flog auf, und Christian Herrmanns, der älteste Sohn des Hauses, trat ein. Das walnussbraune Haar war vom schnellen Gang durch die feuchte Luft stärker als sonst gelockt, eine dicke Strähne fiel ihm über die Stirn, mit einer raschen Bewegung schob er sie wieder in das schwarze Band im Nacken zurück. Mit seinen grauen Augen, hellwach und meistens vergnügt, seiner geraden, nicht sehr großen Nase glich der Vierundzwanzigjährige seiner um zwei Jahre jüngeren Schwester Sophie auf männliche Weise beinahe wie ein Zwilling, was Anne heute besonders deutlich schien.

«Guten Morgen, Madame, Monsieur.» Er nickte fröhlich seinem Vater zu, der sich für den Moment eines begrüßenden, wohlwollenden Blicks von seiner Zeitung losriss, beugte sich schwungvoll über die Hand seiner Stiefmutter und ließ sich auf einen Stuhl fallen. «Morgen, spätestens übermorgen ist die Elbe frei», verkündete er. «Das Eis ist fast weg, und der Lotsinspektor hat die Peilungen für das Fahrwasser bis Cuxhaven schon bekommen. Vor Altona wird zwar noch gelotet, aber auch das ist heute Nachmittag erledigt.» Er griff nach dem Brot, brach ein Stück ab, schwankte kurz zwischen Aalpastete und Hirschschinken, entschied sich für Letzteren und fuhr fort: «Aber darüber redet heute Morgen am Hafen kein Mensch. Alle reden nur über die Rose of Rye. Ein ganz passables Schiff, das kann niemand bestreiten, und ein frecher Kapitän. Paulung hat verdammtes Glück gehabt, dass er nicht auf einem der Sände gelandet ist.»

Die Rose of Rye, eine englische Bark, war gestern mit der Dämmerung in den Hafen eingelaufen, das erste Schiff in diesem Frühjahr, und auch wenn mancher anerkennend durch die Zähne gepfiffen hatte, war die Empörung über den Kapitän groß. Dem hatte trotz des schwachen Windes das auflaufende Wasser gereicht, von seinem Ankerplatz vor Glückstadt den Hamburger Hafen zu erreichen. Er hatte noch mehr Glück gehabt, dass das Wasser hoch genug stand, um nicht an den Sandbarren vor Blankenese und Altona stecken zu bleiben. Doch wenn er die Häfen des Kontinentes kannte, hatte er ohne Zweifel gewusst, dass das Bett der Elbe am Ende des Winters durch die nassen Monate und das Schmelzwasser der zahlreichen Nebenflüsse und Bäche stets besonders gut gefüllt war. Es hieß, der Nebel sei westlich von Schulau nicht mehr der Rede wert, dennoch war diese Fahrt mehr als leichtsinnig gewesen. Wäre er auf Grund gelaufen oder hätte einen der Ewer oder Milchboote von den Inseln gerammt, die bei aufkommendem Nebel im Fahrwasser ankern mussten, wäre es unvermeidlich zur Havarie gekommen, das Fahrwasser wäre dann wer weiß wie lange blockiert gewesen, und das so kurz bevor all die Schiffe, die seit Wochen oder gar Monaten darauf warteten, endlich wieder die Elbe hinauf- und hinabfahren konnten.

«Unverantwortlich», sagte Claes, obwohl auch er dieses Schurkenstück, wie sein alter Freund Bocholt es gestern genannt hatte, heimlich bewunderte und – noch heimlicher – bedauerte, dass die Waren aus England, die er so dringend erwartete, nicht zur Ladung der Rose of Rye gehörten. Ganz besonders das Campecheholz, von dem in ganz Hamburg nichts mehr aufzutreiben war. Es hätte einen exzellenten Preis gebracht, wäre es ein oder zwei Wochen früher als die anderen Ladungen hier gewesen. «Er hatte einen Stader Lotsen. Von denen ist nichts anderes zu erwarten. Hauptsache, sie können den Hamburgern oder Övelgönner-Neumühlenern ein Lotsgeld wegschnappen.»

Christian, der noch nicht lange genug im Kontor seines Vaters arbeitete, um das Vergnügen über ein Wagnis hinter der Maske der Rechtschaffenheit zu verbergen, lachte.

«Sie haben Unternehmungsgeist, ohne Zweifel, und der alte Paulung scheint die Elbe zu kennen wie ein hundertjähriger Lachs. Der versteht es, selbst die Verschiebung der Sände während des Winters ganz ohne Lot zu berechnen. Obwohl Monsieur Bocholt eher glaubt, der Lotse habe die neuen Peil- und Lotungslisten unseres Lotsinspektors geklaut. Oh, fast hätte ich es vergessen. Gerade wir dürfen nicht auf den Schiffer und seinen Lotsen schimpfen, er hat nämlich auch eine Lieferung für uns an Bord.»

«Für uns? Bist du sicher?» Eine ganze Reihe von Lieferungen befanden sich zurzeit in Schiffsbäuchen irgendwo zwischen Hamburg und Frankreich, Spanien, den nördlichen Ländern und vor allem England. Aber die Rose of Rye gehörte trotz des an die südenglische Grafschaft Sussex erinnernden Namens schottischen Kaufleuten, mit denen die Herrmanns’ noch nie Handel getrieben hatten.

«Ganz sicher. Der Bauch ist zwar halb voll Kohle und Wolle, aber sie haben auch alles mögliche andere geladen. Zum Beispiel eine kleine, aber kostbare Fracht für Madame Herrmanns. Ich soll dir ausrichten, Anne», er verbeugte sich amüsiert in Richtung seiner Stiefmutter, «du mögest umgehend Auftrag geben, dass jemand deine Bäume abholt. Einer sehe zwar nicht mehr sehr lebendig aus, aber die Wurzeln der anderen warteten dringend auf frische Erde.»

«Endlich», Anne klatschte freudig in die Hände, «sie hätten schon im November hier sein sollen, und ich habe befürchtet, sie seien während des Winters irgendwo unterwegs erfroren. Weißt du …»

«Bäume? Auf der Rose of Rye? Das kann doch nur ein Scherz sein, Christian.»

«Die meisten Leute im Hafen sind völlig deiner Ansicht, Vater, aber nein, es ist kein Scherz. Ich konnte mich nur schwer zurückhalten, sie gleich mitzubringen, aber sie waren zu unhandlich. Der kleinste misst sieben Fuß, mindestens. Außerdem stecken sie in dicken Ballen. Ohne den Kran bekommen wir sie kaum vom Schiff. Wir müssen wohl warten, bis die Rose bei den Vorsetzen beim Neuen Kran festmachen kann. Jetzt sind dort natürlich noch alle Liegeplätze besetzt, aber wenn die Elbe morgen wirklich frei ist und ein bisschen Wind aufkommt, wird der Hafen im Handumdrehen leer sein, und die Rose kann von ihrem Platz an den Duckdalben nachrücken, bevor der neue Ansturm die Elbe raufkommt.»

Christian war allerbester Laune. Wegen der skurrilen Fracht auf der Rose, das auch, aber vor allem, weil diese Tage am Ende des Winters, wenn die Schifffahrt nach der langen, von der Natur erzwungenen Ruhezeit endlich wieder in Bewegung kam, ihm die aufregendsten im Jahr waren. Beinahe als stünde er selbst vor einer langen Reise.

«Bäume! Mit dem Kran?» Claes, der nicht wusste, ob er lachen oder ärgerlich sein sollte, entschied sich für den Mittelweg: Er grinste breit, was allerdings nicht wirklich vergnügt aussah. «Willst du Böckmann Konkurrenz machen, Anne? Soviel ich weiß, ist er bisher der Einzige, der in der Stadt mit Bäumen handelt. Wenn auch nicht mit schottischen. Ich wusste gar nicht, dass dort überhaupt Bäume wachsen, die es zu importieren lohnt. Ich dachte, da oben gedeihen nur Krüppelbirken, Farne und Moose.»

«Du hast Binsen und Ginster vergessen, Vater.» Christian bemühte sich um ein ernsthaftes Gesicht. «Und das Heidekraut. Die schottischen Schafe fressen Berge von Heidekraut.»

«So ein Unsinn.» Aus Annes Nasenwurzel wuchs die allseits gefürchtete steile Falte. «Ich habe im letzten Jahr bei Booth in Falkirk vier Bäume bestellt, die hier niemand zieht. Zwei Scharlacheichen und zwei Hemlocktannen. Bäume aus den amerikanischen Kolonien, die Kälte und Nebel und überhaupt dieses scheußliche Wetter in Schottland und hier bei euch gewohnt sind. Sie werden prächtig wachsen.»

«Hem-was-Tannen? Davon habe ich noch nie gehört. Was ist so Besonderes daran? Wenn du Bäume willst, die bei uns wachsen, warum kaufst du die Bäume nicht auch wie alle anderen bei uns, nämlich bei Böckmann? Der hat seine Gärten am Gänsemarkt und an der Alster voller Setzlinge und junger Bäume. Was ist gegen eine hamburgische Eiche oder Buche zu sagen? Scharlacheichen. Wir sind hier nicht in Versailles oder London, wo es Mode ist, Geld zum Fenster hinauszuwerfen.»

Mit einem Ruck schob Anne ihren Stuhl zurück und stand senkrecht wie eine dieser stolzen Hemlocktannen, von denen Claes noch nie gehört hatte.

«Zum einen», sagte sie mit gefährlicher Ruhe, «ist es mein Geld, das hier zum Fenster hinausgeworfen wird. Du wirst in deinem Kontor keine Rechnung dafür finden. Zum anderen», sie faltete mit kurzen energischen Bewegungen ihr Mundtuch zusammen und ließ es mit Schwung auf den Tisch fallen, «zum anderen hast du keine Einwände gegen diese Bestellung gehabt, als ich dir im vergangenen Herbst davon erzählte. Ich habe sogar um deine Zustimmung gebeten und sie bekommen. Es scheint, dass du hin und wieder nur so tust, als hörtest du mir zu. Gewiss ist es besser und auch in deinem Sinn, wenn ich in Zukunft meine Entscheidungen allein treffe. So wie ich es früher gewohnt war.»

Plingplingpling. Wie hypnotisiert starrten die drei Herrmanns’ auf die Stutzuhr auf der Kommode zwischen den beiden vorderen Fenstern, deren zartes Glöckchen die volle Stunde in die gespannte Stille schlug.

«Du meine Güte», rief Claes, als das letzte Pling erklang, und sprang auf, «schon zehn. Ich sollte längst fort sein. Blohm», brüllte er, «meinen Reitmantel!», und eilte mit langen Schritten zur Tür. Er hatte die Klinke schon heruntergedrückt, als er sich daran erinnerte, dass eine Ehefrau, besonders eine (meistens) heißgeliebte Ehefrau, kein Kontorlehrling war, und drehte sich noch einmal um. «Ich war ein wenig, nun ja, zu heftig. Es tut mir Leid, Anne. Und die Rechnung», schon klang seine Stimme wieder ungehalten, «geht natürlich über das Kontor.»

Damit lief er die Treppe hinunter, Anne und Christian hörten seine Schritte in der Diele und im langen gefliesten Gang zu den Ställen im Hof verklingen.

Brooks, der Stallmeister und Kutscher, wartete schon und führte den friedlichen Fuchs, den sein Herr am liebsten ritt, wenn er in der Stadt unterwegs war, im Hof herum. Claes warf den weiten Mantel, den Blohm, der wegen des Lärms aus dem Salon verwirrte alte Diener, ihm in der Diele gereicht hatte, um die Schultern und schob den Fuß in den Steigbügel.

«Verdammt», murmelte er plötzlich, warf dem Stallmeister Mantel und Dreispitz zu und eilte mit langen Schritten zurück in das Haus und die Treppe hinauf. Anne stand noch genauso im Salon, wie er sie verlassen hatte. Nur ihre Augen brannten nun nicht mehr vor Zorn, sondern sahen müde und dunkel aus. Er verfluchte sein Temperament, das an der Börse, am Hafen und in den Handelskontoren so allgemein wie falsch als behäbig und unerschütterlich erlebt wurde, und schloss seine Frau in die Arme.

«Ich bin ein Idiot», murmelte er an ihrem Ohr. «Die Bäume werden wunderbar aussehen, ich meine, wachsen. Bestell, so viele du magst und wo immer du magst. Kannst du mir vergeben?»

Es dauerte ein wenig, bis es Annes Körper gelang, gegen allen Trotz weich zu werden und zumindest der Umarmung nachzugeben. Sie atmete die Wärme und den vertrauten Geruch seines Körpers, den Duft von Melisse aus dem Leinen seines Hemdes und schloss die Augen. Sie würde jetzt nicht weinen. Jetzt nicht.

«Natürlich», flüsterte sie, «natürlich vergebe ich dir. Wenn du mir vergibst. Ich sollte nicht so heftig sein, und das nächste Mal», sie hob das Kinn, damit er die kleine Träne, die nun doch ihre Wange hinunterkroch, wegküssen konnte, «das nächste Mal …»

Da küsste er schon ihren Mund, und das nächste Mal war egal. Jedenfalls für heute.

Christian hatte diskret den Salon verlassen, als sein Vater heraufgestürmt kam. Er löste sein Ohr von der anderen Seite der Tür und schlich zufrieden lächelnd die Treppe hinab. Er mochte und achtete seine Stiefmutter, es gab Momente, in denen er sie verehrte. Dennoch, dachte er jetzt, vielleicht war es nicht von Vorteil, eine Frau wie Anne zu heiraten. Eine, die klug war, um nicht zu sagen eigensinnig, und zudem über ihr eigenes Vermögen selbst verfügte, anstatt es, wie es üblich und ohne jeden Zweifel vernünftiger war, alles ihrem Ehemann zu übertragen. Auf jeden Fall war es von Vorteil, mit der Ehe möglichst lange zu warten. Dieses ewige Auf und Ab von Streit und Versöhnung war doch recht aufreibend.

 

Claes Herrmanns lenkte seinen Fuchs am Hafen entlang, und sosehr er diesen Weg liebte, heute nahm er kaum etwas von dem Gewusel auf den Straßen und an den Vorsetzen, dem Gedränge bei der Waage und beim Neuen Kran wahr. Auch wenn er es nicht wollte und für überflüssig hielt, konnte er seine Gedanken nicht von der Missstimmung in seinem Salon lösen. Anne hatte ja recht, dieser Winter war endlos. Die Sache mit den amerikanischen Bäumen allerdings! Nun gut, warum sollte er ihr die Freude nicht gönnen? Es war doch einerlei, wenn Böckmann ein paar Tage beleidigt tat. Warum war er nur so heftig geworden? Das lag gewiss an dem ewigen Stubenhocken. Und an der Warterei auf die Schiffe.

Er blickte zum Himmel, blinzelte in den grauen Dunst und entdeckte zufrieden den blassen hellen Fleck. Da war sie, die Sonne. Auch der dringend erwartete Wind würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Er blieb auf der Schaarsteinwegbrücke stehen und sah suchend über den Herrengraben, der sich wie eine offene, schwarz schwärende Wunde nach Norden erstreckte. Er hatte Lärm und eine kleine Armee von Arbeitern erwartet, doch es war still, und kein Einziger war zu sehen. Zwei Jahre hatte eine verschlossene Schleuse dafür gesorgt, dass der Herrengraben austrocknen konnte, und endlich, vor drei Wochen, konnten die Arbeiter des Bauhofes beginnen, die halb getrocknete, halb gefrorene, doppelt mannshohe Schlammschicht auszuheben und abzufahren. Am Ufer warteten nun riesige Haufen von Eichenstämmen (ganz gewiss keine aus Schottland), um für die schweren Bohlen der neuen Vorsetzen in die Erde gerammt zu werden. Umso unverständlicher, dass die Baustelle völlig verlassen lag.

Der Herrengraben, in alter Zeit, als die Neustadt noch außerhalb der Mauern lag, ein von der Alster gespeister Festungsgraben längs des alten Stadtwalles, mündete direkt im Niederhafen in die Elbe. Er war schon seit Jahren ein Ärgernis. Früher hatten nur die Bürgermeister und Ratsherren das Fischereirecht in dem breiten Fleet, inzwischen barg es nichts als Schlamm und trübe Brühe, in die nur die noch ihre Kescher tauchten, die zu lahm waren, weiterzulaufen, oder zu arm, um sich Fische zu kaufen. Die ewige Bewegung von Ebbe und Flut, die die anderen Fleete halbwegs sauber hielt, konnte in diesem im Schlamm ertrunkenen Areal nur wenig ausrichten. Der Herrengraben war zu einem im Sommer unerträglich stinkenden, mit Modder und Unrat gefüllten Pfuhl geworden. Die unbefestigten Ufer hatten sich immer weiter ausgedehnt, sodass das Fleet nun beinahe dreihundertfünfzig Fuß breit war. Immer wieder hatten die Bürger der Neustadt sich beim Rat über das stinkende Ärgernis beschwert, seit nahezu zwölf Jahren forderte die Commerzdeputation einen Ausbau des verschlammten Fleets zum schiffbaren, von Speichern gesäumten Kanal. Sieben Gutachten hatten Baumeister Sonnin und Professor Büsch seither erstellt, stets in Abstimmung mit der Kaufmannschaft. Nun endlich, nicht zuletzt durch ständigen Druck der Commerzdeputation, hatten Rat und Bürgerschaft beschlossen, den Herrengraben als Erweiterung des längst zu klein gewordenen Binnenhafens auszubauen. Ein gewaltiges Unternehmen, das mehrere Jahre in Anspruch nehmen würde.

Claes Herrmanns klopfte beruhigend den Hals seines Pferdes, das es gar nicht liebte, auf Brücken herumzustehen, und sah sich ratlos um. Er war sicher gewesen, Baumeister Sonnin hier zu treffen. Der hatte zwar nicht die Bauaufsicht über die Arbeiten bekommen, aber da seine und Professor Büschs Pläne dem Ausbau des Herrengraben zugrunde lagen, trieb er sich ständig hier herum, guckte dem Bauinspektor über die Schulter und gab unerbetene Ratschläge. Claes musste Sonnin unbedingt sprechen. Natürlich hätte er einen Boten oder einen der Kontorlehrlinge schicken können, aber auch wenn Anne klagte, das Wetter sei immer noch wie im tiefsten Winter, roch er doch den Frühling in der Luft und nutzte jede Gelegenheit, das Kontor zu verlassen. Es musste ja nicht gleich ein scharfer Galopp vor den Wällen sein, aber ein friedlicher Ritt durch die Stadt gab ihm doch das Gefühl, den Winterschlaf abzuschütteln.

Der Teufel wusste, warum die Arbeit heute ruhte, Sonnin würde es ihm gewiss erklären. Er schnalzte leise, und der Fuchs setzte sich in Bewegung, als habe er nur auf den vertrauten Klang gewartet. Wenn nicht hier, würde er Sonnin beim Neubau des Hanfmagazins finden.

Er ritt weiter durch die Neustadt. Die ganze Stadt summte heute vor Lebendigkeit. Die Straßen waren voller Menschen, und auch wenn die meisten noch in dicke Tücher und Jacken gehüllt waren, schien ihm, als bewegten sie sich freier, als beugten sie nicht mehr Schultern und Köpfe gegen die Kälte. Als sei die Sonne tatsächlich schon durch den Dunst gekrochen und wärme das Land, standen überall Fenster weit offen, baumelten Wäsche und Bettzeug träge auf den zwischen die vorkragenden Fachwerkgiebel gespannten Leinen, wurde überall geputzt und gescheuert. Er bog von der Mühlstraße in den Zeughausmarkt ein und konnte gerade noch dem trüben Inhalt eines Wassereimers ausweichen, der aus einer der Kellerwohnungen mit Schwung auf die Gasse geschüttet wurde.

Menschen, dachte er, waren in der Tiefe ihrer Seele doch noch tierhaft. Sie fühlten die Zeichen der Natur, bevor sie sie sehen konnten, krochen aus ihren Löchern wie die Igel, wenn irgendeine geheimnisvolle Kraft verhieß, dass das Leben nun weiterginge.

Er verließ die Stadt durch das Millerntor und lenkte den Fuchs nach rechts am Hornwerk vorbei zum Fluss. Über dem Steilufer blieb er stehen und sah zu den Inseln hinüber, die sich nun deutlich aus dem Grau hoben. Er glaubte sogar den Schemen des Harburger Schlosses weit jenseits der Süderelbe zu erkennen. Claes Herrmanns war in Geschäften viel und weit gereist, er hatte als junger Mann einige Jahre in London gelernt und gelebt, dennoch würde er stets sagen, er habe sein Leben an der Elbe verbracht. Auch wenn das nun schon beinahe fünfzig Jahre währte, wurde er dieses Blickes vom Hochufer über den Fluss und die weite flache Landschaft niemals müde.

Er ritt zum Ufer hinunter und passierte Roosens verlassene Tranbrennerei. Erst im Herbst, wenn die Walfänger mit ihrer wahrhaft fetten Beute kamen, wurden die Feuer unter den Kesseln wieder entzündet, sodass der penetrante Gestank des köchelnden Walspecks aufstieg. Die stinkende Brennerei hatte ihren Platz außerhalb der Stadt gefunden, so wie die Pulvermühlen und auch das neue Hanfmagazin mit ihren leichtentzündlichen Waren