Zwei Schwestern - Petra Oelker - E-Book

Zwei Schwestern E-Book

Petra Oelker

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Beschreibung

Ein faszinierendes Bild der Hamburger Reformationszeit Martin Luther hat zur Reformation aufgerufen, die Hamburger sind ihm gefolgt – eine neue Zeit bricht an. Das gilt auch für Reimare Hogenstraat: Sie war Nonne, jetzt ist sie nur noch eine Jungfer ohne den Schutz des Ordens, ohne den vertrauten Halt ihrer Gemeinschaft, ohne das Reglement des alten Glaubens. All ihrer Aufgaben beraubt, muss sie ihr Leben neu ordnen, einen neuen Sinn finden. Ist eine Heirat die Lösung? Die wohlhabende Witwe Anna Bünnfeld unterstützt ihre jüngere Schwester nach Kräften. Auch sie sucht ihren Weg in dieser unsicheren Zeit. Ein Testament muss geschrieben, ihr Vermögen neu geordnet werden – gilt es, selbst darin neuen Werten zu folgen? Beide Schwestern stehen vor der Entscheidung ihres Lebens …

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Petra Oelker

Zwei Schwestern

Eine Geschichte aus unruhiger Zeit

Illustrationen von Andrea Offermann

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein faszinierendes Bild der Hamburger Reformationszeit

 

Martin Luther hat zur Reformation aufgerufen, die Hamburger sind ihm gefolgt – eine neue Zeit bricht an. Das gilt auch für Reimare Hogenstraat: Sie war Nonne, jetzt ist sie nur noch eine Jungfer ohne den Schutz des Ordens, ohne den vertrauten Halt ihrer Gemeinschaft, ohne das Reglement des alten Glaubens. All ihrer Aufgaben beraubt, muss sie ihr Leben neu ordnen, einen neuen Sinn finden. Ist eine Heirat die Lösung?

Die wohlhabende Witwe Anna Bünnfeld unterstützt ihre jüngere Schwester nach Kräften. Auch sie sucht ihren Weg in dieser unsicheren Zeit. Ein Testament muss geschrieben, ihr Vermögen neu geordnet werden – gilt es, selbst darin neuen Werten zu folgen?

Über Petra Oelker

Petra Oelker, geboren 1947, arbeitete als Journalistin und Autorin von Sachbüchern und Biographien. Mit «Tod am Zollhaus» schrieb sie den ersten ihrer erfolgreichen historischen Kriminalromane um die Komödiantin Rosina, neun weitere folgten. Zu ihren in der Gegenwart angesiedelten Romanen gehören «Der Klosterwald», «Die kleine Madonna» und «Tod auf dem Jakobsweg». Zuletzt begeisterte sie mit «Emmas Reise», einer Road Novel in der Zeit nach dem 30-jährigen Krieg.

Den Damen von St. Johannis – durch die Jahrhunderte

Prolog

Im Licht der schmalen Sichel des Mondes und einer schwankenden Reihe flackernder Fackeln zogen die Männer mit ihren kräftigen Pferden und den Fuhrwagen gleich einem Zug von Nachtgeistern hinaus nach Harvestehude. Sie kamen von der Stadt, das nordöstliche Tor war lange vor der üblichen Zeit nur für sie geöffnet worden.

Dieser Februarmorgen im Jahre des Herrn 1530 war bitterkalt. Der Atem legte sich als Raureif auf die Bärte und sammelte sich zu Eisperlen. Auf den Wagen lagen schwere Gerätschaften im Stroh, auch starke Taue. Die Mauern, so hieß es, seien trotz ihres Alters noch stark.

Wer mit hinauszog in dieser Stunde lange vor Sonnenaufgang, war sich der gerechten Sache sicher, denn es ging gegen die letzten Katholischen, die Uneinsichtigen, die papistischen Weiber. Fast alle waren Töchter der Stadt, fast aller Familien lebten dort, und doch … Viele, vielleicht die meisten der Männer marschierten mit Triumph im Herzen voran.

Sie kamen mit zorniger Entschlossenheit und ohne jegliche Geduld. Die Dämmerung war noch kaum zu ahnen, als sie ihr Ziel erreichten, und gleich schlugen ihre schweren Hämmer und geschärften Spitzhacken zu, rissen Wunden in das alte Mauerwerk wie eine Meute in das Fleisch des gehetzten Hirsches. Ihre Laune kippte in Zerstörungswut, während sich die Stimmen der Frauen in der Klosterkirche noch zum Benedictus erhoben. Zum letzten Mal. Der Lobpreis Gottes zum Beginn des neuen Tages endete abrupt, «Benedictus Dominus Deus Isra…», als der Lärm die Frauen erreichte. Es hatte Gerüchte gegeben, auch Drohungen, seit Jahren schon schlimme Nachricht aus anderen Städten, von anderen Klöstern – aber hier, in dieser vernünftigen Stadt?

Die Oberen der Kirchspiele der Stadt, alle ehrbare Bürger, wohlhabend und neuerdings im Besitz der wahren Lehre und allesamt Verwandte zumindest einer der letzten Hamburger Nonnen, durchmaßen in ihren wärmenden Pelzen und dicken Stiefeln rasch den inneren Hof. Die Knechte, die sich ihnen nur halbherzig in den Weg stellten, schoben sie selbst beiseite; ihre Bewaffneten hatten sie bei den Männern mit den Abrisshaken und Hämmern gelassen, jede Hand wurde gebraucht, damit das gottgefällige Zerstörungswerk rasch voranging. Die frommen Schwestern waren als widerständig bekannt, doch nur im Glauben, im Festhalten am Alten, an ungültigen Gelübden, im Verweigern. Zu anderen als diesen stumpf gewordenen Waffen würden sie kaum greifen. Und es war ja kein Pöbel, der eifrig und mit der Arbeit dienlichen Rufen und Gesängen begann, die geweihten alten Mauern des Klosters Mariental in Harvestehude einzureißen, währenddessen Bewohnerinnen noch Psalmen zum Lobe Gottes sangen. Es waren Stadtbürger, etliche wie die Kirchspieloberen Verwandte der Schwestern.

 

Die Mittagszeit war vorüber – zum ersten Mal seit mehr als zweihundertdreißig Jahren waren die Stundengebete nach den unterbrochenen Laudes nicht gemeinsam gesprochen und gesungen worden –, als auch die letzten der Nonnen mit der Äbtissin aufgaben und auf den Wagen stiegen, der sie mit ihrer Habe nach der Stadt bringen sollte, zu ihren Familien oder wo immer sie dort Unterschlupf fanden. Es gab nun keine zur Stadt gehörenden Nonnen mehr, ihr Kloster war ihnen endgültig verloren. Schon am Abend oder am nächsten, spätestens am übernächsten Tag sollten auch die letzten Mauern nur mehr ein Haufen alter Steine sein. Die Ställe, das Küchen- und das Backhaus sollten überleben, die waren nützlich für den Gasthof, der auf der vor langer Zeit geweihten Erde im friedvollen Alstertal errichtet werden sollte.

Eine bleiche Sonne versuchte das Grau des Februarhimmels zu durchdringen, vergeblich, doch der sanfte Schimmer, die Ahnung ihrer Existenz selbst an diesem Tag der Schrecken, gab den Frauen im Moment ihres größten Verlustes und der Ungewissheit ihrer Zukunft im Himmel wie auf Erden etwas von ihrer Zuversicht zurück. Gott ließ sie niemals im Stich, und die Madonna, die große beschützende Mutter Maria, blieb an ihrer Seite, einerlei, was die Herren der Stadt in Rat und Bürgerschaft beschlossen.

Vielleicht war es die kleine Terburga, die Älteste auf dem Wagen, vielleicht Engelke, die Jüngste, die mit zittriger Stimme begann. Es war nicht auszumachen, sie sangen wohl zugleich, die Älteste und die Jüngste. Und alle Frauen auf dem Wagen reckten die gebeugten Schultern, hoben die Köpfe unter dem schützenden schwarzen Schleier zum Licht und sangen. Sie sangen nicht die für diese Stunde vorgeschriebenen Gebete der Non. Sie sangen das Nunc dimittis der Komplet zum Abschluss des Tages, sie sangen vom Abschied, von der Bitte um den Schutz für die Nacht und um die Kraft zum Frieden.

Ihre Stimmen wurden klarer und stärker mit jedem Ton, sie schwebten hinauf ins Licht und über die Landstraße und die stillen, winterlich brachliegenden Felder, erreichten auch die Männer bei ihrem rüden Werk. Für einen Moment schwiegen die Hämmer, es war, als halte die Zeit den Atem an. Manch einer nahm die Mütze ab und senkte den Kopf wie im Gebet. Nur für einen Moment vor dem nächsten Schlag. An diesem bitterkalten Morgen des 10. Februar anno 1530.

Kapitel 1

An einem sonnigen Dienstagmorgen im Mai anno 1533 sah Anna Bünnfeld zu, wie ihr Blut in eine silberne Schüssel rann, und überlegte, ob das Silber von Eitelkeit zeuge. Reimare hatte so etwas erwähnt, allerdings war ihre jüngere Schwester eine strenge Person: Dinge, die nur das Auge erfreuten oder der Bequemlichkeit dienten, verurteilte sie leicht als überflüssigen Tand. Zum Glück hatte sie sich abgewöhnt, diese Kleinigkeiten sündig zu nennen, das machte den Umgang mit ihr viel angenehmer.

In der Schale an der Armbeuge der alten Dame hatte sich eine erkleckliche Portion Blut gesammelt, obwohl das Rinnsal dünn gewesen war. Dr. Warnow verstand sein Metier. Anders als bei seinem Vorgänger, der zuletzt schwache Augen und zitterige Hände gehabt hatte, gelang diesem Physikus der Aderlass ohne überflüssige Qual für die Kranken. Das war alles andere als selbstverständlich, wie Anna sehr gut wusste.

«Ihr seid die Einzige unter meinen Patienten, die den Blick nicht abwendet, wenn ich das Messer ansetze, Ihr seht sogar zu, wie das Blut rinnt.» Dr. Warnow drückte das zu einem festen Quadrat gefaltete Läppchen auf den Schnitt, um das Rinnsal aufzuhalten. «Die meisten Menschen haben einen Ekel vor ihrem eigenen Blut, das der Tiere am Schlachttag stört sie hingegen wenig.»

«Frauen sind an eigenes Blut gewöhnt, das wisst Ihr doch.»

Der Physikus begann, eine Binde um ihre Armbeuge zu wickeln. «Schön ruhig halten», ermahnte er, «mindestens bis zum Abend. Wenn es trotzdem wieder blutet …»

«… schicke ich Gesine, und Ihr kommt geeilt, mich zu retten, sei es auch um Mitternacht.»

Sie kicherte, was sich aus dem Mund einer sechzigjährigen, in Ehren ergrauten Witwe merkwürdig anhörte, wie sie selbst fand.

«Richtig.» Es war nicht nötig, sein breites Lächeln hinter der Maske der Beflissenheit zu verstecken. Andere Damen hätten es womöglich als Respektlosigkeit empfunden, Anna Bünnfeld war klug genug, diese Dinge zu unterscheiden. Da er das wusste und dem Irrtum vieler gebildeter Männer unterlag, die allermeisten Frauen seien von Natur aus einfältig und nur mit viel Mühe zu Vernunft und Verstand zu bringen, fand er den Umgang mit der Bünnfeldin angenehm, wobei – das muss hier gesagt werden – eine Dame ihres Alters schon seiner Kategorie ‹Frauen› entrückt war.

Die Bünnfeldin zeichnete eine gewisse innere Unabhängigkeit aus, das fand er erstaunlich, es war ihm bei einer Frau selten begegnet. Sie war seit Jahrzehnten Witwe, ihre Ehe mit Johann Bünnfeld hatte nur acht Jahre gedauert, er war erheblich älter gewesen als seine zweite Frau und lebte in behaglichem Wohlstand. Ihre Tochter, ihrer beider einziges lebendes Kind, war unter der Vormundschaft ihres Onkels jung und passend nach Osnabrück verheiratet worden. Also bestimmte die Bünnfeldin, soweit die guten bürgerlichen Sitten es gewährten, schon lange selbst über ihr Leben, über ihr Denken wie über ihr Handeln.

Dr. Warnow hatte an der Wittenberger Universität neben der Medizin auch die Rechte und ein wenig Mathematik und Theologie studiert, er hatte viel gelernt – von den Frauen verstand er gleichwohl wenig. Er hatte mit Bewunderung von der Frau Katharina Lutherin gesprochen, wie die meisten, die in Wittenberg gewesen waren. Aber die weithin als klug und tüchtig bekannte junge Ehefrau des großen Reformators fiel ebenso wenig in die schlichte Variante der Kategorie Frauen wie die Heiligen. Der Vergleich hätte Professor Luther zweifellos erzürnt, die Anbetung aller Heiligen verdammte er als Götzendienst. Gegen deren Verehrung hatte er allerdings nichts einzuwenden. So hieß es doch? Was war schon sicher bei all dem Neuen in dieser bewegten Zeit.

Dr. Warnow und die Frauen. Immerhin war bekannt, dass er sie mochte. In jüngeren Jahren war er verlobt gewesen, mit Unterschrift und Siegel. Nachdem das Mädchen an den Blattern gestorben war, mied er die vertraute Nähe mit Damen im Heiratsalter. Das plante Anna Bünnfeld zu ändern. Auch eine betagte Matrone brauchte eine sinnvolle Beschäftigung. Da ihr behagliches Vermögen von ihrem Bruder verwaltet wurde – gut verwaltet, das musste sie zugestehen, sie prüfte heimlich alles nach –, suchte sie sich von Zeit zu Zeit eine neue Aufgabe. Keine zu leichte, ein wenig Herausforderung tat not, sonst blieb es nur Zeitvertreib.

Sie hatte gründlich nachgedacht, das Für und Wider abgewogen und war endlich sicher gewesen und es auch geblieben. Hier waren zwei, die ihr sehr am Herzen lagen und wie füreinander geschaffen waren, nur zu dumm, es selbst zu bemerken. Oder zu stolz? Zu ängstlich? Verbohrt? Einerlei – die Bünnfeldin hatte eine Entscheidung getroffen und musste nur noch einen listigen Weg finden, damit sich alles glücklich fügte. Johannes hatte dazu geschwiegen, wie immer musste sie wichtige Angelegenheiten alleine entscheiden. Vielleicht ruhte er doch schon zu lange in seiner Gruft in St. Katharinen, als dass ihn weltliche Dinge wie die Stiftung einer guten Ehe noch interessierten.

Leider musste auch gesagt werden, dass eine Dame im fortgeschrittenen Alter sehr wenige fordernde Aufgaben fand. Die letzte, die sich auch nach Meinung der Bünnfeldin schließlich doch noch als lohnend erwiesen hatte, lag nun schon geraume Zeit zurück. Nachdem das einzige Frauenkloster der Stadt zerstört und die Gemeinschaft der Nonnen aufgelöst worden war, ein barbarischer Vorgang übrigens, dazu eine dumme Verschwendung, hatten einige der einstigen Nonnen geheiratet, andere waren in ihre Familien zurückgekehrt, wieder andere hatten Aufnahme in Schwesterklöstern in katholischen Herrschaftsgebieten gefunden. Jene, die weiter in ihrer vertrauten Gemeinschaft leben wollten und doch bereit gewesen waren, sich zur neuen, in dieser Stadt nun einzig gültigen, nämlich der lutherischen confessio zu bekennen, hatten schließlich in dem einstigen Dominikanerkloster St. Johannis an der Kleinen Alster eine neue Heimat gefunden. Aus den für ihr Selbstbewusstsein bekannten Hamburger Nonnen, die sich entschieden gegen die Auflösung ihres Klosters gewehrt hatten, waren so Jungfern geworden, Jungfrauen ohne Bedeutung.

Dass sie jedoch weiter in Gemeinschaft leben konnten, als Konvent, hatte einiges an Einflüsterungen in die Ohren Asmus Hogenstraats und eine ganze Reihe von Plaudereien mit Müttern und Ehefrauen anderer wichtiger Herren bedurft. Asmus hatte als Zweiter Bürgermeister ein gewichtiges Wort in der Stadt und flüsterte seinerseits in andere, noch gewichtigere Ohren. In diesem speziellen Falle waren die wichtigsten die der Herren Bugenhagen und des später zum ersten Superintendenten berufenen Pastors Johannes Aepinus gewesen.

Von Zeit zu Zeit war es doch angenehm, einen Bürgermeister zum Bruder zu haben – insbesondere zum jüngeren Bruder. Asmus war längst ein überaus erfolgreicher Kaufmann im Fernhandel und geachtetes Ratsmitglied, trotzdem blieb er der kleine Bruder, dem sie einst die Windeln gewechselt, die Ohren langgezogen und das Alphabet beigebracht hatte.

«Frau Bünnfeld?» Die Stimme des Arztes drang besorgt in Annas Bewusstsein. Seine Hand lag leicht auf ihrer Schulter. «Ist Euch nicht wohl? Es ist ganz normal, wenn Euch ein wenig schwach ist. Ihr müsst jetzt ruhen, unbedingt, und nicht wie beim letzten Aderlass gleich in die Küche eilen und mit der Köchin Einkäufe und Speisen für die nächste Woche besprechen. Und die Läuse auf Euren Rosenstöcken überlasst dem Gärtnerknecht. Hört Ihr!? Auch alles Übrige muss bis morgen warten.»

«Redet nicht mit mir wie mit einem Kind, ich habe nur nachgedacht. Manche Frauen tun so etwas, auch wenn Ihr, wie ich sehr wohl weiß, daran nicht glauben wollt.»

Nun lachte der Arzt offen und so laut, dass es die Frauen in der Küche und der Wäschekammer hörten, die Hände über ihrer Arbeit sinken ließen und erleichtert lächelnd nickten.

«Die Heftigkeit Eurer Rede, erlaubt mir das offene Wort, zeigt, dass es mit Eurer Schwäche nicht weit her sein kann. Vielleicht sollten wir noch ein wenig mehr Blut …»

«Keinesfalls! Ich bin nicht Sankt Sebastian. Ihr betont selbst immer wieder, Blut sei unser Lebenssaft, ohne den wir ebenso wenig wie die Tiere leben können. Oder wollt Ihr mich umbringen? Denkt daran», sie hob in gespieltem Groll den Zeigefinger, «wenn Ihr in meinem Testament bedacht werden wollt, benehmt Euch, wie es sich gehört.»

Ohne um Erlaubnis zu bitten, was sie mit leichtem Stirnrunzeln bemerkte, zog Dr. Warnow einen Hocker heran und setzte sich ganz nah an ihr Ruhebett. Er sah sie prüfend an, bevor er sprach. Die Bünnfeldin bemerkte in seinem Blick etwas Weiches, das sie seltsam berührte. Später, viel später, würde sie sich eingestehen, dass etwas in Warnows Blick sie an Johannes’ Augen erinnerte. Immer noch. Nach fast dreißig Jahren.

«Ich habe schon um Erlaubnis für ein offenes Wort gebeten, Ihr habt nicht protestiert, also gilt es als gewährt. Euer Testament interessiert mich nicht. Bezahlt mich gut, solange Ihr lebt. Das ist mir am liebsten.» Diesmal blitzte in seinen Augen nur ein amüsiertes Funkeln auf.

«Ihr könntet so höflich sein, junger Mann, zu erwähnen, dass es bis zu meinem Dahinscheiden noch sehr lange dauern wird und es noch nicht Zeit ist, daran zu denken.»

«Warum sollte ich das? Das liegt allein in Gottes Hand, und er hat Euch schon viele Jahrzehnte geschenkt. Hohles Geschwätz und Schleimerei vergiften Euer Blut nur aufs Neue mit schwarzer Galle.»

«Wie recht Ihr habt.» Anna seufzte. «In dieser Sache allerdings – nun, Ihr seid gern geradeheraus. Ich schätze das in der Tat – solange Ihr nicht übertreibt. Hoffentlich wisst Ihr zu unterscheiden, wo und in welchem Maß es angebracht ist.»

«Das hoffe ich auch.» Dr. Warnow rieb sich bekümmert das Kinn. «Lehrt mich doch, meine Zunge zu hüten, dann erspare ich Euch die Rechnungen für die Aderlasse.»

«Das, kluger junger Herr, ist nicht meine Sache. Die Erziehung der Männer liegt in den Händen ihrer Gattinnen, von anderen Bereichen des Leibes zu sprechen wäre selbst für eine so alte Frau wie mich höchst unschicklich. Sucht Euch endlich eine Ehefrau, am besten eine gebildete aus gutem Haus, sonst langweilt Ihr Euch, die wird Euch schon lehren, den richtigen Ton zu treffen.»

«Wenn es so weit ist, frage ich Euch um Rat. Ich bin sicher, Ihr habt passende junge Damen parat. Aber heute», er begutachtete den Verband um ihren Arm, drückte behutsam an den Rändern und nickte zufrieden, als kein Blutfleck entstand, «heute möchte ich meine Kompetenzen in anderer Weise überschreiten. Ein wenig nur, habt keine Sorge. Wir leben in unruhigen Zeiten», begann er, «und …»

«Ha! Ihr seid tatsächlich klug!»

«Nicht wahr? In unruhigen Zeiten», fuhr er unbeeindruckt fort, «gibt es vieles, das auch die Seele beunruhigt. Ich weiß nicht, ob dann der Teufel seine Hand im Spiel hat, ein Dämon, gar ein Engel, der mit dem Geschenk dieser Unruhe einen Fingerzeig geben will – in jedem Fall lohnt es sich, darüber nachzudenken.»

«Ihr sprecht in Rätseln, wisst Ihr das?»

«Nein.» Wieder wurde das Kinn gerieben. «Ich dachte, der Sinn meiner Worte sei offensichtlich. Was ich sagen will: Ein Aderlass zur rechten Zeit ist immer von Vorteil. Es erleichtert den gequälten Leib, wenn man ihn von der schwarzen Galle befreit und die Kräfte wieder ins Gleichgewicht bringt. Jedenfalls, solange man es nicht übertreibt. Ihr habt um die Behandlung mit dem Messerchen gebeten, weil Eurer Kopf häufig schmerzt, weil Ihr unruhig und mit unerfreulichen Träumen schlaft, weil Euer Herz zu heftig klopft.»

«Nur hin und wieder. Bringt mich dem Tod nicht näher, als ich ihm bin!»

«Weil Euer Herz nur hin und wieder zu heftig klopft. Wir wissen noch so wenig von den Menschen, von ihrem Körper, ihrer Seele, ihrem Geist. Das wird unterschieden, es steckt aber alles in einer gemeinsamen irdischen Hülle, also muss es verbunden sein. Je mehr wir darüber nachdenken, umso größer werden die Fragen. Was ich sagen will: Folgt Euren Gedanken und Eurem Fühlen, um zu erkennen, was Euch dort begegnet. Es ist ein Abenteuerland da drinnen», er klopfte leicht auf seine Brust und an seine Stirn, «das wisst Ihr so gut wie ich. Wagt das Abenteuer, auch wenn es mal durch ein tiefes Tal führt. Das wird eher zu Eurer Seelenruhe führen als der nächste Aderlass.»

«Auch eher als Gebete?»

Ihr Ton war scharf gewesen, er neigte den Kopf, abwägend, als lausche er auf eine innere Stimme.

«Das weiß ich nicht genau. Ich denke, auch Gebete sind gute Wege zu den verborgenen Kammern unserer Seele. Sofern sie sich nicht im Herunterleiern auswendig gelernter Texte erschöpfen.»

Er stand auf, strich die Ärmel glatt und lachte, diesmal klang es ein wenig bemüht. «Nun habe ich mich in die Angelegenheiten Eures Pastors gemischt. Verratet mich nicht, ich bitte Euch. Der brave Flemming ist ein großer Prediger, er weiß sicher auch den passenden Psalm gegen unruhigen Schlaf.»

Anna verbarg im Räuspern ein Lächeln hinter der vorgehaltenen Hand und nickte. «Sicher weiß er das. Ich werde ihn fragen. Warum seid Ihr eigentlich nicht der Arzt der frommen Jungfern in St. Johannis? Weiß die Ehrwürdige Jungfrau Domina Eure Künste nicht zu schätzen? Es heißt allgemein, sie sei eine kluge Dame.»

«Ihr wechselt das Thema. Ich möchte doch nur darauf hinw…»

«Dies ist so ein Fall, Doktor», sie hob gebietend ihre Hand, «den zu vermeiden eine Gattin Euch lehren kann: Ja, ich wechsele ganz offensichtlich das Thema. Das steht mir zu. Euch dagegen steht nicht zu, mich darauf hinzuweisen. Ich bin viel zu nachsichtig mit Euch, weiß der Himmel, warum. Also: Wie steht es mit den frommen Frauen an der Kleinen Alster? Mein Interesse ist weder allgemein, noch steht mir der Sinn nach Klatsch – es gibt schon viel zu viele Lästermäuler, die sich einen Spaß aus böser Nachrede machen. Eine ist meine jüngere Schwester. Halbschwester, um genau zu sein, und erheblich jünger, aber das hat nichts zu sagen.»

Tatsächlich hatte es eine Menge zu sagen, das ging den Physikus jedoch nichts an.

Wie jeder in der Stadt, der nicht gerade zu den Allerärmsten gehörte, wusste auch Dr. Warnow, dass Anna Bünnfelds Schwester Nonne im Kloster Harvestehude gewesen war und nun, nach dem Gebot der Stadt lutherisch konvertiert, mit achtzehn ihrer Mitschwestern im alten Johanniskloster lebte. Als die Jungfer Reimare nach dem rabiaten Abriss ihres Klosters im Haus ihrer Schwester hinter dem Garten Unterschlupf gefunden hatte, war er ihr bei seinen Besuchen bei der Bünnfeldin begegnet, was sie offenbar vergessen hatte.

Die Zurechtweisung hatte Dr. Warnow an seinen Stand und seine Rolle in der Gesellschaft dieser reichen Stadt erinnert. «Die Ehrwürdige Jungfrau Domina», erklärte er nun brav, «vertraut weiterhin dem ehrenwerten Doktor Bögermann. Nach den vielen Jahren als Physikus der frommen Jungfrauen gibt es keinen Grund, das zu ändern. Allerdings wird er selten konsultiert.» Ein Lächeln in seinem Mundwinkel verriet ein klein wenig Schadenfreude. «Er trinkt mit der Äbtissin, ich meine mit der Ehrwürdigen Jungfrau Domina, wie es nun heißen muss, einmal in der Woche vom Bier aus einem Brauhaus, über das die einstigen Klosterfrauen noch verfügen dürfen, und lässt sich gute Speisen vorsetzen – wie man hört, wird auch in St. Johannis gut gekocht – und dazu ein Kapitel aus dem Neuen Testament vorlesen. Zu kurieren hat er dort wenig. Eine der Jungfern versteht sich mindestens so gut darauf wie der verehrte Kollege. So heißt es jedenfalls. Obwohl, ohne ihren eigenen Apothekergarten hinter dem Harvestehuder Kloster? Man sagt, nicht nur die Pflanzen, auch die Samenvorräte sind verloren.»

«Sie werden ihn immer noch gut bezahlen», überlegte Anna Bünnfeld, die nicht auf die letzten Sätze geachtet hatte, «die Klosterjungfern haben ihren Habit, ihr angestammtes Kloster und die meisten ihrer Rechte und Besitztümer verloren. Bettelarm sind sie trotzdem nicht.»

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