Im schwarzen Wasser - Petra Oelker - E-Book

Im schwarzen Wasser E-Book

Petra Oelker

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Beschreibung

Endlich! Komödiantin Rosina ermittelt wieder im historischen Hamburg. Als Lehrling Jakob an einem Maimorgen 1774 die Gerberei an der Kleinen Alster betritt, liegt ein Leichnam in der ätzenden Lohebrühe. Mord!, stellt der Stadtphysikus fest. Der Tote war Erfinder mechanischer Geräte und fremd in der Stadt – wem konnte er im Weg gewesen sein? Dem Gerberlehrling? Oder unbekannten Auftraggebern? Weddemeister Wagner und Komödiantin Rosina konzentrieren ihre Ermittlungen schnell auf das Eimbecksche Haus, das Ratsweinkeller und Auktionshaus beherbergt – sowie die Totenkammer der Stadtleichenfrau, für die Entsorgung der Verstorbenen ebenso zuständig wie für die Bergung ausgesetzter Säuglinge. Die neugierige Leichenfrau pflegt diskrete Verbindungen in alle Kreise. Und ist kurz darauf spurlos verschwunden ...

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Petra Oelker

Im schwarzen Wasser

Ein historischer Kriminalroman

Über dieses Buch

Endlich! Komödiantin Rosina ermittelt wieder im historischen Hamburg.

 

Als Lehrling Jakob an einem Maimorgen 1774 die Gerberei an der Kleinen Alster betritt, liegt ein Leichnam in der ätzenden Lohebrühe. Mord!, stellt der Stadtphysikus fest. Der Tote war Erfinder mechanischer Geräte und fremd in der Stadt – wem konnte er im Weg gewesen sein? Dem Gerberlehrling? Oder unbekannten Auftraggebern?

Weddemeister Wagner und Komödiantin Rosina konzentrieren ihre Ermittlungen schnell auf das Eimbecksche Haus, das Ratsweinkeller und Auktionshaus beherbergt – sowie die Totenkammer der Stadtleichenfrau, für die Entsorgung der Verstorbenen ebenso zuständig wie für die Bergung ausgesetzter Säuglinge. Die neugierige Leichenfrau pflegt diskrete Verbindungen in alle Kreise. Und ist kurz darauf spurlos verschwunden ...

 

«Oelkers Detailfreude ist voller historischer Sympathie für den alten Hansegeist, den sie in allen Schichten der Stadt aufspürt.» Hamburger Abendblatt

 

«Petra Oelker kann’s einfach!» PM History

 

«Das macht den Charme all ihrer Bücher aus: Oelker gibt Einblicke in vergangene Zeiten, wirkt aber nie angestaubt.» Hamburger Morgenpost

Vita

Petra Oelker arbeitete als Journalistin und Autorin von Sachbüchern und Biographien. Mit «Tod am Zollhaus» schrieb sie den ersten ihrer erfolgreichen historischen Kriminalromane um die Komödiantin Rosina, zehn weitere folgten. Zu ihren in der Gegenwart angesiedelten Romanen gehören «Der Klosterwald», «Die kleine Madonna» und «Tod auf dem Jakobsweg». Zuletzt begeisterte sie mit «Das klare Sommerlicht des Nordens», «Emmas Reise» und dem in Konstantinopel angesiedelten Roman «Die Brücke zwischen den Welten».

So endet, wer das Böse will!

Und im Tode der Verkommenen

spiegelt immer sich ihr Leben.

 

Don Giovanni, W.A. Mozart und Lorenzo Da Ponte

Hamburg, 1765

(Detailansicht auf den Seiten 118/119)

Liste der wichtigsten Personen

HIPPOLYT MEUNIERjunger Mechaniker und Erfinder mit wagemutigen Plänen, hat wenig Glück

ROSINA VINSTEDTals Rosina Hardenstein Wanderkomödiantin, nun sesshaft (mehr oder weniger) und immer noch sehr neugierig und reiselustig

MAGNUS VINSTEDTBürger und ihr Ehemann, allzu oft in heikler Mission für den Rat unterwegs

ADAM WAGNERWeddemeister, nur scheinbar gemütlich und unsicher, ist gerade Vater geworden, braucht schon wieder neue Stiefel

GRABBE und KUNOWeddeknecht und sein gelbäugiger, sonst rabenschwarzer Hund mit exzellenter Nase

CLAES HERRMANNSGroßkaufmann, Hanseat mit Weitblick, genießt sein ziemlich sorgenfreies Leben und macht gern Sperenzien

ANNE HERRMANNSseine 2. Ehefrau, kutschiert ihr Cabriolet lieber selbst und ist keine arme Frau

AUGUSTA KJELLERUP und METTE van DORTINGzwei energische alte Damen der besseren Gesellschaft, haben Ideen und meistens Humor

JAKOB NEULANDERLehrjunge und nun Erbe der Gerberei Neulander, hat heimliche Leidenschaften

EVE und MAERTEN NEULANDERJakobs Eltern, sehr verschiedene Temperamente, wollen das Beste und die Wahrheit wissen

JOHANNE SÜDERLANDgenannt die Gardewinsch, als amtliche Stadtleichenfrau insbes. für unerwünschte Leichen und Findelkinder zuständig, kennt den Preis für Verschwiegenheit

ALINE und PALLE SÜDERLANDihre Kinder und ‹Arbeitsleute›, haben schlechte Erfahrungen und machen eigene Pläne

DR. DAVID PULLMANNneuer Ratschirurg und Stadtphysikus, trotzdem ein freundlicher Mensch, kennt sich auch mit dem Inneren von Leichen aus

Einige Mitglieder der Beckerschen Komödiantengesellschaft

JEAN BECKERPrinzipal, liebt Heldenrollen und seine Frau

HELENA BECKERseine Ehefrau, auf der Bühne und im Leben erste Heroine, vermisst ihre Freundin Rosina

TITUSauf der Bühne der Hanswurst, sonst treuer Ritter von trauriger Gestalt, hat seine Jonglierbälle wiedergefunden

MUTO GRIMMEsprachloser Akrobat mit heißem Herz und von unbekannter Herkunft

Prolog

IN EINER APRILNACHT ANNO 1774

 

Er blieb stehen, was auch deshalb von Vorteil war, weil sein Gang ein wenig schwankte. Eine kleine Atempause mochte helfen. Er blickte zum Himmel hinauf, der halbe Mond geizte hinter einem Schleier von Dunst mit seinem Licht, und lauschte. Nichts, doch keine Schritte, kein Rascheln im Gebüsch? Der Geselle dort oben war ein Gaukelspieler, machte mehr Schatten als Licht, dem Herzen und dem Geist mehr Unruhe als Gelassenheit. Dieses leichte Rauschen und Geraschel, der sanfte, kaum wahrnehmbare Hauch auf seinem Gesicht waren nur ein Gruß des Nachtwindes gewesen.

Der junge Monsieur Hippolyt Meunier war in froher, sogar leichtfertiger Stimmung. Als Mann der Vernunft und der Wissenschaften ermahnte er sich, umso wachsamer zu sein. Vielleicht war es der Vogel gewesen, der seit einigen Tagen immer wieder auf dem toten Ast der knorrigen Eiche bei der Werkstatt hockte und auf die ungelenken flugunfähigen Wesen hinuntersah. Es war ein hässlicher Vogel, Hippolyt hatte nie ein solches Exemplar gesehen, bis er die Werkstatt bei der Lohmühle bezog. Über alltägliche Arten wie Schwalben oder Sperlinge hinaus kannte er sich mit der gefiederten Welt nicht aus, er fand sie uninteressant. Dieses majestätische Tier in der Eiche hatte er jedoch bemerkt. Schon wegen der Größe und, das hatte der Lohmüller erklärt, weil solch ein Rotmilan zu den Jägern und Räubern zählte und die Menschen sonst mied. Hippolyt hatte mit höflichem Nicken zugestimmt, wie der Lohmüller es erwarten durfte, und sein Unbehagen nicht gezeigt.

Anderes Getier, das sich auf der Erde, in den Hecken und in den Bäumen um die Lohmüllerei und seinen Werkstattschuppen tummelte, ignorierte er. Diesen imposanten Vogel konnte er nicht mehr übersehen. Denn die starren Raubvogelaugen folgten ihm von der Höhe der absterbenden Baumkrone, sobald er aus seiner Werkstatt trat und über den Hof, zum Fahrweg oder zum Ufer hinunterging.

Es war unmöglich zu erkennen, wohin der Rotmilan starrte, ob er überhaupt irgendwohin starrte oder nur friedvoll döste, das sagte ihm sein Verstand. Trotzdem fühlte er sich beobachtet, wenn der Vogel auf seinem Auslug hockte, also musste es einen Zusammenhang geben. Das gebot die Logik, und dem logischen Denken fühlte Hippolyt Meunier sich verpflichtet. Logik und Vernunft, etwas anderes kam für einen Mann seines Metiers nicht in Frage. Das Spintisieren überließ er Poeten und alten Jungfern.

Womöglich holte ihn etwas ein, das vergangen und vergessen sein musste? Wenn es ihm nun wegen eines blöden Vogels mit scharfem Schnabel und beachtlichen Krallen doch einfiel? Dann musste er sich mit dem Vergessen mehr Mühe geben. Etwas endete, und Neues begann. Das war das Prinzip des Fortschritts, auch dem hatte er sich verpflichtet. Alles andere stand dahinter zurück, ganz besonders Privatangelegenheiten.

Er stolperte just in diesem Moment über irgendetwas, das sich wie ein klobiger Stein angefühlt hatte. «Der zweite Krug», murmelte er und fühlte ein unpassendes weibisches Kichern aufsteigen. Ja, der zweite Krug. Den hätte er besser nicht mehr geleert. Oder war es ein dritter gewesen? Dazu dieser bittere, für den Leib höchst bekömmliche Branntwein, den Mamsell Elske ihm dazugestellt hatte …

Aber was waren einige Krüge Bier und ein ordentlicher Schluck Branntwein für einen Mann nach getaner Arbeit an einem frischen Frühlingsabend in froher Runde? Im Eschenkrug auf dem Borgesch traf man arbeitsame ehrliche Leute, immer mit einem offenen Ohr für einen, der was zu erzählen hatte. Und das Mädchen. Sie war keinesfalls eine gewöhnliche Schankmagd, sondern von feiner Art. Und diese Augen – wie der Himmel über dem Meer.

Da stand er nun mitten in der Nacht am Rand der Vorstadt St. Georg, vor sich nur noch von Wassergräben durchzogene Bleichwiesen, und hielt die Nase in die Luft wie Hans im Glück – oder wie Bartel der Dummkopf, es kam ganz auf den Standpunkt an. Noch einmal lauschte er. Das Wasser am Alsterufer gluckste unter den Vorsetzen, eine Ente quakelte leise wie im Schlaf, zwei Hunde bellten ein gutes Stück weiter Frage und Antwort. Nun knarrte ein Fenster oder ein Gartentor – der Wind frischte auf, als habe er bisher den Atem angehalten. In dieser Nacht brachte er die Ausdünstungen von den Schweinekoben, der Abdeckerei und den Gassenkummergruben mit, von dort, wo in älterer Zeit der Galgen und das Rad gestanden hatten und die Leichen der Hingerichteten verscharrt worden waren.

Hippolyt zuckte die Achseln und stapfte weiter. Die Gerüche störten ihn nicht, sie kamen selten bis in die Gegend der Lohmühle, gewöhnlich wehte der Wind aus anderer Richtung. Es waren nur noch wenige Schritte, hundert vielleicht, er müsste sie mal zählen, morgen bei Tag. Nur genaue Maße und Zahlen gaben eine gute sichere Ordnung. Wieder blieb er stehen und horchte in die Nacht. Seine Füße waren schwer wie Blei, seine Knie weich wie Brotteig. Bilsenkraut, dachte er und schwankte gleich ein wenig stärker. Bilsenkraut und Stechapfel, die ließen es im Kopf rauschen wie ein Wasserfall im Hochgebirge. Wenn etwas davon in seinem Bier … Unsinn, wer sollte hier so etwas tun? Und warum?

Die Lohmühle ragte als schwarze Silhouette gegen den Himmel auf, die Konturen verschwammen im aufsteigenden Nebel. Sie war ihm schon heimatlich geworden, er hätte keinen besseren Platz für seine Werkstatt finden können als in ihrem Schutz.

Der Müller und seine Tochter ließen ihn auf freundliche Weise in Ruhe, obwohl er ein Fremder war. Vielleicht hielten sie ihn für einen seltsamen Vogel. So sagte man doch, wenn einer nicht wie alle anderen war? Auf ihn, Hippolyt Meunier, Mechaniker und Erfinder mit einer stolzen Zukunft, traf es zu. Eines Tages sollten alle von seiner Arbeit profitieren, von seiner Kunstfertigkeit, seinem Genie.

So dachte er in der Kühle der Nacht und spürte, wie er errötete, denn eigentlich war er ein bescheidener Mensch.

Just in diesem Moment reckte sich ihm ein trockener Ast in den Weg, er taumelte einige Schritte vorwärts, bis er sich wieder gefangen hatte – vielleicht beflügelte ihn der Weingeist – und doch noch fiel. Er fluchte und lachte, es war zu kurios, mitten in der Nacht, weit und breit kein Mensch, ein schon vertrauter Weg, und er fiel wie der Adler von der Schießscheibe! Sein Knie schmerzte höllisch, plötzlich hätte er gerne ein bisschen geweint, weil er sich doch wieder heimatlos und verlassen fühlte. Natürlich gehörte diese Einsamkeit für einen Mann wie ihn dazu, doch selbst ein Genie fühlte sich hin und wieder wie ein normaler Mensch mit den Sehnsüchten eines ganz normalen Menschen.

«Meunier?» Die Stimme des Lohmüllers klang gedämpft durch den steigenden Nebel. «Seid Ihr das, Meunier? Was macht Ihr da, um Himmels willen? Ich dachte, Ihr schlaft längst.»

Der Müller im bauschenden Nachtgewand war mit wenigen Schritten bei seinem jungen Nachbarn, den er in der Tat für einen seltsamen, allerdings harmlosen Vogel hielt. Er half ihm auf und führte ihn zur Werkstatt.

Das war der Trost, den jeder Mensch ab und zu brauchte. Beinahe hätte das Genie butterweich aufgeschluchzt. Zum Glück nur beinahe. Ob es einerseits am Schrecken über die nächtliche Störung lag, am Weingeist, an dem butterweichen Moment der Weinerlichkeit oder dem schmerzenden Knie andererseits – weder der Müller noch Hippolyt bemerkte, wie einfach sich die Tür zur Werkstatt öffnen ließ, weil das Schloss nicht ganz eingerastet war. Dem Lohmüller fiel es später ein, weil er aber nicht ganz und gar sicher war, behielt er es für sich.

Der alte Rotmilan hätte dazu einiges zu erzählen gehabt, aber kein Mensch versteht einen Milan. Im Übrigen hatte Hippolyt Meunier sich geirrt, der große Vogel interessierte sich nicht für Menschen. Er starrte nur in den Hof hinunter, weil er auf die leckeren jungen Wildkaninchen wartete, die dieser Tage geboren wurden und bald aus ihrem warmen Bau ins Licht huschten.

Kapitel 1

ANFANG MAI

 

Beim Erwachen spürte Jakob das Vibrieren von Glück. Gewiss nicht wegen des langen Tages an den Gruben und am Scherbaum, Grund waren die Traumbilder, die ihn in das Erwachen begleitet hatten. Er spürte noch die Berührung weichen, fast ebenholzschwarzen Haares, sah noch weiße Schultern, zärtlich lächelnde Lippen. Ganz nah.

Es war schon hell, als er aus diesem Hauch von Glückseligkeit erwachte, also hatte er zu lange geschlafen. Die Hitze in seinem Körper schwand schlagartig. Die Mainächte waren immer zu kurz. Hastig schlüpfte er in die Kleider und griff nach der Lederschürze. Noch war er Lehrling, noch musste er als Erster bei den Lohegruben in der Wasserwerkstatt sein.

Er sauste barfuß die Stiege hinunter, die klobigen Holzpantinen warteten unten in der Werkstatt. Aus der Küche klangen gedämpfte Stimmen, der getreidige Duft von köchelndem Brei ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Zwei Stunden noch. Dann gab es auch für den Lehrling, die beiden Gesellen und Knecht Mats die Morgenmahlzeit, auch für den Tagelöhner, der hin und wieder für die besonders schweren Verrichtungen gebraucht wurde. Wenn er, Jakob, einmal Herr über dieses Haus war, so schwor er sich, würde niemand mit leerem Magen an das Tagwerk geschickt.

Manchmal machte ihn der Duft aus der Küche zornig, dann fühlte er sich seltsam fremd in seiner Seele, und er stampfte noch wütender in die mit der Lohe aufgeschichteten Blößen, spürte die geröteten Schrunden an den Knöcheln noch bitterer als an anderen Tagen und schwor sich – nein, daran wollte er nun nicht denken. Er wollte einzig seine Arbeit tun, rasch, gut und zuverlässig, wie der Meister es erwartete.

Der Tag lag noch endlos lang vor ihm, dann folgte der nächste, wieder der nächste und immer so weiter. Eine endlose Reihe von immer gleichen Tagen. Doch irgendwann war es so weit, dann lief er durch eines der großen Stadttore hinaus, das Bündel mit dem Nötigsten auf dem Rücken, mit leichtem Sinn weit hinaus in die Welt. Da war der Himmel viel höher, und jeder Schritt verhieß Neues. Abenteuer, auch Gefahren, so war das Leben, und dort draußen, wo die Gedanken frei wurden wie das Atmen in der klaren frischen Luft, könnte er alles meistern. Daran glaubte er fest. Noch ein Jahr, ein ganzes langes Jahr, dann ging es endlich auch für ihn auf die Walz.

Neuerdings war die Sehnsucht nach der Ferne ein wenig geringer geworden. Womöglich wegen dieser anderen Sehnsucht, die hatte ihr Ziel ganz in der Nähe. Also wollte er jetzt wirklich nur an seine Pflichten denken und an den Abend, der später noch einen kurzen Spaziergang auf den Wällen erlaubte. Oder hinüber nach St. Jakobi, nah bei ihrer Wohnung.

Ihn fröstelte, als er die Wasserwerkstatt betrat, der Morgen war sehr kühl, und er hatte zu wenig Schlaf gefunden. Gestern hatte der für den riesigen Kupferkessel eingeheizte Ofen noch ein wenig Wärme gespendet, davon war nun nichts mehr zu spüren.

Der große Raum lag im Dämmerlicht, aber er fände sich selbst im Dunkeln zurecht. Die Werkstatt war sein eigentliches Zuhause. Was nicht hieß, dass er sie liebte, jedenfalls nicht alle Tage.

Wie an jedem Morgen nahm er den Korb und machte sich eilig auf die Suche. Er war daran gewöhnt, es bereitete ihm keine Übelkeit, wie dem jüngsten Sohn des Schusters beim Jakobikirchhof. Der hatte in diesem Frühjahr für einige Zeit in der Gerberei gearbeitet, ein Knirps mit wässrig blickenden Augen und einer Neigung zum beständigen Hüsteln. In der Wasserwerkstatt war so einer fehl am Platz. Helmrich hatte den Gestank nicht ausgehalten, die wahrhaftig üblen Gerüche, die zu einer Gerberei gehörten wie Mehlstaub zu einer Backstube. Meistens hatte er es gerade noch auf den Klopperbaum geschafft, um sich wenigstens in den Fluss anstatt in die Gruben zu erbrechen. Er war bald aus der Gerberei geflüchtet. Der Schuster, ein aufbrausender Mann, hatte sich für seinen weibischen Sohn geschämt, und der Junge war aus der Stadt verschwunden.

Es hieß, er sei nun in der Lehre bei einem Riemenmacher im Holsteinischen, ob das stimmte, wusste niemand genau. Jakob hatte nie ganz entschieden, ob er den blassen Jungen bewunderte, weil er seine Schwäche zeigte, oder ihn aus demselben Grund wie die anderen verachtete.

Er klaubte den nächsten Rattenkadaver auf und warf ihn in den Korb zu anderen und einer toten einäugigen Katze, die alle von den ausgelegten Giftködern gefressen hatten. Die Fleisch- und Fettreste von den großen Häuten, der Gestank nach Aas und Fäulnis, manchmal auch nach frischem Blut, wenn Häute aus dem Schlachthaus gegenüber an der Kleinen Alster oder vom Hafen gebracht wurden, lockte alle Tage Horden von Ratten und anderem Ungeziefer an, hungrige Katzen, ab und zu gelang es sogar einem der vielen streunenden Hunde, in die Werkstadt zu dringen. Allen bekam es schlecht. Jakob hatte Respekt vor dem Gift, man konnte nie wissen, welcher Art Dämpfe von vergifteten Tierleichen aufstiegen und den Menschen schadeten. Er hatte vor, recht alt zu werden, also griff er die Kadaver nur mit einer Äscherzange. Seit dem Beginn seiner Lehrzeit gehörte immerhin das Einsammeln von Hundekot für die Beize der Blößen nicht mehr zu seinen Pflichten. Das erledigten nun zwei Alte aus den Gängen für ein paar Münzen und ein gutes Frühstück. Sie waren dankbar für leichte Arbeit.

Als er das Tor zu den Klopperbäumen über der Alster fast erreicht hatte, trat er auf etwas Hartes. Eine scharfe Kante drückte sich in seinen nackten Fuß, er sprang mit einem Aufschrei zur Seite, gerade rechtzeitig, bevor das Metall die Haut durchschnitt. Er taumelte und wäre fast in die sechste Grube gestolpert, die große, in der das neue schnelle Gerbverfahren mit der Brühe probiert werden sollte, ein Experiment, das nicht schiefgehen durfte. Erschreckt wandte er sich dem Tor zu und schob mit zornigem Schwung den linken Flügel auf. Die Morgensonne glitzerte dunstig auf dem Wasser, ließ ihr schräg einfallendes Licht in den Fensterscheiben der gegenüberliegenden Häuser und des alten Klosters spiegeln und erhellte endlich die Werkstatt.

Jakob Neulander hatte keinen Blick für das friedliche Bild am Fluss. Er wusste, worauf er getreten war, auf eines der Werkzeuge, und das ärgerte ihn. Am Ende eines jeden Arbeitstages musste er kontrollieren, ob alle Gerätschaften an ihrem Platz lagen, standen oder auch hingen, besonders die teuren Scher- und Schabeisen und die Zangen. Das war dem Meister so wichtig wie die Arbeit an den Gerberbäumen; Jakob fand das ein bisschen lächerlich, der reinste Ordnungswahn, aber das Wort eines Meisters war in seinem Haus Gesetz. Da wurde nicht gefragt, sondern gehorcht. Wenn sich die Werkzeuge zu Arbeitsbeginn nicht ordentlich an ihren angestammten Plätzen befanden, setzte es Kopfnüsse. Jakob spürte die schmerzende Fußsohle und fand, vielleicht sei die Sache mit der Ordnung doch nicht so schlecht.

Hastig entleerte er den Korb mit den Kadavern in den Fluss, dann blickte er sich suchend im rasch heller werdenden Morgenlicht um. Er konnte nur auf eines der Schereisen getreten sein, obwohl am vergangenen Abend alle vollzählig und jedes an seinem Platz an der Seitenwand nahe dem Ofen gehangen hatten – dort, wo die Luft etwas trockener war und die Metalle weniger rosteten. Keines hatte gefehlt, wirklich keines. Aber wenn er wieder einmal an etwas anderes gedacht und zu flüchtig hingesehen hatte, vielleicht …

Er stutzte. Noch etwas war anders als sonst. Das Tor zur Wasserseite hatte sich zu einfach öffnen lassen. Das durfte nicht sein. Für die Nacht wurde es von innen mit einem Balken verschlossen, der klemmte an diesem Morgen nur in der Halterung für einen, den rechten, Flügel und war somit nutzlos. Nur wenn der Balken vor beiden Flügeln lag, war das ganze Tor vor Zudringlichkeiten von außen sicher versperrt.

Ein vernehmliches Knurren seines Magen erinnerte Jakob an die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. Er zuckte die Achseln. Niemand musste von dem Lapsus erfahren, es war ja nichts geschehen.

«Nur ein bisschen Unordnung», murmelte er und fand, das klinge gut. Da hatte mal ein anderer einen Fehler gemacht, einer der Gesellen. Am Ende des Arbeitstages musste das Tor geschlossen und der Balken vorgelegt werden, das gehörte nicht zu seinen, sondern zu Freders Pflichten. Gestern hatte der Meister die Werkstatt früher als gewöhnlich verlassen, im Amtshaus musste irgendeine wichtige Entscheidung getroffen werden, Jakob hatte sich nicht für den Grund interessiert, ohne den wachsamen Blick des Meisters im Nacken war Freder offenbar unachtsam gewesen. Das passierte leicht, wer wüsste das besser als Jakob.

Der Meister musste nicht davon wissen. Man wusste nie, was für eine Strafe er sich ausdachte. Und für wen. Nicht selten war es der Bote, so hieß es doch, der geköpft wurde.

Stimmen kamen näher. Die beiden Gesellen und der Meister? Er sah sich um. Als er zur Seite gesprungen war, musste sein Fuß dem Eisen unwillkürlich einen Schubs gegeben haben. Und da lag es tatsächlich direkt am Rand der Grube mit der frischen Lohebrühe. Er hatte Glück gehabt, verdammtes Glück. Wie hätte er es erklären sollen, wenn das Eisen in der Brühe verschwunden wäre, ausgerechnet das große mit den Eichenholzgriff? Und wie es wieder herausfischen? Diese Grube maß mindestens sechs Fuß in der Tiefe und in der Kantenlänge und war schon mit der frischen Brühe gefüllt. Selbst die längste Äscherzange wäre nicht lang genug, um den Grund zu erreichen.

Er bückte sich nach dem Eisen, und vor Schreck wäre er beinahe doch selbst in die ätzende Brühe gefallen. Noch füllten keine über Stangen eingehängten Blößen die Grube, diese für die eigentliche Gerbung bearbeiteten, also gründlich enthaarten und entfleischten Rinderhäute, gleichwohl war sie nicht leer. Was darin steckte, sah überhaupt nicht nach einer fürs Gerben vorbearbeiteten Haut aus. Überhaupt nicht wie eine Haut. Es sah aus wie ein vollständiger Mensch.

 

Das Pferd zog an, und die Kutsche rollte den Neuen Wandrahm hinunter, um zur Brücke über das Dovenfleet abzubiegen. Der Mann im tadellosen weinroten Rock auf einer der unteren Stufen der doppelten Freitreppe, die zum Portal seines Hauses mit der zwölf Fenster breiten Fassade hinaufführte, sah seiner Frau in ihrem leichten englischen Cabriolet immer noch lächelnd nach. Er spürte noch ihre Berührung auf seiner Wange, ihren Duft. Nun wartete er auf die vertraute Veränderung der Geräusche, den plötzlich hohlen Klang der Hufe und Räder auf den Bohlen der Brücke, unter denen nichts als Luft und Wasser war. Und Schlick, dachte er mit einem plötzlichen Frösteln im Rücken, es war ja längst ablaufendes Wasser. In den bald fünf Jahrzehnten seines Leben hatte er den ganz alltäglich stinkenden Schlick in den Fleeten nur beachtet, wenn in der Commerzdeputation über die Notwendigkeit und die Kosten des Ausbaggerns und Entkrautens debattiert wurde, wobei es jedoch meistens um die Alster und ihre Brückendurchfahrten oder die Anleger an den Ufern ging.

Seit er jedoch im vergangenen Jahr erfahren hatte, wie jämmerlich ein Mensch im Schlick enden konnte, kehrten die Gedanken immer wieder zurück. Die letzten Bilder waren erst aus den Berichten der Leute in seinem Kopf entstanden, doch da saßen sie fest und holten ihn bei den nichtigsten Gelegenheiten wieder ein.

Es war eine sehr finstere Nacht gewesen. Der Mann, der verzweifelt lallend versucht hatte, bei ihm Hilfe zu finden, hatte schon ein tödliches Gift im Körper gehabt. Selbst wenn er, Claes Herrmanns, sich nicht nur angeekelt von dem vermeintlichen Trunkenbold abgewandt hätte, war ihm nicht mehr zu helfen gewesen. Er war also nicht schuld an jenem Tod, dennoch quälte ihn das Bild des später ins Fleet stolpernden und hilflos sterbenden Menschen, Mund, Nase und Augen voller Modder, an die lauernden Ratten, an das Gewürm im von Kot und Unrat stinkenden Morast des Rödingsmarktfleets.

Er ertappte sich auch dabei, wie er diese schmalen Stege ohne Handlauf nun mied und einen Umweg in Kauf nahm, um eine mit einem Geländer versehene Querung oder eine stabile Brücke über die Fleete zu finden.

Wie lächerlich. Er war Claes Herrmanns, Großkaufmann, Mitglied der Hamburger Commerzdeputation und beinahe Senator, Herr eines so honorigen wie erfolgreichen Handelshauses, auch Anteilseigner an einem halben Dutzend Großsegler, und nun brauchte er ein Stück Holz in der Hand, um über einen wenige Fuß breiten Graben oder Wasserlauf zu gelangen? Das gehe vorbei, hatte Thomas Matthew gesagt, als er dem Freund in einer weichen Stunde anvertraute, wie ihn die Erinnerung immer noch bedrängte.

Inzwischen bemühte er sich ziemlich erfolgreich, nicht mehr daran zu denken, trotzdem fiel ihm manchmal ein, dass der Mann, wäre er tatsächlich nur betrunken gewesen, wahrscheinlich auch vom Steg ins Fleet gefallen und dort jämmerlich erstickt wäre. Weil er, der Mann auf der Straße, sich losgerissen und feige weitergeeilt war, anstatt ihm zu helfen.

Doch jetzt war es heller Morgen, er stand auf der Freitreppe seines Hauses, düstere Gedanken hatten da keinen Raum. Heute nicht. Die engen Straßen und Gassen füllten sich um diese Stunde rapide mit Menschen und Wagen, Fuhrwerken, Karren, allem, was Beine oder Räder hatte, als öffne eine geheimnisvolle Kraft jedwede Türen und Tore. Hier auf der Wandrahminsel nahe beim Hafen mit besonders vielen Speichern war es immer turbulent. Das geschah alle Tage, und er genoss es auch als den Klang eines reichen Lebens.

Nun hatte er lange genug müßig herumgestanden, es war höchste Zeit hineinzugehen. Christian war zweifellos schon im Kontor und blickte mit leiser Missbilligung auf die Zeiger der Standuhr. Sein ältester Sohn und Compagnon war pflichtbewusster, als er selbst es in seinen jungen Jahren gewesen war. Jedenfalls konnte er sich nicht erinnern, alle Tage vor seinem Vater im Kontor, in den Speichern oder am Hafen gewesen zu sein, und der war ein sehr viel strengerer Herr des Hauses gewesen, als er selbst es war oder je hatte sein wollen.

Er hörte sich leise lachen und war es zufrieden. Mochten die Passanten, die sich nun auf dem Wandrahm drängten, denken, was sie wollten. Es war ja tatsächlich kurios, an manchen Tagen, und heute war offensichtlich ein solcher, schien es ihm, als sei Christian mit seinen noch nicht dreißig Jahren der strenge Herr des Hauses und er, der Senior, der nach Müßiggang und Abenteuer, zumindest nach einem Besuch in Jensens Kaffeehaus und zu einer Partie Billard schielende Luftikus. Natürlich war das übertrieben, eine verkehrte Welt wie in einem der Stücke der Beckerschen Komödiantengesellschaft, trotzdem gefiel ihm die Vorstellung ungemein.

So erlaubte er sich vor der Pflicht noch einmal einen frohen Gedanken an seine Frau. Anne hatte heute wieder selbst die Zügel genommen, Benni saß neben ihr auf dem Bock. Zweifellos hielt sich der vom Pferdejungen zum zweiten Kutscher aufgestiegene junge Mann verstohlen an der Bank fest. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, dass eine Dame so etwas tat, dazu auf die beste Weise. Anne und die Pferde, das war kein Problem, sondern Freundschaft.

Sie würde den eleganten Fuchs ruhig und sicher durch das Gedränge lenken, über den Fischmarkt und weiter an der Fronerei und St. Petri vorbei zum Jungfernstieg, schließlich über den Gänsemarkt zum Dammtor und hinaus aus der von den Festungswällen eingeschlossenen Stadt, die sie oft als zu eng und zu bevölkert empfand. Empfinden musste – ihre Heimatinsel mitten im Ärmelkanal war eine Idylle gegen eine große Hafen- und Handelsstadt wie Hamburg.

So war es damals, nun schon vor beinahe einem Jahrzehnt, nicht nur ein Zeichen seiner Liebe und der Dankbarkeit für dieses unerwartete zweite Glück gewesen, sondern auch eine kluge Investition, den weitläufigen verwilderten Garten an der äußeren Alster zu kaufen. Anne hatte daraus Jahr um Jahr mehr ein Paradies im neuen Stil der englischen Gartenkunst erstehen lassen. Zur Missbilligung einerseits und heimlichen Bewunderung andererseits des alten Gärtners Kampe liebte sie diese Arbeit nicht nur theoretisch.

In seine Zufriedenheit mischte sich Demut. Er hatte sein schönes Leben nicht nur behalten, er konnte es auch spüren und genießen. Ohne schlechtes Gewissen. Das war das größte Geschenk. Da stand er nun in der Morgensonne, die erste Strahlen in die dicht und vielstöckig bebaute Straße sandte, und fühlte sich leicht.

Die Stadt lag noch im Morgendunst, kein Wölkchen war am Himmel, der Tag würde schön bleiben. Vielleicht hätte er mit Anne hinausfahren sollen. Nun warteten das Kontor und Christian, die Sache mit dem teuren, exklusiveren Rum von den Westindischen Inseln anstelle der bisherigen Rum-Lieferungen aus Boston musste entschieden werden. Nach den Unruhen in Boston gegen das britische Mutterland war plötzlich auch die Sache mit dem Rum zum Politikum geworden, was sehr lästig war. Auch in dieser Hinsicht zeigte Christian einen neuen Ernst und Hang zur Rigorosität.

Also stieg er endlich die breite Außentreppe hinauf. Ein Hüsteln ließ ihn nach oben blicken, das Licht blendete, und für einen Moment erkannte er – aber nein, natürlich war es nur der junge Blohm, der dort vor dem Portal stand, noch einmal hüstelte und dabei die Linke im makellosen weißen Handschuh zierlich angedeutet vor dem Mund hielt.

«Blohm», rief Herrmanns und klang ein bisschen zu munter und leutselig, «was gibt es?»

«Pardon, Monsieur Herrmanns, wenn ich störe, nichts läge mir ferner.» Wieder ein Hüsteln. «Der Abschied von der gnädigen Madam Herrmanns sollte nicht gestört werden, es war angebracht zu warten …»

«Nun ist sie ja schon eine ganze Weile außer Sicht. Was gibt es so eilig?» Claes Herrmanns spürte einen Anflug von Ungeduld, was nicht gerecht war. Der junge Blohm verstand seinen Dienst und gab sich überhaupt große Mühe, er musste nur lernen, was im Haus Herrmanns üblich und gewünscht war. Jedenfalls nicht zu viel Drechselei. Hier war nicht Versailles oder Potsdam.

«Ja, gewiss. Nun.» Blohm machte gerade Schultern, legte die Hände in den weißen Handschuhen ineinander und erklärte wie ein kleiner Herold: «Madam Kjellerup lässt in den Frühstückssalon bitten. Wenn es genehm sei und der Herr sich zu ihr gesellen wolle, bevor er zu seiner Pflicht ins Kontor eile, ja, ins Kontor. Oder an die Börse. Nun, zu seinen Pflichten.»

Der junge Diener errötete in diesem sehr hellen Morgenlicht, umso mehr als ihm zu spät eingefallen war, dass die Börsenzeit erst in einigen Stunden begann. Ein Pickel an seinem Kinn hatte ihm bei der Rasur Schwierigkeiten bereitet, ansonsten war seine Erscheinung makellos, wie es sich gehörte. Es gab jedoch dieses Maß von Makellosigkeit, das unangenehm berühren konnte. Aber Blohm lebte erst wenige Wochen in der Stadt und im Haus am Neuen Wandrahm, und – das vor allem – er war als ein Großneffe des alten Blohm willkommen.

Der war Jahrzehnt um Jahrzehnt an Claes Herrmanns’ Seite gewesen, schon seit dessen Kinderjahren. Er war damals als junger Mensch vom Land gekommen, um einen Dienst anzutreten, und hatte dem reichen Kaufmannssohn nebenbei auch das Schwimmen und das Reiten beigebracht, auch das wieder Aufstehen, wenn er vom Pferd gefallen war. Er hatte ihn überhaupt das wieder Aufstehen gelehrt und aus mancher Bredouille gerettet, ob aus echter Gefahr während ihrer Reisen auf den Straßen und jenen in den Sümpfen der Städte, sogar aus manchen Peinlichkeiten, in die ein unternehmungslustiger junger Mensch leicht gerät. Das hatte er erst verstanden, als er längst selbst der reiche Kaufmann war und aus Blohm der alte Blohm wurde.

Als er vor einigen Jahren starb, hatte es keinen Ersatz für ihn gegeben, weil der alte Blohm eben der alte Blohm gewesen war, bei aller Wortkargheit der vertrauteste Mensch in Claes Herrmanns’ Leben. Vielleicht sogar vertrauter, wenn auch auf andere Weise, als Maria, seine erste Frau, und als Anne in den späteren Jahren.

Nun war der junge Blohm aufgetaucht. Woher? Tatsächlich hatte Christian sich darum gekümmert, weil er fand, ein Herrmanns brauche einen verlässlichen Kammerdiener anstatt immer wieder wechselnde Lakaien, schon damit die Leute nicht auf die Idee kämen, er könne sich nach dem Skandal im vergangenen Jahr keinen achtbaren Diener mehr leisten oder – schlimmer noch – es finde sich keiner. Claes hielt das für einen absurden Einfall. Zum Herrmanns’schen Haus am Neuen Wandrahm zu gehören, egal ob im Kontor, im Speicher, in der Küche oder bei den Pferden, bedeutete Renommee, und niemand sprach mehr von den Ereignissen des vergangenen Herbstes. Christian pflegte neuerdings viel mehr als in der Vergangenheit den äußeren Schein. Wann hatte das begonnen? Und warum? Claes’ kluge Tante Augusta nahm an, es sei nur eine Marotte ihres lieben Großneffen, die vergehe, bevor es ungemütlich werde. Möge sie recht behalten! Dennoch – wohin war sein fröhlicher, hin und wieder durchaus zu Leichtsinn und Übermut neigender Sohn verschwunden?

Blohm trat eilfertig und mit einem dezenten Neigen des Kopfes zur Seite, als sein Dienstherr die oberste Stufe erreichte, und schob das schwere Portal für ihn auf.

Aber Herrmanns wandte sich noch einmal um, als er schnelle kurze Schritte hinter sich auf der Treppe hörte, und dachte beim Anblick eines so frühen Besuchers, dieser Morgen sei recht bewegt.

«Magister Barghusen», rief er dem Ankömmling entgegen, «was bringt Euch so früh am Tag auf die Wandrahminsel?»

Der Mann auf der Treppe lächelte breit wie ein Mann, der mit der Sonne aufsteht und doch keine Müdigkeit kennt. Er war von mittlerer Größe, sehr schlank und nur wenige Jahre älter als der junge Herrmanns. Sein Rock aus glattem schwarzem Tuch, seine Kniehosen, die Strümpfe, selbst der flache Hut auf seinem dunkelblonden, im Nacken zu einem Zopf gefassten Haar – alles an ihm wirkte ein wenig streng, was an seinem Beruf als Magister der Rechte und Untersekretär des Oberaltensekretärs des Heilig-Geist-Stifts liegen mochte, von dem nichts anderes erwartet wurde. Sein wacher Blick hingegen, die vom raschen Gehen in der Morgenkühle hübsch geröteten Wangen, die mit einem feinen Streifen von Spitze gesäumte Halsbinde, das Hemd aus feinem Leinen, nicht zuletzt die schmalen Silberschnallen seiner Schuhe ließen bei aller Seriosität einen unternehmenden Mann von Geschmack und nicht allzu beschränkten Mitteln erkennen.

«Guten Morgen, Monsieur», Barghusen erreichte mit zwei letzten großen Schritten den breiten Absatz vor dem Portal, «wenn Ihr erlaubt, mit Euch einzutreten? Ich werde in Eurem Kontor erwartet, es geht um den Posten eines zweiten Vorlesers im Heilig-Geist-Stift, Ihr wisst sicher davon. Euer Sohn ist so großzügig, mich in diesem Anliegen zu unterstützen. Die armen Alten, die meisten können nicht lesen oder haben schon zu schwache Augen, und die Bibel, der Katechismus, die Lieder – all das dürfen wir ihren Seelen nicht vorenthalten.»

Es blitzte in Barghusens Augen, was nur am Morgenlicht liegen konnte. Nicht im Traum war daran zu denken, ein Mann wie Barghusen lasse Amüsement aufblitzen, wenn es um arme Alte und die Heilige Schrift ging.

 

Kuno ließ niemanden passieren. Es kostete ihn keine Anstrengung – seine schläfrig wirkenden gelben Augen täuschten nicht über seine kraftvolle Statur hinweg, über die schon angespannten Muskeln und das prächtige Gebiss. Kuno konnte enorm unwirsch werden, er war eben ein echter Zerberus. Wenn er sich dazu herabließ, sein Gegenüber anzuknurren, einerlei ob lumpiger Taschendieb oder gepuderter Ratsherr, grollte es so tief aus seiner mächtigen Brust, dass jedermann den Rückzug antrat.

Weddemeister Wagner kannte den Hund seines Weddeknechts, seit das Tier ein putziger Welpe gewesen war, der mit Vorliebe seine spitzen Zähnchen an neuen Stiefeln erprobte. Für gewöhnlich begrüßte er den Vorgesetzten seines Herrn mit gelassener, um nicht zu sagen gelangweilter Freundlichkeit. Manchmal aber auch nicht. Was dabei in Kunos mächtigem Schädel vorging, blieb für Wagner ein Rätsel. Weddeknecht Grabbe hatte schon oft versichert, sein Hund sei weder vergesslich noch treulos, er erkenne jeden wieder, dem er einmal begegnet war. Es zeige nur den Eifer eines braven Wächters, der sich alle Tage mit streunenden Katzen und Hunden, Ratten und wirklich bösen Menschen herumschlagen müsse. Das war dem Weddemeister egal. Ein Hund hatte zu gehorchen, erst recht wenn er sozusagen im Dienst der Stadt stand.

«Nun mach Platz», befahl Wagner zum dritten Mal. «Lass mich durch, verdammt.»

Kuno machte schmale Augen, ließ seine Zunge, ein langer sabbernder roter Lappen, aus dem Maul hängen und schnaufte. Wagner schnaufte auch, was bei ihm an der Tagesordnung war. Beider Schnaufen klang auf gewisse Weise verwandt, und Wagner musste den absurden Gedanken verscheuchen, der Hund mache sich über ihn lustig.

Er versuchte es mit Schmeicheln. «Braver Hund», säuselte er und wurde zugleich zornrot. Nun war nicht die Stunde für Geduld. «Braver Hund, Kuno, ja, es ist deine Pflicht. Aber jetzt hau ab. Verschwinde. Beweg dich zur Seite und lass mich da rein. Sofort.»

Er könnte Kuno wegschieben, sicher, das könnte er. Versuchen. Eigentlich war Grabbes Hund ein gutmütiges Tier. Nur manchmal reizbar, leider wusste man nie genau, bei welchem Anlass. Vielleicht machte ihn der Gestank nach faulendem Fleisch aus der Gerberei blutdurstig, das wäre nicht verwunderlich, letztlich zählten Hunde immer noch zu den Raubtieren. Zu den Wölfen. Kuno war nicht mit Madam Matthews faulen Möpsen zu vergleichen, er war groß und schwer wie ein Kalb, immer wachsam. Und diese Zähne …

Wagner hätte gerne sein blaues Tuch aus der Tasche gezogen und über Stirn und Nacken gewischt, aber er hatte die alberne Idee, das sei ein Zeichen seiner Niederlage. Vor einem Hund. Nun ja, vor einem sehr großen Hund. Mit einem sehr großen Maul. Und gelben Augen.

Eine Runde von Gaffern hatte sich um den Weddemeister und seinen Widersacher vor der Tordurchfahrt zum Hof der Gerberei Neulander versammelt, auch die Fenster in den gegenüberliegenden Häusern waren schon gut besetzt. Wagner wunderte sich immer wieder aufs Neue, wie viel Zeit die Leute in dieser Stadt zum Gaffen erübrigten. Die Geschichte würde schnell durch die Gassen laufen: Grabbes schwarzer Köter hatte Weddemeister Wagner nicht zu einer grauenvoll zugerichteten Leiche gelassen. Zwar hatte keiner der Nachbarn die Leiche gesehen, aber ein grauenvoller Anblick – das verstand sich von selbst. Alles andere wäre einfach zu langweilig. Es war schlau von Grabbe gewesen, sein Untier als Wächter vor dem Tor zu lassen. Sie brauchten keine Zuschauer am Ort eines Verbrechens. Oder eines Unfalls, das war noch ungewiss. Tot war zunächst tot, alles andere zeigte sich nach gründlicher Prüfung.

Er wusste nicht einmal, wer nach ihm geschickt hatte. Einer dieser Gassenjungen, die an den Ecken herumlungerten anstatt zu arbeiten oder die Schulbank zu drücken, hatte in aller Frühe an seine Wohnungstür gehämmert und etwas von einem Toten in der Gerberei an der Kleinen Alster gebrüllt, der Weddemeister möge schnell nach dem Voglerswall bei der Kleinen Alster kommen, in der Gerberei sei Entsetzliches geschehen.

Der Junge hatte sich erheblich gröber ausgedrückt, aber Wagner übte sich seit geraumer Zeit darin, die Grobheiten der Sprache zu vermeiden, sogar durch mehr Feinheit zu ersetzen, wie er sie bei den Vinstedts, den Herrmanns, ja, er war mit der vornehmen Kaufmannsfamilie recht gut bekannt!, und Madam Augusta hörte. Er war jetzt Vater einer wunderbaren Tochter, Marikje sollte lernen, zu sprechen wie die guten Bürger, damit sie in deren Kreisen respektiert wurde. Der Junge hatte nicht nur grob gesprochen, sondern auch sehr, wirklich sehr laut. So wusste gleich die ganze Nachbarschaft Bescheid, und die Nachricht flog leicht und rasch wie ein Blatt im Aufwind durch die Stadt.

Bisher war das gespannte Publikum in Wagners Rücken mucksmäuschenstill gewesen, allmählich regte sich Ungeduld.

«Fass, Kuno! Mach schon», rief eine derbe Männerstimme, ein paar Lacher folgten. Wagner fand es unter seiner Würde, eine solche Unverschämtheit zu beachten, Kuno schnaufte nur, in dieser Hinsicht war er offensichtlich mit dem Weddemeister einig.

«Der Säbel», rief ein anderer, «wozu hat der denn den Säbel? Attacke, Weddemeister! Ziehen, stechen, ruckzuck tot.»

Die Lacher klangen schon vergnügter. Wagners Hand fuhr zum Griff seiner Waffe, er hätte die blitzende Klinge gerne gezogen und gezeigt, wozu sie da war, nämlich nicht um den Wachhund, sondern um nichtsnutzige Tagediebe zu kitzeln. Leider zählte das leichte Hantieren mit Degen und Säbel nicht zu seinen Stärken, seine Beine waren recht kurz, sein Bauchumfang zu ausladend, seine Stiefel ausgetreten – keine guten Voraussetzungen für den raschen Tanz mit der blankgezogenen Waffe, von Eleganz gar nicht erst zu reden. Außerdem widersprach es der Vernunft, dem Pöbel zu folgen.

Ein leiser Pfiff ertönte in seinem Rücken, gleichzeitig lag plötzlich ein Hauch von Zitronenmelisse in der Luft. Kuno legte den Kopf schief, und falls ein Hund lächeln kann, wie es Liebhaber dieser Spezies behaupten, lächelte Kuno. Schleckte sich einmal links und einmal rechts das Maul und erhob sich mit der Andeutung eines Schwanzwedelns. Das Mädchen, das so zart zu pfeifen verstand und den Kräuterduft mitbrachte, ging ganz nah an Wagner vorbei, ihre Kleider streiften ihn. Sie legte ihre Hände um Kunos Kopf, der schloss genüsslich die gelben Hundeaugen und lauschte auf ihre geflüsterte Zärtlichkeit.

Endlich wandte sie sich Wagner zu. «Guten Morgen, Weddemeister.» Ihre Stimme klang dunkler, als ihre zarte Erscheinung vermuten ließ, aber auch diese nur vermeintliche Zartheit täuschte, ihre Hände verrieten grobe Arbeit. Ihr Haar war so schwarz wie Ebenholz, ihre Haut ganz hell, ihr Gang, ihre Bewegungen hatten etwas Tänzerisches. «Wie schön, dass Ihr auf mich gewartet habt. Ihr und der kleine Kuno.» In ihrem Blick lag etwas Schmelzendes, doch selbst Wagner, der den Listen der Frauen leicht unterlag und sie selten als Mittel zum Zweck erkannte, sah den Spott darin, hörte ihr keckes kleines Auflachen und unterdrückte ein Schnaufen. Dann, endlich, zog er sein großes blaues Tuch hervor und wischte sich wenigstens über den Nacken. Er war Aline, der Tochter der Stadtleichenfrau, oft genug begegnet, um weder ihren Blicken noch dem zuweilen sanftmütigen Klang ihrer Stimme zu trauen. Doch jetzt blieb ihm nur, ihr nachzueilen, als sie mit leichtem Schritt an Kuno vorbeilief und in der Hofdurchfahrt verschwand.

Die Neugierigen auf der Straße blieben murrend zurück, denn Kuno lächelte nicht mehr. Den ganzen Tag wurden sich die Anwohner des Voglerswall nicht einig, ob der schwarze Zerberus dem strengen Blick des Mädchens oder dem gezischten Befehl des Weddemeisters gehorcht hatte, als er sich erneut in die Durchfahrt legte, seine Zähne zeigte und bedrohlich knurrte, sobald einer versuchte, an ihm vorbei in den Gerber-Hof und zum Ort des Geschehens zu gelangen.

Die Durchfahrt zur Wasserwerkstatt der Gerberei wurde am äußeren Ende von einem großen zweiflügeligen Tor verschlossen. Die darin eingepasste, gerade mannshohe schmale Pforte stand weit offen. Daneben wartete ein Karren, für den das große Tor geöffnet werden müsste. Wagner kannte das zweiräderige Gefährt. Es sah klapperig aus, tatsächlich konnte es schwere Lasten befördern und tauchte immer auf, wenn ein Mensch auf unnatürliche Weise gestorben war und sein Leichnam auf den Transport in die Totenkammer im Eimbeckschen Haus wartete. Falls man es so ausdrücken konnte. Wagner tat das gerne, weil es klang, als sei noch ein wenig Leben in dem Toten. Er war Soldat gewesen und seit mehr als einem Jahrzehnt Weddemeister in dieser großen Stadt, aber trotz allen Bemühens ließen ihn der Tod und besonders der Anblick gewaltsam Gestorbener niemals gleichmütig.

Der Karren ärgerte ihn. Er gehörte der Stadtleichenfrau, der in dieser Stadt sogenannten Gardewinsch, und zeigte, dass die wieder einmal vor ihm am Ort eines Verbrechens oder – womöglich – tödlichen Unfalls war. Er verstand nicht, wie sie das schaffte. Karla hatte erklärt, sicher habe die Witwe Gardewinsch ein Netz von Zuträgern, wie es auch die Diebe für gute Gelegenheiten hatten, und zahle für Nachrichten in barer Münze. Davon werde in der Stadt geredet. Auch solle sie einigen für ihre Dienste versprochen haben, dereinst ihre Leichname vor dem Zergliedern und Zurschaustellung im Anatomischen Theater zu bewahren und dafür zu sorgen, dass sie unversehrt in einem christlichen Grab die ewige Ruhe finden.

So mochte es sein. Wenn man die Gardewinsch und ihr Gewerbe kannte, gab es daran wenig zu zweifeln, was die Sache nicht besser machte. In jedem Fall musste der Weddemeister ein solches Geschehen und seine Umstände zuerst begutachten. Es sei denn, seine Hoch- und Wohlweisheit der Herr Weddesenator van Witten persönlich machte sich auf den Weg in die schmutzigen Niederungen gemeiner Verbrechen, was jedoch niemals geschehen war, so lange Wagner sein Amt versah.

Allerdings war es vorgekommen, dass ihm die Gardewinsch samt dem Leichnam auf ebendiesem Karren entgegenkam, wenn er erst zum Fundort der Leiche unterwegs war. Das stand gegen jede Ordnung und störte sie doch nicht. Zuerst der Weddemeister und sein Knecht, das war die Vorschrift und gute Regel, bevor allerlei Volks etwas wegnahm oder hinzufügte, die Leiche hin und her schob, womöglich deren Taschen leerte – halbwegs gut erhaltenes Schuhwerk verschwand stets besonders schnell – und überhaupt für jede Form von Durcheinander und Unordnung sorgte. Zu diesen Unruhestiftern gehörte auch die Stadtleichenfrau mit ihrem Hilfsgefolge.

Ihre Anwesenheit hatte nur einen Vorteil – sobald sie und ihre Knechte bei einer Leiche eintrafen, verschwand nichts mehr, niemand gab besser auf die Habseligkeiten acht als sie. Denn nach der Vorschrift standen ihr alle Kleider einer aufgefundenen Leiche zu, sofern es keine Angehörigen gab, die darauf Anspruch erheben konnten oder erhoben. In einer großen Hafen- und Handelsstadt gab es viele Fremde, namenlos, wenn sie erst einmal tot in der Gosse oder im Fleet lagen. Viele blieben namenlos, was für die Gardewinsch in Sachen Kleider von großem Vorteil war, umso mehr, da nicht alle arme Schlucker waren, als sie noch auf Gottes schöner Erde herumspazierten; etliche waren in Geschäften in die Stadt gekommen und in guten Kleidern aus dem Leben gebracht worden. Ob durch göttliche oder satanische Fügung, sie hatte nie an der Existenz beider Mächte gezweifelt, oder durch menschliche Hand – für die Stadtleichenfrau war beides gleich. Tot war tot.

Diesmal hatte Weddemeister Wagner doppelten Grund zu schnaufen. In der Neulanderschen Wasserwerkstatt, wo in der vergangenen Nacht einen Mann sein Ende ereilt hatte, herrschte alles andere als pietätvolle Stille. Da wuselten Menschen herum wie auf dem Fischmarkt, als legten sie es darauf an, ihm die Arbeit zu erschweren, und der durchdringende Gestank stieg Wagner noch übler in die Nase als fauliger Fisch.

Sein Blick glitt rasch durch die große und schon recht helle Werkstatt. Er registrierte den Boden aus gebrannten Hartsteinen, Mauerwerk und Fenster, die ordentlich aufgereihten Gerber-Werkzeuge, die Scherböcke und verschiedenen Zuber, endlich die Gruben und das weit geöffnete Tor zu den Klopperbäumen, den breiten, auf Holzpfählen in den Fluss gebauten Stegen. Die Bilder blieben in Wagners Kopf, solange sie seiner Arbeit nützlich waren. Selbst an Details, die er nun kaum oder nicht bewusst wahrnahm, würde er sich erinnern. Trotzdem tastete er nach dem Heft und dem Bleistift, die er stets in seiner Rocktasche mit sich trug. Wagner, sein Stift und die gekritzelten Notizen gehörten unabdingbar zusammen.

Just als er entschied, es sei Zeit, sich auf seine Autorität zu besinnen und für Ordnung zu sorgen, kam ihm der Hausherr zuvor und rief mit energischer Stimme: «Macht Platz, Leute.»

Wenn dem auch niemand gleich folgte, verharrten plötzlich alle wie in einer Scharade dort, wo sie gerade waren. Etwa ein Dutzend Männer und Frauen drängte sich in der Mitte der Wasserwerkstatt. Wagner erkannte Mitglieder der Familie Neulander, den Meister und die Meisterin, auch die beiden jungen Töchter, die wegen der Empfindsamkeit ihrer Seelen doch von einem solchen Ereignis ferngehalten werden müssten, zwei Mägde, eine alte und eine junge, den Altgesellen, zwei jüngere Männer. Der kleinere war im Lehrlingsalter und ähnelte auf Jungenart den beiden Mädchen. Wagner erinnerte sich, dass es zwei Neulander-Söhne gegeben hatte und der ältere vor einiger Zeit gestorben war. Während die Mädchen nicht im mindesten erschreckt oder gar ergriffen aussahen, vielmehr neugierig und gut unterhalten, stand der Junge mit bleichem Gesicht und dunkel geweiteten Augen einen Schritt abseits im Lichtschatten. Neben ihm, jedenfalls näher als die anderen, wartete die Tochter der Stadtleichenfrau.

Die hockte inmitten des Geschehens, eine hagere Person mit spitzem Kinn und kräftigen Armen. Unter den gerafften Röcken aus derbem Tuch steckten ihre Füße in Galoschen, die jedem Schmutz und Straßenkot, selbst dem Morast an den Ufern der Fleete und der Hasenmoore widerstanden. Die Gardewinsch wurde selten in saubere Salons oder gepflegte Gärten gerufen. Die wie das Brusttuch erstaunlich weiße Haube war straff genug gebunden, um keine Strähne ihres Haars sehen zu lassen, die Bluse aus beinahe so rauem Stoff wie ihre Röcke wurde von einem breiten ledernen Gürtel gefasst, an dem allerlei Utensilien befestigt waren. In der Stadt wurde geflüstert, darunter seien auch Knöchelchen, vorzüglich von tot gefundenen Kindern und von Katzen mit verschiedenfarbigen Augen. Das war natürlich dummes Geschwätz.

«Hörst du nicht?», raunzte sie den Jungen neben sich an, er war schon ein Mann, was sie gern vergaß, und schubste ihn mit dem Ellbogen zur Seite. «Mach Platz, Palle. Der Weddemeister ist endlich da.»

Er stolperte zur Seite und landete in einer Pfütze, sein hastiger Versuch, sich zu fangen und aufzuspringen, machte das Ganze nur schlimmer. Er fiel auf den Rücken, Hosen und Joppe waren im Handumdrehen mit dem Gebräu aus der Lohegrube getränkt, denn aus nichts anderem bestand die Pfütze. Alle starrten, einem entfuhr ein kurzes meckerndes Auflachen, niemand half dem Sohn und Knecht der Gardewinsch.

Nur Marei, die ältere der Neulanderschen Mägde, brummte etwas. Als Palle sich aufgerappelt hatte, zog sie ihn zu den Klopperbäumen, half ihm rasch aus den Kleidern und hängte sie auf Stangen in den Fluss, füllte den Ledereimer und übergoss den Jungen mit Wasser. Der ließ es mit vor Scham geballten Fäusten und doch dankbar über sich ergehen.

Niemand sah mehr zu, alle starrten wieder auf die Gardewinsch und die leblose Gestalt vor ihr auf dem Werkstattboden, während sie sich behände erhob, um selbst Platz zu machen.

Weddemeister Wagner hatte sich dazu erzogen, unterwegs zum Ort eines Verbrechens keine Bilder in seinem Kopf zu erlauben, wenn von Toten die Rede war. Vernunft lag seiner Natur sehr viel näher als Phantasien, doch im Krieg und als Weddemeister hatte er zu viele schrecklich zugerichtete Tote und Verletzte gesehen, als dass er es ganz und gar vergessen könnte. Für sein Seelenheil mussten die Bilder jener Erinnerungen, Zeugnisse dessen, was Menschen anderen Menschen antun können, verborgen bleiben. Sein Amt erforderte einen kühlen Kopf. Irgendwann war ihm eingefallen, dass sich womöglich jene alten Bilder mit den neuen in seinem Kopf unbemerkt vermischen, was seine Untersuchungen verfälschen musste. Das durfte er nicht zulassen. Schlimm genug, wenn er sich beim Anblick der Opfer neuer Untaten unweigerlich doch noch erinnern musste.

Im Übrigen kam es vor, dass ein Toter gar nicht tot, sondern im besseren Fall nur ohne Besinnung, im schlimmeren nur sehr schwer verletzt war. Der Mann, der nun in einer Pfütze auf dem Boden der Neulanderschen Wasserwerkstadt lag, könnte so einer sein. Wagner sah kein Blut, keine zerschlagenen Knochen, nur einen noch jungen, völlig durchnässten Mann von mittlerer Größe und durchschnittlicher Statur, das braune Haar recht lang, Kniehosen, das weiße Leinenhemd verrutscht. «Keine Joppe oder Rock, keine Schuhe.» Die letzten Worte hatte Wagner, ohne es zu bemerken, halblaut ausgesprochen.

«Die sind drin geblieben», hörte er die harsche Stimme Meister Neulanders.

Wagner nickte, ohne aufzusehen. Selbst ein so friedliches Gewässer wie die Kleine Alster nahm häufig Kleidungsstücke und fast immer die Schuhe Ertrunkener mit seinem Fließen fort.

Wagner blickte zum Wassertor hinüber. Palle stand fröstelnd auf dem Steg, nur notdürftig mit der Schürze bekleidet, die Marei ihm überlassen hatte. Sie zog seine Kleider aus dem Fluss und wrang sie aus, es war ein seltsames Bild, der Junge mit dem schiefen Bein, die erbarmungslose Morgensonne zeigte die Narben überdeutlich, die Magd mit ihrem grimmigen Gesicht und Palles nasse Spur von der Wasserwerkstatt zum Steg. Nur die eine Spur war zu sehen, und endlich verstand Wagner.

«Die Grube», sagte er, an Neulander gewandt. «Ihr habt den Mann gar nicht aus dem Fluss gezogen, sondern in einer Eurer Gruben gefunden?»

Ein Murmeln ging durch die kleine Menge wie ein Aufflattern, als hätten alle mit angehaltenem Atem darauf gewartet, die Amtsperson, die hier an normalen Tagen weder willkommen war noch etwas zu suchen hatte, erledige rasch die nötigen amtlichen Feststellungen und das Leben gehe weiter.

«Damit Ihr es gleich versteht, Weddemeister», Neulanders Stimme klang noch harscher als zuvor, «damit Ihr es versteht: Hier weiß keiner, wie der Kerl da reingefallen ist. Wir kennen den auch nicht, nie gesehen! Also lasst die Gardewinsch ihre Arbeit tun und die Leiche ins Eimbecksche Haus karren, damit wir dann unsere Arbeit tun können. Hier gibt es keine Faulenzer und Maulaffenfeilhalter.»

So leicht war Wagner nicht zu beeindrucken, er war es gewöhnt, unterschätzt zu werden. Es kränkte ihn nur noch an schwachen Tagen, er wusste längst um die Vorteile, für ein bisschen dumm gehalten zu werden, wenn man tatsächlich vielleicht ein wenig langsam, aber ziemlich schlau war.

«Reingefallen, aha. Da seid Ihr sicher? Ihr habt ihn in dieser Grube gefunden?» Wagner musterte streng die sechs oder sieben Fuß breite Gerbergrube im Boden der Wasserwerkstatt.

Während der Meister seine unmutige Tirade wiederholte, hockte Wagner sich endlich neben den Toten, über die heftigen Worte des Meisters konnte er später nachdenken. Und Fragen stellen. Niemand hier kenne den Kerl, versicherte der Meister noch nachdrücklicher, wirklich niemand. Überhaupt sei der nur ein Dieb, ein übler Spitzbube, was sonst habe er hier wohl vorgehabt mitten in der Nacht? Und dann falle er in die Grube? Wenn das keine gerechte Strafe sei, geradezu ein Gottesurteil …

Wagner ließ ihn reden. Er berührte das bleiche Gesicht, die rechte Hand, versuchte, die Finger zu bewegen, und unterdrückte ein Schaudern.

«Tot», erklärte die Gardewinsch, die jede Regung des Weddemeisters aufmerksam verfolgte, «war nichts zu machen. Mancher hat Pech auf Erden.» Sie warf einen frommen Blick himmelwärts, den ihr niemand glaubte, am wenigsten sie sich selbst. «Wir hätten sonst geholfen, als gute Christen, ja, das hätten wir.»

Es war nicht nötig zu erwähnen, wie besonders gern sie die beachtliche Prämie eingestrichen hätte, die es seit einigen Jahren für die Rettung Ertrinkender gab, wobei strittig sein mochte, ob ein so ungewöhnlicher Fall wie das Ertrinken in einer Gerbergrube überhaupt zählte.

Wagner nickte abwägend, schon aus Prinzip fand er, hier stimme etwas nicht. Da lag einer in einer Wasserlache, war eindeutig tot und sah dabei so friedlich aus, als sei er ein Geist. Wie konnte sich einer hierher verirren, mitten in der Nacht in eine Gerberei, wo er niemanden kannte? Sofern das tatsächlich stimmte. So mancher Hausherr wähnte sich allwissend und hatte doch keine Ahnung, was in seinem Haus vor sich ging. Das war ein alter Hut.

Der Mann musste sehr betrunken gewesen sein, wirklich stockbesoffen. Andererseits – so gelangte man vielleicht stolpernd in ein Fleet und erstickte im Morast, aber kaum unbemerkt in eine verschlossene Wasserwerkstatt. Mit einem Boot über den Fluss, falls das Wassertor geöffnet war …

Was gab es hier überhaupt zu stehlen, das so ein Risiko wert war? Werkzeuge? Die Häute? Letztere konnte kein Mann alleine tragen, ungegerbt waren sie ohnedies kaum verkäuflich, also nichts wert. Die zu Leder gegerbten Blößen trockneten fern der Wasserwerkstatt auf langen Gestellen ganz oben auf dem gut durchlüfteten hohen Dachboden.

Fragen, dachte Wagner, viele Fragen. Eine nach der anderen. Er stemmte sich aus der Hocke wieder in die Senkrechte.

«Wieso füllt Ihr eine der Gruben mit Wasser?», wandte er sich wieder an den Meister. «Wo ist da die Lohe? In der gemahlenen Rinde könnte keiner ertrinken.»

«Die neue Zeit», erklärte der Gerbermeister mit Emphase, «die neue Zeit bringt neue Methoden, alles muss schneller gehen, alles muss besser werden. Wir probieren was Neues aus, ein Experiment, vom Gerber-Amt, vom Amtsmeister und dem Patron erlaubt, nichts geht ohne das Amt und den Amtsmeister. Nur so hat alles seine Ordnung. Das ist keine Alchemie und sündiger Zauberkram, bloß neue Handwerkskunst. Einer muss was wagen, sonst geht es nicht voran, und die Engländer …»

Ein nachdrücklicher Seufzer der Meisterin begleitete die letzten Sätze. Sie stand einen Schritt hinter ihrem Ehemann, blass und die Hände vor der Brust gefaltet. In ihrem Blick lag keine Neugier, aber Unrast. Wagner erinnerte sich, wie tief es Meister Neulander vor einigen Jahre gekränkt hatte, als er nicht zum Ersten seines Amtes gewählt worden war, Hallergren war Amtsmeister geworden. Es hatte geheißen, dafür müsse es einen Grund gegeben haben. Womöglich sei es auch von einigem Vorteil gewesen, dass die Meisterin Hallergren mit dem schwedischen Gesandten und der Gattin des Zweiten Bürgermeisters verwandt sei, weitläufig, aber immerhin. Da zeige sich wieder, wie ein guter Familienzusammenhalt das Gemeinwesen schütze und fördere, denn wenn man einander kenne und verbunden sei, wisse man am besten, wer der Fähigste für einen Posten sei, und nur darum gehe es in dieser guten Stadt. Es hatte auch andere Stimmen gegeben, jedoch nur wenige, und die hatten gleich ein Einsehen gehabt. Jedenfalls hatte man bald nichts mehr davon gehört.

Wagner hatte auch damals zu viel anderes zu tun gehabt, um sich mit fruchtlosen Querelen im Gerberamt zu befassen, die ihn ohnehin nur zu interessieren hatten, wenn es dabei zu Mord und anderen Verbrechen kam. Das war nicht geschehen, nun konnte es allerdings nicht schaden, sich ganz nebenbei danach zu erkundigen. Die Meisterin Neulander, das fiel ihm immerhin ein, war damals wochenlang nicht aus dem Haus gegangen. Wegen eines Fiebers, hatte es geheißen, wegen der Beleidigung ihres Mannes, war geflüstert worden.

Während Neulanders große lederne Gerberschürze zeigte, dass sein als schwer und schmutzig bekannter Arbeitstag schon begonnen hatte, als er die Nachricht vom Toten in seiner Werkstatt bekam, trug seine Frau ein zart geblümtes Hauskleid aus feinem Kattun, das zu einer frühen Stunde passte, aber weniger in die Küche eines Gerberhaushaltes als in ein Frühstückszimmer am Neuen Wandrahm oder einem der reichen Sommerhäuser in den Gärten außerhalb der Stadt. Noch eine Frage, notierte sich Wagner in Gedanken, auch die Kleider des jungen Toten ließen keinen Krösus, aber auch keinen Bettler vermuten.

«Das ist nämlich nicht nur Wasser, Weddemeister», fuhr der Gerber wieder ruhiger fort, vielleicht hatte der Seufzer seiner Frau für ihn eine besondere Bedeutung, wer kannte sich schon mit anderer Leute Eheleben aus? «Beileibe nicht. Das ist Lohebrühe, Weddemeister, ein neues Verfahren aus England. Die sind da drüben immer einen großen Schritt mit allem weiter, was die Gewerbe an Neuerungen dringend brauchen, ja, das sind sie. Da ist eben nicht so eine Kleinstaaterei, da gibt es London und die Industrie und die Kohle und die Maschinen …»

Nun fand Wagner es genug. Er hob gebietend die Hand, zum allgemeinen Erstaunen schwieg Neulander sofort.

«Sicher habt Ihr recht, Meister Neulander, aber jetzt geht es nicht um Maschinen und ausländische Konkurrenz. Eins nach dem anderen. Ihr wollt damit sagen, der Mann ist in – was ertrunken?»

«Lohebrühe. Ich weiß nicht, wie die wirkt, wenn da ein ganzer Körper mit Haaren und Kleidern, ja, und Schuhen drinsteckt. Die werden auf dem Grund der Grube liegen, in der teuren Brühe, die verstopfen jetzt den Abfluss. Wer ersetzt mir das, wenn die jetzt unbrauchbar ist? Der Mann ist tot, und Tote sind knauserig. Ja, das ist eine Brühe, Weddemeister, ein Extractus aus der Lohe, wenn Ihr so wollt, viel intensiver, stärker, damit können wir die Häute um einen erheblichen Faktor schneller und gründlicher gerben. Einen erheblichen Faktor. Wäre nicht dieser dumme Mensch …»

Er schwieg abrupt. Vielleicht war ihm eingefallen, der Verlust eines Lebens, zumal eines so jungen, habe vor allem anderen Vorrang. Meister Neulander war tatsächlich von jener ruppigen Natur, die man Gerbern ebenso wie den Zuckerbäckergesellen und den Abdeckern nachsagte, aber er war auch ein Christ und, nun ja, jedenfalls kein Unmensch.

Wagner war jetzt doch ein wenig übel geworden, wenn auch nicht so sehr wie beim Anblick einer blutigen Leiche, die schon von Ratten angenagt war. Nun verstand er die besondere milchige Glasigkeit der halb geöffneten Augen, er verstand auch, warum die Magd dem armen Palle gleich die Kleider vom Körper gezogen hatte: Sie hatte gewusst, dass er nicht in eine einfache Wasserpfütze gestolpert war, sondern in eine ganz andere, womöglich ätzende Flüssigkeit. Wagner verstand nun auch den Geruch, der sich nahe an dieser Grube bittersauer in den üblichen Gerbereigestank nach faulem Fleisch, Kot, Urin und Moder mischte. Hier war einer bei lebendigem Leib gegerbt worden, von außen und, falls er noch gelebt und von dieser Brühe geschluckt hatte, also darin ertrunken war, auch von innen. Es schien unmöglich, ohne fremde Hilfe aus der Grube zu klettern, wenn ihre Wände so glattwandig waren wie der obere Rand. Hilfe war erst gekommen, als es zu spät war.

«Wer?», fragte Wagner und schluckte den üblen Geschmack hinunter. Plötzlich gab es nicht nur viele, sondern viel zu viele offene Fragen, um sich den Luxus eines Anfalls von Übelkeit zu erlauben. Wenn dieser Mensch nicht vom Fluss angetrieben worden war, was schon genug Fragen bedeutet hätte, wenn er in der verschlossenen Werkstatt auf diese dubiose Weise ums Leben gekommen oder gebracht worden war – oder war hier nur sein Leichnam versteckt worden? Dann sah die Sache noch komplizierter aus.

Wagner fühlte sich plötzlich nicht mehr mulmig, sondern auf diese leichte, etwas verschämte Weise beflügelt. Der Jäger war erwacht. Eigentlich liebte er keine Rätsel, er misstraute ihnen, fühlte sich schnell gefoppt oder listig hinters Licht geführt. Noch weniger mochte er jedoch langweilige, allzu eindeutige Fälle.

«Ja, Meister Neulander», er zog sein Tuch aus der Tasche seiner Joppe und rieb über den Nacken, obwohl er jetzt gar nicht schwitzte, «ja, eins nach dem anderen. Viele Fragen, mit Verlaub, Ihr werdet das verstehen und womöglich selbst welche haben. Zuerst …»

«Weddemeister», die Stimme der Stadtleichenfrau mischte sich ein, «der Leichnam ist kalt, der spürt nichts mehr. Muss der noch länger so rumliegen? Das ist ganz gegen die Pietät, tja, und gegen die Christlichkeit. Und sicher ist der auch ein Christenmensch und unterwegs in die ewige Seligkeit oder was er sich sonst verdient hat, bei Einbrechern kann man’s nicht wissen, auch in feinen Kleidern. Andererseits, ja. Dann andererseits eben.»

«In seinen Taschen ist nichts», kam Weddeknecht Grabbe Wagners Frage zuvor, «hab ich gleich untersucht, sicher ist sicher. Hat ja eigentlich gar keine. War’n aber schon zu viele Leute hier. Die sagen, den hat keiner angerührt, nur der von der Gardewinsch, der hat ihn rausgezogen. Da war nicht mal ’n Schnupftuch, wo er doch so ’n feines Hemd anhat, nicht mehr neu, würd ich sagen, aber fein is’ fein.»

Die Gardewinsch, die in Sachen alte und neue Kleidung eine echte Expertin war, stimmte dem mit entschiedenem Nicken zu. «Auch kein Schlüssel oder ’ne Börse», schloss Grabbe seine Erläuterung.

Wagner schnaufte, ohne es selbst zu bemerken, wie es seine Art war, und bemühte sich, schnell zu überlegen.