Das kurze Leben des Giuseppe M. - Roswitha Quadflieg - E-Book

Das kurze Leben des Giuseppe M. E-Book

Roswitha Quadflieg

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Beschreibung

Ein authentischer, genauer Blick in die Jugendszene von heute: Träume, Wünsche, Enttäuschungen und immer wieder Aggression … Fast jeder junge Mann ist auf dem nächtlichen Heimweg in der U-Bahn oder zu Fuß auf der Straße schon mal von einer Gruppe anderer Jugendlicher angerempelt, angepöbelt oder aggressiv angemacht worden. Wenn er sich ­diese Menschen ansieht, vielleicht stehenbleibt, heißt es: »Was guckst du so, Alter, was willst du?« - und das ist oft der Auftakt von brutaler Gewalt. Alltag in Großstädten... Als die Autorin Roswitha Quadflieg nach Berlin zog, las sie in der Zeitung von Giuseppe Marcone, 23, Sohn einer bulgarisch-griechischen Mutter und eines italienischen Vaters - und dessen Geschichte ließ sie nicht mehr los: Er will mit seinem Freund an einem frühen Samstagmorgen mit der U-Bahn nach Hause fahren. Auf dem Bahnsteig werden sie angepöbelt, als sie den U-Bahnsteig wieder verlassen wollen, verfolgt. Giuseppe wird geschlagen, rennt auf die Straße, wird von einem Auto erfasst und gegen einen Ampelmast geschleudert - er stirbt. In Gesprächen mit der Familie, mit Freundinnen, Freunden und ehemaligen Lehrern, mit Zitaten aus Vernehmungsprotokollen, Zeugen- und Anwaltsäußerungen sowie dem Gerichtsurteil (die angeklagten Jugendlichen äußern sich nur über ihre Anwälte, auch deren Familie verweigert sich einem Gespräch) entsteht das genaue und exemplarische Bild eines Gewaltakts und seines Opfers, das Bild vom Leben eines jungen Mannes mit all seinen Sehnsüchten, Fehlern, Wider­sprüchen und Eigenarten - ein Leben, das sinnlos und abrupt beendet wurde.

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Seitenzahl: 142

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© 2016 by : TRANSIT BuchverlagPostfach 121111 | 10605 Berlinwww.transit-verlag.de

Layout und Umschlaggestaltung,unter Verwendung eines Ausschnittsaus einem BVG-Video: Gudrun FröbaAbbildungen Giuseppe Marcone: PrivateISBN 978-3-88747-333-4

Roswitha Quadflieg

DAS KURZE LEBEN DES GIUSEPPE M.

Ein Opfer von Jugendgewalt

: TRANSIT

INHALTSVERZEICHNIS

Prolog

Nachricht auf dem Anrufbeantworter

Die Beerdigung und die Zeit davor

Nach der Beerdigung

Das Grab

Die Wohnung

Kindheit. Familie

Schulzeit 1 | Lehrer

Schulzeit 2 | Freunde

Kennenlernen. Trennung

Eigene Veränderung

Visionen. Träume

Eröffnung der Laternenausstellung

Selbstverteidigung

Die Talkshow

Die Tat. Täter. Gesellschaft

Letzter Tag der Laternenausstellung

Über den Tod

17. September 2011

Verhandlung und Urteil

Fest an Giuseppes 3. Geburtstag nach seinem Tod

Raul

Zum Schluss

Nachricht auf dem Anrufbeantworter

Anhang

Verzeichnis der Personen

Lebenslauf von Giuseppe Marcone

Nachbemerkung

Kalender der Gewalt

Wie die Liebe, so versetzt uns die Gewalt in ungläubiges Staunen.

Jörg Baberowski

Wer schlägt, kann nicht länger ignoriert werden.

Trutz von Trotha

PROLOG

An einem frühen Morgen im September 2011, wenige Tage vor Herbstanfang, läuft in Berlin-Charlottenburg Einer über den Kaiserdamm. Kurz vor fünf Uhr – direkt in den Tod.

Aber er läuft nicht nur, er rennt. Rennt um sein Leben. Die letzten Stufen hinauf aus einem U-Bahnhof, über den Fußweg, wähnt die hier in beiden Fahrtrichtungen fünfspurige Straße leer, wird von einem Auto erfasst, fliegt durch die Luft, prallt gegen einen auf der Verkehrsinsel stehenden Ampelmast.

Drei Monate und drei Tage zuvor feierte er im Garten seiner Eltern zusammen mit vielen Freunden seinen dreiundzwanzigsten Geburtstag.

Warum, um Himmels willen, rannte er so?

Aus dem Urteil 1:

Angesichts dessen hat das Tatgeschehen hinsichtlich der Todesfolge gewisse Züge eines Unglücksfalls.

1 Mit »Aus dem Urteil« ist durchgehend gemeint: Urteil des Landgerichts Berlin, Turmstraße, verkündet am 29. März 2012, in der Strafsache gegen 1. Ali T. und 2. Baris B. wegen Körperverletzung mit Todesfolge u.a.

NACHRICHT AUF DEM ANRUFBEANTWORTER

ALI T.

Ja, hallo, guten Tag, äh, ich bin’s, der Ali T. Und zwar find ich den Brief, den Sie mir geschrieben haben, beziehungsweise geschickt haben, ich find den wirklich gar nicht schön. Ich meine, äh, was denken Sie sich dabei, dass ich nach drei Jahren einfach hier mit Ihnen so’n Ding abzieh oder wie? Man will die Sache vergessen. Lassen Sie mich damit in Ruhe. Es ist einfach am besten. Schönen Tag noch. Ciao!

DIE BEERDIGUNG UND DIE ZEIT DAVOR

Rund 250 Menschen nahmen gestern auf dem Waldfriedhof Dahlem Abschied von Giuseppe M. (23), der am Kaiserdamm von U-Bahn-Schlägern in den Tod gehetzt wurde.

(...) Als die Träger den Sarg anheben, blicken einige der Trauergäste bestürzt zu Boden. Hier wird ein Junge mit unerfüllten Zukunftsplänen zu Grabe getragen. Ein Frauenschwarm, ein guter Freund, ein kleiner Bruder. Einer nach dem anderen wirft Erde ins Grab, murmelt letzte Worte. In langer Reihe stehen sie an ...

Julia Dombrowsky in der Berliner Zeitung, 8. Oktober 2011.

VELIN, älterer Bruder

Am Tag der Beerdigung schien die Sonne. Nach und nach trafen alle Freunde auf dem Friedhof ein, umarmten sich wie immer, wenn sie sich trafen. Alles war irgendwie surreal. Dass er da tatsächlich in der Holzkiste lag, war für mich nicht nachvollziehbar. Erst als der Sarg hinuntergelassen wurde, habe ich so etwas wie Realität gespürt.

ANNA

Giuseppe? Der war ein ganz Lieber.

Ich war nicht auf seiner Beerdigung. Das konnte ich nicht. Ich war einfach zu schwach. Trotz der Therapie fühlte ich mich nicht stark genug. Wenn ich alleine zuhause bin, stelle ich manchmal ein Foto von ihm auf und schaue ihn mir lange an. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass er tot ist. Obwohl das realistisch wäre. Manchmal sage ich zu ihm: Wenn das ein Witz war, Mann, gibt’s Ärger.

VELIN, älterer Bruder

Das einzige Indiz, das ich hatte, war dieses Pressefoto: Eine Bahre, auf der, abgedeckt von einer weißen Plane, ein Mensch liegt. Man kennt ja solche Fotos. Aber ist das wirklich er? Ist das wahr? Weiß ich denn, wer wirklich darunter liegt?

Natürlich sind sowohl sein Grab als auch der Prozess Indizien – trotzdem ist alles für mich völlig irreal. Immer noch! Obwohl mir mit der Zeit, die seitdem vergangen ist, klar wird, dass er nie mehr vor mir stehen wird.

VAJA, Mutter

Eine Woche bevor es passierte, lief ich mit den Hunden durch den Wald, kam auf die große Wiese. Sie war schwarz von Krähen. Und ich dachte, was wollen diese Todesvögel hier? Hat hier jemand ein Baby verscharrt?

TONI, Vater

Ach was, da waren einfach nur Vögel. Jeden Tag sind da Vögel.

VAJA, Mutter

Ich kenne den Wald, ich kenne die Wiese! Seit fünf Jahren gehe ich jeden Tag dort spazieren. Aber so was hatte ich noch nie gesehen. Ich spürte, irgendwas wird passieren.

Ein Jahr vorher starb mein Vater. Seine letzten Monate verbrachte er hier bei uns. Hier stand sein Bett. Große Trauer. Aber ich wusste genau, das war noch nicht alles, was ich aushalten muss, es würde noch schlimmer kommen.

Ein Rabbi hat Giuseppe begraben, nach jüdischem Ritus. An Jom Kippur, dem Tag der Versöhnung, obwohl er ja kein Jude war. Ich bin griechischbulgarischer Abstammung, Toni ist Italiener.

RELIGIONSLEHRERIN

An der Schule hat es alle beschäftigt. Viele haben mitgelitten, auch die, die Giuseppe gar nicht kannten. Etliche sind zur Mahnwache gegangen. Ich war sehr berührt. Ich habe einen interreligiösen Schulgottesdienst abgehalten. Die Beerdigung hat ja ein Rabbiner gemacht. Auf einem christlichen Friedhof. Die Familie ist wohl katholisch. Bei mir haben zwei Schüler Texte verlesen. Sehr beeindruckende Texte. Und auch, wenn sie bezüglich Migranten politisch nicht ganz korrekt waren, ein paar Dinge ansprachen, die sonst eher heikel sind, waren alle sehr berührt.

VELIN, älterer Bruder

Er hat sich halb als Deutscher, halb als Italiener gefühlt und andere damit geneckt. Provoziert. Aber keiner hat es ihm übel genommen.

Vor ein paar Wochen hat er mir Geld geliehen. Mein kleiner Bruder! Ich hab mich gesträubt, aber er hat gesagt, ey Mann, stell dich nicht an, du brauchst es, nimm es, und irgendwann zahlst du es mir zurück.

Drei Tage vor seinem Tod habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Am Geburtstag unserer Mutter. Er saß auf dem Rasen, spielte mit dem Hund, ich gab ihm einen leichten Kick an den Hinterkopf. Er drehte sich um und grinste mir zu.

KLASSENLEHRERIN

Ich bin nicht zur Beerdigung gegangen, um da mein Gesicht zu zeigen. Es war ja schon ein paar Jahre her, dass ich ihn zuletzt gesehen hatte. Aber ich mochte ihn einfach.

ANNA

Mein Freund rief mich an: Der Giuseppe ist tot! Ich hab das nicht geglaubt, ich hab einfach weitergemacht, weiter bedient im Restaurant. Sechs Stunden lang. Ich hab gelacht, nicht geheult. Weil ich’s einfach nicht geglaubt hab. Das war vollkommen unwirklich.

CARLO

Einen Tag vor seinem Tod hat er per SMS eine Nachricht verschickt: Yo jungs, bei facebook Veranstaltungen reinschauen, habe zu Bundesliga live eingeladen. Bier wird selbst besorgt. Grüß Gott wenn ihr ihn seht.

Von seinem Tod erfuhr ich dann auch über Facebook. Als ich die Nachricht las, habe ich gedacht: Wie?! Krass! Dann war Stille.

Eintrag in einem der beiden Kondolenzbücher, die – zwischen Blumen – einige Tage auf der Verkehrsinsel am U-Bahnhof Kaiserdamm auslagen, wo Giuseppe gestorben war. (Das zweite Kondolenzbuch wurde gestohlen).

Ich hoffe, Du bist jetzt an einem besseren Ort!

ANNA

Am meisten erschüttert hat mich das Foto in der Zeitung: Sein einsamer Turnschuh auf der Straße. Er war geradezu verrückt nach Turnschuhen.

TONI, Vater

Er hatte eine Macke: diese Nike-Schuhe. Und Gürtel!

Er war ein Dickkopf! Pünktlichkeit war sein Problem, hatte Krach mit seinem Chef im Restaurant. Meinte, Arbeit kritisieren ist okay, aber nicht die Person, ich bin kein Sklave, ich renne nicht für Sterne.

Eintrag im Kondolenzbuch am U-Bahnhof Kaiserdamm:Wieso haust Du denn schon vor unserer jahrelang geplanten Hochzeit ab? Vermissen werden wir Deine Kochkunst, Geburtstage und Kletterpartien. Du fehlst!

VELIN, älterer Bruder

Manchmal muss ich lachen und denke, Du bist echt eine dreckige kleine … machst hier einen Abgang, so, als würdest du dich vor deine Freunde hinstellen, im blauen Trikot, wie du es oft gemacht hast, und ihnen zurufen: Ich hab’s Euch doch gesagt, Italien wird Weltmeister.

Eintrag im Kondolenzbuch am U-Bahnhof Kaiserdamm:

Ich werde versuchen zu Ende zu bringen, was du begonnen hast und da weiterzumachen, wo du aufgehört hast. Du wirst mir unendlich fehlen. Wir werden uns wiedersehen. Du warst der Beste, du bist mein Auftrieb.

MAX S.

Ich war gerade auf Ibiza, als es passierte. Mit meiner Freundin. Im Haus ihrer Eltern. Sein Bruder Velin rief mich an. Ich hab nichts begriffen! Es war heiß, der Fernseher lief. Kurz nach Velins Anruf kam der Bericht in den Nachrichten. Ich dachte, wollt ihr mich denn alle verarschen?

NORA

Von seinem Tod erfuhr ich durch den Anruf einer Freundin. Ich dachte, hä? Nein! Von so etwas liest man in der Zeitung, aber einem selber passiert das nicht. Das kann nicht sein. Das ist ein Film oder ein schlechter Witz. Zu den Mahnwachen, die seine Familie und Freunde zwei Tage später am Kaiserdamm abgehalten haben, bin ich nicht gegangen. Da sollen Hunderte gewesen sein. Ich teile meine Trauer lieber nicht mit anderen. Umso krasser war für mich seine Beerdigung, sie katapultierte mich in die Wirklichkeit. Dieser Sarg! Das war unfair. Ich hätte ihn doch so gern noch einmal wiedergesehen!

ROBERT

Am Vorabend hat er auf meine Mailbox gesprochen, mich zu einer Party eingeladen. Ich habe nicht zurückgerufen, ihm nur eine SMS geschickt, ich sei in Griechenland und könne nicht kommen. Daraufhin hat er mich per SMS gefoppt, »Was willst du denn in Griechenland?« Ich hätte ihn anrufen und es nicht bei dieser SMS belassen sollen!

IGOR

Ich studiere in Graz. Auch als es passierte, war ich dort. Yves rief mich an. Es war früher Morgen, etwa sechs Uhr. Ein Samstag? Kann sein. Wenn man studiert, achtet man nicht mehr auf die Wochentage, weil jeder Tag gleich abläuft. Aufstehen, Essen, Lernen, Schlafen. Im Halbschlaf dachte ich, so früh ruft nur ein Besoffener an. Yves sagte: Giuseppe ist tot. Ich habe eine ganze Weile dagelegen und nachgedacht: Er hatte doch noch so viel vor. Für mich ist sein Leben ein nicht abgeschlossenes Kapitel.

ROBERT

Ich werde dieses Gefühl, etwas versäumt zu haben, nicht los.

MAX S.

Auf seiner Beerdigung haben alle geweint. Ich konnte das nicht. Ich habe die Leute beneidet, die weinen konnten. Erst als Jacob auf mich zukam, habe auch ich geweint. Er war extra aus Israel gekommen. Anfang desselben Jahres hatten Giuseppe und ich ihn besucht. Wir schliefen in einem Bett, ich hörte ihn neben mir atmen, wir haben zusammen gelacht – sein unverwechselbares, unvergessliches Lachen. Wir waren in Jerusalem, in der Grabeskirche.

Diese Beerdigung war ein unwirklicher Film, den niemand verstand. Wo war er?

VAJA, Mutter

Wir waren verabredet, wollten warme Kleidung und Wanderstiefel kaufen. Shoppen war seine Leidenschaft. In vierzehn Tagen sollte er seinen Dienst bei den Gebirgsjägern in Bayern antreten.

Er wohnte schon eine ganze Weile nicht mehr bei uns. Außerdem wollte er die Würstchenmaschine abholen. Er hatte vor, mit Freunden eine Party in seiner Wohnung zu feiern, abends. Mit Fußball, Bundesliga live.

SAVIER, jüngerer Bruder

Seine letzte Woche war eigentlich wie in einem Hollywoodfilm. Am Montag waren wir noch in einem Konzert, er hatte Karten besorgt, wir saßen aber nicht nebeneinander, er ist mit seinen Freunden gleich nach vorn, direkt an die Tribüne gestürmt. Ich blieb oben. Er hat ja immer große Töne gespuckt, auf jeder Party war er der Mittelpunkt. Großmaul eben, aber nett und witzig. Nach dem Konzert sind wir zu unseren Eltern gefahren und haben zusammen in den 50. Geburtstag unserer Mutter hineingefeiert. Er hatte mir sogar ein Geschenk für sie besorgt. Ein Buch. Was für eines, weiß ich nicht. Es war eingepackt. Als wir auseinandergingen, ein brüderlicher Handschlag, nichts weiter. Nichts Bewegendes. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.

VAJA, Mutter

Das Klingeln weckte mich, ich sah auf die Uhr, Punkt acht, und dachte: Was? Zwar waren wir um acht verabredet, aber Pünktlichkeit war nicht Giuseppes Ding, deshalb war ich ja auch noch nicht aufgestanden. Außerdem hat er einen Schlüssel. Wieso also klingelt er? Ich zog mir meinen Bademantel an und ging zur Tür. Draußen stand aber nicht er, sondern sein bester Freund Raul. Zusammen mit seinem Vater. Raul machte ein finsteres Gesicht. Wenn die sogar zu zweit kommen, dachte ich, muss es richtig Zoff zwischen den Jungs gegeben haben. Aber die beiden da draußen sagten nichts, und erst nach einer ganzen Weile fragte mich der Vater, ob sie reinkommen dürften.

Man begreift so eine Situation nicht, man stellt sich dumm, taucht weg, weil man sie nicht begreifen will. Ich habe geschrien.

Polizeibericht vom 17.9.2011

Weitere durchgeführte Ermittlungen:

Nachdem das VUK (Verkehrsunfallkommando) die Unfallaufnahme beendet hatte, wurde die Schlossparkklinik aufgesucht. Der Leichnam des Herrn Marcone befand sich noch in der Rettungsstelle und wurde im Beisein der Schwester Frau P. beschlagnahmt. Pol. V. 992 wurde am linken Zeh angebracht. Anschließend suchte das VUK die Wohnanschrift des Verstorbenen auf. Auf Klingeln öffneten dann die Eltern des Verstorbenen, Frau Vaja Marcone sowie Herr Antonio Marcone, die Eingangstür. Die Eltern waren bereits von Herrn Raul S. und dessen Vater unterrichtet worden und hatten Kenntnis vom Tode ihres Sohnes. Frau Marcone wurde die Geldbörse ihres Sohnes übergeben.

SAVIER, jüngerer Bruder

An dem Morgen, als es passiert war, wachte ich auf, weil ich meine Mutter schreien hörte. Ich lag in meinem Bett, oben in meinem Zimmer, und war mir dann aber nicht ganz sicher, ob es nicht vielleicht lautes Lachen war. Dann kam mein Vater an mein Bett und sagte es mir. Ja, auf Deutsch. Aber mein Vater macht nie viele Worte, und sein Deutsch ist sehr schlecht. Ich bin dann erstmal wieder unter die Bettdecke und erst sehr viel später zu den anderen runter gegangen. Ich war einfach baff, habe nicht viel mitbekommen. Dann habe ich mich auf mein Fahrrad gesetzt und bin in den Wald gefahren.

Polizeibericht vom 19.9.2011

Um 11:30 Uhr erschien Raul S. gem. zuvor ergangener telefonischer Vereinbarung in Begleitung seines Vaters (...) auf der hiesigen Dienststelle zum Zweck der zeugenschaftlichen Vernehmung.

Aufgrund der Zeugenaussage erhärtet sich der Tatvorwurf des Raubes mit Todesfolge. Die hier zuvor ergangene räuberische Erpressung war augenscheinlich kausal für die Flucht des Giuseppe und das sich anschließend ereignete tödliche Unfallgeschehen.

VAJA, Mutter

Kein Mensch schließt mit dreiundzwanzig Jahren eine Lebensversicherung ab. Eine Risikolebensversicherung! Nur Giuseppe. Genau einen Monat vor seinem Tod. Der Versicherungsvertreter ist dann von sich aus zu uns gekommen und hat eine Kulanzsumme ausgezahlt. Wir hatten keine Ahnung von dieser Versicherung. Klar, der Beruf, den er sich ausgesucht hatte, nachdem er mit der Ausbildung zum Koch fertig war, ist gefährlich. Gebirgsjäger. Er hatte vor, sich für zwölfeinhalb Jahre zu verpflichten. Weil er aber auf eine der Fragen eine – im Sinne der Bundeswehr – nicht ganz korrekte Antwort gegeben hatte, wurden ihm zunächst nur viereinhalb zugesichert.

SAVIER, jüngerer Bruder

Ich bin in den Wald gefahren, nicht zum Tatort, wie meine Eltern. Nein! Irgendwann habe ich einen Kumpel getroffen und bin dann erstmal weggetaucht, habe versucht, den Tag rumzubringen. Alkohol, klar. Irgendwann bin ich eingeschlafen und erst am anderen Morgen wieder nach Hause gefahren. Dort habe ich ein paar Sachen kaputt geschlagen. Ich war sehr wütend.

An der Mahnwache, zwei Tage später, habe ich teilgenommen, ja. Ich hatte auch das Bedürfnis zu weinen, aber als ich die vielen Gesichter sah, die ich ja alle von irgendwoher kannte, ging das nicht.

Es war meine erste Beerdigung. Dass ein Rabbi sie gemacht hat – mal was anderes. Er war eben was Besonderes.

IGOR

Ich bin zu seiner Beerdigung nach Berlin gefahren. Aber es kam mir so vor, als sei ich nicht da. Ich war wie betäubt. Ich dachte, ich bin hier falsch unter den Trauernden. Viele kleine Ereignisse hatten alles irgendwie irreal gemacht. Fast könnte ich sagen: Yves’ Anruf war realer als die Beerdigung.

YVES

Über den Abend selbst möchte ich nicht sprechen! Oder nur ganz kurz: Ich hatte mit Freunden meinen Geburtstag gefeiert, saß im Auto, um drei von ihnen nach Hause zu bringen. Ich hatte keinen Alkohol getrunken. Plötzlich rief Raul an und schrie, ich solle sofort zum Kaiserdamm kommen. Giuseppe habe einen Unfall gehabt.

MAX K.

Paradox, aber wir haben an dem Abend bis in die Nacht hinein tatsächlich über das Thema geredet: Was tun, wenn man angegriffen wird. Und wir waren uns einig, auf jeden Fall zu deeskalieren. Wir haben viel zu viel zu verlieren. Wir haben noch so viel vor. Wir haben Ziele. Das mag bei den Tätern anders sein.

Wir haben viel gelacht, gespielt, Filme geguckt. Es war einfach ein cooler Abend.

Die Tragik des Giuseppe Marcone. Urteil U-Bahn-Schläger Im Fall der tödlichen Flucht vor einem Angreifer verhängt das Landgericht Bewährungsstrafen.

Von der »Tragik des Giuseppe Marcone« sprach Richter Ralph Ehestädt in der Urteilsbegründung: Wenige Stunden vor seinem Tod habe das Opfer noch mit seinen Freunden beratschlagt, was bei einem Angriff in öffentlichen Verkehrsmitteln zu tun sei. Alle waren sich darüber einig, dass es am besten sei, dem aus dem Weg zu gehen, hatte Marcones Freund Raul S. berichtet.

Uta Eisenhardt in Die Tageszeitung, 30. März 2012.

MAX K.