Die zerbrochene Uhr - Petra Oelker - E-Book

Die zerbrochene Uhr E-Book

Petra Oelker

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Beschreibung

Hamburg im heiteren August 1768: Niklas, Sohn des Großkaufmanns Claes Herrmanns und Schüler der ehrwürdigen Gelehrtenschule Johanneum, findet in der Pause einen Toten. Es ist Adam Donner, Lehrer der Sekunda und bei Schülern wie Kollegen gleichermaßen unbeliebt. Doch wer hasste ihn genug, um ihn zu töten? Niklas' Freund Simon, den Donner besonders gern demütigte? Lehrer Bucher, von dem er zu viel wusste? Oder etwa Pierre Godard, Hugenotte und Uhrmachermeister? Immerhin war eines seiner Werkzeuge die Tatwaffe. Viele Verdächtige in Schule und Kaffeehaus, am Hafen, in den Salons und gar im Damenstift – und ein neuer Fall für die Komödiantin Rosina, Großkaufmann Claes Herrmanns und Weddemeister Wagner.

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Seitenzahl: 563

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Petra Oelker

Die zerbrochene Uhr

Ein historischer Kriminalroman

Über dieses Buch

Hamburg im heiteren August 1768: Niklas, Sohn des Großkaufmanns Claes Herrmanns und Schüler der ehrwürdigen Gelehrtenschule Johanneum, findet in der Pause einen Toten. Es ist Adam Donner, Lehrer der Sekunda und bei Schülern wie Kollegen gleichermaßen unbeliebt. Doch wer haßte ihn genug, um ihn zu töten? Niklas' Freund Simon, den Donner besonders gern demütigte? Lehrer Bucher, von dem er zu viel wußte? Oder etwa Pierre Godard, Hugenotte und Uhrmachermeister? Immerhin war eines seiner Werkzeuge die Tatwaffe. Viele Verdächtige in Schule und Kaffeehaus, am Hafen, in den Salons und gar im Damenstift – und ein neuer Fall für die Komödiantin Rosina, Großkaufmann Claes Herrmanns und Weddemeister Wagner.

Vita

Petra Oelker arbeitete als freie Journalistin und Autorin von Sach- und Jugendbüchern, bevor sie begann, Kriminalromane zu schreiben. «Tod am Zollhaus», der erste Roman um die Komödiantin Rosina, war der Auftakt zu einer beispiellos erfolgreichen Serie, die im Hamburg des 18. Jahrhunderts spielt.

 

Weitere Veröffentlichungen:

(in der Reihe um die Komödiantin Rosina)

Tod am Zollhaus

Der Sommer des Kometen

Lorettas letzter Vorhang

Die ungehorsame Tochter

Die englische Episode

Der Tote im Eiskeller

Mit dem Teufel im Bunde

Die Schwestern vom Roten Haus

 

(in der Reihe um die Äbtissin Felicitas Stern)

Der Klosterwald

Die kleine Madonna

 

sowie

Die Neuberin

Tod auf dem Jakobsweg

FÜR MARTINA

Die Zeit ist aus den Fugen.

William Shakespeare (1564–1616)

Hamlet, 1. Akt, 5. Szene

 

Die Furcht des Herrn soll der Weissheit Anfang sein.

Derselben hat sich ein jeglicher Schüler zu befleissigen.

Aus dem Hamburger Schulgesetz von 1732

England, im Februar 1749

Ein Nachmittag im Februar

Der Mann in der komfortablen Kutsche drückte sich tiefer in seine Pelze und blinzelte grimmig aus dem Fenster. Er lauschte auf das Knarren der Kutsche und war sicher, daß der Weg, dessen tiefe, noch vor wenigen Tagen schlammige Kuhlen nun hart gefroren waren und das Gefährt schüttelten wie ein kleines Boot in der Brandung, die Räder brechen lassen würde.

Das Land lag düster, frostiger Wind fegte über die weite Heide. Alles, was hier lebte, verkroch sich tief im Gestrüpp. Die Hasen drückten sich in ihre Sassen, Feldmäuse, Kaninchen und die einzige Kreuzotternfamilie dieser unwirtlichen Region dösten in den tiefsten Ecken ihrer Löcher und Höhlen und träumten gegen den Winterhunger vom Frühling. Ein wenig weiter südlich, dort, wo magerer Wald dem Wind trotzte, schlief auch ein Dachs zusammengerollt in seinem Bau. Bald würde er erwachen und zur nächtlichen Jagd hinaus in die Heide schleichen. Die war vom Frost so grau wie der Himmel, und nur der Schrei einer Möwe, die sich in ihrer maßlosen Neugier vom Meer hierher verirrt hatte, durchschnitt die Stille über den Hügeln, übertönte gar das Poltern der vierspännigen Kutsche auf dem gefrorenen Weg.

Schon beim Erwachen an diesem Morgen hatte der Mann gewußt, daß ihn kein guter Tag erwartete. Es war noch dunkel gewesen und das Feuer im Kamin seines Schlafzimmers nur mehr ein letzter Klumpen erlöschende Glut. Der Diener kam, ihn zu rasieren, etliche Minuten zu spät, und das Wasser, das er mitbrachte, war nicht ein wenig mehr als handwarm, wie er es liebte, sondern kalt, als komme es frisch aus dem Brunnen. Der Luftzug in den Fluren des Hauses sei heute so eisig, murmelte der Diener, aber das nützte ihm nichts. Als er endlich mit neuem Wasser zurückkam, hatte er die Schale auf eine mit glühenden Kohlenstücken gefüllte messingne Bettpfanne gestellt, und es war viel zu heiß. Tage, die so begannen, konnten nicht gut enden.

Wahrscheinlich, dachte der Reisende in der Kutsche, würde er heute nacht in dieser verdammten Einöde erfrieren. Und alles nur, weil ein exzentrischer alter Mann, der abgesehen von ein bißchen Gicht und Zahnweh bei bester Gesundheit war, plötzlich zu sterben glaubte und seinem Advokaten ein nicht minder exzentrisches Testament übergeben wollte. Was hieß hier überhaupt alter Mann? Er selbst war nur um fünf Jahre jünger und fühlte sich mit seinen Vierundfünfzig bei Gott noch nicht alt.

Dieses verdammte Testament. So war es eben, wenn ein reicher Mann nicht, wie es sich gehörte, beizeiten eine vernünftige, gesunde Ehefrau wählte. Der Mensch braucht Erben von eigenem Blut. Alles andere ist nicht in Gottes Sinn und bringt Verdruß, wenn nicht gar Schlimmeres. Sein Klient hatte sich dieser Pflicht entzogen. Und nun? Nun hatte er sein Testament gemacht, aber was für ein Testament!

Nur einen Menschen, so hatte er gesagt, habe er in seinem ganzen Leben für würdig befunden, sein Erbe anzutreten. Einen Freund aus alter Zeit, ein Uhrmacher, fromm und gottesfürchtig wie er selbst (und wahrscheinlich ebenso geizig, hatte der Advokat in Gedanken hinzugefügt), eine treue Seele und der einzige, der nie versucht hatte, ihn zu übervorteilen oder von seinem wachsenden Reichtum zu profitieren. Der einzige! hatte er noch einmal betont, was der Advokat gelassen ignorierte. Er hatte längst gelernt, daß Reichtum nicht unbedingt zu Zufriedenheit, aber immer zu wucherndem Mißtrauen führt.

Da war also dieser Freund gewesen, der einzige in der armen Welt des reichen Mannes. Leider war der schon lange tot, und leider hatte er auch nur zwei Töchter gezeugt. Weibliche Wesen, also keine, denen man Besitz anvertrauen konnte. Deshalb sollte deren erstgeborener Sohn, egal, ob die jüngere oder die ältere zuerst Mutter wurde, der Erbe sein. Was etliche Probleme aufwarf. Noch waren diese Töchter nicht einmal verheiratet. Würden sie überhaupt Söhne gebären? Und wann? Immerhin war bekannt, wo die Mädchen jetzt lebten, in Anbetracht dieser seltsamen Umstände schon ein Glück. Da sein Klient ihm streng verboten hatte, den Inhalt des Testaments schon vor der Geburt seines zukünftigen Erben bekanntzugeben, würde ihm also nichts anderes übrigbleiben, als den Lebensweg der beiden Mädchen zu verfolgen, die, gerade achtzehn und zwanzig Jahre alt, mit ihrer Mutter in einer nur wenige Meilen entfernten Stadt lebten. Die Witwe und die Töchter des treuen alten Freundes verdienten ihren Unterhalt brav, aber mühsam als Näherinnen. Sie waren im heiratsfähigen Alter, wenn er Glück hatte, beeilten sie sich mit der Ehe und dem Mutterwerden. Und waren hoffentlich so klug, Männer zu wählen, die über genug Verstand zur Verwaltung eines solch riesigen Erbes verfügten. Zumindest genug Verstand zur Wahl der richtigen Berater.

Seinen Vorschlag, den Damen, so nannte er sie nun auch bei sich, schon jetzt eine Rente auszusetzen, damit sie ohne Not leben konnten, damit sie auch einen passenden Ehemann fanden, anstatt sich an irgendeinen Schuster oder Prediger zu vergeuden, hatte der Alte entschieden zurückgewiesen. Solcherart unverdiente Geschenke machten nur bequem, hatte er geknurrt, der Besitz müsse für den Sohn beisammengehalten werden. Punktum. Die Möglichkeit, daß keines der Mädchen einem Sohn, sondern nur Töchtern das Leben schenken könnte, schloß er aus.

Trotzdem war es dem Advokaten gelungen, eine Regelung für den Fall einzufügen, daß der zuerst erbberechtigte Sohn starb. Nur die Tatsache, daß der ganze Besitz sonst dem König oder der Kirche zufallen werde, hatte den Advokaten in diesem äußerst hart geführten Disput siegen lassen. Endlich hatte sein Klient sein Siegel unter die Urkunde gesetzt, wiederum Punktum gesagt und ihn entlassen, ohne ihm auch nur eine stärkende Mahlzeit anzubieten oder heiße Steine für den Fußsack mitgeben zu lassen.

Der Advokat rieb seine eiskalten Beine gegeneinander und seufzte. Zu ärgerlich, daß seine beiden Söhne schon verheiratet waren. Es hätte natürlich Skandal gemacht, wenn sie, oder auch nur einer von ihnen, eine Näherin geheiratet hätten, aber der Vorteil, die beiden jungen Damen zu seiner Familie zu zählen, wäre eine grandiose Entschädigung für den Verlust der einen oder anderen Einladung in die guten Häuser der Stadt gewesen. Auf alle Fälle wollte er seine Frau und seine Schwiegertöchter dazu anhalten, künftig zumindest ihre Weißwäsche bei ihnen nähen zu lassen. Schließlich würde eines der Mädchen irgendwann, womöglich schon bald, einen vertrauenswürdigen Advokaten brauchen.

Gerade als er begann, darüber nachzudenken, welchen Betrag er für die heimliche Verfolgung des Lebensweges der künftigen Mutter des künftigen Erben in Rechnung stellen sollte, machte die Kutsche einen Satz. Sie schwankte schwer, und er hörte dieses gräßliche Geräusch, das er schon seit einer Stunde erwartete. Zuerst ein Knarzen, dann brach Holz mit trockenem Knall, die Kutsche rutschte noch einige Fuß weit an der neben dem Fahrweg aufsteigenden Böschung entlang und blieb schließlich tief zur Seite gelehnt liegen.

Der Advokat stöhnte. Nicht, weil er sich verletzt hatte, die Pferde waren nur im Schritt gegangen, und seine Pelze hatten den Aufprall gut abgefedert, sondern weil er diese Nacht nun nicht in seinem bequemen Bett in der sicheren Stadt verbringen würde, sondern auf einem verlausten Strohsack, umgeben von Gesindel, in einer der kalten Bauernkaten, die sich hinter dem nächsten Hügel duckten. Er hatte es gewußt: Kaltes Wasser am Morgen und ein so exzentrischer letzter Wille mußten ein schlechtes Omen sein.

Hamburg, im August 1768

1. Kapitel

Donnerstag, den 4. Augustus, Vormittags

Die kleine Lerche hatte schon alle Kirchtürme umrundet, war in etliche Höfe eingetaucht, einer Steinschleuder, einem einäugigen schwarzen Kater und dem Netz eines Vogelfängers entkommen, als sie endlich einen stillen Hof mit einer einladenden Linde entdeckte und sich erschöpft auf einem sanft schaukelnden Ast niederließ. Der Baum stand an einem seltsamen Ort. Der von länglichen Gebäuden aus uralten Steinen gänzlich umschlossene Innenhof lag verlassen, die großen Fenster wirkten wie dunkle Spiegel. Von irgendwoher kam ein monotones Gemurmel, aber niemand war zu sehen, kein Mensch, nicht einmal ein Hund oder ein Huhn, kein Hammer lärmte, keine Säge kreischte – keine Gefahr weit und breit.

Natürlich war sie dennoch nicht allein. In einer großen Stadt war immer jemand in der Nähe, und hier, hinter den Mauern um den stillen Hof, waren es mehr als zweihundert Schüler. In einem der Räume saß ein Junge an seinem Pult nahe dem Fenster und blickte nicht, wie es sich gehörte, nach vorne zum Lehrer, sondern hinaus in den Innenhof. Das Fenster war nur einen Spaltbreit geöffnet, aber er hatte die Landung des zierlichen Vogels beobachtet und den Gesang gehört. Auch wenn er nicht davon träumte, zu fliegen – die ganz großen Abenteuer waren nicht seine Sache –, so wünschte er sich in diesem Moment doch nichts sehnlicher, als frei zu sein wie ein Vogel an einem Sommertag und in den warmen Morgen hinauszulaufen. Niklas Herrmanns an seinem Pult im Zimmer der Tertia lernte gern, aber die Schule liebte er nicht.

«… nach dem hebräischen Wörtlein ‹Sabbat›. Dieses bedeutet eigentlich ‹feiern›, das heißt Muße von der Arbeit haben, daher pflegen wir zu sagen ‹Feierabend machen› oder ‹heiligen Abend geben›. Nun hat Gott im Alten Testament den siebten Tag …»

Die Stimme des Jungen, der neben der ersten Bank stand und aus dem Katechismus deklamierte, klang fromm und bedeutungsvoll. Niklas glaubte sogar einen gewissen missionarischen Eifer herauszuhören, was ihn nicht wunderte. Luthers Erläuterungen zum dritten Gebot sagten, warum der Feiertag zu heiligen sei, vor allem aber, daß damit nicht Faulenzen oder gar im Wirtshaus liegen und toll und voll sein wie Säue, sondern Beten und auch Arbeiten gemeint sei. Zudem wurde darin mehrmals vor dem Teufel gewarnt, und Finkmeester, so hieß der Schüler von der ersten Bank, liebte es nun einmal, anderen einen Spaß zu verderben, notfalls auch mit dem drohenden Hinweis auf den allgegenwärtigen Antichrist.

Er wäre ein hübscher Junge gewesen, wenn er sich nicht stets bemüht hätte, seinen wasserblauen Augen einen herablassenden strengen Blick aufzuzwingen, seine noch kindlich weichen Lippen wie in unablässiger Mißbilligung aufeinanderzupressen, kurz gesagt: auszusehen wie Lehrer Donner von der Sekunda. Der war ein äußerst strenger Mensch, den niemand je bei einer Geste der echten Herzlichkeit und des Frohsinns ertappt hatte. Gewiß hielt er solcherart menschliche Regungen für sündige Leichtfertigkeiten. Wohl verzog er seine Lippen hin und wieder zu einem Lächeln, aber das ließ an die Fröste im Februar denken, einige fanden sogar, an eine Natter. Finkmeester jedenfalls war der einzige Schüler der Tertia, der sich nicht auf seine Versetzung freute, weil er damit dem Abschluß der Schule und der Entlassung in die Freiheit ein Jahr näherrückte, sondern weil er dann endlich seinem Idol, Monsieur Donner, so nahe wie möglich war.

Niklas Herrmanns gab sich keine große Mühe, Finkmeester zuzuhören. Er hatte seinen morgendlichen Vortrag schon absolviert und konnte sich erlauben, mit den Gedanken auszureißen. Lehrer Bucher hatte ihn heute gleich als zweiten aufgerufen, nach Böttcher IV, der nun auf der Eselsbank saß, mit Tinte herumkleckste, seine Feder ruinierte und vorgab, seine Strafaufgabe zu erfüllen, eine saubere Abschrift der Erläuterungen Martin Luthers zum vierten Gebot. Böttchers Vortrag der Worte des großen Reformators über das Gebot ‹Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren› war nicht nur eine arge Stotterei gewesen. Auch hatte er die Worte des Katechismus immer wieder so verdreht, daß schon nach wenigen Minuten die ganze Klasse vor unterdrücktem Gelächter zu platzen drohte, und Niklas war sicher, daß es auch in Monsieur Buchers Gesicht verräterisch gezuckt hatte. Gewiß erfüllte Böttchers Vortrag nicht den in der Schulordnung vorgesehenen Zweck, nämlich das beständige Beschäftigen mit den Lebensregeln Luthers und die Übung des öffentlichen Vortrags, die sowohl für einen Gelehrten als auch für einen Kaufmann oder städtischen Deputierten von großem Nutzen waren. Aber es war allemal vergnüglich gewesen. Böttcher würde gewiß eines Tages bei den Komödianten landen, hatte Niklas neulich im Hof zwei Lehrer einander zuflüstern hören, die Komödie sei eindeutig sein wahres, leider auch sein einziges Talent.

Niklas mußte das achte Gebot und die dazugehörigen Erläuterungen vortragen. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Obwohl er sehr schön zu lesen und zu deklamieren verstand, hatte Lehrer Bucher ihn seltsamerweise nur den Anfang der Erläuterung vortragen lassen. «Außer unserem eigenen Leib, unserem Ehegemahl und unserem zeitlichen Gut haben wir noch einen Schatz, den wir auch nicht entbehren können, nämlich Ehre und guten Ruf. Denn es kommt darauf an, nicht unter den Leuten in öffentlicher Schande, von jedermann verachtet zu leben.»

So weit war er schnell und ohne Fehler gekommen, obwohl ihm ein Rest des Lachens über Böttchers Eulenspiegelei immer noch in der Kehle steckte. «Darum», so fuhr er fort, «will Gott des Nächsten Leumund, guten Ruf und Gerechtigkeit, so wenig wie Geld und Gut …»

«Es ist genug, Herrmanns», hatte Bucher da plötzlich gesagt, «es ist gut. Setzen. Sehr gut.»

Nun war Finkmeester dran, und alle, außer Lehrer Bucher natürlich, aber ganz gewiß war das nicht, warteten begierig auf einen Fehler. Finkmeester machte keinen, er erinnerte sich auch heute wie immer an alles, was sehr langweilig war. Nicht einmal die getrocknete Vogelbeere, die aus einer der hinteren Bänke angeflitzt kam, brachte ihn ins Stolpern, obwohl sie sein linkes Ohr streifte. Finkmeester war ein echtes Kreuz. In all den Jahren, die er nun schon die Hamburger Gelehrtenschule im ehemaligen St.-Johannis-Kloster, das Johanneum, besuchte, hatte er es nicht zu einer einzigen Strafarbeit gebracht, war er nicht ein einziges Mal zu spät gekommen. Jedenfalls wurde das von seinen Mitschülern behauptet, und Niklas Herrmanns, der viele Jahre von Privatlehrern unterrichtet worden war und die ehrwürdige Schule erst seit einem halben Jahr besuchte, zweifelte keine Sekunde daran.

Er selbst gehörte auch nicht zu denen, die Tadel und Strafarbeiten sammelten wie Orden, aber er war ein großer Zuspätkommer. Natürlich scheuchte Elsbeth ihn allmorgendlich zur rechten Zeit vom Frühstückstisch im elterlichen Haus am Neuen Wandrahm zur Schule, aber der Weg von der Wandrahminsel im Süden der Stadt bis zum Johanneum in ihrer Mitte bot auch schon morgens um halb sieben genug Gelegenheiten, die Schule und den nahen Beginn des Unterrichts für einige Minuten zu vergessen.

Ganz besonders an diesem Morgen. Zuerst hatte ihn ein Streit zwischen dem blinden Leierspieler und einer Harfenistin um den äußerst lukrativen Platz an der Trostbrücke aufgehalten. Beide hatten ihre Anhänger, und auch als sich der Mann mit der Leier schon knurrend zum Alten Kran bei der Zollenbrücke verzogen hatte, wurde noch heftig darum gestritten, wer von den beiden die älteren Rechte auf diesen Platz hatte. Gerade als der Löffelverkäufer seinen Korb mit der Ware aus Holz und Horn in den Staub stellte, die Fäuste ballte und auf den Buckligen losgehen wollte, der sich für die Harfenistin stark machte, kam dummerweise einer von der Stadtwache und scheuchte die aufgeregt zeternde Versammlung auseinander. Da war immer noch genug Zeit gewesen, aber Niklas kam auf die fabelhafte Idee, einen kleinen Umweg über den Berg zu machen, um beim Bäcker neben der Fronerei einen Zimtkringel zu kaufen. Auf dem großen Platz nahe St. Petri herrschte bereits zu dieser frühen Stunde großer Trubel. Ein kleiner dicker Mann im quittengelben Rock hielt im Schatten eines schon ziemlich zerfetzten roten Seidenschirmes nahe dem Pranger eine drohende Rede gegen das Branntweintrinken, was aber außer einem Holzschuhverkäufer, einigen struppigen Sperlingen und einer kleinen Lerche niemand hören wollte. Straßenhändler riefen ihre Ware aus, Kontorboten drängten sich zwischen Köchinnen mit Marktkörben, unter ihrer Last schwankenden Karren, Sänften und Kutschen, Handwerker waren unterwegs zu ihrer Kundschaft, Bauern aus den Vier- und Marschlanden trieben ihr Vieh zum Küterhaus bei der Kleinen Alster, vornehm gekleidete Reiter lenkten ihre nervösen Pferde zum Rathaus oder zu den Gesandtschaften in den großen Häusern in der Gröninger- oder in der Reichenstraße. Und mittendrin der Strom der hochbepackten, vier- oder gar sechsspännigen Wagen, die das Steintor passiert hatten und nun durch die ganze Stadt und zum Millerntor wieder hinausrollen mußten, wenn sie ins dänische Altona oder noch weiter die Elbe hinab wollten.

«Niklas», klang es plötzlich durch den Lärm. «Niklas, hier sind wir!»

Er entdeckte sie gleich. Die junge Frau, zu der die helle Stimme gehörte, saß auf dem Kutschbock eines schwerbeladenen Wagens, im dunkelblauen Kattunrock und, wie das Mädchen neben ihr, in ein graues Schultertuch gewickelt, in dem zu einem dicken Zopf geflochtenen blonden Haar eine Auerhahnfeder. Sie nahm die Zügel mit einer Hand und winkte ihm freudig.

«Rosina!» Niklas rannte auf den Wagen zu und begann neben ihm her zu laufen. «Seid ihr gerade angekommen? Fahrt ihr wieder zur Krögerin? Und wo werdet ihr spielen, wo doch die Theaterbude in ihrem Hof nicht mehr da ist? Und wo ist Muto? Ist Muto nicht da?»

Rosina lachte. «Erstens ja», rief sie, «zweitens auch ja. Und zu deiner dritten Frage: Jean hat das kleine Komödienhaus am Dragonerstall für uns gemietet. Und Muto ist irgendwo. Wie geht es Anne? Und Monsieur Claes und den anderen?»

Die Glocke von St. Petri schlug mahnend, Niklas hatte nun wirklich keine Zeit mehr, wenn er nicht auf der Eselsbank landen wollte. «Es geht allen gut. Ich komme euch nachher besuchen. Jetzt muß ich ganz schnell in die Schule. Sag Muto …»

Da flog plötzlich ein schlanker Jungenkörper in einem kurzen Flickflack heran, ein Wunder, daß er in dem Gedränge seinen Weg fand und nicht unter einen der Wagen geriet, rostrote Haare glitzerten in der Morgensonne, und Muto, denn niemand sonst war der schnelle Akrobat, landete lachend einen Schritt vor Niklas auf seinen Füßen. Es war ein lautloses Lachen. Nein, Muto sprach immer noch nicht.

«Muto!» Niklas boxte ihm heftig gegen die Schulter. «Du wirst ja immer schneller. Ich muß jetzt in die blöde Schule, aber ich komme nachher zur Krögerin. Oder zum Dragonerstall.»

In dem Moment begann sich der Lindwurm der Wagen, der mitten auf dem Berg im Gedränge steckengeblieben war, wieder zu bewegen, Niklas trat einen Schritt zurück und sah den Wagen der Komödianten noch einen Moment nach.

Rosina lenkte den zweiten Wagen, das Mädchen neben ihr mußte Manon sein. Sie schlug die Augen vor all den Gaffern fromm nieder, und Niklas dachte, das Mädchen sehe zwar aus wie Manon, sie könne es aber nicht sein. Die Manon, an die er sich erinnerte, war alles andere als fromm. Beim letzten Besuch der Beckerschen Komödiantengesellschaft in Hamburg – sie hatten im Frühjahr auf der Durchreise nach Schleswig für zwei Wochen an der Elbe Station gemacht – hatte Manon, mit ihren dreizehn Jahren kaum älter als Niklas, sich mit allem Flitter geschmückt, den sie aus den Kostümkörben ihrer Mutter stibitzen konnte. Nun glich sie einer schüchternen jungen Frau, die zu wohlerzogen war, um den Blick neugierig über den alltäglichen Jahrmarkt der Stadt wandern zu lassen. Manon, hatte Rosina im Frühjahr gesagt, verspreche eine große Komödiantin zu werden.

Den ersten Wagen mit der hohen halbrunden Plane lenkte Titus, ein Mann mit struppigem, strohgelbem Haar, das noch nie eine ordentliche Perücke bedeckt hatte. Titus war zwar der Spaßmacher der Gesellschaft, aber vor kaum jemandem hatte Niklas so viel Respekt. Der Mann war groß und breit wie ein Bär und oft auch genauso brummig. Wenn er schlechte Laune oder einen melancholischen Tag hatte, ging man ihm besser aus dem Weg. Zum Glück kam das nicht oft vor. Neben ihm saß Helena, stolz und aufrecht, wie es sich für die erste Heroine eines Wandertheaters gehörte. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert. Ihr dickes kastanienbraunes Haar zeigte noch den gleichen Granatapfelschimmer, ihre grünen Augen hatten den gleichen unternehmungslustigen Blick, und auch heute trug sie ein seidig schimmerndes Schultertuch in all den leuchtenden Farben eines Sommergartens.

Im Davonlaufen sah Niklas noch den dritten Wagen, hochbepackt wie die anderen, mit festgezurrten Säcken, Kisten und allerlei seltsamen Gerätschaften. Den lenkte Rudolf, Manons Vater, Kulissenmaler und Baumeister. Neben ihm saß kerzengerade Gesine, seine Frau. Unter ihrer makellosen weißen Haube, die Bänder gegen die Mode fest unterm Kinn gebunden, sah auch sie aus wie immer: keinesfalls wie eine Komödiantin und Künstlerin der Kostüme, eher wie die brave Frau eines Predigers. Fritz, beider Sohn und Manons jüngerer Bruder, war nirgends zu sehen. Sicher hatte er die erste Gelegenheit genutzt, um im aufregenden Trubel der Stadt unterzutauchen oder zum Hafen zu laufen. Auch Jean, der Prinzipal der Gesellschaft, fehlte. Gewiß war er wie stets schon einige Tage in der Stadt, um rechtzeitig Musiker für ein kleines Orchester zu engagieren und die nötigen Genehmigungen für das Gastspiel beim Rat zu beantragen.

Während Niklas die Große Johannisstraße hinunter und über den Plan zum Johanneum rannte, überlegte er, wer der Mann sein mochte, der neben Rosina auf dem Bock des zweiten Wagens saß. Er hatte ihn nie zuvor gesehen, jedenfalls erinnerte er sich nicht daran. Er schien nicht viel über zwanzig Jahre alt zu sein, also etwa so alt wie Rosina und ein knappes Jahrzehnt jünger als Helena, sein hellbraunes Haar war im Nacken gebunden, seine an den Ärmeln abgewetzte Jacke aus etwas zu grünem Samt stammte gewiß aus den Kostümkörben. Seine dunklen Augen hatten den Jungen in der schwarzen Jacke aus teurem Tuch mit kühler Neugier taxiert.

 

«… doch soll das Feiern nicht so eng gefaßt werden, daß deshalb andere anfallende Arbeit, die man nicht umgehen kann, verboten wäre.» Finkmeesters mit bedeutsam vorgeschobenem Kinn geleierte Sätze – ‹Arbeit› und ‹verboten› betonte er dabei besonders – holten Niklas in das Klassenzimmer zurück. Lange konnte der Morgenunterricht nun nicht mehr dauern. Niklas seufzte. Schnell warf er einen Blick nach vorne zur Tafel. Sein Seufzer war leise genug gewesen, Bucher hatte ihn nicht gehört. Was ein Glück war, denn der Seufzer hätte verraten, daß er sich langweilte und nichts sehnlicher wünschte als Ferien. Alle redeten ständig von den Ferien, die für gewöhnlich im August zum Höhepunkt der Hundstage für eine Woche gewährt wurden. In diesem Jahr war es Ende Juni so heiß gewesen, daß Rektor Müller die Ferienwoche schon früher gewährt hatte. Nun hofften alle auf eine weitere Woche, doch die Chancen standen schlecht. Es war zwar warm, augustwarm eben, aber doch nicht so heiß oder gar drückend, daß das Lernen unmöglich gewesen wäre und das Sommerfieber die Klassen gelichtet hätte.

Er seufzte noch einmal, diesmal warf der Lehrer ihm einen kurzen strengen Blick zu, und Niklas beeilte sich, ein aufmerksames Gesicht zu machen. Finkmeester hatte nun genug gepredigt, Monsieur Bucher hieß ihn sich setzen und wandte sich der Tafel zu, um die Hausaufgaben anzuschreiben. Stöpsel wurden aus Tintengläsern gezogen, und die ersten Federn begannen zu kratzen, aber Niklas sah wieder aus dem Fenster. Feine Kreidestäubchen schwebten in dem schmalen Sonnenstrahl, der nun vom Innenhof in den dämmerigen Raum fiel, und leiser Gesang schwebte in die Stille. Monsieur Bach, der neue Kantor aus Berlin, ließ in einer der unteren Klassen zum Abschluß der Stunde ein Lied singen. Ein Marienkäfer krabbelte über Niklas’ Pult, und als auch er sein Tintenfaß öffnete, erhob sich eine Stimme.

Zuerst drang das Geräusch nur wie Murmeln durch die gerade einen Spaltbreit geöffneten Fenster zum Hof. Es konnte nur aus einer der anderen Klassen kommen. Im Obergeschoß wohnten zwar noch einige der Stiftsdamen aus dem anderen Teil des St.-Johannis-Klosters, aber diese Stimme klang weder fromm noch maßvoll, und sie gehörte eindeutig einem Jungen. Daß einer der Lehrer seine Stimme im Zorn erhob, war nicht ungewöhnlich. Die natürliche Autorität, mit der die Schüler nach der Meinung des Scholarchats zuvörderst zu wahrer Gottesfurcht und eifrigem Lernen angehalten werden sollten, war nun einmal nicht jedem gegeben. Diese Stimme, die nun immer lauter wurde, gehörte ohne jeden Zweifel einem Schüler, das war in der Tat außergewöhnlich.

«Dazu habt Ihr kein Recht. Ich habe alle Aufgaben erfüllt, und es ist auch nicht wahr …», die Stimme klirrte vor Zorn und war nun ganz deutlich zu verstehen, «… daß Korte mir den Beginn der zweiten Strophe zugeflüstert hat. Es ist nicht wahr. Ihr wißt, daß es nicht wahr ist. Und wenn», die Stimme stolperte atemlos, als müsse der Sprecher Tränen hinunterschlucken, «und wenn Ihr mich wieder verleumdet, werde ich, dann werde ich, ja, dann werde ich es melden. Alles werde ich melden. Alles.»

Alle dreiundzwanzig Schüler der Tertia drängten sich vor den beiden Fenstern zum Hof, reckten neugierig die Hälse und versuchten die Ursache dieser unerhörten Sätze zu entdecken. Aber leider war nichts zu entdecken, und tatsächlich kamen die Worte aus der Sekunda, die, nur durch einen Garderobenraum getrennt, im gleichen Flügel direkt neben der Tertia lag. Auch Niklas drängelte sich vor dem Fenster, allerdings weniger aus Neugier denn aus Sorge. Er hatte die Stimme gleich erkannt, obwohl er sie noch niemals zornig oder laut gehört hatte. In den vergangenen Monaten hatte Niklas zwei Schüler zu bewundern gelernt: Ludwig, genannt Böttcher IV, weil schon drei seiner Brüder vor ihm die Schulbänke des Johanneums gedrückt hatten: Niemand hatte eine so bunte Phantasie, wenn es darum ging, einen Streich auszuhecken. Der andere war Simon, ein Schüler der Sekunda und das ganze Gegenteil von Ludwig.

Simon war es, der da gegen seinen Lehrer sprach, und zwar so laut, daß es nur so über den Hof hallte. Es kam einfach nicht vor, daß ein Schüler sich einen solchen Skandal leistete, schon gar nicht einer wie der stille Simon, von dem man niemals gehört hatte, daß er auch nur ein Tintenfaß umgeworfen hätte oder eine der verbotenen, gleichwohl allseitig beliebten kleinen Steinschleudern besaß, geschweige denn benutzte.

Lehrer Bucher wußte natürlich, daß er seinen Schülern hätte befehlen müssen, auf ihren Plätzen zu bleiben, aber er wußte auch, wann ein Unterfangen zwecklos war. Alle, auch Lehrer Bucher, drängelten sich an den Fenstern, ausnahmsweise mucksmäuschenstill, damit das Spektakel nur nicht unterbrochen wurde, und versuchten, wenigstens genau zu hören, wenn es schon nicht möglich war, die Streithähne zu sehen.

Nun schwieg die Stimme des Jungen, und eine andere sprach. Scharf wie ein Messer, aber leider viel zu leise, um sie in der Tertia zu verstehen. Dann blieb es still. Niklas beeilte sich, wie alle anderen zurück zu seinem Platz zu gehen. Lehrer Bucher stand schon vorne an der Tafel, klatschte in die Hände, klatschte noch einmal. Es würde einige Zeit dauern, bis die Schüler wieder die geforderte Aufmerksamkeit für ihn und den Katechismus aufbringen würden. Auch wenn er sich um schmale Lippen und strenge Stirnfalten bemühte, nahm er es ihnen nicht übel. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Donner, aus dessen Klasse der Lärm herübergedrungen war, erinnerte er sich gut an seine eigene Schulzeit, und auch ihn interessierte nun viel mehr als Luthers Befehle für ein gottgefälliges Leben, was einen Sekundaner, doch schon ein junger Mann von vernünftigen fünfzehn oder sechzehn Jahren, zu solch kindlich-unbeherrschtem Aufruhr veranlaßt haben konnte. Bucher warf einen Blick auf die Sanduhr, die unablässig rieselnd auf seinem Pult stand und war erleichtert. Gleich würde einer der Jungen aus den unteren Klassen mit der großen Handglocke über den Hof laufen und das Ende des Vormittagsunterrichts anzeigen. Plötzlich fühlte er eine heitere Zufriedenheit. Wegen der nahen Pause, gewiß, vor allem aber, weil ein sonst so braver Schüler gegen Donner aufbegehrt und gar gedroht hatte, Meldung zu machen.

 

Eine halbe Stunde später lag die Schule in der alten Klosteranlage verlassen und still. Mit dem Läuten der Handglocke und den gleich darauf folgenden zehn Glockenschlägen von St. Johannis hatte sie sich geleert wie ein umgekipptes Weinfaß. Flink und so lärmend, als sei ein Feuer ausgebrochen, waren die Schüler hinaus in die Sonne gerannt, gefolgt von den nur um weniges langsameren Lehrern. Wie alle Tage. Nur noch die melancholischen Töne eines alterszittrigen Cembalos klangen aus dem Musikzimmer. Kantor Bach erholte sich bei ein paar Takten der Aria seines seligen Vaters «Gib dich zufrieden und sei stille» von dem wahrhaft unbefriedigenden Gesangsunterricht in der Septima.

Vor dem großen Portal saß nur noch Niklas Herrmanns. Er sah unruhig den Plan hinab, die Sackstraße, die vor der Schule breit wie ein Platz zur Großen Johannisstraße führte. Er zog seine Jacke aus und hoffte, daß ihn kein Lehrer erwischte. Der Aufgang zum Portal gehörte zum Bereich des Johanneums, ordentliche Kleidung – dunkler Rock, schwarze Kniehosen, weiße Wadenstrümpfe – galt auch hier als Pflicht, egal wie warm der Tag war. Lauer Wind wehte durch die Straßen vom Hafen herauf, strich durch die Kronen der alten Ulmen, brachte fernes Hundegebell und die Hammerschläge des Kupferschmieds am Mönkedamm mit und war schon wieder verschwunden. Die Zeit rann in zähen Tropfen. Irgendwann mußte Simon doch kommen. Wenn er noch lange hier herumsaß, würde statt dessen der Pedell erscheinen, ein stets grimmiger Mann, und ihn fortjagen. Niklas schob unruhig mit der Fußspitze ein paar Kiesel zu einem kleinen Haufen. Womöglich war Simon gleich in die Wohnung des Rektors gegangen, bei dem er zur Pension wohnte. Vielleicht war es ihm auch gar nicht recht, wenn er hier auf ihn wartete, gerade heute.

Da hörte er ein Knarren, und Simon kam endlich heraus. Er schob das Portal mit der Schulter auf, seine Hände hingen schwer und steif an den Armen, als gehörten sie nicht zu ihm. Sein Gesicht war weiß und starr, nur die Augen unter der schweißfeuchten Stirn brannten dunkel. Er starrte Niklas an wie einen Fremden.

«Niklas», sagte er schließlich. Nur «Niklas».

Der wußte immer noch nicht, ob es richtig gewesen war, zu warten. Dann sah er auf Simons Hände. Sein Atem stockte, rasch stand er auf, nahm wortlos den Freund am Ärmel und zog ihn mit sich fort. Simon folgte ihm wie eine Gliederpuppe auf den schmalen Pfad an der Mauer des Gymnasiums und zwischen zwei Schuppen hindurch zum Klosterfleet, das einige Fuß weiter in die Kleine Alster mündete. Schnell beugte Niklas sich zum Wasser hinunter, tauchte sein großes, noch ganz weißes Taschentuch ein und legte es tropfnaß über Simons Hände. Über diese Hände, deren Anblick ihn erschreckt hatte wie schon lange nichts mehr. Nicht nur, weil sie feuerrot waren und dick anzuschwellen begannen, sondern weil sie der Beweis einer tiefen Demütigung waren.

Benni, der Pferdejunge in den Herrmannsschen Ställen, hatte ihm erzählt, daß in den Armenschulen in der Neustadt an fast jedem Tag irgendeinem der Jungen die Gottesfurcht mit dem Rohrstock eingebleut wurde, womit allerdings meistens die Furcht vor den Lehrern gemeint war. Im Johanneum kam das nur selten vor und war – vom Einschluß in den Karzer, einer düsteren Zelle im Keller unter der Prima, bei Wasser und Brot einmal abgesehen – die größte Schande, die ein Johanneumschüler auf sich laden konnte. Deshalb waren die Lehrer gehalten, die Züchtigung nicht vor der Klasse, sondern nach dem Unterricht vorzunehmen. Daß einer aus den oberen Klassen, der Sekunda oder Prima, überhaupt noch auf diese Weise bestraft wurde, war unerhört.

Zwei Männer stakten eine kleine, mit Fässern, prallen Säcken und zwei fetten Schafen beladene Schute vorbei. Als einer neugierig herübersah, ließ sich Simon ins Gras fallen und verbarg seine Hände in seinem Schoß hinter den angezogenen Knien.

«Danke», murmelte er und zeigte mit dem Kinn auf das kühlende Tuch. Niklas setzte sich neben ihn in den Schatten einer Erle. Er hätte gern gefragt, warum Simon in der letzten Vormittagsstunde seine Stimme so hart gegen den Lehrer erhoben hatte, ganz gewiß war das die Ursache für die Bestrafung. Aber er spürte, daß nun noch nicht die Zeit für Fragen war. So nahm er behutsam das Tuch, tauchte es noch einmal in das träge fließende Wasser und wickelte es wieder um die glühenden Hände.

«Das wird er nie wieder tun», sagte Simon plötzlich. «Ich weiß noch nicht wie, aber er wird es mir nun endlich büßen.»

Seine Stimme klang kühl und entschlossen, er starrte auf das Tuch und bewegte darunter vorsichtig die Finger. «Zehnmal hat er zugeschlagen, zehnmal auf jede Hand. Genug? hat er nach jedem Schlag gefragt. Genug? Aber ich habe nicht ja gesagt, ich habe ihn nicht gebeten, aufzuhören. Ich habe mitgezählt, laut, damit er es hören kann. Zweimal bis zehn.»

«Warum macht er das?» Niklas schien, als würden die Hände unter dem Tuch immer größer. «Weißt du, warum er das macht?»

Simon antwortete nicht. Er blickte über das Wasser, über die breite grüne Nase, als die sich der Garten der Domina des Klosterstifts und die Klosterbleiche zwischen Fleet und Kleine Alster schoben, sah die schief aneinander gelehnten Fachwerkhäuser am jenseitigen Ufer, davor die Wäscherinnen auf einer im Fluß befestigten Holzbrücke – aber tatsächlich sah er das alles nicht. Sein Gesicht war nicht mehr ganz so bleich, aber seine Augen immer noch hart und dunkel. Es wäre Niklas lieber gewesen, wenn er geweint hätte, so wie er selbst es ohne Zweifel bei einem solchen Schmerz, einer solchen Demütigung getan hätte. Simon war fast drei Jahre älter als er, nicht der beste, aber doch ein guter Schüler, stets ruhig und freundlich, immer bereit, dem Jüngeren zu helfen, wenn er wieder einmal Probleme mit den Mysterien einer Landkarte, der Reihe der römischen Herrscher oder lateinischen Konjunktionen hatte. Langweilig nannten manche ihn, aber die kannten ihn nicht so gut, wie er, Niklas, Simon kannte.

«Was willst du tun?» fragte Niklas.

Simon zog die Schultern hoch, schloß die geröteten Augen und legte den Kopf in den Nacken. «Ich weiß es nicht», sagte er. «Ich weiß aber, daß er im Unrecht ist, auch wenn mir das niemand im Scholarchat glauben würde.» Er stand auf, kniete sich an das Fleet und tauchte die Hände ins Wasser. «Eigentlich», fuhr er dann fort, «hat er mich schon immer nicht gemocht.»

Niklas nickte. Er wußte, daß Lehrer Donner kaum eine Gelegenheit ausließ, Simon zu schikanieren. Kein Schüler der Sekunda wurde so hart geprüft, keiner so spitz verspottet, so genau beobachtet wie Simon. Bei keinem anderen Jungen, verstand es der Lehrer so geschickt, kleine Schwächen bloßzustellen und verletzliche Stellen zu treffen. Monsieur Bucher, Niklas’ Lehrer in der Tertia, konnte auch mal gemein sein. Besonders in der Zeit vor Ostern, als alle gedacht hatten, er werde sich um die Beförderung zum Lehrer der Sekunda bewerben, und er es dann doch nicht getan hatte, war mit ihm wochenlang schlecht Kirschen essen gewesen. Aber er war doch gerecht – jedenfalls meistens und soweit ein Lehrer das überhaupt sein konnte –, er machte sich auch niemals über die Jungen lustig, schon gar nicht vor der ganzen Klasse. Einmal hatte er sogar für einen kleinen Sünder beim Rektor, nun ja, nicht gerade gelogen, aber die Wahrheit doch sehr großzügig ausgelegt, und manchmal, das meinte selbst Böttcher IV, der Stammkunde auf der Eselsbank, machte der Unterricht bei Lehrer Bucher sogar Spaß.

Niklas dachte mit Schrecken an seine Versetzung in die Sekunda im nächsten Jahr (wenn alles gutging). Dann würde er sich auch mit Lehrer Donner herumschlagen müssen. Andererseits glaubte er nicht, daß der es wagen würde, ihn zu behandeln wie Simon. Simon hatte keinen einflußreichen Vater in der Stadt. Wenn er sich über einen der Lehrer beschwerte, den das hochweise Scholarchat für würdig befunden hatte, am Johanneum zu unterrichten, würde man eher nach seinen Fehlern als nach denen des Lehrers suchen. Daß Simon als Pensionist im Hause des Rektors lebte, fiel da kaum ins Gewicht. Lehrer Donner liebte es, seine Schüler mit pfeilspitzem Spott zu züchtigen, das wußten alle. Selbst die anderen Lehrer, so schien es Niklas jedenfalls, mieden ihn. Warum aber ausgerechnet Simon das Lieblingsziel seiner Schikanen war, verstand Niklas überhaupt nicht. Immerhin war der Lehrer der Sekunda Simons Onkel.

 

Daß Niklas an diesem Morgen viel zu spät zum zweiten Frühstück kam, fiel niemandem im Herrmannsschen Haus am Neuen Wandrahm auf. Sein Vater war schon seit dem frühen Morgen im Rathaus und stritt dort als Mitglied der Commerzdeputation gewiß noch Stunden mit anderen Kaufleuten, Vertretern der Lotsen und den Herren der Admiralität über die dringend notwendige Regulierung der tückisch treibenden Sände in der Elbe, die drohten, den Hamburger Hafen für die Schiffahrt zu blockieren, bevor er – wie fast jeden Tag – zur Börse und anschließend in Jensens Kaffeehaus gehen würde. Niklas’ Bruder Christian hatte sich ebenso früh auf den Weg zum Zollhaus am Hafen gemacht. Auf zwei der englischen Barken, die gestern eingelaufen waren und auch für die Herrmannsschen Speicher Tabak, Kaffee, Edelhölzer, Rohrzucker und andere kostbare Waren von den westindischen und amerikanischen Kolonien brachten, gab es Ärger mit dem Zoll, und die Kapitäne hatten dringend um Unterstützung gebeten. Auch seine Stiefmutter hatte schon früh das Haus verlassen. Anne war mit ihrem Einspänner in den Garten nach Harvestehude hinausgefahren, um mit dem Gärtner eine gemeine Mehltau-Attacke auf ihre Apfelbäume zu bekämpfen. Vielleicht waren es auch die Tomaten oder die Spalierpfirsiche, das hatte Niklas vergessen. Auf jeden Fall war sie nicht da.

Obwohl er auf dem ganzen Heimweg über Simon und seinen Peiniger nachdenken mußte, spürte er kräftigen Hunger. Die Schule begann schon um sieben Uhr, und das erste Frühstück, ein eiliger Becher Milch, eine Schale Hafergrütze und für den Weg ein knuspriges Stück Roggenbrot, schien ihm eine Ewigkeit herzusein. Es machte ihm nichts aus, daß er heute alleine essen mußte. Er würde ja auch nicht tatsächlich alleine sein, sondern sich an den großen Tisch in der Küche im Souterrain setzen, Elsbeth würde ihm einen Pfannkuchen backen, mit Äpfeln oder knusprigem Speck (hoffentlich mit Speck!), sie würde Butter und frisches Brot auf den Tisch stellen, den Schinken aus dem Rauchfang holen und ihn fragen, wie es in der Schule gewesen war. Heute hatte er wirklich etwas zu erzählen. Er konnte sicher sein, daß Elsbeth nicht von der Notwendigkeit des Gehorsams gegenüber Lehrern und anderen Autoritäten predigte, wie es sein Vater von Zeit zu Zeit tat (obwohl ihm die Ernsthaftigkeit dieser Worte niemand recht glaubte), sondern ganz auf der Seite Simons sein würde.

Niklas hatte sofort gemerkt, wie sehr Elsbeth seinen Freund mochte. Vielleicht lag es daran, daß auch sie keine Eltern gehabt hatte. Simon hatte allerdings mehr Glück gehabt. Er war bei Onkel und Tante aufgewachsen, die ihn schließlich an Kindes statt angenommen hatten, weshalb außer Niklas kaum jemand in der Schule wußte, daß er eigentlich eine Waise war. Elsbeth dagegen hatte ihre Kinderjahre im alten verlausten Waisenhaus an den Kajen verbringen müssen, bis sie als Küchenmädchen in das Haus am Neuen Wandrahm kam. Das war viele Jahre her, inzwischen regierte sie nicht nur die Küche, sondern den ganzen Haushalt. Daran hatte auch die zweite Heirat des Hausherrn vor einigen Jahren nichts geändert. Niemand war Elsbeth dankbarer für ihr Regiment als Anne Herrmanns, die so gar nichts mit dem Zählen von Wäschestücken und Silber, mit Menüplänen, Vorratshaltung oder der Beaufsichtigung der dienstbaren Geister des Hauses im Sinn hatte. Anne Herrmanns, gewiß eine mutige, oft auch eigenwillige Dame von der englischen Insel Jersey, fürchtete nur eins wirklich: Elsbeth könne eines Tages das Haus um einer späten Liebe willen verlassen. Einen anderen Grund konnte sich niemand vorstellen.

Niklas, noch atemlos vom schnellen Lauf, warf seinen Rock auf die Truhe in der Diele, und gerade als er die Stufen zur Küche hinunterspringen wollte – von dort duftete es köstlich nach Vanille und Kaffee –, hörte er einen lauten Knall und gleich darauf einen schrillen Schrei, genauer gesagt zwei Schreie, die aber nahezu wie einer klangen. Dann war es für einen Moment ganz still, totenstill, bis eine weibliche Stimme, offensichtlich gewohnt, jeden Lärm zu übertönen, eine heftige Schimpfkanonade begann. Niklas starrte fasziniert nach oben, von wo der Lärm durchs ganze Haus scholl. Die Galerie, die im ersten Stock um die weite Diele lief, war leer, die Türen, die von dort zu den Wohnräumen und zum Kontor führten, geschlossen. Die Stimme kam eindeutig von weiter oben, und ohne lange zu überlegen, rannte er die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal. Als er den zweiten Stock erreichte, hörte er hinter sich schon Schritte: Betty, ein oder zwei der anderen Mädchen, Brooks, der Kutscher, und Benni, der Pferdejunge, folgten ihm; auch Fiez und Dübbel, die beiden Handelslehrlinge im Kontor hatten eilig ihre Federn fallen lassen, um dem aufregenden Lärm unter dem Dach zu folgen. Nur das neue Küchenmädchen, eine Waise wie einst Elsbeth, gerade zehn Jahre alt und erst einige Wochen im Haus, blieb wegen ihrer klobigen Holzschuhe zurück, bis sie endlich auf die Idee kam, sie auszuziehen.

Das Geschrei war wieder verstummt, als Niklas, nun fast vom gesamten Hauspersonal gefolgt, endlich das letzte Stockwerk und die Quelle des Lärms erreichte. Die Tür zu einer kleinen Kammer unter dem Dach stand weit offen, im hellen Licht der Sonne, das die Kammer durch die fest verschlossenen Fenster in einen Backofen verwandelt hatte, standen Elsbeth, die Köchin, und Augusta Kjellerup, die Tante des Hausherrn. Auch wenn ihre Kleider von recht verschiedener Art waren, das eine aus leichtem Kattun, weiß und blau gestreift, das andere aus hellgrauer Seide, an den Ärmeln und am Hals mit Lyoner Spitzen und einer Reihe winziger, schwarz glitzernder Perlen besetzt, waren beide über und über mit der gleichen Farbe bespritzt: Himbeerrot. Die ganze Kammer schien in einen himbeerroten Regen geraten zu sein. Alle starrten auf einen kleinen Tisch am Fenster. Auf dem lag der Rest eines gläsernen Ballons, bedeckt mit Splittern, matschigen roten Früchten und zerfließendem Schaum, rötlicher Saft floß an den Beinen des Tisches herunter, unter dem sich ein klebriger See aus Glassplittern und roter Flüssigkeit ausbreitete. Er war nur klein, der größte Teil dessen, was einmal in dem Ballon gewesen war, klebte am Fenster und an den Wänden des Raumes.

«Es tut mir leid», sagte Augusta Kjellerup, «wirklich, Elsbeth, es tut mir sehr leid.» Ihr Mund verzog sich, und Niklas, der seine Großtante als vergnügte alte Dame kannte, fürchtete, sie nun zum erstenmal weinen zu sehen.

«Wirklich, Elsbeth», sagte Augusta noch einmal, «es tut mir wirklich …» Sie schluckte, senkte den Kopf, zog sich mit spitzen Fingern eine schon ziemlich matschig gegorene Himbeere aus den silberweißen Locken, und begann zu lachen. Zuerst nur mit leisem Glucksen, doch als sie wieder in Elsbeths himbeerrot bespritztes Gesicht blickte, als sie die Himbeere direkt in der Mitte des Dekolletés der Köchin langsam rutschen und im Mieder verschwinden sah, prustete sie los, ohne sich auch nur damenhaft die Hand vor den Mund zu halten. Sie lachte schallend, und es dauerte keinen Augenblick, bis die ganze Gesellschaft in der backofenheißen Luft unter dem Dach einen solchen Lärm machte, daß selbst das alte Faktotum Blohm seiner Gicht Paroli bot und sich die vielen Stufen bis unter das Dach hinaufbemühte. Auch Elsbeth lachte, vielleicht nicht ganz so laut wie die anderen, weil sie längst an die Mühe dachte, die es kosten würde, die rote Farbe wieder aus den Kleidern zu waschen, aber sie lachte. Auch wenn sich Madame Augusta wirklich eine außerordentliche Caprice erlaubt hatte, war das Unglück doch glimpflich verlaufen, und … nun ja, jedenfalls sah Madame Augusta nicht minder komisch aus als Elsbeth. Wenn auch ihr Dekolleté so hochgeschlossen war, daß keine Himbeere den Weg in ihr Mieder finden konnte, hatte sich doch eine besonders dicke auf ihre Witwenhaube verirrt und saß wie ein keckes Krönchen auf einem der unpassend glänzenden Seidenbänder, mit denen Augusta ihre Hauben gar zu gern schmückte.

«So», rief Elsbeth, die als erste wieder genug Luft zum Reden bekam, zu Betty und den anderen Mädchen gewandt, «nun ist genug gegafft und gelacht. Macht, daß ihr wieder in die Küche kommt oder wo sonst ihr eure Arbeit liegengelassen habt.»

«Genau», kicherte Augusta, «geht wieder an eure Arbeit. Du lieber Himmel, Elsbeth, die Farbe werde ich nie wieder los. Guten Morgen, Niklas.» Erst jetzt entdeckte sie ihren Großneffen. «War es schön in der Schule?»

So eine Frage konnte nur eine Frau stellen, eine Dame, die nie eine Schule von innen gesehen hatte. Tante Augusta, fand Niklas, war so alt, daß sie wahrscheinlich nicht einmal wie seine Schwester Sophie einen Hauslehrer gehabt hatte. Er nickte grinsend. «In der Rüsche auf deiner Schulter steckt noch eine Himbeere, Tante Augusta. Darf ich sie runternehmen?»

Augusta nickte amüsiert, doch Elsbeth ließ das nicht zu. «Du bleibst, wo du bist. Es reicht, wenn Madame Augusta und ich das rote Mus durch das ganze Haus tragen.»

Eine Minute später hatte sie alle Mädchen – Brooks, Blohm, Benni und die Lehrlinge waren, lästige Hausdieneraufträge vorausahnend, längst verschwunden – mit Anweisungen davongescheucht. Wasser, hatte sie befohlen, viel Wasser, Tücher, Bürsten und Scheuersand. Reine Kleider für Madame Augusta und sie selbst, und Schuhe, natürlich Schuhe. Und einen Korb für die beschmutzten Kleider, einen anderen für die Scherben. Und und und. Niklas war sicher, in einer halben Stunde würde alles wieder seine Ordnung haben. Wenn Elsbeth der Admiralität vorstehen würde, hatte sein Vater kürzlich gesagt, wäre die endlose Debattiererei längst vorbei, die Elbe auch für die großen Segler bis in den Hamburger Hafen passierbar, und man müßte nicht ständig teuer in Altona entladen lassen.

Eine halbe Stunde später leistete Augusta ihrem Großneffen am Küchentisch im Souterrain Gesellschaft bei seinem Frühstück. Nur ein paar Flecken in ihrem Gesicht und auf den Händen verrieten die Himbeer-Attacke. Elsbeth briet knusprige Pfannkuchen (mit Speck!). Die ungeduldigen Bewegungen, mit denen sie die Pfannkuchen in der Pfanne herumschob, und ihr steifer Rücken verrieten, daß sie trotz allen Gelächters immer noch ärgerlich war. Sie habe Madame Augusta doch ausdrücklich erklärt, sagte sie schließlich, ohne sich zum Tisch umzudrehen, daß es gefährlich sei. Es sei einfach zu heiß dort oben mit dem Fenster nach Süden. Im August! Madame Augusta möge doch bitte, bei allem Respekt, die Herstellung der Obstweine und Liköre wieder der Küche überlassen. Wenn die Köchin von Madame van Witten auch noch so schöne Rezepte zu wissen vorgebe, die seien ja lebensgefährlich! Was ihre, Elsbeths, noch nie gewesen seien. Ganz gewiß noch nie. Madame Augusta möge verzeihen, wenn sie ein wenig harsch sei, das geschehe nur aus Sorge um Madame Augustas Gesundheit. Die Glassplitter hätten sie schwer verletzen, ihr gar ein Auge zerschneiden können.

In diesem Moment bekam Elsbeth einen Schluckauf, und Augusta rief nach Betty und befahl, sofort einen starken Mocca zu kochen.

«Du hast natürlich recht, Elsbeth», sagte sie dann und bemühte sich um eine hübsche Portion Zerknirschung, «du hast mir gesagt, der Ballon dürfe nicht zu heiß werden und auch nicht zu hoch gefüllt sein. Ich habe beides nicht beachtet. Jetzt wünschte ich, ich hätte dich nicht gleich geholt, als ich das seltsame Summen hörte und diesen beunruhigenden Schaum im Hals des Ballons sah. Die herumfliegenden Scherben hätten auch dir ein Auge ausstechen können. Daß das dumme Ding aber auch ausgerechnet in dem Moment explodieren mußte, als wir zur Tür hereinkamen! Wir haben großes Glück gehabt. Kannst du mir meine Einfalt verzeihen?»

Elsbeths Schluckauf war immer noch ziemlich heftig, doch sie nickte großmütig. «Aber könntet Ihr bitte aufhören, Obstliköre anzusetzen?» sagte sie, immer wieder von kleinen Hicksern unterbrochen. «Besonders, wenn im September die Holunderbeeren reif sind. Holunder macht nichts lieber, als zu explodieren. Warum setzt Ihr nicht Pfefferminzlikör an, der ist ganz ungefährlich und sehr delikat. Auch Euer Rosmarinbranntwein hat noch nie Schaden angerichtet.»

«Jedenfalls nicht äußerlich. Also Pfefferminzlikör. Findest du nicht, daß das sehr gesund klingt?» Augusta stützte ihr Kinn in die himbeerroten Hände und seufzte. «Mein plötzlicher Drang, dir ins Handwerk zu pfuschen, Elsbeth», fuhr sie schließlich fort, «liegt nur daran, daß mir dieser Sommer ganz außerordentlich langweilig erscheint. Abgesehen von Monsieur Bachs neuen Montagskonzerten im Konzertsaal am Valentinskamp, aber die dauern immer nur ein paar kurze Nachmittagsstunden.»

Nun seufzte auch Elsbeth. Sie rechnete Madame Augusta hoch an, daß sie ihr ihre Respektlosigkeit nicht nachtrug und nahm sich fest vor, am Sonntag morgen in der Katharinenkirche, falls die Predigt wieder so lang geraten würde wie die letzten vier, gründlich darüber nachzudenken, wie man Madame Augusta einen ungefährlicheren Zeitvertreib bieten konnte als das Likör- und Schnapsaufsetzen. Für diesen Tag schlug sie vor, Brooks zu rufen, damit er sie zu Madame Anne hinaus nach Harvestehude in den Garten fahre. Eine Ausfahrt sei nach solcher Aufregung immer noch das allerbeste.

Niklas stellte erleichtert fest, daß die kurze Mißstimmung schon wieder verflogen war. Er zerteilte seinen dritten Pfannkuchen und überlegte, daß noch genug Zeit sei, schnell zu den Komödianten in die Neustadt hinüberzulaufen. Er mußte unbedingt nachsehen, ob Rudolf schon die neue Donnermaschine gebaut hatte, die er im Frühjahr geplant hatte. Und er mußte Rosina fragen, wann sie ihm endlich zeigen würde, wie man auf ihrer silbernen Flöte spielte. Er mußte Muto unbedingt erzählen … Da fiel es ihm siedendheiß ein. Heute stand Latein auf dem Plan für die Privatstunden, und er hatte, noch ganz beschäftigt mit Simons Streit mit Lehrer Donner, das Buch in seinem Pult im Johanneum vergessen. Natürlich könnte er in das Buch eines der beiden anderen Schüler sehen, mit denen er die mittäglichen Privatstunden bekam. Aber am Montag hatte er schon seinen Katechismus vergessen, und es war doch zu peinlich, wenn er schon wieder – nein. Erst gestern hatte sein Vater ihn mächtig abgekanzelt, weil er ständig etwas vergaß oder liegenließ. Es blieb nichts anderes übrig, er mußte zurück ins Johanneum laufen und das vermaledeite Buch holen. Und bis dahin hoffen, daß der Pedell vergessen hatte, die Tür abzuschließen. Das kam manchmal vor und war das einzige, das man ihm, der die Schüler des Johanneums offenbar ausschließlich als Störenfriede seiner Behaglichkeit empfand, zugute halten konnte.

 

Niklas hatte Glück. Das Portal des Johanneums am Plan war nicht verschlossen. Behutsam, um die Scharniere nicht lauter als unbedingt nötig knarren zu lassen, schob er die Tür auf und schlüpfte in den Flur. Er wartete nicht, bis sich seine Augen nach der gleißenden Mittagssonne an den Dämmer gewöhnt hatten, sondern zog schnell seine Schuhe aus und huschte auf Strümpfen in den Gang. Er hielt inne und lauschte. Alles war still. Doppeltes Glück. Sicher lag Pedell Töltjes, den Bauch voll mit fettem Speck und Grütze, auf seiner Küchenbank und schnarchte. Madame Töltjes und auch Karla, ihr Mädchen, würden kaum Geschrei machen, falls sie ihn um diese Stunde hier erwischten, sondern einfach wegsehen. Alles andere würde nur Ärger mit Töltjes bedeuten, den die beiden, das wußte jeder, kaum weniger fürchteten als die Johanneum-Schüler. Irgendwo klapperte ein Fenster oder eine Tür. Wahrscheinlich kam es aus der Bibliothek im oberen Stockwerk. Er wandte sich nach rechts, huschte über den Gang und in den rechteckigen Innenhof. Der ihn umschließende Kreuzgang war vor mehr als zweihundert Jahren, als im Zuge der Reformation aus dem Dominikanerkloster eine Lateinschule und ein Damenstift wurden, zu Klassenzimmern umgebaut worden. Damals betrat man die Räume durch Verbindungstüren zwischen den Klassen. Diese Türen waren noch da, aber inzwischen versperrt, statt dessen hatte jedes Klassenzimmer einen eigenen Eingang vom Hof.

Die Türen waren geschlossen, bis auf zwei, nämlich die der Tertia und der Sekunda, und gewiß lag es daran, daß Niklas die richtige verpaßte und anstatt in die Tertia in die Sekunda sauste. Das glaubte er jedenfalls, obwohl er es später nicht mehr beschwören konnte.

Er betrat den Klassenraum, und während er sich noch wunderte, warum der Kachelofen nicht wie sonst bei der zweiten Fensternische stand, sondern in der Ecke nahe der Tafel am Ende des Raumes, sah er ihn. Lehrer Donner saß auf einem Stuhl beim Pult, dem mit den bequemen Armlehnen, der eigentlich hochstehenden Besuchern wie den Mitgliedern des Scholarchats bei ihren Visiten zur Prüfung der Schüler vorbehalten war. Auf diesen Stuhl hatte er sich gesetzt, um – wer hätte das ausgerechnet ihm zugetraut, der schon zu dienern begann, wenn er einen der Scholarchen nur von ferne sah – einen Mittagsschlaf zu halten. Er schnarchte zwar nicht, aber Niklas glaubte doch so etwas wie ein Atmen zu hören. Daß es Simons Feind war, der da auf dem Lehnstuhl saß, tatsächlich mehr hing als saß, erkannte er sofort, auch wenn der ihm den Rücken zudrehte und das Gesicht, bleich und spitznasig wie immer, nur im Halbprofil zu sehen war.

Niklas fragte sich, wie jemand auch noch die Mittagspause in der Schule verbringen konnte, aber nun war nicht der Moment, darüber nachzudenken. Leise schlich er zurück zur Tür, rückwärts, um den Schlafenden nicht aus den Augen zu lassen, und just als er sie erreicht hatte, erschreckte ihn ein klirrendes Scheppern. Donners Taschenuhr war zu Boden gefallen und aufgesprungen, das Zifferblatt und eine ganze Anzahl winziger Rädchen kullerten über die geölten Dielen. Aber das sah Niklas nur noch im Davonhasten. Bevor Donner erwachen und ihn doch noch erwischen konnte, war er schon in den nächsten Raum geflitzt, nun wirklich den der Tertia, und, die Lateingrammatik unter dem Arm, zurück in den Hof, durch den Flur des Gymnasiums zum Portal und hinaus in die Sonne gerannt.

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2. Kapitel

Donnerstag, en 4. Augustus, Mittags

«Grandios! Sag endlich etwas, Helena. Es ist doch wirklich ein sehr schönes Theater. Natürlich muß man dies und jenes ein wenig ausbessern, hier ein paar Nägel, dort ein neues Brett, ein wenig frische Farbe vielleicht, doch das sind nur Kleinigkeiten. Und so können wir die Bühne auch ganz nach unserem Geschmack einrichten. Helena!»

Jean Becker, Schauspieler, Sänger und bei Bedarf auch Tänzer, vor allem aber Prinzipal der Beckerschen Komödiantengesellschaft, stand in der Mitte eines langgestreckten staubigen Raumes, die Arme weit ausgebreitet, das Gesicht zum Himmel, besser gesagt zum nicht mehr ganz dichten Dach erhoben, und bemühte sich um eine zuversichtliche Miene. Er sah seine Frau an, wie Zeus im Schäferspiel seine Hera ansehen mochte, wenn er sich wieder einmal schlecht benommen hatte, obwohl davon diesmal wirklich keine Rede sein konnte. Nein, diesmal hatte er nur einen Mietvertrag für ein Theater abgeschlossen, das offensichtlich nicht Helenas Vorstellungen entsprach. Natürlich, das kleine Komödienhaus am Dragonerstall, wie es von den Hamburgern nach Größe und Standort im Gegensatz zu dem großen Nationaltheater beim Gänsemarkt genannt wurde, war ziemlich alt. Aber war die St.-Petri-Kirche etwa nicht alt? Ja, es war auch staubig und nicht in bestem Zustand, aber es war doch ein Theater und mindestens doppelt so groß wie die Komödienbude im Krögerschen Hof an der Neustädter Fuhlentwiete, in der sie bei früheren Gastspielen aufgetreten waren. Die hatten sie auch jedesmal neu herrichten müssen. So war das eben.

Helena, dachte Jean, war verwöhnt. In den letzten Jahren hatten die Beckerschen viel Erfolg gehabt, sie mußten nun nicht mehr auf Märkten und Dorfplätzen eine eilige Bretterbude aufschlagen, sie konnten sich leisten, nur noch in größeren Städten aufzutreten. In vielen dieser Städte waren mittlerweile Bühnen in festen Häusern entstanden, die wandernde Komödianten, Operisten, Puppenspieler oder Akrobaten mieten konnten. Bei Licht besehen oft auch nicht viel mehr als hölzerne Buden, aber doch mit einem ordentlichen Fundament, so daß die Bühne nicht gleich gefährlich schwankte, wenn das Ballett begann.

Klapprig oder nicht, hier war schon der bedeutende Koch mit seiner Gesellschaft aufgetreten, hier hatten die Brüder Mingotti große Opern gegeben, ein solches Haus sollte auch für die Beckerschen gut genug sein. Es stimmte schon, das Theater sah immer noch nach einem Stall aus. Aber hatte die wahre Kunst nicht überall ihren Raum? War nicht gar unser Herr Jesus Christ in einem Stall geboren? Dieser Gedanke beflügelte Jean, der schon seit Jahren keine Kirche mehr von innen gesehen hatte, ganz außerordentlich, doch nach einem Blick auf das Gesicht seiner Frau war er klug genug, ihn für sich zu behalten.

«Helena! Sag endlich was.»

Die spitzte trotzig den Mund, sagte «Nun ja» und «Wir werden sehen» und fuhr fort, an den hölzernen Verstrebungen herumzuklopfen und immer genau die Stellen zu treffen, die bedenklich morsch klangen.

Jean beschloß, daß es besser sei, die Vorzüge, die offenbar nur er sah, nicht weiter hervorzuheben. Natürlich hätte er lieber das große neue Theater im Opernhof am Gänsemarkt gemietet, aber das war nicht zu haben. Obwohl die Truppe, die dort seit einem Jahr fest installiert war, zur Zeit in Braunschweig gastierte, war die Bühne nicht wie in früheren Jahren zu mieten. Tatsächlich hatte die Beckersche Gesellschaft noch nie in dem teuren großen Haus gastiert, was ein Glück war, denn dessen tausend Plätze hätte sie niemals füllen können. In Hamburg war ihr Spielort immer die Theaterbude im Hinterhof an der Neustädter Fuhlentwiete gewesen. Die gab es nun nicht mehr, die Krögerin hatte einen Teil ihres Hofes verkauft, und jetzt stand dort ein großer massiver Holzschuppen, in dem sich ein Sattelmacher eingemietet hatte. Was Jean nicht im mindesten störte. Mit dem neuen Programm, insbesondere mit den Vaudeville-Stücken, würde seine Gesellschaft Furore machen (solange der Rat die nicht immer ganz schicklichen Aufführungen nicht verbot), die hölzerne Bude hätte das Publikum kaum fassen können.

«Sag wenigstens du was, Titus», rief Jean und hob bittend die Arme wie die fromme, als Ketzerin verleumdete Jungfrau Isabella beim Besteigen des Scheiterhaufens in «Die Unschuld im Feuer». In diesem Drama, das Jean besonders liebte – Helena, die die ewig jammernde verfolgte Unschuld zu spielen hatte, um so weniger –, kam am Ende ein edler Ritter (eine von Jeans zahlreichen Lieblingsrollen) und rettete die Jungfrau vor dem Verderben. Für Jean hingegen schien es heute keinen edlen Beistand zu geben. Titus, auf der Bühne der Spaßmacher der Truppe, zeigte sich nicht enthusiastischer als Helena.

«Nun ja», sagte auch er, schnaubte und stampfte unvermittelt mit dem Fuß auf. Staub wirbelte durch die stickige Luft, und ein verdächtiges Knarren stieg aus dem Holz. «Wann, hast du gesagt, haben sie diesen Stall neu ausgebaut?»

«Kürzlich, hat man mir gesagt, und ich habe keinen Grund daran zu zweifeln. Ich …»

«Du hast allen Grund, daran zu zweifeln, Prinzipal.» Titus ging vorsichtig über die Bühnenbretter, sein Gewicht war nicht das eines Pferdes, das wäre wirklich übertrieben, aber er war doch ein Mann, der eher einer Tonne als einer Pappel glich.

«Kürzlich? Vor etwa zehn oder fünfzehn Jahren würde ich sagen. Frag Rudolf, der wird es dir genau sagen.»

Rudolf brauchte einen Nagel nur anzusehen, um zu wissen, vor wie vielen Jahren er eingeschlagen worden war.

Jean nickte ungeduldig. «Vielleicht ist es ein bißchen länger her als kürzlich. Ein kleines, ganz unbedeutendes Bißchen.»

«Viel länger.» Helena stieg nun auch auf die Bühne, vorsichtig, als gelte es, ihr Leben auf einem schmalen Steg über schwindelnde Höhen zu bewahren. Sie war eine füllige Brünette, eine wahre Heroine von Stimme und Gestalt, doch neben Titus wirkte sie wie eine Elfe. Beinahe jedenfalls. Sie sah sich um und blinzelte argwöhnisch zu der hölzernen Galerie hinauf, die den ganzen Stall in kaum mehr als Mannshöhe umlief.

«Auf alle Fälle haben die Kerle, die hier zuletzt gespielt haben, die neuen Bühnenbretter mitgenommen, als sie weiterzogen. Diese hier», sie klopfte mit der Schuhspitze auf den Boden, «sind zu morsch, als daß in den letzten hundert Jahren auch nur ein Schauspieler darauf hätte deklamieren können, von tanzen ganz zu schweigen. Wir haben in der Tat viele Möglichkeiten, dieses», sie zögerte, als könne ihr einfach nicht das passende Wort einfallen, «dieses Theater so zu gestalten, wie es unseren Wünschen entspricht. Was sagst du, Rudolf?»

«Es ist gar nicht so schlimm, wie es aussieht.» Er erhob sich von der Bank, dem einzigen Möbel in dem großen Raum, trat zu einem der Tragbalken unter der Galerie und klopfte energisch gegen das dunkle Holz. «Die Balken sind fest und trocken, kein Holzwurm, keine Fäule, die Galerie habe ich mir noch nicht angesehen, aber auf den ersten Blick sieht sie recht stabil aus. Das war in der Bude an der Fuhlentwiete auch nicht besser. Und die Bühne», nun zog sich sein ganzes Gesicht in sorgenvolle Falten, «die werden wir neu bauen müssen. Jedenfalls den Boden. Aber das ist eine Kleinigkeit.» Sein Gesicht entspannte sich schlagartig zu einem zufriedenen Lächeln.

«Seht ihr?» Jean strahlte. «Ich habe ja gesagt, es ist ein gutes Theater.»

Die anderen beiden waren weniger erleichtert. Sie kannten Rudolf ihr halbes Leben lang und wußten, für ihn war ein Theater erst ein gutes Theater, wenn es viel daran zu reparieren und zu bauen gab. Rudolf war nicht nur Kulissenmaler, Herrscher über Feuerwerk, Donner-, Hagel- und Windmaschinen und allerlei Flugwerke, sondern