Das Kleinste ist nicht zu klein - Sarah Brendel - E-Book

Das Kleinste ist nicht zu klein E-Book

Sarah Brendel

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Beschreibung

Sie sitzt auf dem Boden bei obdachlosen Menschen, besucht Geflüchtete in Zeltstädten, singt in Gefängnissen, öffnet ihr Zuhause und vor allem ihr Herz, um anderen Heimat und Liebe zu schenken. Eine Frau, die keine Angst vor Nähe hat zu Menschen, die fremd sind oder am Rand der Gesellschaft stehen. Sarah Brendels Leben erzählt von einzigartigen, oft wunderhaften Begegnungen. Kurios, traurig, berührend, lustig und fröhlich. Es zeigt den Mut und die Schönheit einer Nächstenliebe, die Menschen Gottes Zuwendung bringt. Und es macht Mut, auch im eigenen Leben immer wieder das Große im Kleinen zu entdecken.

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Seitenzahl: 303

Veröffentlichungsjahr: 2024

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SARAH BRENDEL (Jg. 1976) lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern bei Dresden, nahe der sächsischen Schweiz, in der Künstlerkommunität »Schloss Röhrsdorf«. Sie ist Musikerin, veröffentlichte mehrere Alben und spielte Hunderte Konzerte im In- und Ausland. Mit Freunden gründete sie den »Refugeeum e. V.« für Menschen auf der Flucht und engagiert sich für die Menschenrechtsorganisation »IJM«. Neben vielen Projekten genießt sie vor allem das Familienleben, Spaziergänge, Kochen, Schallplatten und Gartenarbeit.

»NICHT WORTE SUCHT GOTT BEI DIR, SONDERN DAS HERZ.«

AUGUSTINUS

Sie sitzt auf dem Boden bei obdachlosen Menschen, besucht Geflüchtete in Zeltstädten, singt in Gefängnissen, öffnet ihr Zuhause und vor allem ihr Herz, um anderen Heimat und Liebe zu schenken. Eine Frau, die keine Angst vor Nähe hat zu Menschen, die fremd sind oder am Rand der Gesellschaft stehen. Sarah Brendels Leben erzählt von einzigartigen, oft wunderhaften Begegnungen. Kurios, traurig, berührend, lustig und fröhlich. Es zeigt den Mut und die Schönheit einer Nächstenliebe, die Menschen Gottes Zuwendung bringt. Und macht Mut, auch im eigenen Leben immer wieder das Große im Kleinen zu entdecken.

»Wer dieses Buch liest, kann nicht mehr blind an Menschen vorbeigehen, die von der Gesellschaft übersehen werden. Ich hätte regelrecht Angst, ein Wunder zu verpassen, seit ich Sarahs Geschichten kenne.«

JUDITH STEIN, Leitung Partnerschaften »International Justice Mission Deutschland«

»Sarah Brendels Musik fasziniert mich seit Jahren. Durch ihr Buch weiß ich nun, warum. Sie stammt aus dem Herzen einer Frau, die auf beeindruckende Weise lebt, was uns Menschen aufgetragen ist: einander zu lieben, Vertrauen zu haben und mit Gottes Liebe in Kontakt zu sein.«

UWE BIRNSTEIN, Theologe und Musiker

»Authentisch, mitreißend, unbequem, hoffnungsvoll. Sarahs Erlebnisse haben uns so bewegt, dass wir das Buch kaum zur Seite legen konnten. Sie besitzt die Fähigkeit, eine Situation so zu beschreiben, dass man denkt, dabei gewesen zu sein, bleibt bei sich selbst und zeigt größten Respekt für Menschen, egal welcher Herkunft. Kennt man Sarahs Lieder und Melodien, kann man sie beim Lesen hören. Die ermutigenden Geschichten sind gleichzeitig Aufforderung, sich zu trauen, intensiver zu leben.«

MAREN ERIC und DR. YASSIR ERIC, Theologe und Autor

SARAH BRENDEL

DASKLEINSTEIST NICHTZU KLEIN

MeinLebenswegmit Gott undMenschen

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Der Titel dieses Buches erfolgt in Anlehnung an ein Zitat von Dietrich Bonhoeffer:»Gott ist so groß, dass ihm das Kleinste nicht zu klein ist«(Bonhoeffer, Dietrich: Die erste Tafel der zehn Worte (Juni/Juli 1944; aus dem Gefängnis Berlin-Tegel).In: Eberhard (Hrsg.): Gesammelte Schriften. Auslegungen und Predigten 1933-1944, Band 4, München, Chr. Kaiser, 1961, S. 597-612).

ISBN 978-3-7751-7629-3 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6194-7 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© der deutschen Ausgabe 2024

SCM Verlagsgruppe GmbH · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen. (ELB)

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen. (NLB)

Weiter wurden verwendet:

Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen

Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft.

Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten. (NGÜ)

Fotos im Innenteil:

Sofern nicht anders angegeben: © privat

Sarah Kienapfel: S. 70

Daniel Lindhüber: S. 214, 229

Lektorat: Anna Koppri

Umschlaggestaltung: Sybille Koschera, Stuttgart

Titelbild: Fotografin: Judith Ziegenthaler

Autorenfoto: © Judith Ziegenthaler

Gesamtgestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de

INHALT

ÜBER DIE AUTORIN

STIMMEN ZUM BUCH

PROLOG

KAPITEL I

KAPITEL II

KAPITEL III

KAPITEL IV

KAPITEL V

KAPITEL VI

KAPITEL VII

KAPITEL VIII

KAPITEL VIIII

KAPITEL X

KAPITEL XI

KAPITEL XII

EPILOG

PROLOG

»Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten, was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde innewürde, dass ich gar nicht gelebt hatte.«

– Henry D. Thoreau1

Ich schreibe und schreibe … ein Buch!

Es ist so ganz anders, als ein Lied zu schreiben. Viel unübersichtlicher und zeitintensiver. Und es ist herrlich, sich mal so richtig die Seele freizuschreiben.

»Schreibe, wie du redest, so schreibst du schön.«

– G. E. Lessing2

Dieser Satz erinnert mich daran, bei mir selbst zu bleiben, und sagt mir, dass es gar nicht so kompliziert ist, ein Buch zu schreiben, obwohl mein Kopf mir oft etwas anderes sagt: Bitte nicht noch ein Buch, das die Welt nicht braucht! Du bist keine Schriftstellerin. Ein Buch über dein Leben? Wie anmaßend! Lieder ja, aber gleich ein ganzes Buch?

Und nun sitze ich hier am offenen Fenster, höre die Vögel singen und schreibe. Ich hatte mir nie vorgenommen ein Buch zu schreiben. Doch während ich darüber nachdenke, merke ich, wie stark und wunderbar die Geschichten sind, die ich erlebt habe, und dass es gar kein wirkliches Ende gibt, weil alles weitergeht. Jeden Tag aufs Neue.

»Mama pflegte zu sagen, dass man an den Schuhen, die sie tragen, viel über die Menschen erzählen kann. Wohin sie gehen, wo sie waren …«

– Forrest Gump3

Manchmal regnet es den ganzen Tag und der Kopf hängt voller schwerer Wolken. Jeder kennt solche Tage, an denen nichts zu gelingen scheint. Tage, an denen man sich fragt, wozu man eigentlich auf der Welt ist. Lebe ich denn überhaupt und wie lebe ich?

Ich lebe in einem reichen Land, ich kenne das Gefühl von Hunger nicht, ich wohne in mehreren Zimmern mit großen Schränken, vollgepackt mit Sachen. Ich schlafe in einem Bett aus weichen Federdecken, ich besitze ein Auto und fliege in Flugzeugen um die Welt. In meinem Regal stehen anregende Biografien von Mutter Teresa, den Geschwistern Scholl und Jackie Pullinger.

Auf einer verblichenen Postkarte über unserer Moccamaster hängt ein Satz von Martin Luther King, der mich wachhält. »Das Ich kann ohne das Du keine Erfüllung finden.« 4 Ich kann Dinge ohne dich und du kannst Dinge ohne mich tun, aber zusammen können wir die Welt bewegen. Wenn Worten Taten folgen, liegt darin eine unerschöpfliche Kraft. Unsere Gesten, einander wahrzunehmen, hinzugehen, hinzuhören, hinzugehören an Orte, zu Menschen, können Tag für Tag kleine Demonstrationen unserer Liebe sein.

Die indische Ordensschwester Mutter Teresa besuchte einmal ein Altenheim in Europa.

»Und ich ging hinein und sah, dass sie da in dem Heim alles hatten, wunderschöne Sachen, aber alle schauten nur zur Tür. Und ich sah keinen einzigen mit einem Lächeln im Gesicht. Und ich wandte mich an die Schwester und fragte: Wie kommt das? Was ist mit all diesen Menschen, die alles haben, warum schauen sie alle nur zur Tür? Warum lächeln sie nicht? Und sie sagte: Das ist fast jeden Tag so. Sie warten, sie hoffen, dass ein Sohn oder eine Tochter zu Besuch kommt. Sie sind traurig, weil sie vergessen worden sind.«5

Es ist nie unmöglich zu lieben. Sich einander zuzuwenden beginnt im Kleinen – zu Hause bei unserer Familie, auf dem Weg zur Arbeit oder auf einem Spaziergang mit einem Freund. Wo auch immer wir gerade sind, können wir Spuren hinterlassen. Schritt für Schritt, jeden Tag aufs Neue, können wir Orientierung sein, in einer chaotischen, anstrengenden Zeit.

Auf dem Weg durch mein Leben schreibe ich von Begegnungen mit Menschen. Einige dauerten nur einen Moment, einen Augenblick lang – nicht länger als ein Stoßgebet – und doch erinnere ich mich genau. Aus anderen wurden Freundschaften.

Ich möchte dir, liebe Leserin, lieber Leser, Mut zur eigenen Geschichte machen. Das Gefühl für die eigene Besonderheit, den eigenen Wert – Gott in deiner Person zu suchen und zu entdecken, um dem nahezukommen, was den Kern eines jeden Menschen ausmacht: das Herz.

Du kannst dieses Buch unterschiedlich lesen. Auf die ganz gewöhnliche Weise, von vorne nach hinten. Dann liest es sich chronologisch, von den Jahren meiner Kindheit bis heute. Genauso gut kannst du dir für kurze Lesemomente einzelne Geschichten raussuchen. Ich wünsche dir viel Freude und hoffe, dass du inspiriert wirst.

Deine Sarah

LIEDER

Meine Lieder, die du im Buch findest, kannst du dir hier anhören und die deutschen Übersetzungen dazu lesen:

sarahbrendel.de/das-kleinste-ist-nicht-zu-klein

KAPITEL I

»Ich wohne in der Möglichkeit – Ein fensterreiches Haus – viel heller als die Wirklichkeit Mit Türen – ein und aus –«

– Emily Dickinson6

DAS WUNDER MEINER KINDHEIT

Als ich noch ein kleines Kind war, verfielen meine Eltern starker Drogensucht. Beide kamen ins Gefängnis und ich kam in ein Heim und dann in eine Pflegefamilie. Nach vier Jahren holten mich meine Eltern zurück nach Hause. Sie waren frei von Drogen und ihr Herz war voller Leben. Hier beginnt meine Geschichte.

Ich erinnere mich an viele wilde Gestalten, die barfuß durch unseren Garten liefen, der weitab vom Lärm der Straßen in einem kleinen, unscheinbaren Dorf lag. Als ich diesen Ort zum ersten Mal betrat, war ich vier Jahre alt. Vorher hatte ich in einem hohen Haus im obersten Stockwerk mitten in der Stadt gewohnt und davor in einem Kinderheim. An beide Orte erinnere ich mich nur grau.

Der erste Blick durch das hölzerne Tor zum Garten zeigte eine blühende Farbenlandschaft aus sanften hellblauen Tupfern von Kornblumen und Wiesenklee in Strichen aus Altrosa. Ich blickte auf eine Wiese aus dichtem grünem Gras mit langen Halmen, die den vom Wind zerzausten Pusteblumen Rückendeckung gaben. Und ich verguckte mich in einen Klatschmohn, dessen Rot so schön wie der Umhang eines Prinzen war. Ich nahm alles auf, was ich weit und breit sehen konnte, auch den Geruch der Kirschblüten und Azaleen. Meine Fantasie begann Purzelbäume zu schlagen und war genauso blühend wie das endlose Blumenfeld, das sich mir erstreckt hatte.

Jahre sind seither ins Land gegangen. Ich wünschte, wir könnten gemeinsam unter dem Kirschbaum am Tor sitzen, dort, wo ich die Welt durch Kinderaugen sah.

Ein Freund meiner Eltern kam am Tag meiner Heimkehr zu Besuch. Später erzählte er mir, dass ich vor lauter Glück zu ihm gesagt hätte: »Jesus kommt bald wieder!« Dieser Jauchzer entzückte den Freund meiner Eltern so sehr, dass er, inspiriert davon, später Pastor wurde.

Seit jener Zeit sind Gärten meine Lieblingsorte. Hier fällt alles von mir ab. Gärten sind Friedensorte. Der alte Kirschbaum am Holztor, in dessen kraftvollen Ästen ich Stunden verbrachte, zeigte mir einen neuen Blick auf die Welt, in der ich jetzt lebte. Von hier oben beobachtete ich die Menschen, die bei uns ein und aus gingen: den kleinen rothaarigen Felix, der mein Freund wurde und später spurlos verschwand, den Schuster Lederpeter, der mir meine erste Schultasche nähte, meine hochgewachsene Tante mit den langen, rotleuchtenden Haaren, die ich heimlich bewunderte, und die dunkle Luise mit ihrem Pagenkopf und altmodischer Kleidung, in ständiger Begleitung eines Kinderwagens. Ich denke an Thomas den Großen, der mich wie kaum ein anderer zum Lachen brachte, und an Peter, meinen liebsten Spielkameraden – wie Michel aus Lönneberga sah er aus. Ein Junge vom Hof mit einem verschmitzten Lächeln, immer für jedes Abenteuer bereit.

Viele faszinierende Persönlichkeiten gingen bei uns ein und aus – kunterbunte Originale, einzigartige Menschen auf dem Weg zum Leben.

DIE MUNDHARMONIKA

Meine Erzählungen beginnen weit vor meiner Geburt mit der Geschichte meiner Eltern und Großeltern. In ihrem Feinkostenladen »Zum Schinkenstüble« tanzte meine Oma Lieselotte unbändig auf dem Tisch, wenn die Amerikaner zum Essen vorbeikamen, und spielte dabei flott die Mundharmonika. Ich denke, es war eine Art Befreiungsakt für sie, nach all dem, was sie und mein Opa während des Krieges erlebt hatten. Trotz harter Jahre waren der Lebensmut und die Freude meiner Oma nicht gewichen. Sie legte den Boden für die musikalischen Talente in unserer Familie. Es war in der Zeit, als mein Papa auf die Welt kam – Anfang der 50er-Jahre. Mein Papa sang in jungen Jahren in einer Bluesband. Ich glaube, er spielte dabei auf derselben volkstümlichen Mundharmonika, die meine Oma auf dem Ladentisch zum Besten gegeben hatte.

Irgendwann entdeckte ich beim Aufräumen eine verstaubte Kiste, in der eine kleine Schachtel lag. »The Echo Harp« stand in handgeschriebenen Buchstaben auf der Verpackung, in der das silberglänzende Instrument wie auf einer grünen Aue im Samt lag. Ich betrachtete die darauf gezeichnete Kulisse von allen Seiten, die Felsenberge und einen Wasserfall, der aus dem Stein von den Gipfeln bis hinunter zum Fuße des Berges floss. Zwischen dicht bewachsenen Tannen schlängelte sich sein Weg zu einer urgemütlichen Berghütte, aus deren Schornstein der Qualm mit den Wolken wehte. Der Weg zur Hütte ging steil bergauf und war rechts und links von Feldsteinen gesäumt.

Dieses kleine Instrument, in das man seinen Atem bläst, war das erste, das mich neugierig aufs Musizieren machte. Viel mehr als die Blockflöte, die ich lernen musste.

KÜNSTLERELTERN

Lange bevor meine Eltern sich kennenlernten und eine Familie gründeten, und lange bevor sie aufs Land zogen, war ihr Weg anders verlaufen. Im Schatten der Nachkriegszeit, auf der Suche nach einem Neuanfang, fanden sie in Künstlerkreisen in Hamburg und Hannover Gleichgesinnte.

»Wahrscheinlich suchte ich das, wovon ich in ›Unterwegs‹ gelesen hatte, die Großstadt, ihr Tempo und ihre Geräusche, das, was Allen Ginsberg ›die Welt der Wasserstoff-Jukebox‹ genannt hatte.«

– Bob Dylan7

Diesen Satz von Bob Dylan könnte mein Papa gesagt haben, denn er war genauso beseelt von dem Wunsch, eine neue Welt hinter der eigentlichen Welt zu entdecken. Die Generation meiner Eltern war eine traumatisierte Jugend, die mit den Nachwehen und starker Orientierungslosigkeit aufwuchs, die der Krieg hinterlassen hatte. In den meisten Häusern gab es wenig Raum für freies Denken und Hinterfragen. So prosperierten immer mehr junge Kommunen, die sich in leerstehenden Häusern zusammenfanden, um zu philosophieren, zu schreiben und Neues auszuprobieren – auch Drogen. Der Hunger nach Aufbruch und linderndem Balsam für einen kollektiven Schmerz schien unstillbar.

In den 1960er-Jahren gab es viele Aufstände gegen die politischen Geschehnisse: der Kalte Krieg, der Tod John F. Kennedys, Martin Luther King Jr. wurde erschossen, der Krieg in Vietnam, die Kubakrise und Robert Kennedy wurde ebenfalls umgebracht. Junge Leute zettelten Proteste für mehr Freiheit in Kunst und Kultur an und verschafften sich Gehör mit Musik. Die Rolling Stones benannten sich nach dem Lied »Rollin’ Stone« des schwarzen Blues-Musikers Muddy Waters. Und der Stein kam wirklich ins Rollen.

Meine Eltern erzählten mir, wie sich Anfang der 60er-Jahre wochenweise Radio- und Zeitungsnachrichten überschlugen, weil Bands wie die Beatles plötzlich in aller Munde waren. In England gab es Massenaufläufe von Heranwachsenden. Hysterische Kids strömten in überfüllte Stadien. Busse und Bahnen waren zeitweise stillgelegt, weil überall Jugendliche die Straßen besetzten. Auch in Amerika war die Beatlemania bald in vollem Gange. Die Beatmusik löste den Rock ’n’ Roll ab und pustete frischen Wind in die staubigen Häuser des Spießertums und Wohlstands.

»Grown up wrong«, sangen die jungen Stones im Frühjahr 1964. Blumenkinder tummelten sich in den Parks und belebten die Plätze. Veränderung lag in der Luft.

Unterwegs in ihren jeweiligen Städten, verschmolzen meine Eltern mehr und mehr mit der Künstlerszene der goldenen 60er.

Mein Papa las gerne, zeichnete, schrieb kleine Aufsätze und Reisetagebücher auf seiner ersten großen Fahrt nach London. Von seinem Taschengeld kaufte er sich seine erste Schallplattensammlung. The Velvet Underground & Nico, die Beatles und die Small Faces hatten seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Er besuchte ihre Konzerte. Sogar Jimi Hendrix sah er einige Jahre später bei einem seiner letzten Liveauftritte.

Es gab eine Eckkneipe in Hamburg, die vor allem Kunst- und Musikliebhaberinnen sammelte. Dort tauschte man die neusten Errungenschaften aus – zunächst Platten und Bücher, später auch Drogen. Hier verbrachte mein Papa neben seinem Kunststudium viel Zeit.

Meine Mutter lebte in Hannover ein ähnliches Leben. Sie schrieb, vorwiegend Gedichte, die lyrisch von solch besonderer Stimmung waren, dass sie bald entdeckt und zu Lesungen in der ganzen Stadt eingeladen wurde. Zudem hatte sie ein ausgeprägtes Interesse für Malerei und Schauspiel.

AUSGETRETENER PFAD

»It was a dark and stormy night.«

– Snoopy8

Es war Anfang der 70er-Jahre. Meine Eltern begegneten sich das erste Mal im Warteraum einer Suchtklinik. Beide hatten nach jahrelangem Drogenkonsum die ihnen sich letztmöglich erscheinende Gelegenheit beim Schopf ergriffen und sich in eine mehrwöchige Therapie begeben. Während ihres Aufenthaltes fanden sie in philosophischen Tag- und Nachtgesprächen zueinander. An meinem Papa war ein Schriftsteller verloren gegangen. Er verwob meine Mama in seine abenteuerreichen Erzählungen und eroberte sie auf lyrischen Pfaden.

In den ersten Monaten gelang es ihnen, das Alte hinter sich zu lassen und über eine neue Brücke in die Zukunft zu gehen. Mit dem Wunsch und der Hoffnung auf ein gemeinsames, heiles Leben zeugten sie mich, in einer sternklaren Nacht.

Doch schon wenige Monate nach meiner Geburt klopfte ein alter Dealer-Kumpane an ihre Tür und zog sie zurück in vergilbte Gewässer, aus deren Schlamm sie sich nicht mehr allein befreien konnten. Immer tiefer drifteten sie zurück in die Drogensucht, die sie schließlich wegen waghalsiger Geschäfte ins Gefängnis und mich in die Arme meiner Großmutter brachte. Ich war noch kein Jahr alt. Obwohl mein Opa aus Hamburg immer wieder Geld für mich schickte, konnte meine Großmutter mich nicht mit dem Nötigsten versorgen. Meine »kleine Oma«, wie sie von ihren Enkeln genannt wurde, war von zierlicher Gestalt, mit scharfem Verstand und immer auf Trab, um der Familie unter die Arme zu greifen. Ihre Fürsorge war groß, doch ihre Kraft reichte nicht, um auch noch mich durchzubringen. Eines Tages, als sie sich keinen Rat mehr wusste, brachte sie mich in ein Kinderheim nach Hannover.

Manchmal höre ich an traurigen Orten das haltlose Weinen nach mütterlicher Zuwendung – wie damals. Obwohl ich nur wenige Monate alt war, konnte ich die Atmosphäre des Heimes wahrnehmen. Sollte ich diesen Ort in Farben beschreiben, so fände ich keine, sondern spräche von Schwarz und dunklem Grau. Schemenhaft erinnere ich mich auch an Gesichter, die sich empathielos über mein Bettchen beugten – Gesichter, die nie lachten.

NARBEN

Viel Zeit verging. Graue Bauten umrahmten die Szenerie. Obwohl der Blick nach draußen keine Weite bot, weckte er eine Sehnsucht in mir. Um den Wolken näher zu sein, öffnete ich eines Nachmittags das große Fenster im Wohnzimmer der Familie, bei der ich etwa seit meinem zweiten Geburtstag lebte. Ich bekam einen ordentlichen Schreck, als ich bei meinen umständlichen Versuchen, frische Luft hereinzulassen, das gesamte Fenster aus dem Rahmen hebelte. Ich hielt die Scheibe so lange fest, bis meine Pflegeeltern kamen und das Glas wieder einsetzten. Seitdem blieb das Fenster verschlossen, doch der Ort auf dem Fenstersims war mein Lieblingsplatz.

Während viele Meter unter mir Kinder im Innenhof rutschten und schaukelten, drückte ich meine Nase mit dem schweren Brillengestell und meine Hände gegen die Scheibe und schmierte Gesichter aufs Glas. Die spielenden Kinder bevölkerten den eintönigen Platz wie emsige Bienchen. Sie waren wirklich tüchtig. Stundenlang rannten sie hin und her, kletterten und sprangen und freuten sich miteinander. Durch das Fenster von weit oben sah ich sie wie bunte, flirrende Punkte und hörte das Summen und Brummen ihrer Stimmen bis spät in den Abend hinein.

Die lange Eisenrutsche war ganz schön hoch. Ich war zu klein für das riesige Ding, wollte aber unbedingt aus nächster Nähe sehen, wie die großen Kinder johlend die Bahn herunterflitzten. Ich hörte noch meinen Namen. Jemand rief nach mir, dann stolperte ich. Mit blutiger Nase wurde ich ins Krankenhaus gebracht. Die Wunde musste mit mehreren Stichen genäht werden. Für einige Minuten war ich ohnmächtig geworden und im Traum ins Bodenlose gefallen: Ich stand hoch oben auf einem Wolken-Plateau und spürte für einen Moment festen Grund unten meinen Füßen. Dann begann ich in die Tiefe zu stürzen. Erst kurz vor dem Aufprall bemerkte ich, dass ich Flügel hatte. Wie auch sonst wäre ich so weit hinauf bis zu den Wolken gekommen?

Ich war noch ganz benommen, als ich aufwachte und bemerkte, dass meine Pflegeltern an meinem Bett saßen.

Seither wird der Spiegel meiner Kindheit mir jeden Morgen vor die Nase gehalten. Ich brauche kein Tattoo. Ich trage eine Narbe.

Jedes Gesicht zeigt Spuren der Vergangenheit und zeugt davon, wie das Heute aussieht.

ENGEL VOR DER PFORTE

Meine Eltern waren Suchende. Unentwegt erkundeten sie literarische und spirituelle Landschaften. Während ihrer Haft begann meine Mutter in der Bibel zu lesen und brütete über dem Gedicht »Gebet« von Else Lasker-Schüler.

»Ich suche allerlanden eine Stadt.Die einen Engel vor der Pforte hat.Ich trage seinen großen FlügelGebrochen schwer am SchulterblattUnd in der Stirne seinen Stern als Siegel.Und wandle immer in die NachtIch habe Liebe in die Welt gebracht,Dass blau zu blühen jedes Herz vermag, Und hab ein Leben müde mich gewacht,In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.

Oh Gott, schließ um mich Deinen Mantel fest;Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest,Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt,Du mich nicht wieder aus der Allmacht lässtUnd sich ein neuer Erdball um mich schließt.« 9

Auf einer S-Bahn-Fahrt durch die große Stadt zog mein Papa ein zerschlissenes Büchlein aus seiner Manteltasche. Er war früher als meine Mama entlassen worden. Es war die kleine Bibel, die sie ihm bei seinem letzten Besuch zugesteckt hatte. Die Bibelworte und die Verse der jüdischen Schriftstellerin gaben meiner Mutter Zuversicht, mich eines Tages wiederzusehen.

Nun begann auch mein Papa, in der Bibel zu lesen, und war von den Worten ähnlich entzündet wie sie. Die Buchstaben, erzählte er mir später, begannen beim genaueren Betrachten zu leuchten. Von den vielen Büchern, die meine Eltern gelesen hatten, war dieses eine das erweckendste.

Nach ihrer Entlassung zogen beide an einen neuen Ort, in ein kleines Haus auf dem Land, mit einem Kirschbaum am Eingang des Gartens. Eines Abends knieten sie sich gemeinsam auf die Holzdielen ihres Wohnzimmers und beteten zu Gott, wie Kinder, die nach Hilfe fragen.

Sie hatten die Geschichten von Jesus Christus verinnerlicht. Wieder und wieder hatten sie gelesen, wie er Menschen, die krank und schwach waren, gesund gemacht hatte. Sie fühlten sich krank und breiteten ihr ganzes Elend vor ihm aus. Nachdem sie gebetet hatten, schliefen sie ein, wie Kinder, die sich sicher fühlen.

Am nächsten Morgen erwachten beide ohne das Verlangen nach einem Schuss. In dieser Nacht wurden sie frei von ihrer mehr als zehnjährigen Heroinsucht, schmissen ihr Spritzbesteck in den Abfall und nahmen es nie wieder zur Hand.

Im Umfeld meiner Eltern fanden noch viele andere Künstlerinnen und Künstler zum Glauben an Jesus. In Amerika entwickelte sich die Jesus-People-Bewegung 10, die sich auch in Europa ausbreitete. Sogar Bob Dylan, zu dessen Konzerten mein Vater mich und meine Schwestern später des Öfteren mitnahm, bekannte sich zum christlichen Glauben, was viele seiner Fans verstörte, meinen Papa jedoch sehr glücklich stimmte.

DIE KLEINE RAUPE NIMMERSATT

Eines frühen Abends klingelte es an der Haustür meiner Pflegefamilie. Ich war gerade zum Schlafen ins Hochbett geklettert, als meine Eltern zur Tür hereinkamen. Meine Mama und mein Papa! Ich hielt mich am Geländer des Bettes fest und drehte meinen Kopf zur Wand.

»Sarah, komm mit uns nach Hause«, hörte ich sie sagen. Und noch einmal: »Sarah, komm mit uns.«

Meine Hände suchten nach Halt. Ich zog die Bettdecke ganz nah an mich heran. Wenn ich nicht schlafen konnte, formte ich Bergzipfel mit meiner Decke und ging auf ihr spazieren. Jetzt griff ich nach einem Kissen und drückte es an meine Brust. Ich holte tief Luft, meine Gedanken kreisten. Fremde standen in meinem Zimmer, die mir auf eine unbeschreibliche Weise nah waren. Ich wollte nicht, dass sie wieder gehen, aber ich wollte auch nicht mit ihnen gehen.

Beide waren nun näher an mein Bett gekommen und reichten mir behutsam ein Buch. Meine Augen huschten über den Buchdeckel, auf dem eine kleine Raupe saß, die ständig Hunger hat.11 Ich konnte noch nicht lesen. Langsam öffnete ich die dicken Seiten des Bilderbuches und folgte sogleich der kleinen Raupe, Blatt für Blatt – durch Schokoladenkuchen, eine Eiswaffel, eine saure Gurke, eine Scheibe Käse, ein Stück Wurst, einen Lolli, ein Stück Früchtebrot, ein Würstchen, ein Törtchen und ein Stück Melone. Ich verschlang jede einzelne Seite, bis ich, so wie der Schmetterling am Ende der Geschichte seine kleinen Flügel ausbreitet, um zu fliegen, endlich in den Armen meiner Eltern landete.

GARTENTOR

»Sieh meine Gärten, in denen meine Gärtner im Morgengrauen rangehen, den Frühling zu erschaffen; sie streiten sich nicht um die Blumen, ihre Stempel und Kronen, sie säen die Samenkörner.«

– Antoine de Saint-Exupéry12

Unser kleines Häuschen war der Zufluchtsort, den ich so lange vermisst hatte. In der Küche konnte man sich geradeso umdrehen, so winzig war sie. Mein Zimmer war schön hell und beim Zeichnen konnte ich von meinem Schreibtisch aus direkt in den Garten sehen. Das Wohn- und Esszimmer war das größte von allen und hatte zwei Fenster, durch die das Licht warm auf die Holzdielen schien. Das Zimmer meiner Eltern bestand aus einem einzigen, weichen Bett.

Bekannte, Freundinnen und Freunde meiner Eltern gingen durch unser Gartentor ein und aus. Viele kamen von Sorgen beladen und gingen lachend und singend nach Hause. Ich konnte die Freude und Veränderung in ihren Gesichtern sehen. Und das Schönste, das ich geschenkt bekam, war die tiefe Liebe meiner Eltern, nach unserer verlorenen Zeit. Es war ein Wunder für mich, dass ich nach Jahren der Trennung wieder bei ihnen sein konnte. Nicht, dass alles sofort wieder gut war, das wäre gelogen. Wir verbrachten so viel Zeit wie möglich zusammen und gewöhnten uns langsam aneinander. Es war wie beim Fahrradfahren, als mein Papa mir half das Gleichgewicht zu finden, dann plötzlich losließ und ich nicht mehr zu bremsen war. Nachdem mein Papa die Stützräder abgeschraubt hatte, raste ich auf meinem kleinen, blauen Fahrrad die holprige Dorfstraße entlang, umringt von Nachbarskindern, die mich anfeuerten. So ähnlich war das zwischen Mama, Papa und mir. Wir mussten herausfinden, wie man zusammenlebt und wie man sich loslässt. Das hatten wir ja schon ganz gut gelernt, das Loslassen. Aber das Zusammenleben war etwas Neues und es forderte uns ordentlich heraus.

Eines Nachmittags hatten sich ein paar der Nachbarsjungen im Dorf als Hexen verkleidet und mich mit einigen anderen jüngeren Kindern in ihre Laube eingeladen, um uns zu erschrecken. Sie trugen gruselige Masken und lachten hässlich. Es war gespenstisch in ihrem Bretterverschlag und ich wollte nur hinaus. Dicht gefolgt von den Hexengestalten rannte ich, so schnell mich meine Beine trugen, direkt in die Arme meiner Eltern. Gemeinsam hatten sie draußen am Gartentor auf mich gewartet. Wir gingen ins Haus, setzten uns auf ihr großes Bett und lehnten uns in die weichen Kissen. Ganz mitgenommen saß ich zwischen ihnen. Ihre Nähe beruhigte mich. Geborgenheit umarmte mich. Hier war mein Zuhause.

ZU HAUSE

Es gab eine Art Café, eine Teestube in Hannover, in der sich ein junges, alternatives Publikum traf, um über Jesus und die Welt zu philosophieren. Meine Eltern gingen oft mit mir dorthin. Der würzige Duft von Tee, Heu und Wolle und die Gesichter von warmherzigen Menschen mit langen Haaren und »Jesus-Latschen« hatten eine beruhigende Wirkung auf mich. Manchmal nahm jemand eine Gitarre zur Hand und sang ein Loblied, in das alle mit einstimmten. Die Atmosphäre in der Teestube fühlte sich vertraut an, so wie bei unserer Nachbarin, bei der ich viele Nachmittage verbrachte.

Sie hatte mindestens ein Dutzend Hühner, die fröhlich gackernd über ihren Hof flitzen. Nachbarinnen und Nachbarn kamen gerne auf einen plattdeutschen Schnack oder eine Tasse Ostfriesentee bei ihr vorbei. Auf ihrem Hof war immer was los. Lange Wäscheleinen waren über der Wiese hinter dem Hof gespannt, an denen riesige Betttücher hingen. Wie schneeweiße Tauben flatterten sie im Wind. Wir Kinder steckten unsere Nasen in die frischen Baumwolltücher und spielten Verstecken dahinter. Manchmal hingen auch meine gewaschenen Hosen an der Leine, weil ich vor lauter Spielen vergessen hatte, das stille Örtchen aufzusuchen. Für ein Kind wie mich hatte dieser Hof alles, was es brauchte. Frische Kuhmilch, süße, anschmiegsame Kätzchen, Brombeersträucher, Obstbäume und eine gutmütige Frau, die uns Kinder von Herzen liebhatte.

Diese besondere Nachbarsfrau fuhr auch meine Eltern und mich ins Krankenhaus, als meine Schwester geboren wurde. An diesem Tag ging alles Hals über Kopf. Eben noch hatte meine Mutter im Wohnzimmer auf unserem braunen Ledersessel gesessen, dessen Sprungfedern so ausgeleiert waren, dass das Hüpfen darauf keinen Spaß mehr brachte. Als sie mit einem Ruck aufsprang und aus Leibeskräften schrie: »Das Baby kommt!«, stürzte mein Papa aus dem Haus und kam kurz gefolgt von unserer Nachbarin zurück. Mit dem Schlüssel im Zündschloss wartete sie im brummenden Auto auf meine hochschwangere Mama. Während mein Vater meine Mama stützte, die keuchend ihren Arm unter den Bauch hielt, stieß unsere Nachbarin die Beifahrertür auf, und meine Mama ließ sich mit einem lauten Seufzer auf den Sitz fallen. Mit irrer Geschwindigkeit heizten wir davon.

Wäre unsere Nachbarin nicht gewesen, hätte es für meine Mama und meine Schwester schlimm ausgehen können, denn die Geburt war ein Ringen mit der Zeit. Erst nach zwei Wochen kam meine Mama mit einem dicken Bündel aus dem Krankenhaus zurück. Esther war das süßeste kleine Wesen, das ich je gesehen hatte. Ihr Kopf war kugelrund und ihre Augen waren blau wie das Meer.

»Für ein Kind war es interessant und lehrreich, mit Menschen unterschiedlicher Art und Eigenheiten und Altersgruppen aufzuwachsen.

Von ihnen lernte ich – ohne, dass sie oder ich es gewusst hätten –, dass das Leben Bedingungen unterworfen ist und wie schwierig es manchmal ist, Mensch zu sein.«

– Astrid Lindgren13

SPÄTFOLGEN

Viele Freundinnen und Freunde meiner Eltern schafften es raus aus der Sucht. Einige machten Therapien, andere wurde von einer zur anderen Nacht frei. Doch Dutzende starben auch an den Drogen oder litten an den Spätfolgen. Viele bedeutende Künstlerinnen und Künstler, die die Generation meiner Eltern mit ihrer Musik und Kunst beeinflussten und beschenkten, fanden ein tragisches Ende.

Jack Kerouac, der Pionier der »Beat Generation«, starb alkohol- und tablettensüchtig an inneren Blutungen. Sein gefeierter Roman »On The Road« sprach von der Flucht aus der Spießbürgerlichkeit, aus Zwängen und geistiger Erstarrung und von der Sehnsucht nach Freiheit, die er sein Leben lang suchte. Harvey Milk strebte nach Harmonie und der Gleichstellung der Schwulenbewegung. Er wurde mit 48 Jahren in seinem Büro erschossen. Janis Joplin, Jim Morisson, Jimi Hendrix starben unter den leidvollen Umständen ihrer Drogensucht. John Lennon wurde von einem paranoiden Fan erschossen. Charlie Parker, der große Jazzkomponist, starb in jungen Jahren an Leberzirrhose und einer Herzattacke. An die New Yorker Hauswände schrieben seine Anhänger: »Bird lebt!«

Wenn ich heute in Rehakliniken oder Gefängnissen meine Lieder singe und von dem Wunder meiner Kindheit erzähle, können viele meine Geschichte nachempfinden, weil sie Ähnliches erlebt haben. Einige öffnen mir dann ihr Herz und beginnen, aus ihrem Leben zu erzählen. Manchmal fließen dabei Tränen und manchmal können wir gemeinsam die Worte Jesu sprechen, der von sich sagt: »Ich aber bin gekommen, um ihnen Leben zu bringen – Leben in ganzer Fülle« (Johannes 10,10; NGÜ).

Nach einem Konzert, das ich in einem Gefängnis in Deutschland gab, kam ein älterer Mann mit starken Armen und unzähligen Tattoos zu mir und sagte: »Sarah, es sind nicht zuerst die Gefängnismauern, die mich einsperren und beengen, sondern es sind meine inneren Süchte, die mich gefangen halten.« Die eigene Geschichte mag Wirrungen und Irrungen aufweisen, womöglich eine ganze Verkettung von Erlebnissen, die wir vermeiden wollten. Trotzdem ist es unsere Geschichte, die uns ausmacht und zu dem Menschen macht, der wir heute sind.

EIN FREUND

Nur einen Katzensprung von unserem Haus entfernt wohnten Peter und seine Familie auf einem Bauernhof. Die Zeit, die ich mit ihm verbrachte, war leicht und unbeschwert. Wir streiften den ganzen Tag durchs Dorf und lachten so laut und viel, dass es meiner Mutter einmal zu viel wurde.

Während eines Nachmittagsbesuchs bei uns zu Hause schickte sie Peter heim. Oh, wie war mir das unangenehm! Obwohl ich mich sonst nie vor Peter genierte. Im Gegenteil, so wild und albern wie bei ihm war ich nirgends sonst.

An jedem neuen Morgen, mit dem Aufgang der Sonne, dachte ich schon an ihn. Kein Tag war langweilig mit ihm und kein Weg zu weit. Selbst der Himmel war nicht mehr weit, wenn wir zusammen waren. Wir klettern hoch bis zu den Baumwipfeln und rollten uns von den Wiesen hinunter ins Tal, bis uns schwindelig wurde.

Peter war ein ehrlicher Junge vom Land, der morgens früh aufstand, um seinem Vater beim Stallausmisten zu helfen. Wir redeten nicht viel, wir machten einfach Dinge. Dinge, die uns Spaß brachten und uns abends müde ins Bett fallen ließen. Diese solide Freundschaft mit fünf, sechs Jahren war wie ein Same des Vertrauens, der tief in den Erdboden fiel und stetig anfing, Wurzeln zu treiben.

KLEINE WUNDER

Das Gras stand zuweilen kniehoch in unserem Garten. Wenn mein Papa es mit der Sense gestutzt hatte, konnte man den Teich und die Seerosen viel besser sehen. Nachts, nach der Dämmerung, hörte man die Frösche quaken. Der kleine Tümpel bekam etwas Unheimliches, wenn es dunkel wurde. Die Stechmücken tanzten darüber und die Kröten und Molche schmatzten.

Einmal war ich hineingefallen und hatte mich in den Schlingpflanzen verheddert. Es kreuchte und fleuchte unter meinen Füßen. Ich strampelte und strampelte. Es war furchtbar! Ich dachte, ich müsse sterben.

Ähnlich hatte ich mich gefühlt, als mein Papa mir in einem See das Schwimmen beigebracht hatte. Plötzlich sank ich ins Nichts und verlor jegliche Orientierung, bis ich die Hand meines Vaters wieder spürte, die mich trug und so lange hielt, bis ich allein durchs Wasser glitt.

Eine leichte Brise verwehte die Hitze des Tages. Hinterm See versank die Sonne. Fröhlich klemmten wir unsere Handtücher und Picknickdecken auf unsere Gepäckträger. Ich konnte jetzt schwimmen und ohne Brille sehen.

Meine Eltern hatten ein einfaches Gebet gesprochen, in dem sie Gott darum baten, meine Sehkraft wiederherzustellen. Seit meinem vierten Lebensjahr trug ich eine Brille, die mir oft lästig war. Im Nieselregen trübte sie die Sicht und beim Spielen fiel sie mir von der Nase. Ständig musste sie geflickt und geklebt werden. Ich guckte durch sehr dicke Gläser, eingerahmt von einem auffälligen Gestell. Wenn mein eines Auge mit einem Pflaster abgeklebt wurde, um das schwächere zu trainieren, wurde das Rennen und Toben an so manchen Tagen unerträglich.

Nach dem Gebet meiner Eltern fuhren wir einige Tage später zur augenärztlichen Untersuchung. Ich konnte Zahlen, Buchstaben und sogar Insekten in unterschiedlicher Größe und Entfernung ohne Schwierigkeiten erkennen. Meine Sehschärfe hatte sich so sehr verbessert, dass ich fortan keine Brille mehr benötige. Ich war sechs Jahre alt.

Es war eine besondere Zeit, in der viele kleine und große Wunder passierten.

PAPAS SCHATZ

Manchmal half ich meinem Papa beim Mähen im Garten. Der kühle Keller unter unserem Haus spendete uns an einigen Sommernachmittagen angenehme Pausen. Neben Briefen und Fotos aus früheren Zeiten lagerten hier sorgsam verpackt unter Kartons von Skizzenblöcken und allerlei Krimskrams etwa eine Handvoll prallgefüllter Pappschachteln. Andenken aus der Kindheit meines Papas, die er an so manchen dieser Nachmittage öffnete.

Ich sehe noch seinen sanften Blick und sein beschwingtes Lächeln, als er behutsam in eine der vielen Kisten griff, um den von Zeitungspapier umwickelten Schatz zu heben. Schicht für Schicht entfernte er das dichtbedruckte Papier und reichte mir seine Kostbarkeit. Schwer und wertvoll lag die hölzerne Figur in meinen Händen. Ich betrachtete die schmalen, dunklen Augen des Häuptlings. Die Betonung der hohen Wangenknochen mit winzig hellbraun aufgetragenen Pinselstrichen und die kantigen Kieferknochen verliehen dem Gesicht eine erhabene Weisheit. Ein weiches Rot umspielte seine Lippen und schenkte seinem Ausdruck Milde. Üppiger Federschmuck zog sich geradewegs vom Kopf bis zu den Mokassins und bedeckte den kompletten Rücken des starken Mannes. Langsam strich ich mit meinen Fingern über den handgeschnitzten Körper. »Ein Ureinwohner Amerikas«, flüsterte mein Papa, »wichtige Bewohner unserer Erde. Komm!« Er nahm meine Hand und führte mich die Treppen hinauf, zur alten Scheune in unserem Garten. Die Scheune war notdürftig mit Brettern und Nägeln zusammengehalten und galt als Lager für Stroh und ausrangierte Möbel.

Ich glaube, wir machten es uns auf einer Bank unter einem schattigen Baum bequem, tranken Limonade und lehnten mit unseren Rücken an der Scheunenwand. Mein Papa holte eine weitere indigene Figur aus der Pappschachtel.

Unser überschaubarer, verwilderter Garten wurde allmählich zur Prärie im Nordosten Amerikas. Die alte Scheune hatte sich in einen Western Saloon verwandelt, an dessen Bretterwand die trunkenen Viehhirten ihre Colts putzten. Die Schießerei am Abend zuvor war wieder mal schmutzig verlaufen. Wenn mein Papa zu erzählen begann, betrat ich ein anderes Land.

Später habe ich für meine Tochter Pekka-Lu angelehnt an die Wildwestgeschichten meines Vaters ein Lied geschrieben, in dem auch Jolly Jumper vorkommt. Denn Lucky Luke und die Daltons gehörten zu wichtigen Akteuren meiner Kindheit.

PEKKA-LU14

I’m loving you sweet Pekka-LuTonight we stand in a foreign land Tonight we dance our fear awaySweet Pekka-Lu I’m holding you The nights are long in our townBut we’re long gone into the wildJolly Jumper give us rideHiya Yippie Yeah Here we slip and we slide We need no bus we need no trainWe need no car we need no planeWe breath the air of LouisianaAnd ride on sandstorms through the Savanna Hey Hey Hey …