Das Königreich der Sprache - Tom Wolfe - E-Book

Das Königreich der Sprache E-Book

Tom Wolfe

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Beschreibung

In den vergangenen 150 Jahren wurden von der Entdeckung des Penizillins über die Entschlüsselung der menschlichen DNS bis zum Nachweis des Higgs-Bosons kolossale Fortschritte gemacht. Doch an einer der drängendsten Fragen der Menschheitsgeschichte - Wo liegt der Ursprung der menschlichen Sprache? - scheitert die Wissenschaft bis heute. Das hat, wie Tom Wolfe genüsslich darlegt, führende Forscher von Charles Darwin bis Noam Chomsky jedoch zu keiner Zeit davon abgehalten, grandiose Erfolge zu verkünden, die gar keine waren, Konkurrenten zu diffamieren, anstatt eigene Fehler einzugestehen, und generell des Kaisers neue Kleider in den schillerndsten Farben zu beschreiben.

In Das Königreich der Sprache vertritt Wolfe die These, wonach die Sprache die erste kulturelle Leistung des Menschen und somit nicht mit der Evolutiontheorie oder wissenschaftlicher Systematik zu erklären ist.

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Zum Buch

In den vergangenen 150 Jahren wurden von der Entdeckung des Penizillins über die Entschlüsselung der menschlichen DNS bis zum Nachweis des Higgs-Bosons kolossale Fortschritte gemacht. Doch an einer der drängendsten Fragen der Menschheitsgeschichte – Wo liegt der Ursprung der menschlichen Sprache? – scheitert die Wissenschaft bis heute. Das hat, wie Tom Wolfe genüsslich darlegt, führende Forscher von Charles Darwin bis Noam Chomsky jedoch zu keiner Zeit davon abgehalten, grandiose Erfolge zu verkünden, die gar keine waren, Konkurrenten zu diffamieren, anstatt eigene Fehler einzugestehen, und generell des Kaisers neue Kleider in den schillerndsten Farben zu beschreiben.

In Das Königreich der Sprache vertritt Wolfe die These, wonach die Sprache die erste kulturelle Leistung des Menschen und somit nicht mit der Evolutiontheorie oder wissenschaftlicher Systematik zu erklären ist.

Zum Autor

Tom Wolfe, 1931 in Richmond, Virginia, geboren, arbeitete nach seiner Promotion in Amerikanistik als Reporter u.a. für The Washington Post, Esquire und Harper’s. In den 1960er-Jahren gehörte er mit Truman Capote, Norman Mailer und Gay Talese zu den Gründern des »New Journalism«. Der vielfach preisgekrönte Schriftsteller (National Book Award u. a.) war mit Büchern wie The Electric Kool-Aid Acid Test (1968) international längst als Sachbuchautor berühmt, ehe er mit Fegefeuer der Eitelkeiten (1987) seinen ersten Roman vorlegte, der auf Anhieb zum Weltbestseller und von Brian de Palma mit Tom Hanks verfilmt wurde. Es folgten mit Hooking Up eine Sammlung von Essays und Erzählprosa (Blessing 2001) und weitere erfolgreiche Romane, darunter Ich bin Charlotte Simmons (Blessing 2005) und zuletzt der SPIEGEL-Bestseller Back to Blood (Blessing 2013). Der Autor lebt in New York.

Lieferbare Titel

978-3-89667-159-2 – Hooking Up

TOM  WOLFE

DAS  KÖNIGREICH

DER  SPRACHE

Aus dem Englischen

von Yvonne Badal

BLESSING

Originaltitel: The Kingdom of Speech

Originalverlag: Little, Brown and Company, Hachette Book Group, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © 2016 by Tom Wolfe

Copyright © 2017 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, nach einer Idee von Keith Hayes

© 2016 Hachette Book Group, Inc.

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-20923-0V001

www.blessing-verlag.de

Mit tiefer Verbeugung

dankt der Autor

CHRISTINA VERIGAN

für eine so große Portion

ihrer Belesenheit

K A P I T E L   I

D A S  T I E R,  D A S  S P R A C H

Eines schönen Abends im Jahr 2016 surfte ich im Netz, das Gesicht von weiß Gott wie vielen Milligauss Elektrosmog durchglüht, als ich auf einen Webknoten stieß und las:

The mystery of language evolutionI

I  Der Artikel war in Frontiers in Psychology erschienen, 7. Mai 2014, abrufbar unter http://journal.frontiersin.org/article/10.3389/fpsyg.2014.00401/full

Wie es aussah, verkündeten hier acht schwergewichtige Evolutionsforscher – Linguisten, darunter ein »Computerlinguist«, Biologen und AnthropologenII –, dass sie sich geschlagen gaben, das Handtuch warfen, einknickten, kniffen angesichts der Frage, wie Sprache entstand und wie sie funktioniert.

II  Marc D. Hauser, Charles Yang, Robert C. Berwick, Ian Tattersall, Michael J. Ryan, Jeffrey Watumull, Noam Chomsky und Richard C. Lewontin.

»Die grundlegendsten Fragen über die Ursprünge und die Evolution unserer Sprachfähigkeit sind so rätselhaft wie ehedem«, schlussfolgerten sie. Und nicht nur das, sie klangen auch so, als ließen sie alle Hoffnung fahren, jemals Antworten zu finden. Oh ja, natürlich werden wir am Ball bleiben, erklärten sie beherzt … aber wir werden noch einmal bei null anfangen müssen. Unter den acht Unterzeichnern befand sich auch der berühmteste Name aus der Geschichte der Linguistik: Noam Chomsky. »In den vergangenen vierzig Jahren«, erklärten er und die anderen sieben, »vermehrte sich die Forschung über dieses Thema explosionsartig«, doch alles, was die größten akademischen Geister der Evolutionstheorie damit bewerkstelligt hatten, war eine kolossale Zeitverschwendung.

Das war schon seltsam … Noch nie hatte ich von einer Gruppe solcher Koryphäen gehört, die sich zusammentaten, um zu verkünden, welch erbärmliche Versager sie waren …

Höchst seltsam sogar … Also surfte ich und safariete ich und mauste ich herum, bis ich schließlich den offenbar einzigen Akademiker fand, der anderer Meinung war als die acht Versager, einen Chemiker an der Rice University … Rice … Rice hatte mal ein Spitzenfootballteam … die Rice Owls … was wohl aus denen geworden ist? Ich mauste weiter auf der Rice-Homepage herum, und, oh-oh … nicht so toll letzte Saison … die Owls … Football … surfte weiter zu Football und Schädel-Hirn-Trauma … Grundgütiger, wie ich’s mir dachte! Da wütet eine regelrechte Schädel-Hirn-Trauma-Epidemie! Die sind emsig damit beschäftigt, sich gegenseitig erste Alzheimer-Löcher ins Hirn zu schlagen! … Traumata … ich surfe … surfe … surfe … schau an! Football ist noch gar nichts im Vergleich zu Eishockey … ohne wenigstens zwei Hirnverletzungen unter deiner Schädeldecke bist du nicht reif für die NHL –

– derweil hatte sich aber etwas ganz anderes in meiner betzschen Riesenpyramide festgesetzt, so fest, dass nicht einmal der Kopfstoß eines NHL-Abräumers es hätte lösen können: Sie können sich nicht zusammenreimen, was Sprache ist?! Hundertfünfzig Jahre nach Verkündigung der Evolutionstheorie, und sie hatten … nichts herausgefunden … in denselben anderthalb Jahrhunderten entdeckte Einstein die Lichtgeschwindigkeit und die Relativität von Geschwindigkeit, Zeit und Entfernung … fand Pasteur heraus, dass eine unchristliche Zahl von Infektionskrankheiten durch Mikroorganismen, vornehmlich Bakterien, verursacht wird, von der Kopfgrippe über Milzbrand bis zu den am Ende sauerstoffbepumpten kollabierten Lungen der Pneumonie … hatten Watson und Crick die DNA entdeckt, die Bausteine aller Gene – und was haben in denselben hundertfünfzig Jahren all die Linguisten, Psychologen, Anthropologen und Forscher aus weiß der Himmel welchen Disziplinen über Sprache herausgefunden? Nichts.

Wo liegt das Problem? Sprache ist ja nicht bloß eines von mehreren einzigartigen menschlichen Merkmalen – Sprache ist das Merkmal der Merkmale! Das Sprachvermögen des Menschen macht 95 Prozent oder mehr dessen aus, was ihn über das Tier erhebt! Denn rein physisch betrachtet ist der Mensch eine traurige Gestalt. Seine Hauer sind bloße Incisivi, er nennt sie Schneidezähne, armselige Miniaturausgaben, die kaum die Schale eines noch etwas zu grünen Apfels durchdringen können. Seine Krallen können nichts anderes als ihn dort kratzen, wo es ihn juckt. Die Muskelstränge und Sehnen seines Körpers muten im Vergleich mit denen jedes anderen Tiers seiner Größe als die eines Schwächlings an. Tier seiner Größe? Jeder Faust-Pranken-, Faust-Klauen- oder Faust-Hauer-Kampf würde damit enden, dass das andere Tier seiner Größe ihn zum Lunch verspeist. Und doch sticht der Mensch sie alle aus, kontrolliert jedes Tier auf Erden – einzig und allein dank seiner Supermacht Sprache.

Welche Geschichte steht dahinter? Was ist es, das endlose Generationen von Forschern, meist zertifizierte Genies, absolut ratlos zurückließ, sobald es um das Sprachvermögen ging? Die Hälfte der Zeit, die mittlerweile seit den ersten Überlegungen dazu verging, haben sie, wie hier zu berichten sein wird, die Frage nach dem Ursprung von Sprache formell und offiziell für unlösbar erklärt und jeden Versuch einer Antwort aufgegeben. Was hat Sprache an sich, dass Wissenschaftler selbst nach einer veritablen Ewigkeit schlicht nicht schlau aus ihr werden?

Unsere Geschichte beginnt im rasend schmerzenden Kopf von Alfred Russel Wallace, einem fünfunddreißigjährigen hochgewachsenen, schlaksigen, langbärtigen, gerade mal grundschulgebildeten, autodidaktisch belesenen britischen Naturforscher, der – mutterseelenallein – auf einer Vulkaninsel im Malaiischen Archipel nahe des Äquators die Flora und Fauna studiert … als ihn der gefürchtete Schüttelfrost überfällt (von Engländern Genghis ague [Dschingisbibbern] genannt), ausgelöst, wie wir heute wissen, durch Malaria. Da liegt er also, geschützt von nicht viel mehr als einer Strohhütte, niedergestreckt, gebeutelt, hilflos auf einem Feldbett … und schon kommt mit voller Wucht der nächste Anfall … es schüttelt ihn, dass die Rippen klappern, der Kopf will sich schier spalten unter der neuen Fieberzacke, der Schweißausbruch ist derart profus, dass er die Pritsche in einen tropischen Sumpf verwandelt. Wir befinden uns im Jahr 1858 auf einem armseligen, kaum bewohnten Flecken Erde irgendwo weit, weit südlich der Londoner Snobs, Dandys, Gecken und feinen Pinkel, und Wallace hat nichts, womit er sich die Zeit vertreiben kann, außer einem Exemplar von Tristam Shandy, das er bereits fünf Mal gelesen hat – das und seine eigenen Gedanken …

Eines Tages liegt er auf dem Rücken auf seiner stinkenden Sumpfpritsche … und sinniert … über dies und das … als plötzlich der Titel eines Buches, das er gut und gerne zwölf Jahre zuvor gelesen hatte, aus seinem Stammhirn hochblubbert: An Essay on the Principle of Population … aus der Feder eines anglikanischen Pastors namens Thomas Malthus.III

III  Wallace erinnerte sich daran in einem Interview mit Ernest. H. Rann, »Dr. Alfred Russel Wallace at Home«, in: The Pall Mall Magazine, März 1909.

Der Pastor hatte einen deformierten Gaumen, der ihm einen Sprachfehler bescherte, doch schreiben konnte er himmlisch. Das Buch war 1798 erschienen, sechzig Jahre und sechs Auflagen später aber immer noch höchst lebendig. Unkontrolliert, hatte Malthus erklärt, werde die menschliche Weltbevölkerung in einer geometrischen Progression zunehmen und sich alle fünfundzwanzig Jahre verdoppeln,1 derweil sich die Nahrungsmittelversorgung immer nur arithmetisch, Schritt für Schritt steigern werde.2 Demnach wäre bis zu unserem 21. Jahrhundert der ganze Erdball von einer einzigen wogenden Masse Mensch bedeckt gewesen, Schulter an Schulter, Rücken an Brust, und sehr hungrig. Doch wie Malthus vorausgesagt hatte, gibt es etwas, das dieser Entwicklung immer wieder Paroli bieten wird – den Tod, unnatürliche Tode im Akkord … angefangen beim Verhungern vieler bis hin zu ganzen Hungersnöten … über die Krankheiten vieler bis hin zu ganzen Epidemien … über Gewalt, Chaos, organisierte Gemetzel, Kriege, Selbstmorde und blutrünstige Völkermorde … bis hin zu den kanternden Hufschlägen der vier apokalyptischen Reiter, welche die menschlichen Herden stets aufs Neue keulen werden, so lange, bis wieder nur einige wenige, die Stärksten und Gesündesten übrig sind, für die es dann genug Nahrung zum Überleben gibt. Genau das, schrieb Malthus, sei in der Tierwelt geschehen.

Ta-daa! – durchzuckt es Wallaces Hirnschale wie ein Blitz – ich hab’s! ES! – die Lösung »des Mysteriums der Mysterien«, wie Naturforscher es nannten. So funktioniert Evolution! Aber natürlich! Mit einem Mal sieht er es vor sich! Tierische Populationen unterliegen den gleichen Auslöschungsprozessen wie der Mensch. Alle, von den Affen bis zu den Insekten, kämpfen ums Überleben, und nur die »Tauglichsten« – the fittest ist ein von Wallace geprägter Begriff – schaffen es. Plötzlich konnte er die unausweichliche Progression vor sich sehen. Im Laufe der Generationen, Zeitalter, Äonen mussten biologische Subspezies sich an so viele wechselnde Lebensbedingungen anpassen, so viele Hürden überwinden und Bedrohungen meistern, dass sie sich schließlich in etwas völlig anderes verwandelten – in neue Arten – neue Spezies! –, um überleben zu können.

Mindestens vierundsechzig Jahre lang – seit 1794, dank des Schotten James Hutton3 und des Engländers Erasmus Darwin4, im Jahr 1800 gefolgt vom Franzosen Jean-Baptiste Lamarck5 – waren britische und französische Naturforscher überzeugt gewesen, dass all die vielen zu ihrer Zeit existierenden Pflanzen- und Tierarten sich irgendwie aus vorangegangenen Formen entwickelt hätten. 1844 erleuchtete diese Idee den Himmel in Gestalt eines Bestsellers mit dem Titel Vestiges of the Natural History of CreationIV: eine vollständige Kosmologie von der Erschaffung der Erde und des Sonnensystems samt allem pflanzlichen und tierischen Leben darin, von den niedersten Formen bis hin zur Transmutation Affe-Mensch. Das Buch schlug Leser aller Couleur in seinen Bann: Alfred Lord Tennyson, William Gladstone, Benjamin Disraeli, Arthur Schopenhauer, Abraham Lincoln, John Stuart Mill, Queen Victoria und Prince Albert (die es sich gegenseitig vorlasen) … ebenso wie die allgemeine lesende Öffentlichkeit … und das in Scharen. Weder auf dem Frontdeckel noch irgendwo auf den 400 Seiten tauchte der Name des Autors auf. Denn ihm oder ihr – so mancher ging davon aus, etwas derart Abwegiges könne nur einer Frau einfallen … unter den Verdächtigen war auch Lord Byrons neunmalkluge Tochter Ada Lovelace – war offenbar klar gewesen, was auf den Autor eines solchen Textes zukommen würde.6 Und so war es denn auch. Das Buch und Miss, Mrs. oder Mr. Anonymus bekamen höllischheilige Prügel von der Kirche, ihren Geistlichen und ihren Gläubigen. Immerhin war die Lehre, dass der Mensch dem Himmel und definitiv keinem Affen auf dem Baum entsprungen war, eine tragende Säule des Glaubens. Die grimmigste Attacke vonseiten der Geistlichkeit ritt seine Hochwürden Adam Sedgwick in der Edinburgh Review.7 Sedgwick war anglikanischer Pastor und ein prominenter Geologe aus Cambridge. Wären Worte Flammen gewesen, hätte der anonyme Ketzer, diese erbärmliche, den »Gestank innerer Missbildung und Fäulnis« ausdünstende Kreatur, am Pfahl gebrannt.8 Wie heillos verdorben der Geist dieser Person war, so man in ihrem Fall überhaupt von einem Geist sprechen könne, belegten ihre »widerlichen und obszönen Ansichten über die Physiologie«.9 Dieses Schandmaul glaubte, »Religion sei eine Lüge«, das »Menschengesetz eine Ansammlung von Torheiten und niederträchtigen Ungerechtigkeiten« und »Moral schierer Nonsens«. Kurzum, dieser ekelerregende Apostat meinte doch wirklich, »er könne Männer und Frauen mithilfe eines Pavians um ein Vielfaches mehr verbessern« als durch die Gnade Gottes, unseres Herrn.10

IV  Anm. d. Übers.: (Anonymus), Natürliche Geschichte der Schöpfung des Weltalls, der Erde und der auf ihr befindlichen Organismen, begründet auf die durch die Wissenschaft errungenen Thatsachen, aus dem Englischen nach der sechsten Auflage von Carl Vogt, Braunschweig, 1851.

Aber das Buch bezog auch heftige Dresche von den IQ-Überfliegern aus den Reihen der etablierten Naturforscher. Sie fanden es journalistisch und amateurhaft, womit gemeint war, dass es das Werk eines unbekannten Außenseiters und deshalb eine Bedrohung für das Ansehen ihrer Zunft war. Als Vestiges 1853 in zehnter Auflage erschien, schrieb der einstige Wunderknabe des »ernsthaft« naturforschenden Establishments, der mittlerweile achtundzwanzigjährige Thomas Henry Huxley, »eine der giftigsten Rezensionen aller Zeiten«, wie man sehr viel später lesen konnte,11 in welcher er diese Schrift als »eine einstmals verlockende, aber nach wie vor verrufene Fiktion«12 und den anonymen Autor als einen dieser ignoranten und oberflächlichen Männer bezeichnete, die »in Wissenschaft aus zweiter Hand schwelgen und ganz und gar ohne Logik auskommen«.13 Das gesamte Biologie-Establishment wies nur allzu bereitwillig darauf hin, dass dieser anonyme Besserwisser noch nicht einmal ansatzweise habe erklären können, wie, durch welchen physikalischen Prozess, all diese Transmutationen, diese ganze Evolution stattgefunden haben sollte.

Niemand konnte sich einen Reim darauf machen … bis jetzt, vor wenigen Augenblicken, mein Hirn! Meines! Alfred Russel Wallaces!

Noch immer liegt er auf seinem durchweichten, stinkenden Feldbett und versucht, diese endlosen Malariaanfälle durchzustehen, derweil ihn nun noch eine ganz andere Art von Fieber überfällt, ein belebendes … der glühende Wunsch, seine Erleuchtung aufzuzeichnen und sie der Welt vorzulegen – jetzt! Zwei Tage und zwei Nächte lang14 … in jedem halbwegs entspannten Moment zwischen den Schüttelfrösten, den klappernden Rippen, den Fieberzacken und den Schweißausbrüchen … schreibt er und schreibt … schreibt … schreibt ein rund zwanzigseitiges Manuskript mit der Überschrift »On the Tendency of Varieties to Depart Indefinitely from the Original Type«.15 Es ist vollbracht! Die erste jemals publizierte Darstellung der Evolution aller Spezies durch natürliche Auslese wird aus seiner Feder stammen. Mit dem nächsten Schiff will er das Manuskript nach England schicken …

… jedoch nicht an eine dieser populärwissenschaftlichen Publikationen wie Annals and Magazine of Natural History oder The Literary Gazette and Journal of the Belles Lettres, Sciences, &c., in welchen er während seiner achtjährigen Feldstudien am Amazonas und hier auf dem Malaiischen Archipel dreiundvierzig Aufsätze publiziert hatte. Nein, für dieses Manuskript – für ES! – peilt er die große Bühne an. Dieses Papier will er schnurstracks an den Doyen aller britischen Naturforscher schicken, an den großen Geologen Sir Charles Lyell. Denn wenn Lyell seine atemberaubende Theorie für wert erachtet, dann ist ihm das Plazet erteilt, sie der Welt darzulegen und sich ihr als Held zu präsentieren.

Das Problem war nur, dass Wallace Lyell nicht kannte. Und wo sollte er auf dieser primitiven kleinen Insel seine Adresse herbekommen? Doch er hatte bereits einige Male mit einem anderen Gentleman korrespondiert, der mit Lyell befreundet war, nämlich mit Erasmus Darwins Enkel Charles. Und dieser hatte Wallace ein Jahr zuvor, 1857, in einem Brief mitgeteilt, dass Lyell einen seiner jüngsten Artikel gelesen und gelobt habe (vermutlich hatte es sich dabei um »On the Law Which Has Regulated the Introduction of New Species« aus dem Jahr 1855 gehandelt, auch als »Sarawak Law« bekannt).16 Anfang März 1858 schipperte Wallaces Manuskript also mit einem an Charles Darwin, Esq., adressierten Brief auf dem Meer, 7 200 Seemeilen von England entfernt. Es war ein überaus höfliches, man ist zu sagen geneigt: unterwürfiges Schreiben. Wallace bat Darwin, er möge seinen Aufsatz doch bitte lesen und, sofern er ihn dessen für wert erachte, an Lyell weiterleiten.

So kam es also, dass Wallace das Schicksal seiner Entdeckung der Entdeckungen – über die Entstehung der Arten durch natürliche Auslese – in die Hände einer Gruppe distinguierter britischer Gentlemen legte. Das Jahr 1858 fiel mitten in die viktorianische Blütezeit, als das Britische Empire über Palmen und Pinien herrschte. England war die stärkste Militär- und Wirtschaftsmacht auf Erden. Die allmächtige Royal Navy hatte dem Königreich auf jedem Kontinent – abgesehen vom gefrorenen und gegen Menschen immunen Südpol – Kolonien gesichert, derweil daheim die Industrielle Revolution geboren worden war, die es nun, fast ein Jahrhundert später, noch immer dominierte. Es kontrollierte 20 Prozent des gesamten internationalen und 40 Prozent des industriellen Handels. Und was den naturwissenschaftlichen Fortschritt betraf, angefangen bei all den mechanischen Erfindungen bis hin zum Vormarsch der Medizin, Mathematik und der theoretischen Forschung, war es ohnedies weltweit führend.

Um alldem ein Gesicht zu geben, hatte das Königreich auch noch den geschliffensten Aristokraten des Abendlands vorzuweisen … den britischen Gentleman, ob er nun einen Adelstitel trug oder nicht. Er konnte ein Sir Charles Lyell oder ein Mr. Charles Darwin sein. Das spielte keine Rolle. Andere europäische Aristokraten, sogar einige französische, hoben den Arm vors Gesicht, um ihre Augen in der Gegenwart eines britischen Gentleman vor dessen strahlendem Glanz zu schützen. Aber sein Strahlen, seine Finessen und der ganze übrige Schnickschnack – Manieren, Kleidung, Auftreten, der näselnde Akzent, der Esprit und die zerfleischende Waffe desselben: die Ironie – waren noch das Geringste. Das Eigentliche war sein Reichtum, vorzugsweise ein ererbter.

Der britische Gentleman, in längst vergangenen Zeiten besser bekannt als Mitglied der landed gentry – der Klasse des großgrundbesitzenden Landadels –, bestritt seinen Lebensunterhalt typischerweise aus einem großzügigen Erbe und residierte im Herrenhaus eines Landguts von 1 000 Morgen oder mehr, die er zur Bewirtschaftung durch die unteren Schichten zu verpachten pflegte.17 Er hatte in Oxford (Lyell) oder Cambridge (Darwin) studiert und war anschließend Offizier oder Geistlicher oder Jurist oder Arzt oder Prime Minister oder Dichter oder Maler oder Naturforscher geworden – aber er musste nichts tun. Er brauchte keinen einzigen Tag in seinem Leben zu arbeiten. Sir Charles Lyells Aufstieg in den Stand des britischen Gentleman hatte an dem Tag begonnen, an dem sein Großvater, ebenfalls ein Charles Lyell, seine Karriere in der Handelsmarine in genügend Geld verwandelt hatte, um in Schottland einen Grundbesitz von zahllosen Morgen und einem palastartigen Herrenhaus darauf erwerben und sich dort in ein luxuriöses Leben nach Gutsherrenart zurückziehen zu können. Niemals haftete einem Gutsherren der gesellschaftliche Hautgout einer notwendigen Arbeit an. Auf den Großvater hatte der einst finanziell unerlässliche Dienst in der Marine zwar noch einen gewissen Schatten geworfen, doch sein Sohn, ein weiterer Charles, wurde bereits von diesem Fluch befreit geboren18 – geschweige denn der Enkel, der dank seiner Errungenschaften auf dem Gebiet der Geologie zu Sir Charles (dem dritten Charles in Folge) wurde.V Die darwinsche Familienlinie reichte wesentlich weiter zurück, rund zweihundert Jahre bis Mitte des 17. Jahrhunderts zu Oliver Cromwells Sergeant-at-Law (Konsulenten), einem Mann namens Erasmus Earle.19 Erasmus hatte es derart gut verstanden, Kapital aus dieser Position zu schlagen, dass er riesige Ländereien erwerben und ein Vermögen anhäufen konnte, welches mehr als ausreichte, um jedem einzelnen Gentleman aus den nachfolgenden rund acht Earle-Darwin-Generationen die Notwenigkeit einer Erwerbstätigkeit zu ersparen.

V  Sir Charles Lyell wurde 1848 in den Ritterstand erhoben und 1864 zum Baronet ernannt. Die Copley-Medaille für seine wissenschaftlichen Leistungen erhielt er 1858. 1875 fand er seine letzte Ruhestätte in der Westminster Abbey.

Auch Charles Darwins Vater Robert war wie der eigene Vater Erasmus Arzt. Doch seine wahre Leidenschaft galt der Mehrung des Vermögens durch Investitionen, Kreditgeschäfte, Makelgeschäfte, Wettgeschäfte und andere Finanzgeschäfte auf den Geldmärkten der Industriellen Revolution. Und er konsolidierte das ererbte Vermögen nicht nur … er vervielfachte es auch noch durch die Ehe mit der Tochter eines der ersten Industriegiganten, Josiah Wedgwood, der das Töpferhandwerk erlernt und so unermüdlich verfeinert hatte, dass er die Manufakturen seines Namens gründen konnte, die dann feineres Porzellan herstellten, als ein normaler Töpfer es je für möglich gehalten hatte. Robert Darwins Arena war London und dessen Finanzdistrikt, die City. Doch wie die meisten großen britischen Industrierevolutionäre zog auch er es vor, in einem Herrenhaus auf einem weitläufigen, wirtschaftlich weitgehend irrelevanten Besitz in Shropshire zu residieren – genannt The Mount. Damit konnte er beweisen, dass er ebenso hochherrschaftlich leben konnte wie der Landadel vergangener Zeiten.20 Natürlich zahlte er für das Medizinstudium seines Sohnes Charles an der University of Edinburgh – doch der Junge schmiss hin. Daraufhin schickte er ihn ans Christ’s College nach Cambridge, auf dass er Geistlicher werde – doch der Junge zeigte so wenig Interesse, dass der Vater zusehen musste, wie er aufs unterste Cambridge-Niveau absank und nur mit Müh und Not überhaupt einen Bachelor of Arts bekam (ohne jedes Prädikat und mit nur der vagesten Vorstellung davon, was er mit seinem Leben anfangen wollte). Also stattete Robert Darwin den Sohn widerwillig mit genügend Finanzmitteln für eine fünfjährige Forschungsreise oder Sightseeing-Tour oder Weiß-Gott-was-das-sollte an Bord eines Schiffes aus, das nach einer Hunderasse getauft worden war, Her Majesty’s Ship the Beagle … Es würde ihn auf eine Karriere als … nun, soweit es Dr. Darwin absehen konnte … gar nichts vorbereiten. Als der Junge, man schrieb das Jahr 1839 und er war mittlerweile neunundzwanzig, diesem Nonsens endlich abgeschworen hatte, bugsierte ihn Dr. Darwin in eine Ehe mit einer Cousine ersten Grades aus der Wedgwood-Dynastie, der durchaus netten, wenngleich reizlosen dreißigjährigen Emma Wedgwood. 1842 erwarb er einen Landsitz für das Paar, Down House südöstlich von London, und überschrieb Charles genügend Vermögen, um ihm allzeit ein gutes und sorgenfreies Leben zu garantieren. Zu einem guten Leben zählten mindestens acht bis neun Bedienstete – ein Butler, eine Köchin, ein bis zwei Diener für den Herrn, ein Hausmädchen, eine Kammerzofe für die Dame, eine Nanny und eine Gouvernante – und das von Tag eins der Ehe an.VI

VI  Emma Darwin verzeichnete die Einstellung der Dienerschaft vor dem Umzug nach Down House in ihrem Tagebuch, in dem sie auch viele Details über Charles' Gesundheit und das Familienleben festhielt. Ihre Tagebücher wurden alle digitalisiert und sind unter www.Darwin-online.org.uk abrufbar.

Wie sah im Vergleich zu diesem lebenslang von Daddy finanzierten Dasein eines britischen Gentlemans das eines Mannes wie Alfred Russel Wallace aus? Sein Vater, ein Anwalt, hatte sich als Jurist, als Geschäftsmann und als Familiengründer versucht – er musste nicht weniger als eine Frau und neun Kinder unterhalten (Alfred war das achte). Letztendlich stand er betrogen, bankrott und restlos vernichtet da. Die Wallaces waren der Prototyp einer Familie auf dem sozialen Abstieg, wie man heute sagen würde. Sie hatten nicht das Geld, um Alfred eine Bildung über die Grundschule hinaus angedeihen zu lassen. Jahre später musste der Sohn, um seine Forschungsreisen ins Amazonasgebiet und auf den Malaiischen Archipel bezahlen zu können, enorme Ladungen an (toten) Schlangen, Säugetieren, Muschelschalen, Vögeln, Käfern, Schmetterlingen – Massen an farbenprächtigen Schmetterlingen –, Nachtfaltern, Stechmücken an einen Agenten in England verschiffen … der sie dann an Naturforscher, Amateurforscher, Sammler, Schmetterlingsjäger und jeden anderen verkaufte, der sich von den exotischen Merkwürdigkeiten der Natur auf der Schattenseite der Erde angezogen fühlte. Eine einzige Ladung konnte Tausende Posten enthalten. Und gewöhnliche Sterbliche, die bereit waren oder sich vom Schicksal dazu gezwungen sahen, in die Welt hinauszuziehen … durch knöcheltiefen saugenden Morast zu waten … sich in hirnverbrennender Hitze durch Wolken von Moskitos hindurchzukämpfen … unheimliche fiebrige Nächte lang über Terrains voller Giftschlangen zu schliddern … um bei jeder dieser Exkursionen Hunderte kurioser Wesen einzufangen … wurden damals schlicht »Fliegenfänger« genannt.21 Gentlemen wie Lyell und Darwin betrachteten Fliegenfänger nicht als naturforschende Kollegen, sondern als Lieferanten auf der Stufe von Farmern und Cottage-Webern.

Jetzt kennen Sie Alfred Wallace … Fliegenfänger. Allein schon der Gedanke, seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen, geschweige denn als malaiischer Insektenhändler, reichte aus, um Juckreiz und manisches Kratzen bei einem Gentleman auszulösen … und Mitte des 19. Jahrhunderts lenkte der Gentleman jeden wichtigen Bereich im britischen Leben: Politik, Religion, Militär, Geistes- und Naturwissenschaften. Wallace war sich überaus bewusst, dass er gerade im Begriff war, mit einer Gesellschaftsschicht in Kontakt zu treten, die weit über der seinen angesiedelt war. Aber er schrieb Lyell über den Umweg Darwin ja auch nicht, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden. Alles, was er wollte, war die professionelle Anerkennung durch zwei hervorragende naturwissenschaftliche Kollegen.

Wie ungemein naiv von ihm! Der britische Gentleman war nicht einfach nur reich, mächtig und geschliffen. Er war auch ein äußerst routinierter Mann der Tat … glatt … glatt … aalglatt … und noch einiges mehr. Man sagte, ein britischer Gentleman kann dir deine Leibwäsche vom Körper ziehen, Unterhemd samt Unterhose, und du stehst da und starrst ihn an und fragst ihn, ob er nicht auch finde, dass es mit einem Mal etwas kühl geworden sei.

Als Mr. Charles Darwin das Manuskript und den Brief im Juni 1858 erhielt – und man möge mir nun den Anachronismus eines Idioms verzeihen, das erst rund ein Jahrhundert später erfunden wurde –, flippte er aus. Er sandte es an seinen engen Freund Lyell, so weit, so gut … das jedoch nebst einem blökenden Hilfeschrei. Auf nur zwanzig Seiten hatte dieser Mr. Wallace doch glatt seinem Lebenswerk »vorgegriffen«, wie man es 1858 zu umschreiben pflegte – der Arbeit seines gesamten Lebens! Heute würde man sagen, Wallace hatte einen Scoop gelandet.

Darwin hatte sich inzwischen mit einer Reihe von Monografien über Korallenriffe, Vulkaninseln, Fossilien, Rankenfüßer und die »festen Gewohnheiten« von Säugetieren einen gediegenen Ruf unter Naturforschern erworben … er hatte ein fesselndes und hochgelobtes Buch geschrieben, das unter dem Titel Journal of Researches … veröffentlicht worden war und seine fünfjährige Reise (1831–1836) an Bord der HMSBeagle schilderte, eine der vielen weltweiten Expeditionsreisen, die im 19. Jahrhundert vom englischen Staat gefördert wurden. Er war nicht nur zum Mitglied der Geological Society gewählt, sondern auch in die renommierteste Wissenschaftsgesellschaft Englands, die Royal Society of London, aufgenommen worden, deren Mitgliedschaft auf achthundert Personen beschränkt war, und damit waren die achthundert führenden Denker der ganzen Welt gemeint. Schön und gut, aber das alles bedeutete ihm nichts, gemessen an seiner Evolutionstheorie, seinem noch sehr geheimen Lebenswerk.

Die ersten Gedanken über die Evolution – »Transmutation« lautete der zeitgenössische Begriff dafür – waren Darwin auf der Beagle gekommen. Bis 1837, ein Jahr nach dem Ende der Expedition, hatte er sich schließlich selbst überzeugt, dass jedes pflanzliche und tierische Leben auf Erden das Ergebnis einer Transmutation/Evolution war, die jede der vielen unterschiedlichen Arten im Laufe von Jahrmillionen durchlaufen hatte. Und nicht nur Pflanzen und Tiere … die Forschungsreisenden auf der Beagle hatten lange Abstecher an Land gemacht, und Darwin war dabei immer wieder auf Eingeborene gestoßen, die so primitiv waren, dass sie einem britischen Gentleman wie ihm näher am Affen als am Menschen schienen … vor allem die Fuegier (Feuerländer), die Ureinwohner der Tierra del Fuego, eine derart südlich gelegene argentinisch-chilenische Provinz, dass ihre Spitze bereits zur Antarktis gehörte. Feuerländer hatten eine kupferfarbene Haut und waren stark behaart. Das Haupthaar war so wild verworren wie das Fell eines kreischenden … kreischenden … nun ja, eines kreischenden haarigen Affen. Ihre behaarten Beine waren zu kurz und die haarigen Arme zu lang geraten für ihre haarigen Torsos. Das Einzige, was sie aus Darwins Sicht vom höheren Affen unterschied, war ihr Sprachvermögen, sofern man das ihre als ein solches bezeichnen konnte. Das Vokabular der Feuerländer war so klein und ihre in Grunzlauten versunkene Grammatik so simpel und einfältig, dass dieses menschliche Unterscheidungsmerkmal aus Darwins Blickwinkel kaum noch als solches gelten konnte.22 Er hatte noch keine Ahnung, dass Sprache, ob sie nun nach Art von wilden Tieren mitten im Nirgendwo gegrunzt oder von Londoner Dandys genäselt wurde, sich als die bei Weitem – bei sehr Weitem – größte Macht unter allen Fähigkeiten erweisen sollte, die irgendein Geschöpf auf Erden besitzt.

Es geschah, nachdem Darwin auf der anderen Seite des Äquators erstmals seinen Blick auf diesen und anderen haarigen Affen ruhen ließ, dass sich ein blasphemischer, frevlerischer, todsündiger, über die Maßen aufregender, ruhmheischender, glorienfunkelnder Gedanke in seinem Kopf einnistete: Was, wenn Gestalten wie die Feuerländer gar keine wirklichen Menschen waren, sondern eine Zwischenstufe der Transmutation/Evolution auf dem Weg vom Affen zum … Homo sapiens? Dass Gott den Menschen nach seinem Bilde erschaffen hatte, war ein Kernstück des christlichen Glaubens. 1809, als Lamarck vorzuschlagen wagte (in Philosophie Zoologique), dass der Mensch vom Affen abstamme, war man weithin davon ausgegangen, dass ihn nur seine legendär heldenhafte Tapferkeit im Siebenjährigen Krieg davor bewahrt habe, ernsthaftes Leid durch die Kirche und ihre mächtigen Verbündeten zu erfahren. (Nachdem mehr als die Hälfte der Infanteristen und sämtliche Offiziere einer französischen Kompanie im Artilleriefeuer das Leben verloren hatten, war der kleinwüchsige, dünne, siebzehnjährige Gefreite Lamarck vorgetreten, hatte allein kraft seiner Persönlichkeit das Kommando übernommen und die Position der Kompanie so lange gehalten, bis Verstärkung eintraf.)

Die Aussicht, es könnte ihm Verachtung entgegenschlagen, ließ Darwin erstarren, andererseits brannte er vor Ehrgeiz. Sieben Jahre später sollte der Autor von Vestiges of the Natural History of Creation wohl das Gleiche empfinden – denn weshalb sonst versteckte er sich hinter der Verfasserzeile »Anonymus« und gab sich auch später nie zu erkennen? Nicht einmal die Aussicht auf Ruhm hatte ihn seine Ängste überwinden lassen. Erst als Vestiges 1884 anlässlich des vierzigsten Jubiläums der Erstausgabe in zwölfter Auflage erschien, wurde der Autor enthüllt … dreizehn Jahre nach dessen Tod. Endlich füllte ein Name die Verfasserzeile: Robert Chambers. Die versnobten Gentlemen-Naturforscher hatten recht behalten: Chambers war kein Gentleman, sondern tatsächlich ein Journalist gewesen, der gemeinsam mit seinem Bruder William Chambers’s Edinburgh Journal und Chambers’s Encyclopaedia ins Leben gerufen hatte … und sich mit diesem einen Werk zum ersten und letzten Mal als Amateurnaturforscher geäußert hatte.

Wie sich herausstellte, war Darwin mindestens ebenso misstrauisch und ängstlich wie Chambers. Aber ihn hielt noch etwas anderes davon ab, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Als hingebungsvoller Naturforscher hatte er ein noch weit größeres Problem, nämlich die riesigen Beweislücken, die zwischen seinen Ideen zum Ursprung von Sprache klafften, wiewohl sie es doch war, die das menschliche Verhalten so grundlegend von jedem tierischen unterschied. Es nagte an ihm. Er konnte den opponierbaren Daumen des Menschen erklären, seinen aufrechten Gang, seine riesige Hirnschale, aber er konnte nicht einmal den Schnipsel eines soliden Nachweises für seine Idee finden, dass menschliche Sprache sich aus Tierlauten entwickelt habe. Es schien gerade so, als sei den Menschen das Sprechen einfach aus dem Nichts über die Lippen gekommen. Er sann und sann. Und sann …

… Augenblick mal! Was war Sprache denn überhaupt? Stimmliche Kommunikation, richtig? Nun ja, auch Tiere hatten ihre Weisen, stimmlich zu kommunizieren, manchmal sogar ziemlich komplexe. Südliche Grünmeerkatzen verfügten über unterschiedliche Schreie, um das Rudel vor der Gegenwart der für sie gefährlichsten Raubtiere zu warnen. Sie hatten einen Warnschrei für Leoparden, einen anderen für Adler, wieder einen anderen für Paviane, und noch einen anderen für Pythons, den sie sogar variierten, falls sich eine Mamba oder Kobra blicken ließ. Sie nutzten spezifisch intonierte Laute, um anzuzeigen, dass die Berichte einer bestimmten Grünmeerkatze nicht unbedingt verlässlich waren. Na, da war es doch: Affensemantik. Wenn das nicht das Äquivalent von Sprache war, was dann? Nun gut, es ließ sich kein direkter Nachweis anführen … aber es war doch wohl selbstredend, nicht wahr? Tiersprachen wie die der Grünmeerkatze hatten sich zur Menschensprache weiterentwickelt … irgendwie … und wenn es dafür keinen eindeutigen Beweis gab … nun, dann bedeutete das doch nur, dass noch niemand intensiv genug danach gesucht hat, denn er musste ja irgendwo da draußen zu finden sein.

Und wieso musste? Weil Darwin in diesem Moment des Jahres 1837, ohne sich dessen bewusst zu sein, in die Falle des Kosmogonismus getappt war – des zwanghaften Drangs, die sich stets entziehende »Theorie von Allem« zu finden, das heißt eine Idee oder ein Narrativ, die oder das offenbart, dass alles im Universum Bestandteil eines einzigen und nun mit einem Mal erklärbaren Musters ist. Der erste Gelehrte, der sich ein solches Ziel gesetzt hatte, scheint dies im 3. Jahrhundert v. d. Z. getan zu haben, doch der Begriff einer »allgemeinen Theorie von Allem« wurde erst Anfang der 1960er-Jahre – und mit einem Augenzwinkern – vom polnischen Philosophen und Science-Fiction-Autor Stanislaw Lem geprägt. Ende des 20. Jahrhunderts tauchte diese Bezeichnung erstmals bei ernsthaften Debatten und in Wissenschaftsjournalen auf. Für Darwin war sie jedoch bereits ein Jahrhundert zuvor eine ungemein ernste Angelegenheit gewesen, wie immer man die Theorie auch nannte. Deshalb wurde es zu seiner Obsession, den Nachweis zu erbringen, dass Sprache sich aus den Lauten niederer Tiere entwickelt hatte, denn wenn seine Theorie eine Theorie von Allem war, dann musste sich auch die Entwicklung des menschlichen Sprachvermögens in seine makellose Kosmogonie einpassen lassen, egal welche verbale Akrobatik und logischen Gedankensprünge dafür nötig waren. Sprecht, ihr Bestien!

»Kosmogonie« bedeutet wortwörtlich »Weltzeugung«. In Reinform ist sie die Lehre von der Erschaffung des Weltalls samt allen kosmischen Objekten und allen im Menschen gipfelnden Lebensformen darin, ganz so wie in der Genesis berichtet. Am Anfang ist… keinerlei Materie, nur Geist und eine Kraft, die der Mensch Gott nennt. Gott erschafft in sechs Tagen die materielle Welt und ruht am siebenten. Er erschafft den Menschen nach seinem Bilde und überträgt ihm die irdische Verantwortung. Nur sehr wenige andere Kosmogonien bieten einen derart allmächtigen Gott oder eine derart große unsichtbare Kraft wie diesen Schöpfer. Eher im Gegenteil.

Die allermeisten Kosmogonien beschreiben ein Tier, und dieses Tier wird nie seiner Größe, physischen Kraft oder Wildheit wegen gerühmt. Ganz und gar nicht. Die Tendenz geht nicht zu größer und größer, sondern zu kleiner und kleiner. Eine Version von der Kosmogonie der nordamerikanischen Apachen beginnt mit einer großen Leere. Hoch oben in dieser Leere taucht eine Scheibe auf. Zusammengerollt in der Scheibe befindet sich ein kleiner alter Mann mit einem langen weißen Bart. Er streckt den Kopf heraus und stellt fest, dass er gänzlich allein ist. Also erschafft er einen anderen kleinen Mann, der ihm ziemlich ähnlich sieht. (Der Leser möge freundlicherweise von profanen Verfahrensfragen absehen.) Irgendwie begibt es sich nun dort oben in der Leere, dass die beiden mit einem Ball aus Erde spielen. Ein Skorpion taucht aus dem Nichts auf und zerrt daran. Er reißt ganze Brocken aus diesem Erdball, zieht diese Stücke immer mehr in die Länge und Breite, sie dehnen sich weiter … weiter … weiter, bis er schließlich Erde, Sonne, Mond und alle Sterne erschaffen hat.23