Die Nacht des Schierlings - Petra Oelker - E-Book

Die Nacht des Schierlings E-Book

Petra Oelker

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Beschreibung

Die erfolgreiche Hamburg-Reihe feiert Jubiläum: Komödiantin Rosina ermittelt zum zehnten Mal. An einem sonnigen Herbstmorgen 1773 liegt ein Toter im morastigen Fleet. War der honorige Bürger ein Mitgiftjäger und Betrüger? Viele Hamburger hatten gute Gründe, Konditormeister Hofmann zu hassen: vom Apotheker im Opernhof über den jungen Grafen mit fragwürdiger Vergangenheit bis hin zum stummen Akrobaten Muto. Selbst die Beziehung zu Stieftochter Molly war nicht ungetrübt. Verdächtigt wird jedoch ausgerechnet Claes Herrmanns. Während der Großkaufmann erfährt, wie zerbrechlich Ansehen und Freundschaft sind, machen sich Komödiantin Rosina und Weddemeister Wagner auf die Suche nach dem Mörder. Nicht schnell genug, wie sich bald zeigt ...

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Seitenzahl: 631

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Petra Oelker

Die Nacht des Schierlings

Ein historischer Kriminalroman

Über dieses Buch

Die erfolgreiche Hamburg-Reihe feiert Jubiläum: Komödiantin Rosina ermittelt zum zehnten Mal.

 

An einem sonnigen Herbstmorgen 1773 liegt ein Toter im morastigen Fleet. War der honorige Bürger ein Mitgiftjäger und Betrüger? Viele Hamburger hatten gute Gründe, Konditormeister Hofmann zu hassen: vom Apotheker im Opernhof über den jungen Grafen mit fragwürdiger Vergangenheit bis hin zum stummen Akrobaten Muto. Selbst die Beziehung zu Stieftochter Molly war nicht ungetrübt.

Verdächtigt wird jedoch ausgerechnet Claes Herrmanns. Während der Großkaufmann erfährt, wie zerbrechlich Ansehen und Freundschaft sind, machen sich Komödiantin Rosina und Weddemeister Wagner auf die Suche nach dem Mörder. Nicht schnell genug, wie sich bald zeigt …

Vita

Petra Oelker, geboren 1947, arbeitete als freie Journalistin und Autorin von Sach- und Kinderbüchern, bevor sie mit dem Schreiben von Kriminalromanen begann. «Tod am Zollhaus» war der Auftakt der erfolgreichen Reihe, in deren Mittelpunkt die Komödiantin Rosina und das historische Hamburg stehen.

 

Weitere Veröffentlichungen:

Tod am Zollhaus

Der Sommer des Kometen

Lorettas letzter Vorhang

Die zerbrochene Uhr

Die ungehorsame Tochter

Die englische Episode

Der Tote im Eiskeller

Mit dem Teufel im Bunde

Die Schwestern vom Roten Haus

 

Daneben schreibt sie in der Gegenwart angesiedelte Kriminalromane, darunter «Der Klosterwald», «Die kleine Madonna» sowie «Tod auf dem Jakobsweg».

Hamburg, 1765 (Detailausschnitt auf den Seiten 44/45)

[Bild vergrößern]

Für Marita H. als kleiner Dank

Ich träumte von bunten Blumen,

So wie sie wohl blühen im Mai,

Ich träumte von grünen Wiesen,

von lustigem Vogelschrei.

 

Und als die Hähne krähten,

Da ward mein Auge wach,

Da war es kalt und finster,

Es schrien die Raben vom Dach …

 

Frühlingstraum

von Wilhelm Müller

(1794-1827)

All Ding’ sind Gift und nichts ohn’ Gift;

allein die Dosis macht,

dass ein Ding kein Gift ist.

 

Theophrastus Bombast von Hohenheim,

genannt Paracelsus

(1493-1541)

LISTE DER WICHTIGSTEN PERSONEN

ROSINA VINSTEDTals Rosina Hardenstein Wanderkomödiantin, nun sesshaft und immer noch sehr neugierig

MAGNUS VINSTEDTBürger und ihr Ehemann, ausnahmsweise nicht in heikler Mission unterwegs

ADAM WAGNERWeddemeister, nur scheinbar gemütlich und unsicher, braucht mal wieder neue Stiefel

CLAES HERRMANNSGroßkaufmann, echter Hanseat, gerät trotzdem ins Trudeln

ANNE HERRMANNSeine zweite Ehefrau, muss trotz inniger Liebe gegen Zweifel kämpfen

BRUNO HOFMANNschöner Mann und Konditormeister mit steiler, aber kurzer Karriere

MAGDA HOFMANNseine unglückliche Ehefrau, liebt leidenschaftlich

MOLLY RUNGETochter Magda Hofmanns aus erster Ehe, exzellente Konditorin, liebt zögerlich

LUDWIG PRAHMKonditorgeselle, ohne Karriere, liebt hoffnungslos

ELWA FRIESENMagd im Hause Hofmann-Runge, treu und tatkräftig, wie es sich für eine Magd gehört

GERRIT LEUBOLDApotheker im Opernhof mit seltsamen Besuchern; kenntnisreich, liebt heimlich

MOMME DRIFTINGApothekergeselle, errötet leicht und träumt vom guten Leben, leider vergeblich

FRIEDRICH REUTHERG. Leubolds Onkel, lebt gefährlich und liebt nur die Chymie

GRAF VON SAINT-GERMAINAbenteurer, Alchemist, Violinist, Okkultist, ziemlich weit rumgekommen – oder doch nicht?

BECKER’SCHE KOMÖDIANTENGESELLSCHAFT

JEAN BECKERPrinzipal, liebt Heldenrollen und seine Frau

HELENA BECKERseine Ehefrau, auf der Bühne und im Leben erste Heroine

TITUSnur auf der Bühne der Hanswurst, sonst ein treuer Ritter von trauriger Gestalt

MUTO GRIMMEsprachloser Akrobat mit heißem Herzen und unbekannter Herkunft, liebt eifersüchtig

FLORINDE SCHLICHTEkatzenschöne Tänzerin und Soubrette, bricht gern Herzen

RUDOLPHKulissen- und Flugwerkbauer, Feuerwerker

GESINEseine Ehefrau, Herrin der Kostüme

FRITZbeider Sohn, Flötist und Tänzer

Kapitel 1

Hamburg, im September 1773

«Ich bin ein glücklicher Mann.»

Das ging Claes Herrmanns durch den Kopf, als er der über den sandigen Zufahrtsweg davonschaukelnden Kutsche nachblickte.

Er lächelte, wie er sonst über ein fröhliches, Possen reißendes Kind lächeln mochte, denn dieser Satz widersprach seinem Naturell. Oder dem hanseatischen Usus, was möglicherweise das Gleiche war. Als wohlhabender Großkaufmann im fortgeschrittenen Alter, selbstverständlich von bestem Leumund und in geordneten Familienverhältnissen, pries man sich als zufrieden, höchstens als «vom Glück begünstigt». Aber glücklich? So viel Überschwang war unüblich.

Immer noch lächelnd, schlenderte er zurück in den Garten. Die Sonne neigte sich schon dem Horizont zu, nach einem strahlenden Tag wurde ihr Licht matt, doch der Garten wirkte im Übergang vom prallen Sommer zur Milde des Herbstes noch kraftvoll, seine Farben zeigten eine Leuchtkraft, als gelte es, den kürzer werdenden Tagen noch einmal mit aller Kraft zu trotzen.

Als ihn bei der jungen Robinie ein lautes Zwitschern aufhorchen ließ, blieb er stehen, um in ihrer Krone nach dem gefiederten Sänger zu suchen. Früher hätte er mit so etwas keine Zeit vertan, nun – und besonders heute – gefiel es ihm, dieses Stehenbleiben, einzig um nach einem Vogel Ausschau zu halten. Suchend wanderte sein Blick weiter zum Dach des Gartenhauses, zum den First krönenden Dachreiter mit der kleinen Glocke. Und da saß er, eine winzige dunkle Silhouette gegen den Himmel, hoch auf der Wetterfahne schmetterte er sein Lied.

Claes Herrmanns gab sich keine Mühe, herauszufinden, was für eine Art Vogel da so übermütig sang, als sei es ein heiterer Maimorgen. Er kannte sich mit den Finessen des Handels bis weit nach Übersee aus, auch mit der Politik, neuerdings sogar ein wenig in der Musik, aber Flora wie Fauna waren für ihn nur eine Art Mobiliar der Natur. In seinen gut fünfzig Lebensjahren war ihm nie in den Sinn gekommen, darüber nachzudenken. Nicht einmal aus Notwendigkeit, denn er hatte niemals materielle Not oder Hunger gelitten, war niemals obdachlos gewesen. Er wusste, dass das nicht selbstverständlich war, dass alles Weltliche vergänglich ist, aber bis in die Tiefe seiner Seele kannte er keinen echten Zweifel an der Sicherheit seines Lebens, der Bewahrung des Wohlstands, an der Zugehörigkeit zu den ersten Familien der Region. Er fühlte sich in seinem Leben wie in seiner Stadt sicher aufgehoben.

«Claes?» Anne Herrmanns’ Stimme klang amüsiert. «Wonach schaust du, Lieber? Etwa nach den Sternen?»

Sie kam den mittleren, leicht geschwungenen Gartenweg heran, mit den vertrauten raschen Schritten, die ihrem schlanken Körper diese Leichtigkeit und natürliche Eleganz gaben, die ihn selbst nach ziemlich genau acht Ehejahren immer wieder überraschten und mit Stolz erfüllten. Anne Herrmanns war gewiss nicht das, was man an der Elbe wie an der Themse als klassische Schönheit bezeichnete. Aber ihre grünen Augen mit dem ganz leichten Silberblick, die etwas zu spitze, überaus vorwitzige Nase, der, am Ideal gemessen, eindeutig zu große Mund, der lange Hals, die vom nachlässigen Umgang mit dem Sonnenschirm zeugenden Sommersprossen hatten ihn von Anfang an stärker angezogen als die Vorzüge der anderen Damen, die damals gerne die zweite Madam Herrmanns geworden wären. Auch bei ihren ersten Begegnungen auf Annes Heimatinsel Jersey war ihre Frisur stets in Unordnung gewesen. In Aufruhr, hatte er damals amüsiert gedacht, wie er sich gerne erinnerte.

Sie berührte zart seine Wange, mit der linken Hand, die rechte war erdig.

«Für die Sterne ist es noch zu früh», wandte er vernünftig ein. Anstatt die Sache mit dem Vogel zu erklären, strich er eine ihrer rötlich schimmernden, aus ihrer wie gewöhnlich verrutschten Frisur entkommene Haarsträhne hinters Ohr: «Manchmal frage ich mich, warum ich einen Gärtner samt Gehilfen bezahle, wenn meine Frau deren Arbeit verrichtet.»

Diese Frage war ein ständig wiederkehrendes Spiel zwischen ihnen, seit er sie zum ersten Mal am Rand einer Rabatte kniend gefunden hatte, die Hände schwarz von Gartenerde, eine große, nicht minder beschmutzte Schürze vor dem teuren Kattunkleid. Wo sie mit dem Handrücken den Schweiß abgewischt hatte, zierten erdige Streifen ihr Gesicht, neben sich hatte sie einen Haufen gejäteten Unkrauts und einen Korb mit noch unscheinbaren Pflänzchen. Natürlich kümmerten sich alle hanseatischen Damen um ihre Gärten, für Anne allerdings bedeutete der große, vor den Toren gelegene Garten mehr, in ihrem neuen Leben an Elbe und Alster war sie eine leidenschaftliche Gärtnerin geworden.

Nun verriet ihre Miene liebevolle Nachsicht und Geduld, Tugenden, die sie erst während der letzten Jahre erworben hatte. «Du bezahlst unseren guten Kampe, weil ich stets nur ein wenig an der Oberfläche kratze, rein zum Vergnügen, und die Früchte seiner Arbeit ernte. Ansonsten vertreibe ich mir mit ein wenig Gärtnerei die Zeit, wie es sich für eine Dame gehört.»

Auch in diesem Fall wussten beide, dass das nicht stimmte. Claes Herrmanns hatte vor fast acht Jahren einen verwilderten Garten an der Außenalster gekauft, in dessen Mitte ein heruntergekommenes Haus stand. Für eine Sommerdependance ein günstiger Kauf und schneller zu erreichen als die begehrteren Gartengrundstücke im Südosten in den Vier- und den Marschlanden. Es war Annes Planung und ihrer behutsamen Leitung des tüchtigen, leider auch störrischen alten Gärtners zu verdanken, dass aus der wuchernden Wildnis eine gepflegte, gleichwohl naturhaft und üppig anmutende Anlage geworden war, aus dem maroden Fachwerkgebäude eine so wohnliche wie elegante Sommervilla. Die Südwand zierte Spalierobst, hinter dem Haus und den alten Weißbuchenhecken versteckt, fanden sich der Küchengarten und drei Glashäuser.

Das kostspielige Unternehmen hatte sich gelohnt. Sogar ausgezahlt, wenn man es genau bedachte und die Summe der Geschäfte berechnete, die hier bei einem guten Essen und in heiterer Geselligkeit angebahnt oder entschieden worden waren. Wer in der Stadt zählte, ob in Handel oder Politik, überhaupt in der hanseatischen Gesellschaft, war schon zu Gast gewesen.

«Dein Garten ist schuld, Herrmanns», hatte Senator van Witten augenzwinkernd verkündet, als er vorhin in seine Kutsche gestiegen war, um ins Rathaus zurückzukehren, «die Terrasse, die verschwiegenen Wege mit ihren Hecken, der Kamin im Gartenzimmer. Wirklich außerordentlich hübsch und bequem, wo ließe sich besser diskret zu Behandelndes besprechen als hier. Dazu so nah bei der Stadt – wirklich schlau, alter Freund.»

Herrmanns hatte nicht widersprochen.

«Lass uns auf die Terrasse gehen», schlug er nun seiner Frau vor und schob seinen Arm unter ihren. «Ich glaube, in der Kanne ist noch etwas Kaffee übrig.»

«Gib mir eine Viertelstunde. Ich möchte nur noch ein paar der Rosenzweige aufbinden und die Hagebutten schneiden, schrecklich kleine Dinger in diesem Jahr, das Marmelademachen wird kein Vergnügen sein. Dann ist mein Pensum geschafft, und ich trinke gerne mit dir Kaffee. Und einen Sherry.» Sie blieb stehen, legte den Kopf ein wenig schief und sah ihn fragend an. «Nun sag schon», forderte sie, als er ihren Blick nur schweigend erwiderte, «haben sie dich gefragt?»

«Ehe du vor Neugier platzt, meine allerliebste Madam Herrmanns», sein Grinsen gab ihm trotz seiner grauen Schläfen etwas Jungenhaftes, «diesmal habe ich nicht abgelehnt. Mehr oder weniger. Ich habe van Witten gesagt, er solle wieder fragen, nachdem der alte Lohbrügg den Kampf gegen seine Krankheit verloren und das Zeitliche gesegnet hat. Wenn dann ein Senator für seine Nachfolge gewählt werden muss, mag er mich vorschlagen. Das heißt noch nicht», sagte er entschieden, «dass ich auch gewählt werde. Mir bleibt also noch ein Hintertürchen.»

Nun war es an Anne zu nicken. Sie lächelte nur bemüht, als sie, die getrocknete Erde von den Händen reibend und in der Tasche ihrer Gartenschürze nach der Schere suchend, zu den Rosensträuchern hinüberging.

Seit etlichen Jahren schon wurde Herrmanns von einflussreichen Mitbürgern gedrängt, sich in den Rat wählen zu lassen. Es gab keine höhere Ehre in dieser Stadt, und es hätte ihm geschmeichelt, als Wohlweisheit tituliert zu werden, wie es einem neuerdings auch Senator genannten Ratsherrn zustand. Bisher war es ihm günstiger erschienen, sich nur als Mitglied der Commerzdeputation in die Regierungsgeschäfte einzumischen, das war weniger zeitraubend und vor allem unauffälliger. Er war eitel genug, um gerne in erster Reihe zu stehen, wenn es jedoch um wirklich Wichtiges ging, zog er lieber aus dem Hintergrund die Fäden, darauf verstand er sich hervorragend. Wobei allerdings seine Gewissheit, er tue das von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, irrig war. Jeder wusste es. Mancher nahm es übel. Und war es aus Neid.

Er war weiter durch den Garten geschlendert, betrachtete stirnrunzelnd die schon vom Roten ins Schwärzliche ihrer vollen Reife wechselnden kleinen Fruchtbüschel in den Hartriegelsträuchern, ohne sie wirklich zu sehen. Ebenso wenig nahm er jetzt die schon ins Gelbe changierenden Blätter des Ahorns wahr, in dessen Schatten er stand. Dabei zählte just dieser zu seinen Lieblingsbäumen, er ging sonst nie an ihm vorbei, ohne die Fingerspitzen über den vertrauten Stamm gleiten zu lassen. An der Börse, bei den Speichern oder im Kaffeehaus würde er es natürlich nicht erwähnen, doch seit Anne ihn gelehrt hatte, den Garten auch mit ihren Augen zu sehen, hatte er heimliche Vorlieben entwickelt.

Warum dachte er jetzt und ausgerechnet heute an Feinde? Weil er sich als Senator notgedrungen heftiger würde streiten müssen? Ihm fielen sofort ein paar Angelegenheiten und auch Namen ein, die heftigen Streit versprachen. Auseinandersetzungen gehörten dazu, sie waren nichts als Herausforderungen, die es zu bestehen galt. Aber Feinde? Echte, ihm Böses wünschende Feinde? Die gab es nicht. Früher hatte er manchen Strauß auszufechten gehabt, gewiss, aber nun, in seinem gesetzten Alter – schon lange nicht mehr. Und wenn doch? Achselzuckend schlenderte er weiter. Dann hatte er eben Feinde. Wie andere Männer auch.

Die Zeiten änderten sich. Eine neue Herausforderung kam gerade recht, sonst rostete er nur ein. Christian hatte sich zu einem exzellenten Kaufmann gemausert, er bewies die richtige Mischung aus Wagemut, Vorsicht und Weitsicht, ohne sich der Erfahrung seines Vaters zu verschließen. Also überließ Claes Herrmanns seinem älteren Sohn stetig mehr Raum bei der Arbeit im Kontor, am Hafen oder in den Speichern, zögernder beim täglichen Gang zur Börse, bereitwilliger bei lästigen, zuerst den Geschäften dienenden Einladungen. Er hatte nie vergessen, wie er selbst das Familienunternehmen beinahe verlassen hätte, weil sein Vater ihm lange keinen Zollbreit Platz gemacht hatte. Heute war es für geschickte junge Kaufleute leichter als früher, irgendwo in der Welt neu anzufangen oder eine Dependance aufzubauen. Christian sollte gar nicht erst auf einen solchen Gedanken kommen. Herrmanns brauchte ihn nicht nur als Kompagnon und Nachfolger, er liebte seinen Sohn und wollte ihn in seiner Nähe wissen. Schlimm genug, dass seine einzige Tochter weit weg in den amerikanischen Kolonien lebte. Auch Niklas, sein jüngerer Sohn, würde bald das Haus verlassen, um in Göttingen zu studieren.

Natürlich blieb er der Primus seines Handelshauses, aber Christian würde sich umso lieber mit ihm beraten, je mehr er die Verantwortung mit ihm teilte, sogar bereit war, von dem Jüngeren und dessen frischer Sicht auf die Welt zu lernen. Das fiel leichter, seit er erlebte, wie Christian respektiert wurde. Sicher, er war ein Herrmanns, das bedeutete viel in der Stadt, aber in einer Kaufmannsrepublik wurde niemand einzig wegen seines guten Namens respektiert. Letztlich zählten nur Leistung, Verlässlichkeit, Erfolg. Und Honorigkeit. Die wohl noch mehr als Erfolg.

Er war seinen Gedanken gefolgt, ohne darauf zu achten, wohin sie ihn führten. Er erinnerte sich, dass er das letzte Glashaus passiert und dessen vorderes Fenster trotz der rasch abkühlenden Nachmittagsluft noch weit offen gestanden hatte. Nun zwang ihn ein Gestrüpp, stehen zu bleiben, er blickte sich irritiert um. Das Grundstück war nicht sehr weitläufig, jedenfalls wenn man es an etlichen der Gärten in den Billemarschen, den Vierlanden oder gar den Walddörfern maß. Als er dieses damals für den Kauf prüfte, hatte er es bis in die letzte Ecke erkundet, nun fand er sich plötzlich auf einem feuchten Wiesenfleck zwischen dichtem Gebüsch, verwahrlosten dornigen Hecken unter uralten Eichen und Ulmen wieder und war sicher, hier nie zuvor gewesen zu sein.

Er hatte keinen Graben überquert, keinen Zaun oder eine die Grenze markierende Hecke passiert, trotzdem musste er auf das Nachbargrundstück geraten sein. Eine solche Wildnis hätte Anne niemals auf seinem Besitz erlaubt, wie er hätte sie es als Verschwendung empfunden. Es war düster hier und roch moderig. Unwillkürlich hielt er den Atem an und lauschte – da war nichts. Ein Rascheln vielleicht im Unterholz. Von einem Igel? Einer Ratte? So nah am Wasser gab es meistens Ratten, eine Feldmaus wäre ja nicht zu hören. Er ließ den Blick durch dieses Stück Wildnis gleiten, dann fanden seine Augen in einer absterbenden, von Brennnesseln, Brombeerranken und anderem Gewucher erstickten Hecke den Durchgang. Aber er bewegte sich nicht. Gleich. Gleich würde er gehen, zuerst musste er wissen, wieso er hier hereingeraten war. Ohne es zu bemerken. Dass er sich in dieser einer Höhle gleichenden Ecke wiederfand, beunruhigte ihn.

Selbst wenn er zugestand, dass seine Sehkraft ein wenig nachließ, so doch keinesfalls genug, um sich zu verirren. Verirren. Im eigenen Garten? Das war lächerlich. So nahm er entschlossen den Weg hinaus aus diesem bedrückenden Rund und zurück auf vertrautes Terrain.

Er ging rasch, passierte schon nach wenigen Schritten den Küchengarten mit den Holunderbüschen entlang der Glashäuser und erreichte den Lustgarten. Mit den Blumenbeeten und -rabatten, den Ziersträuchern, jungen und alten Bäumen und der zum Alstersee und dem Bootsanleger hinunterführenden Rasenfläche glich er schon einem kleinen Park in englischer Manier.

Alles war wieder vertraut, doch wo die Farben in der Herbstsonne geglüht hatten, wirkte nun alles bleich, die Konturen verschwommen, die Stille dumpf. Eine breite Nebelwand kam rasch über den See, die Vorstadt St. Georg mit dem kupfergrünen Kirchturmhelm am jenseitigen Ufer verschwand schon, ihre Gärten und Dächer waren nur noch Schemen. War es so, wenn man blind wurde? Seine Augen suchten seine Frau. So dicht konnte kein Nebel sein, dass er ihre hochgewachsene Gestalt in dem lichtblau leuchtenden Kleid nicht irgendwo zwischen den Büschen und Stauden entdeckte. Er wollte sie umarmen, ihre Lebendigkeit fühlen, ihre Wärme. Doch Anne war nicht da. Beim Rosenrondell stand nur der Korb mit den Hagebutten, noch nicht sehr voll, daneben lagen Schere und Messer. Als habe sie beides einfach fallen lassen. Nachlässig, was nicht ihrer Art entsprach.

«Anne?» Seine Stimme klang rau, er musste lauter rufen. Sicher war sie zum Ufer gegangen, um das Schauspiel des herantreibenden Nebels zu sehen. Sie stand gerne dort und beobachtete den sich ständig verändernden Himmel über der weiten Wasserfläche. Manchmal mit sehnsüchtigen Augen, aber sie bestritt dann stets entschieden, dass sie beim Blick über den See noch nach all den Jahren das Heimweh nach ihrer Insel einholte. Oder war sie zum Tor hinausgegangen? Auch dort standen von Hagebutten schwere Rosenbüsche.

Allerdings ohne ihren Korb? Ohne die Gartenschere?

«Anne?», rief er, und als er ohne Antwort blieb, noch einmal: «Anne!»

Er hatte sie verloren. Für die Dauer eines raschen Gedankens, einer obskuren Vorahnung, war er dessen gewiss. Bis sie aus dem Gartenzimmer auf die Terrasse trat und ihm winkte. Das tiefe Glücksgefühl dieses Moments würde er lange nicht vergessen.

Im Oktober

Für gewöhnlich weckte sie die Turmuhr von St. Nikolai. Als heute die sechs Glockenschläge erklangen, hatte sie längst die Knöpfe ihrer Bluse geschlossen und die Bänder ihrer Röcke festgezogen, ein Vorrat an reinen Schürzen wartete stets im Flurschrank vor der Backstube. Ihre je nach Fall des Sonnenlichtes dunkelblonden oder lichtbraunen Locken lagen in Zöpfen fest um den Hinterkopf, nach dem Frühstück würde sie eine weiße Haube bedecken – Haare im Konfekt verdarben den guten Ruf. Sie schüttelte das Kopfkissen auf, breitete die Decke ordentlich über das schmale Bett und erlaubte sich noch einen Moment am Fenster, bevor sie es verriegelte. Die Morgendämmerung tauchte die Stadt in mattes Grau, in einer halben Stunde ging die Sonne auf, und aus den Straßen und Höfen, aus geöffneten Fenstern drangen die Geräusche des frühen Tages.

Erste schwerbeladene Fuhrwerke rollten auf dem Weg zum Hafen, zu den Märkten oder den mit dem Sonnenaufgang geöffneten Stadttoren durch die engen Straßen. Da waren auch Stimmen, noch gedämpft, als erlaube die erst weichende Dunkelheit noch keine lauten Töne oder gar Geschrei, ein Hahn krähte, ein anderer antwortete, dann noch einer, aufgeregtes Hundegebell mischte sich hinein, um mit einem schmerzerfülltem Aufjaulen abrupt zu verstummen. Der Kupferschmied mochte es nicht, wenn sein vierbeiniger Wächter nur wegen des Federviehs bellte.

Ein Fensterflügel quietschte, eine Decke wurde ausgeschüttelt, dann ein atemloses Husten. Marlene, die Hausmagd der Bölsches, hustete immer, wenn sie die Betten ihrer Herrschaft schüttelte, die ganze Nachbarschaft amüsierte sich darüber. Allerdings ohne dass die Bölsches davon erfuhren, Johannes Bölsche gehörte als Oberalter seines Kirchspiels zu den wichtigen Männern der Stadt, es wäre dumm gewesen, ihn zu verärgern. Noch dümmer, ihn zu verspotten.

Die Jungfer Runge mochte diese Stunde zwischen Nacht und Tag und wäre gerne ein Weilchen am Fenster geblieben, um zu lauschen und zu beobachten, während die rasch zunehmende Helligkeit die Stadt wie jeden Tag aufs Neue aus dem Dunkel erschuf, wie sich Dämmer zu Licht, Geräusche zum alltäglichen städtischen Lärm wandelten. Sie mochte auch die Gerüche dieser Stunde, wie den des Rauchs frisch angefachter Holz- und Torffeuer, den aus den wenigen verbliebenen Stadtgärten aufsteigenden taufrischen herben Duft. Diese Reinheit der Nachtstunden, bevor der Inhalt Tausender in die Gossen und Fleete geleerter Nachgeschirre, Urin und Kot zahlloser Zugpferde und -ochsen, Ausdünstungen der Schlachthäuser oder die brackige Feuchte und Muffigkeit aus Buden und Kellern die Gegenwart einer Überzahl von Menschen und Tieren auf zu engem Raum in Erinnerung rief.

Trotzdem mochte Molly Runge das Leben in der Stadt. In dieser Stadt. Die vielen Menschen, die vertrauten und die fremden, die sich hier niedergelassen hatten oder für einige Zeit ihren Geschäften nachgingen, die Gasthäuser, die stets belebten Märkte und Straßen, die schönen Kirchen, die Promenaden auf den Wällen, das Komödienhaus, die vielen Läden, der Hafen – es war ein buntes, immer aufregendes Leben.

Zu Besuch auf dem Land erfreute sie sich an der guten Luft, dem üppigen Grün und den schönen Gärten, besonders dem weiten Blick, dennoch zog es sie stets zurück. Bei allen Klagen, die sie hin und wieder anstimmte, war dies ihre Welt. Nirgends sonst fühlte sie sich ruhig und sicher. Obwohl sich seit dem Tod ihres Vaters, noch mehr nach der zweiten Heirat ihrer Mutter, so vieles geändert hatte.

«Einerlei», murmelte sie. Nun war es höchste Zeit. Die Hand schon auf der Türklinke, lauschte sie hinaus ins Treppenhaus. Das war Bruno Hofmanns Stimme, Meister der Fein- und Konfektbäckerei am Rödingsmarkt. Ihr Stiefvater.

Stritten sie? Nein, beide klangen – heiter? Wie zumeist am Morgen. Manchmal war es schwer, von seinem Tonfall auf eine Stimmung zu schließen. Für gewöhnlich war er gut gelaunt, an den anderen Tagen ging sie ihm lieber aus dem Weg. Was leichter gesagt als getan ist, wenn man im gleichen Haus lebt und alle Tage in der Backstube nur wenige Fuß voneinander entfernt arbeitet. Auch deswegen liebte sie es, in den großen Häusern der Stadt auszuhelfen oder bei besonderen Festlichkeiten direkt in deren Küchen Torten und Kuchen, Cremes und besonders ihre Spezialität, das Konfekt, herzustellen. An Anfragen mangelte es zum Glück nicht. Alles hatte sich zum Guten gewendet.

Wie seltsam, dachte sie und drückte endlich die Klinke herunter. Zum Guten gewendet. Sie wusste nicht, was daran seltsam klang, aber obwohl sie es vor wenigen Monaten noch für unmöglich gehalten hatte, war es jetzt so. Wahrscheinlich war sie in der ersten Zeit zu ungeduldig gewesen, zu misstrauisch. Überreizt, hatte ihre Mutter gesagt. Das gewiss nicht. Eifersüchtig? Keinesfalls. Zu jung vielleicht, zu kindlich noch. Auch das war vorbei.

Endlich trat sie aus ihrer Kammer im oberen Stockwerk. Ihre Tür schloss nahezu geräuschlos, der neue Hausherr achtete darauf, dass die Scharniere stets gut gefettet waren. Konditormeister Bruno Hofmann war kein für übergroße Empfindsamkeit bekannter Mann, aber quietschende Türen störten ihn mehr als Spinnweben und Mehlwürmer in der Backstube. Nun stand er auf dem unteren Treppenabsatz, die Arme um seine Ehefrau gelegt, und flüsterte etwas in ihr Haar. Dann sah er sie eindringlich an. «Das weißt du doch, Magda», sagte er. Als sie nicht antwortete, fasste er sie bei den Schultern, nicht unfreundlich, nur nachdrücklich. «Nichts hat sich geändert, Magda. Das weißt du!»

Molly sah ihre Mutter nicken, den Kopf noch gesenkt. Was sie dazu murmelte, drang nicht zu ihr herauf.

«So ist es recht», hörte sie dagegen ihren Stiefvater klar und deutlich, seine Stimme klang wieder sanft. «So liebe ich meine Magda. Und jetzt, Engelchen», er gab ihr einen nachlässigen Klaps aufs Gesäß, «wird flink gefrühstückt. Die Arbeit macht sich nicht von allein.»

Bei den letzten Worten hatte er im Aufsehen seine Stieftochter entdeckt und ihr, bevor er seiner Frau die Treppe hinabfolgte, zugezwinkert.

Dass Molly fröstelte, lag nur an der Frische des Morgens, auch wenn Elwa und der Lehrjunge die Feuer in Küche und Backstube längst geschürt hatten. Zudem war es im Treppenhaus noch zu dunkel, um ein Zwinkern sicher zu erkennen, trotz der beiden Kerzen in dem Leuchter, den ihre Mutter aus der Schlafkammer mitgebracht hatte und nun die Treppe hinuntertrug.

Molly atmete einmal tief durch, dann eilte auch sie hinunter, das Klappern der Holzpantinen war ihr ein beruhigend vertrautes Geräusch. Es hatte sich wirklich alles zum Guten gewendet, sie musste nur noch Acht geben, dass es so blieb.

In der Küche war es wohlig warm. Elwa stand am Feuer, die Ärmel ihrer groben blauen Bluse hochgekrempelt, das weißblonde Haar wie immer unter einer Haube verborgen, die Schürze schon bekleckert, und rührte in dem großen Topf den Morgenbrei. Sie nickte Molly mürrisch zu, grummelte, sie solle nicht im Weg rumstehen. So spät aus den Federn, es sei eine Schande, früher …

Molly küsste die Hausmagd amüsiert auf die hitzegerötete Wange, und Elwa schnaufte mit der ihr eigenen Mischung aus Missbilligung und Zufriedenheit. Sie füllte eine Schale mit der dampfenden Buchweizengrütze – die mochte Molly besonders gern, auch weil Elwa sie stets mit einer Handvoll aus der Backstube stibitzten Rosinen und einer Prise Zimt verrührte –, gab sie der Tochter des Hauses und wandte sich wieder dem Feuer und dem Kessel zu.

Ja, alles war gut, alles war wie immer. Molly setzte sich zu den anderen an den Tisch. Vielleicht hatte sie Elwa und ihre Nörgelei am meisten vermisst, als sie für einige Monate im Haus der Kaufmannsfamilie Herrmanns die Köchin vertreten hatte. Wenn sich alles änderte – Elwa blieb sich gleich. Die liebe alte Elwa. Sie war nicht steinalt, vielleicht ein halbes Jahrzehnt älter als die Meisterin, aber sie gehörte schon so lange zum Haus, wie Molly zurückdenken konnte.

Wie stets hatte Bruno Hofmann am Kopf des Tisches Platz genommen. Mit seinem kantigen Gesicht, den je nach Stimmung in Grau oder Umbra changierenden Augen, dem vollen dunklen Haar, den geschwungenen Lippen, die seiner Miene häufig etwas amüsiert Spöttisches gaben, war er ein schöner Mann. Er war schlank, hatte breite Schultern und kräftige Arme, selbst in der für einen Mann sonst wenig kleidsamen Arbeitskluft wirkte er anziehend. Viele hatte es geärgert, aber niemand konnte es wirklich gewundert haben, als Magda Runge nach dem Tod ihres Mannes diesen Konditor aus dem nahen Bergedorf erhörte, anstatt Ludwig Prahm, den ältlichen Gesellen, wie es dem Brauch eher entsprochen hätte.

Erhörte mochte wohl das richtige Wort sein, hatte die Weißwäscherin vom Grasskeller spöttisch geseufzt, wer so blind vor Verliebtheit sei, vor Liebe gar, dem bleibe nur das Hören. Was die Frau des zweiten Gesellen vom Küterhaus an der Kleinen Alster wiederum bezweifelte. Alle Tage so was Appetitliches wie den Hofmann in der Schlafkammer lasse sich doch keine gern entgehen, erst recht nicht, wenn sie schon in dem Alter sei, in dem Alter – na, das sei nicht weiter zu erklären. Könne ja jeder sehen.

Molly hatte den Klatsch gehört. Alle hatten das, aber eine Meisterwitwe konnte sich aussuchen, wer unter den geeigneten Bewerbern mit ihrer Hand auch das begehrte Meisteramt bekam. Oft genug war es umgekehrt, das wusste jeder, dann stieg der Geselle nur um den Preis der Ehe mit einer Witwe zum Meister auf. Nichts im Leben ist umsonst, und solange die Ämter strikt über die begrenzte Zahl der Meister wachten, war es für die meisten Gesellen die einzige Chance, je Meister zu werden. Niemand konnte behaupten, diese Ehen seien schlechter als andere. Eine solche Gemeinschaft diente dem guten Zweck und war nicht zum Vergnügen da. Jedenfalls nicht nur.

Bruno Hofmann allerdings hatte um Magda Runge geworben wie um eine junge Braut, sie betört wie ein Jüngling ein Mädchen. Viele Frauen hatten sie heimlich beneidet.

Nun nahm er eine Scheibe des feinen Roggenbrotes aus dem Korb in der Mitte des Tisches, bestrich es großzügig mit Butter und blickte, bevor er abbiss, in die Runde. «Wir alle haben schon unser Morgengebet gesprochen», erklärte er, «jeder für sich. Auf ein gemeinsames können wir jetzt verzichten. Also esst ohne Trödelei, wir haben heute viel zu schaffen.»

Ob gehorsam oder nur hungrig, Ludwig, der Geselle, und Sven, der Lehrjunge, tauchten umgehend die Löffel in ihre Schalen.

Molly sah Ludwigs Blick dabei über Butterteller und Konfitüreschüssel gleiten. Es war ein ausdrucksloser Blick, aber sie wusste, was er dachte: Butter an einem ganz normalen Dienstagmorgen und Konfitüre von den teuren Aprikosen!, stundenlang geköchelt und gerührt, viel feiner Zucker drin und für gutes Geld zu verkaufen. Das hatte es bei Meister Runge nicht gegeben. Der war ein solider Mann gewesen, gerecht, immer ehrlich und nie ein Verschwender.

«Nimm nur ein bisschen Butter, Ludwig», sagte sie und schob ihm mit aufforderndem Blick den Teller hin. Er sah sie an, sein Blick wurde weicher, doch er schüttelte knapp den Kopf und löffelte weiter seine Buchweizengrütze. Sven hingegen, ein Junge mit noch kindlichen Augen, rosigen Wangen und stets etwas wirrem schwarzbraunem Haar, sah sehnsüchtig zuerst den Teller, dann Molly an, aber da griff schon die Meisterin nach dem Butterteller und schob ihn vor die Schale ihres Mannes.

Auch Magda Hofmann hatte sich erst daran gewöhnen müssen, als etwas alltäglich wurde, das ihr erster Ehemann nicht gutgeheißen hätte. Es war ihr leichtgefallen, den neuen Usus zu mögen, wegen des Genusses, vor allem jedoch, weil sie Bruno Hofmann liebte. Ein bisschen zu sehr, fanden einige. Falls sie davon gehört hatte, hatte sie es ignoriert. Magda Hofmann, verwitwete Runge, war eine gefühlvolle, aber auch eine kluge Frau.

Sie saß, wie immer bei Tisch, zur Rechten ihres Mannes. Sie neigte ein wenig zur Fülle, was ihr stets eine kleidsame weibliche Weichheit gegeben hatte. Nun war sie jenseits der vierzig, gleichwohl war die Meisterin Hofmann auf eine reife Art ungemein ansehnlich zu nennen. In der Stadt wurde geargwöhnt, sie gebe heimlich Unsummen für ein Elixier aus, das, wenn nicht ewige Jugend, so doch Schönheit bis zum Tod ermögliche, andere flüsterten etwas von Salben, Tinkturen, gar Bädern in Eselsmilch, was alles völliger Unsinn war.

An diesem Morgen sah sie müde aus, wie oft in den letzten, so überaus arbeitsreichen Wochen. Aber ihr dichtes Haar, das oft bewundert wurde, auch weil es dem ihrer Tochter sehr glich, war zu einem akkuraten, kleidsamen Knoten geschlungen, Bluse und Brusttuch waren frisch, Magda Hofmann hatte schon immer auf Reinlichkeit und gute Ordnung gehalten, in ihrem Haus samt der Backstube wie bei sich selbst.

«Geht es dir gut, Mutter?» Mollys Stimme klang besorgt, Magda Hofmanns Brauen hoben sich unwillig.

«Natürlich geht es mir gut! Warum nicht.» Das war keine Frage gewesen.

«Ich dachte nur …»

«Ach, wegen meiner Augen.» Sie fuhr wegwerfend mit der Hand durch die Luft. «Die sind nur ein bisschen entzündet. Dieser hinterlistige Oktoberwind – man unterschätzt ihn jedes Jahr aufs Neue. Sei doch so lieb und frag den Apotheker, ob er etwas dagegen hat. Eine Salbe vielleicht, ein Heilwasser oder eine Essenz. Du gehst doch heute zu Leubold?»

«Ja, die Morsellen sind fertig, jedenfalls die erste Schachtel. Er soll sie probieren und prüfen, ob sie ihm so recht sind. Wenn er sie zu aromatisch findet, kann ich die Gewürzmischung ändern.»

«Ich finde sie besonders gut, Molly. Leubold wird froh sein, dass er so schlau war, seine Morsellen bei uns machen zu lassen.» Meisterin Hofmann tauchte endlich auch den Löffel in die Grütze. Heute Morgen hatte sie weder Hunger noch Appetit, eine leichte Übelkeit und ein unangenehmes Drücken in ihrem Leib machten sie matt. Sie würde es niemandem sagen. Gewiss nicht ihrer Tochter; wenn sie von ihr aber einige der Morsellen erbat, nur um als Meisterin den Geschmack zu prüfen, würden die vielleicht helfen.

Gerrit Leubold, der Apotheker beim Opernhof, gehörte zu den wenigen in der Stadt, die ihre Morsellen nicht selbst herstellten. Die Kügelchen aus Zucker und allerlei dem Magen und anderen Organen, weniger den Zähnen, dafür umso mehr der Zunge und der Seele wohltuenden Leckereien, verkauften sich besonders im Winter bestens, waren aber aufwendig herzustellen. Molly kannte sich darin aus, Morsellen mochten der Gesundheit dienlich sein, für sie waren sie zuallererst eine besondere Art Konfekt. Natürlich hieß es in der Stadt, alles, was aus der ehemals Runge’schen, nun Hofmann’schen Konditorei komme, sei Ergebnis der Arbeit des Meisters und stets unter seiner Anleitung entstanden, dennoch wusste jeder, dass in der Backstube am Rödingsmarkt Molly die tatsächliche Meisterin vieler der dort gefertigten Köstlichkeiten war.

So war es schon zu Lebzeiten ihres Vaters gewesen. Da er keinen Sohn hatte, an den er sein Handwerk weitergeben konnte, hatte er seiner Tochter alles beigebracht, was er konnte, sie alles gelehrt, was er wusste. Sie hatte ihn schließlich in seiner Kunst der Konditorei überflügelt, und er war stolz darauf gewesen. Es liege seiner Tochter eben im Blut, hatte er gern erzählt, besonders, wenn er bei einem Krug Bier im Bremer Schlüssel in der Neustädter Fuhlentwiete saß und jeder es hören konnte. Sollte ruhig jeder hören. Auf seine Tochter, sein einziges Kind, ließ er nichts kommen. «Auf meine Konfektprinzessin», hatte er dann vergnügt gerufen und seinen Krug gehoben. Der Molly könne keiner das Wasser reichen.

Jakobsen, der Wirt, hatte nach Runges allseits betrauertem Tod vermutet, sollte er von jenem Ort, wohin die aufgestiegenen Seelen wandern, auf diese Stadt und seine Tochter hinuntersehen, wäre sein einziger Kummer, dass er von dort nicht in der Lage sei, für Molly einen tüchtigen jungen Konditor zu finden, mit dem sie glücklich werden konnte. Einer, der sie nie aus der Backstube drängen werde.

«Aber vielleicht», hatte der bärige Wirt Jakobsen dann erklärt und seine sentimentale Seite gezeigt, «was wissen wir schon von dieser Gegend, wo die Seelen sind? Vielleicht kann Runge von da oben ja doch alles richten.» Man höre hin und wieder so was, und grad in diesem Fall wär’ es wunderbar.

Niemand, der Molly nicht das Beste gewünscht hätte.

Sicher war bisher leider nur, dass ihrem Vater noch kein Erfolg beschieden war, falls er aus unirdischer Ferne Einfluss zu nehmen versuchte. Ein halbwegs junger Konditor war aufgetaucht, allerdings nicht um die Tochter zu heiraten, sondern die Witwe. Und Molly, die doch jeder gernhatte, war mit ihren zweiundzwanzig Jahren schon auf dem Weg zur alten Jungfer.

«Ich werde an ein Mittel für deine Augen denken, Mutter. Sicher weiß Meister Leubold eines, das wirklich hilft. Er ist ein guter Apotheker.»

«Frag doch Momme», kam unvermutet Elwas Stimme aus der hinteren Ecke beim Feuer. «Der Momme weiß auch viel.»

«Ja», Magda Hofmann nickte entschieden. «Elwa hat recht. Momme ist ein feiner Mensch, auch klug, und er hat viel gelernt. Frag ruhig Momme, warum nicht. Leubold wird dir nur das Teuerste verkaufen wollen.»

Molly war überrascht. Dass ihre Mutter dem Apotheker misstraute und dessen Gesellen als feinen und klugen Menschen betrachtete, war neu.

Plötzlich hatte sie ein Gefühl von Fremdheit. Es lag nur an ihr selbst, sie hatte in den letzten Wochen stets anderes im Kopf gehabt und zu wenig darauf geachtet, was sonst im Haus vorging. Selbst die geröteten Augen ihrer Mutter hatte sie erst bemerkt, als die sie erwähnte, die frühe Morgenstunde ließ auch die Küche noch im Dämmer liegen. Sie hatte bemerkt, dass ihre Mutter müde aussah, erschöpft, aber es stimmte, die Augen waren gerötet und geschwollen. Molly glaubte nicht, dass sie entzündet waren. Das Lachen von Mutter und Stiefvater, das sie im Treppenhaus gehört hatte, mochte ein Versöhnungslachen gewesen sein.

«Du seufzt, Molly?» Hofmann wandte sich ihr aufmerksam zu. «Du hast doch nicht etwa Sorgen?»

«Geseufzt?» Sie zuckte gleichmütig die Achseln. «Ich hab’s gar nicht bemerkt.»

Sie nahm einen Schluck aus ihrem Becher – Meister und Geselle tranken wie stets ihr leichtes Morgenbier, für die anderen hatte Elwa nach Minze duftenden Kräutertee gekocht – und blickte wieder in die Runde.

Außer der Magd, die unermüdlich rührend bei Feuer und Topf geblieben war, saßen fast alle am Küchentisch, die nun zum Haus gehörten: am Kopf Bruno Hofmann, Meister und Hausherr, an seiner Seite seine Ehefrau Magda, ihr gegenüber Ludwig, der Geselle, neben ihm Sven, der Lehrjunge, schließlich Molly selbst. Sie saß Hofmann gegenüber am anderen Ende des Tisches, eigentlich war das der Platz ihrer Mutter. Dort saß Molly nun bei allen Mahlzeiten, seit sie aus dem Herrmanns’schen Haus am Neuen Wandrahm zurückgekehrt war. Hofmann hatte es nachsichtig lächelnd zur Kenntnis genommen und seiner stets seine Nähe suchenden Frau über die Hand gestrichen. Auch Magda hatte gelächelt, als sie zu ihm aufsah. Dankbar, wie Molly gefunden hatte, ohne Stolz.

Es fehlten nur noch Marius und Gerdi, die beide nicht im Haus wohnten. Marius war als ungelernter Gehilfe zuerst für die groben und schweren Arbeiten zuständig, auch für den Karren, mit dem die Mehlsäcke von der Mühle geholt wurden, Gewürze, Zucker, Trockenfrüchte, Mandeln, Nüsse und was man sonst an unterschiedlichsten Ingredienzien für die Feinbäckerei und Konditorei brauchte, vom Rosenwasser bis zur Pottasche. Vieles wurde direkt von den Speichern der Kaufleute geholt, manches in den Läden der Krämer. Gerdi war eine hagere Frau in mittleren Jahren, die ein wenig langsam im Kopf schien, aber fleißig und gewissenhaft war, immer gutwillig. Sie war seit einigen Wochen das Mädchen für alles, zumeist im Haus, oft auch in der Backstube.

Zu Meister Runges Zeiten war die Runde um den Tisch größer gewesen. Ein zweiter Lehrjunge war inzwischen entlassen worden, Hofmann hatte den Lehrvertrag gelöst, es hatte Gerede darum gegeben. Der jüngere zweite Geselle hatte sich ein halbes Jahr nach dem Einzug des neuen Meisters selbst einen anderen Arbeitsplatz gesucht. Es hieß, er sei nun wieder auf Wanderschaft. Molly glaubte trotzdem, ihn kürzlich bei den Fleischschrangen auf dem Hopfenmarkt gesehen zu haben, und hatte Ludwig nach ihm gefragt. Der hatte sich hinterm Ohr gekratzt, das schlecht rasierte Kinn gerieben und endlich gesagt, der Henning sei wieder auf Wanderschaft, bis zu den Franzosen wolle er diesmal, wegen der guten Pasteten. Abenteuerlustiger Kerl, der Henning, schon immer.

«Da hast du dich wohl geirrt, Molly», hatte er resümiert. «Kann schnell gehen bei den jungen Kerlen, die gleichen sich oft. Erst recht, wenn man einen nur in der Menge sieht, und auf dem Hopfenmarkt ist immer Gedränge, grad an den Markttagen, wenn die Bauern mit ihren Booten aus den Marschen kommen und bei den Märkten und Brücken festmachen. Vielleicht hast du Hennings Bruder gesehen. Ich glaub, er hat fünf davon.»

Das war für Ludwig eine lange Rede gewesen, offenbar hatte die Zeit der Schweigsamkeit ein Ende. Er hatte schwer am Tod seines alten Meisters getragen, jeder hatte es sehen können. Nicht dass Runge ihn besonders gut, gar besser als andere behandelt hätte, aber achtzehn gemeinsame Jahre bedeuten eine lange Zeit. Einer wie Ludwig hätte leicht eine andere Backstube gefunden, doch er war geblieben. All die Jahre. Und auch nach Runges Tod, was sicher nicht einfach gewesen war. Vielleicht – Molly hoffte es für ihn – fand er nun allmählich zu seinem Gleichmut zurück, zu seiner Seelenruhe.

Ob nun der richtige Moment war? Alle saßen schweigend über ihr Frühstück gebeugt. Die Speisen waren unter Bruno Hofmanns Herrschaft für alle üppiger, dafür verliefen die Mahlzeiten schweigsamer. Elwa und Ludwig sagten bei Tisch überhaupt nur selten ein Wort, Sven, der Lehrling, wie es sich gehörte nur, wenn er gefragt wurde, was selten vorkam, oder um Erlaubnis zum Reden bat, was er noch seltener tat. Der Junge war nun mal kein Schwätzer, so hatte er es selbst erklärt. Also würden ihr alle bereitwillig zuhören, wenn sie erklärte, was sie heute Nacht entschieden hatte. Sie wollte nicht mehr Molly heißen.

«Ich möchte etwas sagen!» Molly hatte gedacht, ihre Stimme klinge laut und klar, aber sie hörte selbst, wie dünn sie war. «Ja», fuhr sie fort und räusperte sich, «etwas Wichtiges.»

«Nur zu.» Magda Hofmann ließ den Löffel sinken und sah ihre Tochter erwartungsvoll an. «Du bist hier zu Hause, Kind. Wenn du etwas sagen willst, musst du doch nicht um Erlaubnis bitten. Wie eine Dienstmagd bei den Herrmanns.»

Wegen der Herrmanns hätte Molly gerne widersprochen, sie war dort keine Magd gewesen und auch nie so behandelt worden, doch dazu war nun nicht der Zeitpunkt. Sie räusperte sich noch einmal – und sagte nichts. Es müsste doch ganz leicht sein, sie musste nur sagen: «Ab heute heiße ich nicht mehr Molly, sondern so, wie es auf meinem Taufschein steht. Nein, Mutter, nicht Magdalena wie du, das würde nur Verwirrung schaffen. Nennt mich bei meinem zweiten Namen, Maria.»

Sie hob stolz das rundliche Kinn und richtete sich zu ihrer ganzen kleinen Größe auf, soweit das im Sitzen möglich war. Alle blickten sie erwartungsvoll schweigend an, und wie ein Blitz in schwarzer Nacht für den Bruchteil einer Sekunde eine Situation erhellt, sah sie plötzlich, was geschehen würde, wenn sie erklärte, sie heiße von nun an …

«Maria?», würde Bruno Hofmann fragen und sich weit vorbeugen, die Hand hinter dem rechten Ohr. «Ausgerechnet! Die Heilige Jungfrau!» Sein schallendes Lachen wäre bis hinaus auf die Straße zu hören.

«Die Kakaobohnen», stotterte sie, «es ist nur, ja, ich möchte die Kakaobohnen in dieser Woche selber rösten und mörsern. Wenn es recht ist, Ludwig. Weil ich ein neues Rezept ausprobieren will, immer nur mit Vanille und Zimt gewürzt, das wird langweilig. Ich möchte es mit Ingwer versuchen», erklärte sie hastig, «ja, mit Ingwer. Und mit Kardamom. Auch mit Orangenblütenwasser, habe ich gehört, soll die Schokolade ganz wunderbar schmecken. Sehr besonders, vornehm sogar. Das ist natürlich teuer, aber ein Löffelchen voll genügt schon. Rosenwasser wäre zu milde und ist noch teurer. Ich habe auch ein Rezept für einen Schokoladenlikör. Ja, dafür auch. Wenn es also recht ist …»

«Ja, Molly, ein guter Vorschlag.» Magda Hofmann nickte nachdrücklich. «Es ist immer von Vorteil, Neuigkeiten anzubieten, und jetzt zum Herbst wird scharfgewürztes Konfekt gern gekauft. Dafür zahlen die Leute auch den teuren Preis für die Schokolade.»

«Mir soll’s auch recht sein, Molly, Ingwer klingt gut zur Schokolade, und Likör trinken grad die gutbetuchten Damen gern.» Bruno Hofmann lehnte sich grinsend zurück. «Und ich hatte schon gedacht, jetzt kommt die Ankündigung von etwas wirklich Überraschendem.»

 

Nur ein paar Minuten von der Hofmann’schen Konditorei am Rödingsmarkt entfernt, nämlich in einer Wohnung in der Mattentwiete auf der Cremon-Insel, fand das Frühstück an diesem Morgen eine Stunde nach Sonnenaufgang statt. Auch unterschied sich die Stimmung deutlich. Rosina und Magnus Vinstedt saßen allein am Tisch, ihr zartgeblümtes Negligé war ebenso wenig zur Arbeit in einer Werkstatt oder Backstube geeignet wie sein bequemer, gleichwohl eleganter Hausrock aus dunkelblauem Samt, es gab Tee und süßes Brot mit Quittengelee. Die Vinstedts waren ähnlich kurz verheiratet wie Meister Hofmann und seine Frau, und auch diese Ehe war von vielen als unpassend betrachtet worden, allerdings aus anderem Grund.

Magnus Vinstedt war ein ordentlicher Bürger aus guter Familie, er hatte in Göttingen studiert und einiges von der Welt gesehen. Er war nicht wirklich wohlhabend zu nennen, aber bei halbwegs bescheidener Lebensführung konnte er recht behaglich von den Einkünften aus dem elterlichen Erbe leben. Von freundlichem Charakter und allerbesten Manieren, verbunden mit einigem diplomatischem Geschick, führte er hin und wieder diskret zu behandelnde Aufträge für die Ratsherren oder die Commerzdeputation aus.

Seine Ehefrau, mit ihren etwa dreißig Jahren nur wenig jünger als er, war von ähnlicher, tatsächlich vornehmerer Herkunft, was aber nur wenige in der Stadt wussten. Denn Rosina Vinstedt war viele Jahre als Wanderkomödiantin mit der Becker’schen Gesellschaft durchs Land gezogen, sie war Schauspielerin, Tänzerin, Sängerin gewesen. Nein, nicht wirklich gewesen, dem Herzen nach war sie es immer noch. Sie war ihrer Sehnsucht nach einem festen Ort und nach der Rückkehr in das Leben, aus dem sie einst geflohen war, gefolgt, als sie sich mit ihrer Eheschließung vor anderthalb Jahren von der Bühne verabschiedet hatte. Aber damit war sie bald von einer neuen Sehnsucht eingeholt worden, nämlich von der nach der Rückkehr ans Theater. Nach dem Spiel, nach dem Unterwegssein.

Sie seufzte, ohne es zu bemerken. Wenigstens war die Becker’sche Komödiantengesellschaft, für sie seit vielen Jahren, was anderen ihre Familie sein mochte, nun in der Stadt. Helena und Jean Becker, Prinzipalin und Prinzipal, hatten sich auf Rosinas und Magnus’ Plan eingelassen, sie würden zumindest für den Winter in der Stadt bleiben und im Kleinen Komödienhaus im Dragonerstall ein besonderes Programm spielen. Wenn Rosina auch nicht wieder selbst auf der Bühne stehen würde, war sie doch wieder dabei und mittendrin.

Magnus lehnte sich zurück und blickte seine Frau mit liebevoller Aufmerksamkeit an. Sie war mit ihren Gedanken offenbar weit weg, er kannte das und nahm es nicht übel. Dennoch war er gerne an ihren Gedankenreisen beteiligt.

«Du hast geseufzt», sagte er.

«Oh. Tatsächlich?»

«Tatsächlich.» Er nahm einen Schluck Tee, und als sie immer noch schwieg, fuhr er fort: «Du scheinst dir Sorgen zu machen. Als dein Mann will ich alles teilen, sag mir, worum es geht.»

«Ich würde es nicht Sorgen nennen. Mir ging nur gerade durch den Kopf, wie wir die Miete für das Theater bezahlen sollen, wenn das Publikum ausbleibt. Natürlich glaube ich das nicht», fügte sie rasch hinzu, «so ein Theater gibt es hier sonst nicht, Tanz, Couplets, Kulissenzauber und Feuerwerk, von vorne bis hinten unterhaltsam. Trotzdem – man weiß es nie.»

«Das Programm ist fabelhaft», versicherte Magnus. «Auch wenn Florinde nicht so gut ist wie du», es klang, als habe er seine Worte behutsam gewählt, «werden viele trotzdem ihretwegen kommen. Sie wirkt sehr – wie soll ich es sagen? Sehr einladend. Ja, das ist es wohl.»

Florinde, als ein neues Mitglied der Becker’schen Gesellschaft Erste Soubrette, junge Naive und Tänzerin, war in der Tat eine Schönheit. Und das absolute Gegenbild zu Rosina, deren Rollen sie übernommen hatte. Florindes Haar war beinahe ebenholzschwarz, lang, glatt und seidig, Rosinas dicke, schwer zu bändigende Locken waren honigblond, beide waren sehr schlank, und wenn Rosina sich auch die Beweglichkeit und Leichtigkeit einer Tänzerin erhalten hatte, entsprach die um etwa ein Jahrzehnt jüngere Florinde viel mehr der Verkörperung eines Geschöpfes, das in heitere, neckische oder frivole Rollen schlüpfte. Ihre Haut war trotz der langen Reisen auf dem Komödiantenkarren makellos, Rosinas schönes Gesicht zeigte schon gelebtes Leben, nicht zuletzt in der feinen Narbe, die sich über die linke Wange bis zum Kinn zog.

Nun war es an ihr, ihren Mann liebevoll anzusehen. Magnus hatte einen unabhängigen Geist, er blickte voller Neugier auf die Welt und mit einem verblüffenden Mangel an Vorurteilen. Wäre es anders, hätte er kaum den Mut gehabt, eine Wanderkomödiantin zu lieben und sogar zu heiraten, wenn auch eine mit großbürgerlichen Wurzeln. Sie hatte gefürchtet, er könne diesen Schritt bei aller noch so großen Liebe bereuen, sobald er merkte, dass sie wegen ihrer Vergangenheit Außenseiter bleiben mussten. Aber das war nicht geschehen, sie hatten Freunde in der Stadt, sie lebten ein gutes, wenn auch manchmal allzu ruhiges Leben. Sicher lag es nicht zuletzt an Magnus’ Unbefangenheit, mit der er sich auch als ihr Ehemann und mit ihr gemeinsam ganz selbstverständlich in der Hamburger Gesellschaft bewegte, wenn sie in den meisten Häusern gern gesehen waren.

«Du bist ziemlich wortkarg heute Morgen», schmunzelte er, «oder hat dir die Erwähnung der koketten Florinde die Sprache geraubt?»

«Spotte nur. Für die Vaudeville-Nummern ist sie genau die Richtige. Ich finde nur, sie könnte sich ein bisschen mehr Mühe geben. Sie ist nicht pünktlich bei den Proben, sie kann ihre Texte nicht, und wenn sie bereit wäre, weiter an ihrer Stimme zu arbeiten, wäre sie noch viel besser. Aber vielleicht ist es so, wie es ist, gut. Wäre ihre Stimme reiner, würde sie sicher gleich von einer größeren Gesellschaft oder gar an ein Hoftheater engagiert, und was sollten wir dann tun?»

Magnus grinste breit, sogar sehr breit. «Höre ich da Hoffnung in deiner Stimme? Jeder weiß, was wir dann tun sollten. Oder müssten. Wir …»

«Nein!» Rosina schob energisch ihren Stuhl zurück und erhob sich. «Ich weiß, dass du nichts dagegen hättest, wobei ich sicher bin, dass du diese Großzügigkeit bald bereuen würdest, aber ich habe mich dagegen entschieden, und dabei bleibt es. Was glaubst du, wird geschehen, wenn ich wieder auf die Bühne gehe? Ich würde da doch nicht mit frommem Blick und straffgezogenem Brusttuch stehen und Kantaten singen. Auf unserer Bühne – ach, das weißt du doch alles.» Sie küsste ihn auf die Wange, löste die obere Schleife ihres Gewandes und setzte sich ans Spinett. «Ich fürchte», sagte sie leichthin und schlug willkürlich ein paar Tasten an, «es ist schlimm genug, dass ich in diesem Frühjahr wieder unserem fleißigen Weddemeister Wagner ins Handwerk gepfuscht habe, dazu mit einer Dame, die in den Salons nicht empfangen wird. Andererseits», wieder schlug sie ein paar Tasten an, nun fügten sich die Töne zum Beginn einer Melodie, «immer noch besser in Gesellschaft halbwegs manierlicher Komödianten als unter Mördern und Spitzbuben. Oder? Als Monsieur Lessing noch am Großen Komödienhaus Dramaturg war, haben selbst Madam van Witten und die Bocholts mal das Theater besucht.»

«Sehr richtig», versicherte Magnus und bemühte sich um ein ernstes Gesicht, «sehr richtig. Trotzdem habe ich so ein Gefühl, als könntest du dich mit dem Entweder-oder nur sehr schwer arrangieren.»

Das bedurfte keiner Antwort. Sie wussten beide, wie recht er hatte. Allerdings nicht, wie bald sich sein Gefühl durch den Lauf der Ereignisse bestätigen werde.

Kapitel 2

Obwohl es auf Mittag ging, war die Luft in der Stadt noch frisch, die Sonne schickte, wo immer sich zwischen den Mauern eine Lücke öffnete, wärmende Strahlen in die engen Gassen, und von der Elbe flatterte ein beharrlicher kleiner Wind herein, der Molly an Schmetterlinge denken ließ. Den Schiffern und Schiffseignern, die auf guten Wind zum Auslaufen, den Händlern und Kaufleuten, die auf endlich einlaufende Schiffe warteten, wäre eine die Segel tüchtig blähende Brise natürlich lieber gewesen. Daran dachte Molly nicht, es hätte sie auch wenig gekümmert. Wenn nur jeder seine Arbeit tat, seine persönlichen Aufgaben und Pflichten sorgsam erfüllte, stand es um ein Gemeinwesen aufs Beste. Molly erinnerte sich nicht, wo sie das zuletzt gehört hatte, wahrscheinlich unter der Kanzel. Oder von ihrem Vater? Das war gut möglich, es passte zu seinen Überzeugungen. Meister Runge hatte seine Arbeit stets aufs Beste getan und als ein guter Hausvater für Frau und Tochter, Gesinde, Gesellen und Lehrjungen gesorgt.

Das tat der neue Meister auch, aber auf andere Weise. Er schuf nicht diese Geborgenheit, die früher im Haus am Rödingsmarkt so selbstverständlich gewesen war, dass sie niemand als etwas Besonderes betrachtet hatte.

Molly blieb an eine Hauswand gedrückt stehen, um einen mit Stroh und Feuerholz beladenen, von zwei barfüßigen Jungen geschobenen Karren vorbeizulassen. Hätten diese beiden für Meister Runge gearbeitet, hätte er dafür gesorgt, dass sie Holzschuhe bekamen, zumindest gebrauchte, in jedem Fall groß genug, um sie in Frostzeiten mit wärmendem Stroh zu polstern. Molly vermisste ihren Vater, und so würde es bleiben. Selbst wenn ihre Mutter sich für einen anderen Mann entschieden hätte, einen älteren, väterlicheren, wäre es so. Mit dem Tod ihres Vaters hatte Molly zum ersten Mal wirklich erfahren, dass kein Mensch ersetzbar ist. Jemand anders konnte seine Arbeit verrichten, seine Pflichten übernehmen oder für ihn die Stimme erheben, dieses leere Fleckchen jedoch, das er in ihrer Seele hinterlassen hatte, konnte niemand füllen. Manchmal wurde die Sehnsucht, er möge wieder da sein und mit ihm auch das alte Leben, zum bohrenden körperlichen Schmerz. Mit dem Tod ihres Vaters war sie endgültig erwachsen geworden. Was sie als Mädchen nie hatte erwarten können, gefiel ihr nun nicht mehr.

Sie eilte weiter, ihr gutgefüllter Korb schien ihr heute leicht. Viel Volk war unterwegs, wie gewöhnlich um diese Zeit, und in der Neuen Wallstraße, der elegantesten der ganzen Stadt, rollten besonders viele Kutschen zwischen den Fuhrwerken und Karren. Molly liebte es, an den vornehmen, erst in den letzten Jahrzehnten erbauten Häusern mit den großen und lichten Etagen entlangzugehen. Hier wirkte nichts alt, schmutzig und eng. Am liebsten wäre sie der breiten Straße bis zu ihrem Ende an der Binnenalster gefolgt und über den Jungfernstieg zum Opernhof gegangen, aber sie kannte sich. Auf jenem Weg gab es unterwegs immer so viel zu sehen, die Menschen, die Straßenverkäufer, der wunderbare Blick über den See, die anlegenden Boote – all das lud zum Staunen und Träumen ein, aber dafür waren ihre Vormittage nicht gemacht.

Also nahm sie den direkteren Weg, passierte zwei schmale Durchgänge und bog in die Straße ein, die man Hinter den Bleichen nannte. Die Wiesen der Bleicher waren schon lange auf das freie Feld außerhalb der Stadtbefestigung verlegt worden, sogar zu lange, als dass Molly noch eine in der Stadt gesehen hätte. Hier verbarg sich zwischen den großen Häusern nur noch der uralte, schon seit Jahren vernachlässigt aussehende Garten der Ratsapotheke. Sonst war hier längst jedes Grundstück eng bebaut. Auch in Straße und Hof, die noch nach den Gerbern benannt waren, fanden sich die Gruben und Werkstätten nicht mehr. Das erbarmungslos stinkende und die Fleete verschmutzende Gewerbe war in die Vorstadt St. Georg und auf den wenig besiedelten Hamburger Berg verbannt worden, einige hatten sich in dem unter dänischer Herrschaft stehenden Dorf Wandsbek angesiedelt.

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Schon klapperten ihre Pantinen munter auf dem zur Neustadt hinüberführenden Holzsteg über das Bleichenfleet. Die kleine, von der Zeit, von Sonne, Wind und Regen verwitterte Madonna, die mit ihrem Kind von einer Nische im Giebel des Eckhauses Neue Gerberstraße auf sie heruntersah, lächelte. Molly war ungezählte Male vorbeigegangen, ohne sie zu bemerken oder ihr gar Aufmerksamkeit zu schenken. Vor einigen Wochen hatte irgendetwas sie stehen, den Kopf in den Nacken legen und hinaufsehen lassen. Just in jenen Tagen, als sie zum ersten Mal darüber nachgedacht hatte, dass sie nicht mehr Molly heißen wollte.

Als an jenem Morgen in der vergangenen Woche alle anderen nach dem Frühstück die Küche verlassen hatten, hatte Elwa sie mit dieser strengen Falte über der Nasenwurzel angesehen, die Molly als Kind gefürchtet hatte. Dann hatte die Magd Schalen und Löffel vom Tisch geräumt, die restlichen Brotstücke in einen Tontopf gelegt und Molly noch einmal angesehen. Milder diesmal. «Was wolltest du vorhin wirklich erzählen?», hatte sie endlich gefragt. «Die anderen haben die Sache mit deinen neuen Rezepten vielleicht geglaubt – ich nicht.»

Sie hatte ein bisschen herumgedruckst, aber dann, als Elwa sich aufseufzend einfach wieder über ihren Topf beugte, hatte sie es gesagt.

Wieder hatte Elwa sie angesehen, diesmal prüfend, ohne die strenge Falte über der Nasenwurzel. «Das ist dummes Zeug», ihre Stimme hatte ungewöhnlich milde geklungen, «das weißt du. Man nennt sich nicht plötzlich anders.»

«Warum nicht? Es ist mein richtiger Name, Molly ist falsch. Und jede Frau heißt plötzlich anders, wenn sie heiratet.»

«Das ist was anderes. Warum überhaupt Maria?»

«Mein erster Name geht nicht. Mutter heißt auch Magdalena. Für alle ist es ihr Name. Ich habe eigentlich gar keinen. Bisher heiße ich nur Molly, weil ich immer schon so rund war.»

«Nicht immer. Zuerst warst du verdammt dünn, ich hab schon gedacht …» Elwa unterbrach sich und wischte mit dem Handrücken über den Mund, vielleicht weil dort noch eine Brotkrume hing. «Egal, hat ja nicht lange gedauert. Ich denk mir, deswegen haben wir dich dann Molly genannt, wenn so ’n Würmchen erst ganz dünn ist und dann hübsch rund wird, ist der Name genau richtig.»

«Stimmt, Elwa, aber nun bin ich schon lange kein Würmchen mehr. Nun bin ich Maria.»

Die Magd beugte sich tief über den Breikessel und begann mit dem Holzlöffel die Reste der Grütze zusammenzukratzen. «Und warum nicht Antonia?»

«Mein dritter Name? Der ist auch schön, ja. Aber was glaubst du, was sie daraus machen würden? Tony. Oder Anni. Dann kann ich gleich bei Molly bleiben. Nein, ich will Maria heißen. Und irgendwann», sie hob achselzuckend die ausgebreiteten Hände, «irgendwann ist es so weit. Ich kann warten.»

«Des Menschen Wille ist sein Himmelreich», grummelte Elwa, ihre Stimme kam aus dem Topf wie ein dumpfes Echo zurück, und Molly lachte.

«Das klingt wie direkt aus der Unterwelt. Wie wenn in der Komödie der Teufel ins Spiel kommt.»

«Dann pass mal gut auf.» Elwa hob den Kopf und drohte mit dem Löffel, aber in ihren Augen blitze es so wie früher, als sie das juchzende Kind, das Molly einmal gewesen war, über den Hof oder rund um den Tisch gejagt hatte, um sie am Ende zu fangen, durch die Luft zu wirbeln und ihr eine kleine Leckerei in den Mund zu stecken. «Nicht jeder Teufel spielt Komödie.»

Seither war fast eine Woche vergangen, und Molly war vorerst Molly geblieben.

Als sich nun die schmale Straße zum Gänsemarkt öffnete, blieb sie bei dem hölzernen Glockentürmchen stehen, einem von mehreren in der Neustadt, die die Glocken von St. Michaelis ersetzten, solange die große, neuerbaute Kirche noch keinen Turm hatte. Sie griff ihren Korb fester und blickte auf das für einen ganz normalen Montag ungewöhnliche Gedränge in der Nähe des Durchgangs zum Opernhof. Sonst hätten die vielen Menschen ihre Neugier geweckt, heute hatte sie anderes im Sinn. Der weite, dreieckige Platz mit dem Wach- und Spritzenhaus war einer der größten in der längst zu eng gewordenen Stadt. Die meisten Verkaufsbuden standen auf dem älteren Hopfenmarkt um die St. Nikolaikirche, ziemlich genau in der Mitte der Stadt. Aber überall, wo es die Breite der Straßen erlaubte, gab es Verkaufsbuden von Hökern, Töpfern, Drechslern oder Wachsziehern, riefen Straßenhändler ihre Ware aus. Auf dem Gänsemarkt roch es zudem stets nach Zimtwaffeln, oft nach köchelnder fetter Suppe. Ganz Hamburg, hatte neulich jemand gesagt, sei ein großes Kaufhaus.

Molly kümmerte sich nicht um die verlockenden Buden, ignorierte tapfer eine Händlerin, die einen besonders hübschen, angeblich mit feinsten Schwanenfedern besetzten Fächer anbot, und ging am Wachhaus vorbei über den Platz. Da wich die Menge plötzlich einer Welle gleich zurück, es wurde geraunt, geklatscht, gelacht, und nun erkannte Molly, wer die Leute angelockt oder im Vorübergehen festgehalten hatte: ein Akrobat und eine Tänzerin. Jedenfalls sah die junge Frau wie eine Tänzerin aus, der zierlich vorgeschobene rechte Fuß unter dem die Knöchel freigebenden und in allen Regenbogenfarben schillernden Rock, die graziös erhobenen Arme, die ganze überaus schlanke und biegsame Figur.

Der Akrobat sprang vor, trotz seiner Größe und seines kraftvollen Körpers federnd und leicht, selbst wie ein Tänzer. Er griff die Hände seiner Partnerin, erst die linke, dann die rechte, und schon wirbelte sie hinauf, ihre Röcke flogen einer sommerblütenbunten Wolke gleich, ihr schwarzes Haar löste sich aus den Bändern und glitt wie ein Seidenvorhang über ihren Rücken. Dann stand sie auf seinen Schultern und balancierte anmutig seine Bewegungen aus, als er so tat, als wolle er sie abschütteln. Die Menge lachte, ein Mann johlte gar, eine Frau kreischte angstvoll auf, als die Ballerina von den Schultern des Akrobaten rutschte, für die Dauer eines Wimpernschlages in der Luft zu schweben schien, bevor sie von seinen kräftigen Armen aufgefangen wurde. Seine Augen, sein ganzes Gesicht waren Ausdruck stolzer Freude. Leicht wie eine Feder hob er sie hoch, drehte sich einmal mit ihr im Kreis und setzte sie, nun ganz zerbrechliche Elfe, behutsam auf die Erde. Sie sank in einem höfisch anmutenden Knicks nieder und verharrte, den Kopf auf den vorgestreckten rechten Fuß gebeugt, bis der Applaus aufbrandete. Da sprang sie auf, zauberte ein rotes Filzhütchen aus den bunten Bahnen ihrer Röcke und begann mit schmeichelndem Lächeln und kleinen, lustig hüpfenden Schritten entlang der Menge einen Obolus für ihre Kunst zu erbitten.

Molly hätte gerne einen Dreiling in das Hütchen geworfen, doch ihre Rocktasche war leer. Sie trat einen Schritt zurück, und just bevor sie gegen ihn stolperte und ihr hölzerner Absatz seinen Fuß traf, roch sie schon die seltsame Ausdünstung des Apothekergesellen.

«Jungfer Runge, da seid Ihr ja!» Momme Drifting überhörte errötend Mollys erschreckte Entschuldigung, was womöglich daran lag, dass es keiner bedurfte. Er hatte den unerwarteten Zusammenprall als höchst angenehm empfunden. «Da habt Ihr so nah bei mir gestanden, und ich habe es nicht bemerkt? Wirklich schändlich. Welche Freude, Euch zu sehen, Jungfer Runge, ich meine, der Meister wird sich freuen. Er wartet dringend auf Eure Morsellen, und natürlich auf das andere Konfekt. Auf das mit dem Ingwer sind wir besonders gespannt. Aber habt Ihr das gesehen? Das Tanzen ist doch eine herrliche Kunst. Natürlich hat der Akrobat auch seinen Teil dazu beigetragen, aber dieser Tanz. Diese Leichtigkeit.» Driftings rechter Fuß versuchte eine der eleganten Bewegungen der Tänzerin, was ihn ein wenig stolpern ließ, er glich nun mal weder dem Akrobaten noch der Tänzerin, viel eher der jungen Konditorin, die ihm mit einer Mischung aus Amüsement und Verblüffung zusah. «Und diese Kleider, bunt und doch noch schicklich, ja, ich meine», gerade rechtzeitig fiel Momme ein, was die Sitte forderte, «bunt, wie Gott die Natur geschaffen hat, wie eine Wiese im Frühsommer. Solche Röcke würden Euch auch ganz wunderbar kleiden, Jungfer Runge, wirklich wunderbar.»

Der Geselle der Michaels-Apotheke beim Opernhof vibrierte vor Begeisterung, wobei fraglich blieb, was ihn stärker beeindruckt hatte, ihre und des Akrobaten Kunst oder das äußerst freizügige Dekolleté der jungen Akteurin, der Blick auf ihre wohlgeformten, im Tanz wunderbar unschicklich entblößten Beine. So oder so war er in zahlreicher Gesellschaft, im Hütchen der Tänzerin klimperte es vergnügt, als Molly, just bevor das Klimpern allzu nah kam, an ihre leeren Taschen dachte und Momme mit sich in den Durchgang zur Apotheke zog.