Das Lager - Patricia Weiss - E-Book

Das Lager E-Book

Patricia Weiss

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Beschreibung

Ein Krimi, der es in sich hat und in die dunkle Vergangenheit reicht. Die rasante Story dreht sich um Alt-Nazis, brutale Sadisten, Mädchenhändler, ein Attentat - und das Ermittlerteam um Detektivin Laura Peters kommt in große Gefahr. "Unter der Wasseroberfläche, teilweise von großen Blättern verdeckt, sah sie den Körper einer jungen Frau. Lange Haarsträhnen schwebten um das aufgequollene Gesicht, ein blassblaues Kleid umspielte ihre Figur im seichten Takt der Wellen. An einem Knöchel befand sich ein grobes Seil, dessen ausgefranstes Ende sich sanft mit der Strömung bewegte." In einem See wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Detektivin Laura Peters, die grundsätzlich keine gefährlichen Aufträge übernehmen möchte, sucht für ihre Klientin nach deren verschwundenem Ehemann und ahnt nicht, wie eng die beiden Fälle miteinander verknüpft sind. Sie kommt einer Bande von skrupellosen Menschenhändlern auf die Spur, und als sie herausfindet, dass das ermordete Mädchen nicht das einzige Opfer gewesen sein kann, ist sie dem eiskalten Mörder schon gefährlich nahe...

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Seitenzahl: 405

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Das Lager
Das Buch
Bücher von Patricia Weiss
Impressum
Pflegestelle für Ausländerkinder
Siebengebirge, August 1944
Siebengebirge, Sonntag, 3. August 2014
Bad Godesberg, Montag, 4. August 2014
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Polen, Ende April 1940
Bad Godesberg, Dienstag, 5. August 2014
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Siebengebirge, Anfang 1940
Bad Godesberg, Mittwoch, 6. August 2014
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Siebengebirge, Ende 1943
Bad Godesberg, Donnerstag, 7. August 2014
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Siebengebirge, 1944
Bad Godesberg, Freitag, 8. August 2014
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Siebengebirge, August 1944
Siebengebirge, Freitag, 8. August 2014, früher Abend
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Warschau, August 1949
Bad Godesberg, Sonntag, 10. August 2014, später Nachmittag
Bad Godesberg, Montag, 11. August 2014, früher Morgen
Nachbemerkung

Impressum neobooks

Das Lager

Ein Fall für die Detektei Peters

Kriminalroman

von

Patricia Weiss

Das Buch

Unter der Wasseroberfläche, teilweise von großen Blättern verdeckt, sah sie den Körper einer jungen Frau. Lange Haarsträhnen schwebten um das aufgequollene Gesicht, ein blassblaues Kleid umspielte ihre Figur im seichten Takt der Wellen. An einem Knöchel befand sich ein grobes Seil, dessen ausgefranstes Ende sich sanft mit der Strömung bewegte.

Ein idyllischer See wird zum Schauplatz des Grauens, als die Leiche einer jungen Frau entdeckt wird. Detektivin Laura Peters stürzt sich in ihren ersten Fall und erkennt bald, dass dieser Mord nur die Spitze des Eisbergs ist, denn Hinweise führen zu einem weitverzweigten Netz aus Verbrechen und zu einer brutalen Bande von Mädchenhändlern.

Doch darunter lauert ein furchtbares Geheimnis. Laura stößt auf ein tragisches Familienschicksal und auf einen ungesühnten Mord, der seine finsteren Schatten bis in die Gegenwart wirft, und merkt dabei nicht, in welche Gefahr sie sich begibt.

Bücher von Patricia Weiss

Das Lager ist der erste Roman, in dem die Detektivin Laura Peters mit ihrem Team ermittelt.

Die Krimis der Laura-Peters-Reihe Böse Obhut, Zweiundsiebzig, MolochUnsterblich, MonströseMoral, Verlassene Seelen und die Halloween-Novellen Cäcilie und Escape If You Can sind als Taschenbuch und als E-Book im Internet erhältlich.

https://www.patriciaweiss.de

Impressum

Texte: © Copyright by Patricia Weiss

c/o

Relindis Second Hand

Gotenstraße 1

53175 Bonn

[email protected]

Lektorat: Katharina Abel

Covergestaltung und Foto: Patricia Weiss

Alle Rechte vorbehalten.

Erste Veröffentlichung: 2015

Das Lager ist als Taschenbuch und als E-Book erhältlich.

Für Freddie.

Pflegestelle für Ausländerkinder

Pflegestelle für Ausländerkinder wurden die Heime genannt, in denen während des Zweiten Weltkriegs die Babys von Zwangsarbeitern verwahrt wurden. Die Betreuung, die hygienischen Zustände und die Ernährung waren katastrophal.

Nur wenige haben überlebt.

Siebengebirge, August 1944

Die Zeit schien stillzustehen. Eintönigkeit und Angst erschufen ein Vakuum, in dem der Augenblick zur Ewigkeit wurde und die Tage nicht enden wollten. Gelblicher Staub waberte in dichten Schwaden über dem Boden, in der Luft lag der beißende Geruch von Sprengstoff. Die ohrenbetäubende Explosion hatte die Vögel verstummen lassen. Noch warfen die hohen Felswände kühle Schatten, doch die Strahlen der Sonne tasteten sich bereits in das Tal vor. Schon bald würde eine unerträgliche Hitze herrschen.

An die fünfzig Männer arbeiteten im Steinbruch. Sie standen in langen Schlangen und reichten die freigesprengten Steine von Hand zu Hand. Die Arbeit war hart und gefährlich, Entbehrungen, Strapazen und Unfälle forderten ihren Tribut. Keiner der Arbeiter sprach ein Wort, niemand sah hoch, aber alle waren wachsam. Am Waldrand saßen die Wärter rauchend im Schatten und ließen einen Flachmann kreisen. Ihr Gelächter hallte laut durch die Schlucht, die Gewehre lagen achtlos neben ihnen im Gras. Sie wirkten entspannt, geradezu harmlos.

Doch das täuschte.

In vorderster Reihe arbeitete ein sehr junger Mann, fast noch ein Kind. Mit kraftvollen Bewegungen belud er die Förderwagen, die die schwere Fracht aus dem Tal bis zur Verladestation der Steinfabrik transportierten. Seine Miene war konzentriert, undurchdringlich, doch hinter der schützenden Fassade ließ er seine Gedanken wandern, die einzige Möglichkeit, dem täglichen Grauen zu entfliehen. Früher hatte er sich oft ein Wiedersehen mit seiner Familie ausgemalt. Nächtelang hatte er gebetet, dass seine Mutter kommen und ihn befreien würde. Eine naive Vorstellung, wie er jetzt wusste. Wahrscheinlich hatte sie nie erfahren, was ihm zugestoßen war. Es hatte lange gedauert, bis er verstanden hatte, dass er auf sich allein gestellt war und sich anpassen musste, wenn er überleben wollte. Damals hatte er den Wunsch nach Rettung tief in seinem Inneren begraben. So tief, dass er ihn fast nicht mehr spürte. Angst, Demütigung und Hoffnungslosigkeit waren zu seinem Alltag und Monate zu Jahren geworden.

Doch dann war ein Wunder geschehen.

Während er Felsbrocken auf die Kipploren wuchtete, dachte er an den gestrigen Abend. Es war nicht leicht gewesen, sich unbemerkt aus dem Lager zu stehlen. Und viel zu riskant. Sie setzten dabei ihr Leben aufs Spiel. Überall gab es Spitzel, die für eine Extraration Essen oder ein paar Zigaretten jeden verrieten. Würde man sie zusammen erwischen, gäbe es keine Gnade. Man würde kurzen Prozess mit ihnen machen. Auch mit ihr. Trotzdem ging sie das Risiko ein. Es rührte ihn, wie fest sie daran glaubte, dass die Liebe alle Hindernisse überwinden konnte. Ihm fehlte diese Zuversicht.

Gestern Abend wäre es beinahe schiefgegangen. Sie hatten sich im Wald getroffen, auf einem umgestürzten Baumstamm gesessen und geredet. Er hatte sich nicht sattsehen können an ihr, ihrem Gesicht, ihren Händen. Sie hatte gelacht und sich beschwert, dass er ihr nicht zuhören würde. Aber das stimmte nicht. Jedes Wort, jede Silbe hatte er sich gemerkt. Sie hatte Pläne für die Flucht geschmiedet, den Beginn ihres gemeinsamen, freien Lebens, aber er glaubte nicht, dass es klappen konnte. Sie würden es nicht einmal bis zum Bahnhof schaffen, bevor man sie erwischte. Und wenn doch, wohin sollten sie fliehen? In seine Heimat? Dort saßen die Deutschen. Sie würden ihn gleich wieder aufgreifen und deportieren. Nach England? Dort gehörte sie zu den Feinden. Nach Frankreich? Schweden? Italien? Jedes Land, das ihm einfiel, war entweder von den Deutschen besetzt oder führte gegen sie Krieg. Es schien auf der Welt keinen Ort zu geben, an dem sie beide willkommen waren. Sie konnten nirgendwohin. Alles, was ihnen blieb, war das Hier und Jetzt. Eine gemeinsame Zukunft gab es nicht, aber er hatte es nicht übers Herz gebracht, ihr das zu sagen.

Plötzlich hatten sie das Geräusch gehört. Ein knackender Ast. In ihren Ohren so laut wie ein Peitschenknall. Dann absolute Stille. Als lauerte jemand in der Nähe. Sie hatten bewegungslos verharrt und den Atem angehalten. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er sich aus seiner Erstarrung lösen können und ihr bedeutet, sofort zu verschwinden. Nachdem der Wald sie verschluckt hatte, hatte er sicherheitshalber noch eine Weile gewartet, versteckt hinter einem Busch, und angestrengt gelauscht. In einiger Entfernung hatten Blätter geraschelt, ansonsten war es ruhig gewesen. Langsam war die Anspannung von ihm abgefallen und grenzenloser Erleichterung gewichen.

Sie hatten Glück gehabt.

Doch ein solches Risiko durften sie nicht noch einmal eingehen.

Ein Ellenbogen stieß ihm unsanft in die Rippen und riss ihn jäh aus seinen Gedanken.

„Trinkpause.“

Erschöpft fuhr er sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn und streckte vorsichtig die verspannten Muskeln. Die Sonne stand im Zenit, sie hatten den ersten Teil des Tagespensums geschafft. Er trottete hinter den anderen her, an den Wärtern vorbei zum Bach am Waldrand. An einer schattigen Stelle schöpfte er Wasser mit den hohlen Händen und erfrischte sich. Nachdem er seinen Durst gelöscht hatte, lehnte er sich an einen Baumstamm und zog ein Stück hartes Brot aus der Hosentasche. Kauend ließ er seinen Blick über die Männer wandern, die in der Nähe lagerten und sich leise unterhielten oder müde vor sich hin brüteten. Er hütete sich, sich zu ihnen zu gesellen und mit ihnen zu reden. Die Gefahr war zu groß, dass er sich verriet und sein Geheimnis offenbarte.

In einiger Entfernung bemerkte er einen Fliegenschwarm. Das Summen der lästigen Insekten schien von Sekunde zu Sekunde aufdringlicher zu werden. In der Luft lag der süßlich metallische Geruch von Blut. Ein leises Unbehagen erfasste ihn, als wollte sich eine böse Vorahnung den Weg in sein Bewusstsein bahnen. Zögernd erhob er sich, um nachzusehen.

Schon von Weitem sah er ein unförmiges Bündel auf dem Boden liegen. Unbewusst beschleunigte er seine Schritte. Er registrierte verklebtes, langes Haar, ein bläulich aufgedunsenes Gesicht, blicklose Augen. Ein Mensch. Grotesk verdreht, mit gebrochenen Armen und Beinen, inmitten von Felsbrocken, Erde, Dreck. Ein Festmahl für die Aasfresser, die unbarmherzig ihr pietätloses Werk verrichteten.

Tiefe Spuren der Verwüstung hatte der Tod auf dem Körper hinterlassen, doch trotzdem war es ihm nicht gelungen, die Schönheit ganz zu tilgen. Einzelne blonde Strähnen glänzten in der Sonne, sanfte Gesichtszüge waren unter den Prellungen zu erahnen, die zerbrochenen Gliedmaßen strahlten Zartheit und Anmut aus.

Wie von selbst entstand ein Schrei in seinem Inneren. Er gewann an Volumen, wurde mächtiger, schallte hinauf in den Himmel und wurde von den Felswänden vielfach zurückgeworfen.

Siebengebirge, Sonntag, 3. August 2014

Für Henriette Erlenbach war das Siebengebirge ein magischer Ort, der perfekte Schauplatz für Mythen und Legenden. Wenn sie die Wälder durchstreifte, suchte sie nach der Stelle, wo Siegfried den Lindwurm getötet und in seinem Blut gebadet haben könnte, und in den mittelalterlichen Ruinen stellte sie sich die Burgfrauen vor, die in zugigen Kemenaten sehnsüchtig auf die Rückkehr der Ritter gewartet hatten. Das Gedicht von Lord Byron über den Drachenfels gefiel ihr zwar nicht besonders gut, aber es hatte im neunzehnten Jahrhundert die ersten Touristen angelockt: Reiche und vornehme Leute, elegant gekleidet, die die wilde Romantik des Siebengebirges zu schätzen gewusst hatten. Heutzutage heizten nur noch rücksichtslose Mountainbiker in aufreizend engen Trikot-Hosen über die Waldwege und Heerscharen von Tagesausflüglern verstreuten überall ihren Müll und belagerten die idyllischen Lokale.

Henriette Erlenbach verabscheute diese Banausen und startete ihre Touren immer so früh wie möglich, um dem Ansturm zuvorzukommen.

Es war ein strahlender Morgen, die Vögel zwitscherten und ihre Hündin Leica sprang glücklich um sie herum. Ein leichter Kopfschmerz machte sich bemerkbar, tief atmete sie die frische Luft ein, um ihn zu lindern. Am Abend vorher war es spät geworden. Sie hatte sich mit ihren drei Freundinnen getroffen, Wein getrunken und herumgeplänkelt. Zurückgeblieben war ein schales Gefühl. Warum hatten sie so viel Glück im Leben und sie nicht? Sie hätte auch gerne eine Familie, aber sie hatte nie den Richtigen kennengelernt. Und jetzt, mit Anfang fünfzig, war es zu spät dafür. Frustriert trat sie einen Tannenzapfen ins Gebüsch. Leica sprang begeistert hinterher und legte ihn ihr vor die Füße. Henriette tätschelte sie abwesend und wanderte zügig weiter.

War sie zu anspruchsvoll?

Die Männer ihrer Freundinnen hätte sie jedenfalls nicht geschenkt haben wollen. Aber wenn sie ehrlich war, hatte es auch seit vielen Jahren keinen ernsthaften Interessenten mehr gegeben. Vielleicht musste sie wieder mehr ausgehen und dem Glück eine Chance geben.

Sie pfiff nach der Hündin und bog in den Weg zu den verlassenen Steinbrüchen ein. Früher war hier Basalt abgebaut und in die Umgebung verkauft worden. Die ambitionierten Bauvorhaben des Erzbistums Köln hatten über Jahrhunderte hinweg eine rege Nachfrage gesichert. Ohne Rücksicht auf die Natur waren breite Schneisen in die Felsen gefräst worden, nur die Profitgier hatte gezählt. Die Berge wären wohl irgendwann wie hohle Zähne in sich zusammengebrochen, wenn die Steinbruchkrater nicht plötzlich mit Quellwasser zugelaufen wären. So aber war eine malerische Seenlandschaft mitten im Wald entstanden.

Henriette erreichte das Ufer des Blauen Sees, der von steilen Felswänden eingefasst war. Sie schob ihre Sonnenbrille auf den Kopf und genoss die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Bewusst verdrängte sie den Ärger auf ihre Freundinnen und spürte, wie Ruhe und Entspannung sich in ihrem Körper ausbreiteten. Dann setzte sie ihren Weg fort und begab sich auf einen Kletterpfad, der die Strecke zu ihrem nächsten Ziel, dem Dornheckensee, abkürzte. Anfangs kam sie gut voran, doch sie hatte die Steigung unterschätzt. Immer öfter rutschten ihre Füße weg, sie musste Halt an Baumästen oder Wurzeln suchen. Leica war ihr gefolgt, vorsichtig eine Pfote vor die andere setzend. Henriette konnte ihr Unbehagen deutlich spüren.

Plötzlich blieb die Hündin stehen und schaute unverwandt auf den gegenüberliegenden Berghang. Ein dumpfes Grollen kam aus ihrer Kehle.

„Was hast du denn?“

Sie folgte dem starren Blick des Retrievers und entdeckte wenige Meter seitlich ein mannshohes Loch in der Felswand. Vor dem Eingang verlief ein Vorsprung, in den drei breite Stufen geschlagen worden waren. Etwas Weißes lag dort, es sah aus wie eine Jacke. Henriette klammerte sich an eine Wurzel und versuchte, in die Höhle zu spähen. Die Sonne stand ungünstig, die Schwärze im Inneren war undurchdringlich. Plötzlich beschlich sie das Gefühl, dass sie aus der Dunkelheit heraus beobachtet wurde. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Ihr linker Fuß rutschte weg, in letzter Sekunde konnte sie sich abfangen.

„Verdammt.“

Sie musste aufpassen, sonst würde sie den Abhang hinunterstürzen.

„Das ist doch alles bloß Einbildung.“

Aber Leica blickte immer noch unverwandt auf die Höhlenöffnung, leise knurrend, das Fell gesträubt.

„Komm, drehen wir um. Der Weg ist zu steil. In meinem Alter sollte man solche Experimente lassen. Gehen wir zurück.“

Vorsichtig bewegte sie sich abwärts und war erleichtert, als sie wieder wohlbehalten am Seeufer stand. Was hatte sie sich für einen Unsinn eingebildet? Es gab in der Höhle nichts, was sie beunruhigen musste. Niemand hatte sie von dort aus beobachtet, die Höhenangst hatte ihr nur einen Streich gespielt. Henriette wanderte den Weg ein Stück zurück und umrundete die Anhöhe auf einem sanft geschwungenen, schattigen Weg. Bald ging es spürbar bergab und nach kurzer Zeit hatte sie den Dornheckensee erreicht.

Noch vor einigen Jahren war der See dicht bevölkert gewesen. Vor allem FKK-Freunde und Homosexuelle hatten sich hier getummelt und ihre Vorlieben frei ausgelebt. Doch bald waren die Behörden eingeschritten, hatten das Baden verboten und dem Treiben ein Ende gesetzt. Angeblich drohte Lebensgefahr durch abbröckelnde Gesteinsbrocken, Wasserstrudel und eiskalte Strömungen und tatsächlich hatte es im Laufe der Jahre immer wieder tödliche Unfälle gegeben. Jetzt war es hier tagsüber still geworden, doch nachts fand der Ort immer noch keinen Frieden. Gerüchten zufolge hatte die Vertreibung der illustren Freunde der Freikörperkultur und der gleichgeschlechtlichen Liebe Platz geschaffen für weitaus finsterere Gestalten. Es hieß, kriminelle Banden nutzten den See, um ihre Widersacher für immer verschwinden zu lassen. Henriette glaubte diese Geschichten nicht, trotzdem hätten sie in der Dunkelheit keine zehn Pferde hierher gebracht.

Friedlich lag der Dornheckensee vor ihr, seine Wasseroberfläche glitzerte, als wäre das Rheingold in ihm versenkt worden. Henriette hörte Leica geschäftig am Seeufer durch die Büsche rascheln, ansonsten war alles ruhig.

Merkwürdig ruhig.

Kein Vogelgezwitscher. Kein Summen von Insekten. Als hätte der Ort den Atem angehalten. Sie sah sich um. Nichts regte sich.

Dann schlug Leica an.

Henriette zuckte zusammen und seufzte. Bestimmt hatte die Hündin einen toten Vogel entdeckt, den sie ihr jetzt zeigen wollte. Sie würde nicht aufhören, zu bellen, bis sie ihren Fund präsentiert hatte.

Vorsichtig kletterte sie über alte, rostige Schienen, die vom Grund des Sees herauf ans Ufer führten und dort gekappt worden waren. Früher, vor dem Wassereinbruch, hatten unzählige Menschen im Steinbruch gearbeitet und die kleine Eisenbahn als Transporthilfe genutzt. Jetzt wirkten die verlassenen Gleise wie eine Geisterbahn.

Sie fluchte leise, als sie mit dem Fuß im Schlamm wegrutschte, und das Wasser in den Schaft ihres Wanderschuhs hineinlief. Leica bellte immer noch wie rasend. Sie kämpfte sich durch die dichten Uferpflanzen und seufzte erleichtert, als sie das Tier endlich erreicht hatte.

„Ruhig, was hast du denn?“

Sie sah sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Kopfschüttelnd streichelte sie die aufgeregte Hündin und versuchte, sie mit sich zu ziehen. Doch Leica stand wie festgewachsen, bellte und starrte auf den See. Henriette schaute sich noch einmal gründlich um. An dieser Stelle wuchsen lange, dicke Schilfhalme aus dem Wasser, dazwischen hatte sich eine Seerose mit weißen Blüten ausgebreitet. Wasserläufer glitten elegant über den See und ein kleiner Mückenschwarm tanzte selbstvergessen in der Sonne.

Da entdeckte Henriette, was den Hund so beunruhigt hatte: Eine zarte, weiße Hand ragte aus den Wasserpflanzen, der schmale Zeigefinger war abgespreizt und schien auf sie zu zeigen. Erschrocken sog sie die Luft ein, ihr Herz begann, wild zu hämmern. Sie warf den Rucksack auf den Boden und watete in voller Montur in den See.

Unter der Wasseroberfläche, teilweise von großen Blättern verdeckt, sah sie den Körper einer jungen Frau. Lange Haarsträhnen schwebten um das aufgequollene Gesicht, ein blassblaues Kleid umspielte ihre Figur im seichten Takt der Wellen. An einem Knöchel befand sich ein grobes Seil, dessen ausgefranstes Ende sich sanft mit der Strömung bewegte. Henriette war von dem Anblick wie gefangen. Das Mädchen wirkte so friedlich, als würde es nur schlafen.

Das aufgeregte Gebell der Hündin riss sie brutal in die Wirklichkeit zurück.

Sie hatte eine Leiche gefunden.

Das Mädchen war gefesselt.

Sie war ermordet worden.

Hastig watete sie zum Ufer, zog mit zitternden Fingern das Handy aus dem Rucksack und wählte den Notruf.

Bad Godesberg, Montag, 4. August 2014

1

Laura Peters öffnete das verrostete Gartentor und trat feierlich in den Vorgarten des Jugendstil-Altbaus in bester Godesberger Lage. Heute nahm ihre Detektei den Betrieb auf, es war ihr erster Tag als selbstständige Detektivin.

Sie lächelte, als sie an die Bedenken ihrer Bekannten dachte. Die Idee, eine Agentur zu eröffnen, war mit deutlicher Skepsis aufgenommen worden. Das Herumschnüffeln in anderer Leute Privatangelegenheiten erschien ihnen zu indiskret, zu vulgär.

Am heftigsten hatte ihre Freundin Barbara reagiert. Sie schien ernsthaft besorgt, Laura könnte in kriminelle Kreise abrutschen.

‚Wenn einmal das Böse seinen Blick auf dich richtet, gibt es kein Entkommen!'

Doch Laura hatte sich nicht beirren lassen. Sie brauchte einen Neuanfang. Scharf sog sie die Luft ein. Die Erinnerung an seinen Verrat und an die katastrophalen Folgen schmerzte. Es hatte lange gedauert, bis sie sich aus dem dunklen Tal herausgekämpft hatte. Ein Teil von ihr würde vielleicht für immer dortbleiben. Unbewusst straffte sie die Schultern. Das war Vergangenheit. Jetzt begann ein neuer Abschnitt. Es gab wieder eine Perspektive in ihrem Leben und das gefiel ihr außerordentlich gut.

Im Vorgarten ließen die vertrockneten Büsche ihre Wedel hängen. Laura merkte, dass Jeans und Leinenhemd die falsche Wahl gewesen waren für einen Tag, der die 30-Grad-Marke sicher wieder überschreiten würde. Sie betrat das kühle Treppenhaus, in dem es angenehm nach Putzmitteln roch. In den höheren Etagen hatten eine adelsbetitelte Anwältin und eine windige Immobilien-Firma ihren Sitz, Lauras Detektei nahm das gesamte Erdgeschoss ein. Sie öffnete die Wohnungstür und trat in den Vorraum, den sie mit einem Schreibtisch und drei kleinen Sesseln möbliert hatte. Irgendwann würde hier eine Assistentin sitzen und die Klienten empfangen, doch das war noch Zukunftsmusik. Zuerst musste sie den Laden ans Laufen bringen. Sie holte sich aus der Küche einen Kaffee, ging durch die hohe Flügeltür in ihr Büro und setzte sich in den bequemen Schreibtischsessel. Zufrieden nippte sie an ihrem Becher und schaute auf die kahlen Wände. Doch langsam kroch die Stille von allen Seiten auf sie zu.

Was nun?

Sie hatte in den letzten Tagen viele Anzeigen geschaltet, aber wie lange würde es dauern, bis sich der erste Kunde meldete? Vielleicht musste sie mehr tun, Firmen und Anwälte ansprechen und ihre Dienste anbieten?

Das Klingeln des Telefons durchfuhr sie wie ein freudiger Stromschlag.

„Detektei Peters, Laura Peters am Apparat.“

„Guten Morgen, können Sie mir Informationen zu einer bestimmten Person beschaffen? Und was kostet das?“ Die Frauenstimme am anderen Ende klang atemlos und gehetzt.

„Darf ich zuerst Ihren Namen erfahren?“

„Hier ist Jennifer Koscewskij. Ich möchte gerne mit dem Chef sprechen.“

„Am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“

„Hm, für eine Frau ist das vielleicht nicht der richtige Job ...“

„Frau Koscewskij“, unterbrach Laura hastig, diesen ersten Auftrag wollte sie sich auf keinen Fall entgehen lassen, „Frauen haben durchaus Vorteile bei der Ermittlungsarbeit. Wir wirken viel harmloser als unsere männlichen Kollegen. Und sollte es hart auf hart kommen, werden meine Mitarbeiter mit jeder Situation souverän fertig.“ Jetzt improvisierte sie ungeniert über die tatsächlichen Gegebenheiten hinaus. „Sagen Sie mir doch, worum es geht.“

Ihre Gesprächspartnerin zögerte einen Moment.

„Es geht um meinen Ex-Mann. Vor zwei Monaten hat er sich aus dem Staub gemacht, ist einfach untergetaucht. Für die Kinder und mich macht er keinen Cent locker, aber für seine Geliebte hat er Geld. Doch das könnte ihm so passen. Ich möchte wissen, wo er wohnt und für wen er arbeitet. Können Sie das für mich herausfinden?“

„Natürlich. Was halten Sie davon, wenn wir uns treffen? Sie können mir dann alle Einzelheiten erzählen.“

***

Jennifer Koscewskij klingelte überpünktlich. Kritisch schaute sie sich im Vorraum der Agentur um, dann musterte sie Laura vom Scheitel bis zur Sohle.

Die hatte währenddessen ebenfalls Gelegenheit, sich einen Eindruck zu verschaffen. Ihre Besucherin war einen halben Kopf kleiner als sie, um die dreißig, mit blondgesträhnten Haaren. Das Parfüm war aufdringlich, das Lächeln wirkte angestrengt und nervös. Laura bot ihr etwas zu trinken an, doch Jennifer Koscewskij lehnte ab. Sie hatte es eilig und wollte gleich zur Sache kommen. Drei Jahre war sie mit ihrem Ex glücklich verheiratet gewesen, der dreijährige Sohn war ein gemeinsames Kind, die zwölfjährige Tochter hatte sie mit in die Ehe gebracht. Dann hatte er sich plötzlich von ihnen getrennt, eine Begründung hatte er nicht gegeben.

„Das hört sich natürlich nicht schön an.“ Laura blickte von ihren Notizen auf und versuchte, mitfühlend auszusehen. „Was können wir für Sie tun?“

„Ich möchte diesen Arsch drankriegen und an die Wand klatschen! Bevor er uns verlassen hat, redete er ständig davon, dass er bald sehr reich sein würde. Richtig aufgeregt war er. Und jetzt behauptet er, er hätte kein Geld. Doch das glaube ich nicht. Sie müssen mir helfen. Finden Sie heraus, wer die Schlampe ist, mit der er rummacht. Wahrscheinlich überschüttet er sie mit teuren Geschenken und wir wissen nicht, wie wir über die Runden kommen sollen.“

„Sind Sie sicher, dass er eine andere hat?“

„Allerdings. Letzten Samstag haben wir die beiden zufällig an der Rheinpromenade gesehen. Ein blutjunges Ding, keine zwanzig Jahre alt, kaum älter als meine Tochter. Er hatte den Arm um sie gelegt, dass er sich nicht schämt! Das lasse ich mir nicht bieten! Ich will wissen, womit er sein Geld verdient und wer seine Freundin ist. Erledigen Sie das für mich?“

„Gern.“ Laura beugte sich geschäftig vor und legte ein frisch ausgedrucktes Auftragsformular auf den Tisch. „Auf eine Sache muss ich Sie allerdings hinweisen: Wir übernehmen keine Aufträge, die mit schweren Verbrechen im Zusammenhang stehen, also zum Beispiel mit Mord, Entführung oder Körperverletzung. Sollten Sie uns darüber im Vorfeld nicht aufgeklärt haben, haben wir das Recht, die Arbeit einzustellen und das Honorar zu behalten.“ Sie sah ihre Besucherin ernst an, um sicherzugehen, dass sie verstanden hatte.

Jennifer Koscewskij nickte ungeduldig, schnappte sich den Vertrag und unterschrieb ihn ungelesen. Dann kramte sie in ihrer Handtasche und warf ein Foto auf den Tisch.

„Damit Sie wissen, nach wem Sie suchen: Das ist er. Sein Name ist Józef Koscewskij. Sie können das Bild für den Auftrag behalten und danach wegwerfen. Ich habe keine Verwendung mehr dafür.“

Laura sah sich das Porträt an. Józef Koscewskij war ein bulliger Mann in mittleren Jahren mit schütterem Haar, der unbewegt in die Kamera blickte. Er hatte die Arme vor dem Körper verschränkt, an der Hand trug er einen auffälligen, klobigen Goldring. Keiner, der besonders sympathisch wirkte, aber auch keiner, der gefährlich aussah.

Sie vereinbarten, dass erste Ergebnisse bis Ende der Woche vorliegen sollten. Laura sah ihrer Besucherin aus dem Fenster hinterher, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwunden war.

Der erste Auftrag.

Wunderbar!

Schwungvoll setzte sie sich an den Schreibtisch und gab den Namen der Zielperson in den Computer ein. Ein Józef Koscewskij veröffentliche Kinderbücher, ein anderer verkaufte Gebrauchtwagen in Norddeutschland. Alles keine brauchbaren Ergebnisse. Sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte, und entschied sich, zu Jennifer Koscewskijs Adresse zu fahren.

Es konnte nicht schaden, auch mehr über ihre Auftraggeberin zu erfahren.

***

Laura fuhr zügig durch das Villenviertel von Bad Godesberg, durchquerte das beschauliche Rüngsdorf und erreichte den Ortseingang von Mehlem. Wegen der direkten Rheinlage und des wunderschönen Blicks auf den Drachenfels gehörte der frühere Luftkurort lange zu den bevorzugten Wohngegenden Bonns. Doch seit die Botschaften nach Berlin gezogen waren, hatte sich das Erscheinungsbild des Ortes verändert, die Nähe der großen Moschee und der König-Fahd-Akademie war unübersehbar. Prachtbauten aus Gründerzeit und Jugendstil waren in schlechtem Zustand und verbreiteten eine morbide Stimmung. Vernachlässigung, Verfall und Gleichgültigkeit schienen sich immer weiter auszubreiten.

Das Navi lotste Laura in ein Wohngebiet mit schmucklosen 70er-Jahre-Häusern, in dem Jennifer Koscewskij mit ihren Kindern wohnte. Laura hatte Glück und fand einen Parkplatz gleich am gegenüberliegenden Straßenrand, von dem aus sie die Wohnung der Familie gut im Blick hatte.

In der Nähe des Eingangs belagerten lärmende Jugendliche einen Mülltonnenverschlag. Bier trinkend und rauchend riefen sie den Passanten Unflätigkeiten hinterher und lachten grölend, wenn diese ihre Schritte beschleunigten. Das vertrocknete Rasenstück vor dem Mietshaus war übersät mit Zigarettenkippen und Scherben. Graffiti in schwarz verlaufener Farbe schrien aggressive Sex- und Fäkal-Botschaften von der Hauswand und die meisten Namensschilder waren aus dem großen Klingelbrett herausgebrochen worden.

Die Haustür öffnete sich und ein untersetzter Mann verließ das Gebäude.

Hätte Laura noch Zweifel bezüglich seiner Identität gehabt, so wurden sie zerstreut, als direkt hinter ihm seine Ex-Frau aus dem Haus trat. Wie eine Furie schrie Jennifer Koscewskij auf ihn ein und gestikulierte wild mit den Händen. Der Mann beendete den Streit mit einer herrischen Handbewegung und lief mit langen Schritten in Richtung Straße. Dort stieg er in einen alten Mercedes, ließ den Motor an und brauste mit Kavaliersstart davon.

Laura folgte in vorsichtigem Abstand.

2

Eine Stunde später kehrte Laura in ihr Büro zurück. Koscewskij war ohne Umwege zu seinem Wohnort gefahren, es war ein Kinderspiel gewesen, seine Adresse herauszufinden. Zufrieden setzte sie sich mit einem Milchkaffee, ein paar Keksen und der Tageszeitung in die Kaffeeküche.

Die Schlagzeile über die Leiche im Dornheckensee sprang ihr sofort ins Auge. Während sie an einem Löffelbiskuit knabberte, überflog sie den Artikel. Der Hund eines Spaziergängers hatte die Frau im See gefunden. Neben dem Text prangte das Foto eines Golden Retrievers, der treu in die Kamera blickte. Der Polizeichef wurde in gestelztem Beamtendeutsch zitiert, dass er ein Fremdverschulden, das zum Eintritt des Todes geführt habe, nicht ausschließen könnte. Um wen es sich bei der Toten handelte, war noch nicht bekannt, außerdem wurde auf das Badeverbot im See hingewiesen.

Laura starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Sie kannte den Dornheckensee gut. Früher war sie oft mit Schulfreunden dorthin zum Baden gegangen. Sie hatten ihre Decken auf der Liegewiese ausgebreitet und die freien Nachmittage in der Sonne genossen. Das Publikum war bunt gemischt gewesen und die Stimmung entspannt und fröhlich.

Sie nahm sich ein Wasser und ging hinüber in ihr Büro, um im Internet weitere Informationen über den Leichenfund zu suchen. Die Boulevardzeitungen übten wenig Zurückhaltung und spekulierten wild ins Rotlichtmilieu und die Türsteher-Mafia hinein. Deren Meinung nach war die Tote eine Prostituierte, die bei Sexspielchen mit einem zu stürmischen Freier gestorben war. Andere Zeitungen vermuteten, dass eine kriminelle Bande aus Köln dahinterstecken könnte. Laura kam das abwegig vor. Warum sollten die so weit fahren, um eine Leiche zu entsorgen? In der Umgebung von Köln gab es genug Seen, die schneller zu erreichen waren. Doch die Schlussfolgerung, die sich daraus ergab, verursachte ihr Unbehagen:

Trieb ein Psychopath mitten in Bonn sein Unwesen?

Das Telefonklingeln riss sie aus ihren düsteren Gedanken.

Eine Männerstimme mit leichtem Akzent, den sie nicht direkt zuordnen konnte, erkundigte sich, ob die Position als Detektiv noch frei sei. Laura hatte in den letzten Wochen mehrere Anzeigen in Zeitungen und Internetportalen aufgegeben, um Verstärkung zu finden. Die Resonanz war ernüchternd gewesen. Es hatten sich nur übergewichtige Rentner gemeldet, die nachts, wenn sie nicht schlafen konnten, gemütlich am Empfangstresen einer Firma hocken, Chips essen und fernsehen wollten. Doch dieser Mann, der sich als Marek Liebermann vorstellte, hörte sich vielversprechend an.

Erfreut lud sie ihn ein, vorbeizukommen.

***

Marek Liebermann war groß, athletisch und als er in Lauras Büro trat, schien er den ganzen Raum auszufüllen. Sie bot ihm einen Platz an und musterte ihn verstohlen. Dunkle Haare, dunkle Augen, ein leicht amüsierter Gesichtsausdruck. An seinem Hals fiel ihr ein Lederband auf, das im Ausschnitt des weißen T-Shirts verschwand. Ob daran ein Anhänger befestigt war? Oder ein Ehering? Am Finger trug er jedenfalls keinen.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

Dankend akzeptierte er ein Wasser und versuchte, seine großen Füße unter dem Tischchen zu platzieren.

„Sie interessieren sich für die Mitarbeit in meiner Detektei, haben Sie Erfahrung in diesem Metier?“

Marek lehnte sich entspannt zurück. „Ich bin seit zwanzig Jahren in der Branche. Früher hatte ich eine eigene Detektei in Warschau. Vor zehn Jahren bin ich nach Deutschland gekommen und habe bei verschiedenen Agenturen gearbeitet. Wachschutz, Ermittlungen, Beschattungen, das ganze Programm.“

Laura fragte ihn nach Einzelheiten zu seinen beruflichen Stationen und sprach schließlich den letzten, heiklen Punkt an, die finanziellen Konditionen. Ein fürstliches Gehalt, wie er es vermutlich gewohnt war, konnte sie ihm nicht bieten, doch zu ihrem Erstaunen wurden sie sich schnell einig.

„Dann freue ich mich, dich in der Detektei Peters herzlich willkommen zu heißen. Auf eine gute Zusammenarbeit. Ich hoffe, es ist okay, dass wir uns duzen.“ Laura erhob sich und schüttelte ihm die Hand.

„Gerne! Ich freue mich auch.“ Marek grinste und sah sich in ihrem Büro um. Sein Blick blieb an ein paar Büchern hängen, die auf dem Schreibtisch dekorativ zu einem Turm gestapelt waren. „Sherlock Holmes? Nur von den Besten lernen, hm?“

„Ich fand, es hätte eine gewisse Komik.“

„Wenn man alles Unmögliche ausgeschlossen hat, muss die Wahrheit übrig bleiben, so unwahrscheinlich sie auch klingt. Das ist doch Sherlock Holmes, der das gesagt hat?“

Sie nickte.

„In der Theorie stimmt das natürlich.“ Er nahm eines der Bücher vom Schreibtisch und blätterte darin.

„In der Praxis nicht?“ Laura verschränkte die Arme und sah ihn amüsiert an.

„Doch, auch. Leider hat man nie alle Informationen vorliegen. Wenn nach dem Ausschlussverfahren eine unwahrscheinliche Lösung übrig bleibt, gibt es meiner Erfahrung nach meist eine Lösung, die man übersehen hat.“

„Alles eine Frage sorgfältiger Recherche.“

„Und Intuition und Einfühlungsvermögen. Die wahren Abgründe im Inneren eines Menschen lassen sich nicht recherchieren. Die musst du erspüren.“

„Du meinst Profiling? In den Kopf des Täters eintauchen, mit seinen Augen sehen, seine Gedanken fühlen?“

Er nickte.

„Ich fürchte, dazu bin ich nur begrenzt in der Lage.“ Laura griff nach der Zeitung, die auf dem Tisch lag, und hielt den Artikel über den Mord am Dornheckensee hoch. „Was ging in dem Täter vor, als er das Mädchen ermordete? Es wird vermutet, dass er sie vor ihrem Tod gequält und missbraucht hat. Bestimmt kriegt er nur einen hoch, wenn er die Qualen seines Opfers sieht. Ich kann das nicht nachempfinden. Es stößt mich zu sehr ab.“

„Das ehrt dich, aber Vorbehalte und Schwarz-Weiß-Denken stehen einem bei unserer Arbeit nur im Wege. Die Einteilung in Gut und Böse ist irrelevant für die Suche nach dem Täter. Genauso das Mitleid mit dem Opfer. Es trübt deinen Blick. Du musst deinen Geist freimachen von Moralvorstellungen und sexueller Verklemmtheit. Es gibt nur die Bewertung, ob mir etwas Vergnügen und Lust bereitet oder ob es mich langweilt.“

„Ob es mir Vergnügen bereitet?“

„Ja, mir, dem Täter. Wenn ich in seinem Kopf bin und so denke wie er, bin ich der Täter.“

„Wird man da nicht irgendwann selbst zum Psychopathen?“

Marek lächelte sardonisch.

„Das kann passieren. Manch einer hat den Weg aus der Dunkelheit nicht wieder zurückgefunden.“ Einen Augenblick starrte er abwesend auf die Zeitung, dann wechselte er abrupt das Thema. „Haben wir schon einen Fall?“

Laura erzählte ihm bereitwillig von der ersten Klientin.

„Koscewskijs Adresse hast du also schon. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wovon er lebt und mit wem?“

„Genau. Das sollte nicht mehr allzu schwer sein. Wir können ihn morgen früh beschatten, dann werden wir sehen, wo er arbeitet.“

„Sofern er tagsüber arbeitet“, wandte Marek ein. „Für den Fall, dass er Schichtdienst macht oder Nachtwächter ist, sollten wir uns bereits heute Abend auf die Lauer legen.“

„Stimmt, guter Punkt. Kannst du das übernehmen? Als erste Amtshandlung sozusagen?“

„Kein Problem.“ Marek sprang auf. „Ich mache mich gleich auf den Weg. Je schneller wir die Informationen haben, desto besser. Wir sehen uns morgen.“

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, Laura blieb allein in ihrem Büro zurück.

Sie dachte über das Gespräch nach und fragte sich, ob Marek wohl immer den Weg aus der Dunkelheit zurückgefunden hatte.

3

Marek war zufrieden damit, wie der Termin verlaufen war und dass er den Job bekommen hatte. Erstaunlich, wie wenig Laura Peters von ihm hatte wissen wollen. Er hatte ihr das eine oder andere aus seiner beruflichen Laufbahn erzählt, bei keiner Gelegenheit hatte sie nachgebohrt. Seine Bewerbungsmappe hatte er dagelassen, doch darin waren nur wenige Unterlagen. Immerhin würden sie jeder Überprüfung standhalten.

Jedenfalls fürs Erste.

Sofern sie sich überhaupt die Mühe machte, weitere Nachforschungen anzustellen. Er hatte nicht den Eindruck, dass es sie sonderlich interessierte. Anscheinend hatte sie sich auf ihr Bauchgefühl verlassen, als sie ihm den Job gegeben hatte. Da hatte er Glück. Die kleine Detektei war perfekt für ihn.

Komplizierte Fälle würde es nicht geben, dafür genügend Freiraum für eigene Projekte.

Er lenkte seinen alten Fiesta durch den dichten Feierabendverkehr und wechselte die Spur, um schneller voranzukommen. Die Adresse in Tannenbusch, die Laura ihm genannt hatte, lag in einem der seelenlosen Wohnblocks im Norden von Bonn. Die Hochhäuser waren in den 70er-Jahren gegen den Wohnungsmangel und ohne Rücksicht auf Ästhetik aus dem Boden gestampft worden. Alle Wohnungen sahen von außen identisch aus, selbst die Gardinen hinter den Fenstern waren gleich schmutzig und vergilbt. Marek fuhr um den Block, um die Gegend zu erkunden. Viel zu viele Menschen lebten hier auf viel zu engem Raum, die meisten von ihnen ohne Arbeit und Perspektive. In manchen Ecken waren Schlägereien und Überfälle an der Tagesordnung. Eine Sprachenschule hatte im Internet ihre ausländischen Studenten sogar gewarnt und den Stadtteil als No-go-Area bezeichnet, was bei der Stadtverwaltung natürlich nicht gut angekommen war.

Marek parkte sein Auto und ging zu dem Hochhaus, in dem Józef Koscewskij wohnte. Während er überlegte, ob er bei einem von Koscewskijs Nachbarn läuten oder mit den Handflächen auf gut Glück alle Klingeln betätigen sollte, öffnete sich die Haustür. Ein Junge im ausgeleierten Bart-Simpson-T-Shirt trat heraus. Marek machte einen großen Schritt an ihm vorbei, um die Tür am Zufallen zu hindern, und betrat das streng nach Urin riechende Treppenhaus.

„Zu wem wollen Sie?“

Er drehte sich um und blickte in ein schmales, sommersprossiges Kindergesicht. „Kennst du nicht, ein Bekannter von mir. Er wohnt noch nicht lange hier.“

„Der Mann, der vor ein paar Wochen eingezogen ist? Er wohnt direkt neben uns.“ Stolz sah er zu Marek auf.

„Ach, wirklich? Woher willst du wissen, wen ich meine?“

„Die meisten wohnen hier schon lange. Neue Leute ziehen nur selten her.“

„Verstehe. Kennst du ihn gut?“

„Nein. Aber ich habe ihm beim Einzug zugesehen. Warum wollen Sie das wissen? Wir reden hier nicht gern mit Fremden. Das sagt mein großer Bruder immer. Wir halten unser Viertel sauber.“ Der Junge sah misstrauisch auf Mareks Schuhe.

„Da hat dein Bruder recht. Du solltest wirklich nicht mit Fremden reden.“ Marek nahm die nächsten zwei Stufen, da hörte er den Kleinen wieder.

„Was wollen Sie von dem Koscewskij?“

Er zuckte die Schultern.

„Ich kann ihn in seiner Wohnung hören.“

Der Detektiv setzte seinen Weg fort.

„Er weint!“

Die Worte hallten durch das Treppenhaus.

Marek blieb stehen. „Wann war das?“

„Letzte Nacht. Er hat lange geweint. Mein Bett steht direkt an der Wand neben seiner Wohnung.“

„Kommt das öfter vor?“

„Nein, nur letzte Nacht. Ansonsten ist er ruhig. Kein Fernsehen. Keine Musik. Vielleicht weint er diese Nacht wieder?“

Marek gewann den Eindruck, dass dem Kleinen jemand fehlte, der ihm zuhörte und sich für ihn interessierte. Er bettelte geradezu nach Aufmerksamkeit. „Junge, das kann schon mal vorkommen, dass jemand weint. Es ist nichts Besonderes. Mach dir keine Gedanken.“

„Sie weinen bestimmt nicht. Und mein Bruder auch nicht. Selbst wenn er vom Freund meiner Mutter Dresche kriegt. Keinen Mucks tut er.“

Marek fühlte sich angesichts so viel Offenheit unbehaglich. Er wollte nicht in die häuslichen Probleme des Jungen hineingezogen werden, dazu war jetzt keine Zeit. „Mach’s gut, Kleiner, ich habe zu tun.“

Er stieg endgültig die Stufen hinauf.

Koscewskijs Wohnung lag im siebten Stock, der Flur war leer. Hinter einigen Türen waren Geräusche zu hören. Geklapper von Geschirr, Fernsehlärm, allerdings keine Stimmen.

Redeten die Leute nicht miteinander?

Marek schlich zur Tür von Koscewskijs Wohnung und wollte schon sein Ohr dagegen pressen, als sich von drinnen schnelle Schritte näherten. Gerade noch rechtzeitig konnte er zur Seite springen und sein Gesicht in den Schatten drehen, da wurde die Tür aufgerissen. Ein Mann eilte heraus, schloss, ohne ihn weiter zu beachten, hinter sich ab und verschwand in Richtung Treppenhaus. Marek folgte ihm mit etwas Abstand. Als er aus der Haustür trat, überquerte Koscewskij bereits in einiger Entfernung die Straße.

Plötzlich stand der blonde Junge wie aus dem Boden gewachsen vor ihm.

„Verfolgen Sie den Koscewskij?“

„Geh aus dem Weg.“ Marek wollte sich an ihm vorbeidrängeln, doch dann bemerkte er den verletzten Ausdruck in den Augen des Jungen. „Du solltest nicht hier draußen herumlungern“, fügte er etwas freundlicher hinzu.

Er rannte los, ohne sich noch einmal umzusehen.

Die Fahrt ging durch die Bonner Innenstadt, wo dichter Verkehr herrschte, dann bog Koscewskij auf die Südbrücke ab. Marek verringerte den Abstand, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Mittlerweile war es fast dunkel, die Silhouette des Siebengebirges auf der anderen Rheinseite war nur noch zu erahnen. Koscewskij nahm die Schnellstraße nach Königswinter und fuhr einige Minuten später in Bad Honnef ab. Im Vorbeifahren registrierte Marek die hochherrschaftlichen Häuser, imposanten Villen und großen Parks.

Hier wohnte die reichere Klientel des Städtchens.

Koscewskij hielt vor einem Grundstück, das von einer hohen Betonmauer umgeben war. Videokameras und Scheinwerfer waren in regelmäßigen Abständen angebracht, das Anwesen strahlte den Charme eines Hochsicherheitstraktes aus. Der Besitzer legte offensichtlich großen Wert auf Privatsphäre.

Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, fuhr Marek mit unveränderter Geschwindigkeit an Koscewskijs parkendem Wagen vorbei. Hinter der nächsten Kurve bog er ab, stellte das Auto an den Straßenrand und lief zurück. Koscewskij hatte sein Fahrzeug verlassen und stand im grellen Lichtkegel zweier Scheinwerfer vor dem Eisentor. Er betätigte immer wieder die Klingel, doch niemand öffnete. Plötzlich geriet er in Rage und schlug die Fäuste mehrmals hart gegen das Portal. Dann taumelte er rückwärts, schaute direkt in die über ihm angebrachte Kamera und schrie:

„Du Dreckschwein! Mach auf! Ich weiß, dass du da drin bist! Ich kriege dich! Du entkommst mir nicht!“

4

Es war dunkel geworden. Laura saß immer noch an ihrem Schreibtisch. Das grelle Licht des Monitors, die einzige Lichtquelle im Raum, schmerzte in ihren Augen. Sie knipste die Leselampe an und stützte den Kopf auf die Hände. Vor ihr stapelte sich ein Berg mit Rechnungen. Notar, Handelsregister, IHK, Kaution, Miete, Strom, Möbel, und, und, und.

Sie atmete tief durch, streckte ihren Rücken und sortierte die bearbeiteten Papiere auf einen separaten Haufen. Ein sachtes Klopfen an der Fenstertür ließ sie hochschrecken. Als sie das Gesicht ihrer lächelnden Freundin erkannte, riss sie erfreut die Tür auf.

„Bärbel.“

„Wusste ich doch, dass du noch fleißig bist. Aber du solltest es am ersten Tag nicht übertreiben. Komm, ich habe Sekt mitgebracht, wir stoßen auf deine Karriere und dein neues Leben an.“

Barbara zog eine Flasche aus ihrer großen Schultertasche und trat in Lauras Büro.

„Schön, dass du mich besuchen kommst. Setz dich, ich hole uns zwei Gläser.“

Als Laura ins Büro zurückkam, sah sie, dass die Freundin sich umsah und sie dann kritisch musterte.

„Was hast du mit deinen Haaren gemacht? Selbstkasteiung? Oder hast du eine Wette verloren?“

„Das ist praktischer.“ Laura vermied ihren Blick.

„Praktischer? Wenn du es sagst. Aber es geht dir gut, oder? Das Thema Hendrik ist immer noch endgültig abgeschlossen?“

„Klar. Sag mir lieber, wie du mein neues Reich findest.“

Barbara schaute Laura einen Augenblick prüfend an, dann entschloss sie sich, auf den Themenwechsel einzugehen.

„Sehr schön. Noch ein bisschen kahl, aber das ändert sich sicher bald. Mir gefällt der Schreibtisch. So modern.“

„Vielen Dank. Ja, es ist noch viel zu tun. Aber ich muss jetzt erst mal Geld verdienen, sonst sind die Rücklagen schnell aufgezehrt. Heute ist es gut gelaufen. Ich habe den ersten Auftrag bekommen und einen Mitarbeiter gefunden. Genial, oder?“

Die beiden nippten an ihrem Sekt, sie hatten die Sandalen abgestreift und die nackten Füße auf den Tisch gelegt. Eine angenehme Brise wehte durch die Terrassentür herein.

„Worum geht es in deinem Fall? Mord und Totschlag?“

„Natürlich nicht. Solche Aufträge nehme ich nicht an. Aber ich kann dir keine Details erzählen. Wenn sich herumspricht, dass ich über meine Fälle rede, kann ich den Laden gleich wieder dichtmachen.“

„Ist klar. Obwohl, neugierig bin ich schon.“

„Das verstehe ich. Übrigens, hast du das mit dem toten Mädchen im Dornheckensee gelesen?“

„Ja, schrecklich. Ob sie aus Bonn stammt?“

„Wohl kaum, sonst hätte man sie doch längst identifiziert.“

„Wer weiß? Es gibt viele Illegale in der Stadt, die im Verborgenen leben. Wer ihr das wohl angetan hat?“

„Ein Perverser. Sie werden ihn hoffentlich bald finden. Gruseliger Gedanke, dass so einer hier frei herumläuft.“

„Das arme Mädchen.“ Barbara senkte den Kopf und fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand des Glases. „Keinen interessiert es, wer sie war. Alles, was man von ihr in Erinnerung behalten wird, ist das, was ihr Mörder ihr angetan hat.“

„Ja, Liebende werden durch den Tod getrennt, Opfer und Täter auf ewig aneinandergefesselt. Das ist perfide.“

„Etwas pathetisch formuliert, aber leider richtig.“

Laura starrte bedrückt auf ihr Glas. Schweigen breitete sich aus und lastete auf ihnen schwer wie eine Decke.

Von der Straße her drang Gelächter zu ihnen, das brach den Bann.

„Lass uns nicht trübsinnig werden. Heute ist dein großer Tag, den sollten wir feiern. Erzähl mir von deinem Detektiv. Wie sieht er aus? Was für ein Typ ist er? Sag bitte nicht, dass du einen Rentner mit Bierbauch eingestellt hast.“

„Beworben haben sich jedenfalls genug. Ich hatte die Hoffnung echt schon aufgegeben, jemand Vernünftiges zu finden. Zum Glück hat sich Marek gemeldet. Seine Pensionierung ist noch in weiter Ferne und körperlich wirkt er ausgesprochen fit. Allerdings scheint er eher ein Einzelgänger zu sein, der gerne seine eigenen Entscheidungen trifft.“

„Also ganz anders als du.“ Aus Barbaras Worten war die Ironie nicht zu überhören.

„Du hast ja recht.“ Laura lachte. „Ich bin auch nicht der geborene Teamworker. Aber wenn der Laden laufen soll, müssen wir zusammenarbeiten. Ich bin gespannt, ob es funktioniert.“

„Du machst dir zu viele Gedanken. Entspann dich, es wird schon klappen. Und wenn nicht, suchst du dir einfach einen neuen Detektiv. Sieht er gut aus? Wäre doch schön, wenn du mal wieder auf andere Gedanken kämest.“

„Was redest du da? Er ist sympathisch, aber irgendwelche emotionalen Geschichten sind das Letzte, woran ich zurzeit denke. Ich möchte die Agentur ans Laufen bringen. Alles andere ist sekundär.“ Sie holte tief Luft und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Außerdem glaube ich nicht, dass er der Typ für eine Beziehung ist.“

Barbara lachte laut auf. „Dann passt ihr gut zusammen. Du willst ja seit dem Desaster mit Hendrik auch keine feste Bindung mehr. Ich freue mich schon darauf, ihn kennenzulernen. So, meine Liebe, ich muss los.“

Sie sprang auf, schlüpfte in ihre Sandalen und schwang sich die reich verzierte Tasche über die Schulter. An der Verandatür drehte sie sich noch einmal um.

„Ich kenne jemanden, der dich bei dem administrativen Kram unterstützen könnte. Eine junge Frau, eher der ungewöhnliche Typ, mit vielen nützlichen Fähigkeiten. Du kannst sie dir ja mal anschauen. Ich schicke sie dir morgen vorbei. Und tu mir die Liebe und lass deine Haare wieder wachsen!“

5

Marek verfolgte Koscewskij schon seit Stunden.

Nach dem Wutausbruch vor der Villa in Bad Honnef hatte Koscewskij sich in sein Auto gesetzt und war kreuz und quer durch die Gegend gefahren. Marek hatte den Eindruck, dass er sich erst klar werden musste, was er als Nächstes tun sollte. Schließlich fuhr er auf die Autobahn Richtung Köln und dreißig Minuten später stellte er sein Fahrzeug in der Parkgarage unter dem Dom ab.

Marek folgte ihm durch die zwielichtigen Gässchen des Viertels hinter dem Hauptbahnhof. Eine Spelunke reihte sich an die andere, in dunklen Ecken wurden Drogen verkauft und Prostituierte boten ihre Dienste an. Koscewskij steuerte eine Kneipe an, schaute kurz in den Gastraum und setzte dann seinen Weg fort zur nächsten Schenke. Marek fragte sich, ob er den Besitzer der Hochsicherheits-Villa suchte. Allerdings war es schwer vorstellbar, dass die lichtscheuen Gestalten, die sich hier herumtrieben, solche Häuser besaßen.

Inzwischen waren sie bis zum finsteren Herz des Viertels vorgedrungen. Marek hatte Gerüchte gehört, dass dieser Ortsteil fest in krimineller Hand war und dass sogar die Polizei einen Bogen darum machte. Koscewskij schien das nicht zu stören. Ohne zu zögern, öffnete er die Tür der berüchtigtsten Kneipe der Stadt.

Und diesmal kam er auch nicht gleich wieder heraus.

Marek seufzte, dann stürzte er sich in die Nacht.

Polen, Ende April 1940

Es war sein Geburtstag. Er war dreizehn geworden, aber er fühlte sich schon lange wie ein Erwachsener. Von seinem Vater und von den Brüdern, die in den Krieg gezogen waren, hatten sie seit letztem September nichts mehr gehört. Er vermied es, darüber nachzudenken. Solange sie fort waren, kümmerte er sich um die Familie.

Es war das erste Mal, dass es an seinem Geburtstag keinen Kuchen gab. Seit die Deutschen einmarschiert waren, war es schwer, an Butter, Zucker oder Eier zu kommen. Mutter hatte deswegen sogar geweint. Das war ihm peinlich gewesen. Er brauchte keinen Kuchen. Jetzt war Krieg, da musste man auf vieles verzichten.

Die Deutschen sind Bestien, sagte seine Mutter immer.

Es gab furchtbare Geschichten, die nur hinter vorgehaltener Hand erzählt wurden. Von Erschießungen im Wald und von Leuten, die nach Deutschland verschleppt wurden. Jeder ab vierzehn Jahre war verpflichtet, sich zur Arbeit zu melden. Doch seit es die Gerüchte gab, wie die Menschen behandelt wurden, ging die Angst um. Viele versuchten unterzutauchen. Militärtrupps zogen durch die Straßen und jeder, der halbwegs arbeitsfähig aussah, wurde aufgegriffen und mitgenommen. Eigentlich glaubte er das alles nicht, es war einfach zu schrecklich, um wahr zu sein. Trotzdem ging er den Deutschen lieber aus dem Weg. Ab und zu sah er sie in ihren Militärautos vorbeifahren, in schneidigen Uniformen und mit geradeaus gerichtetem Blick, viele mit den kleinen Schnurrbärten unter der Nase. Sie sahen aus wie echte Sieger, insgeheim wünschte er sich sogar manchmal, zu ihnen zu gehören.

Es war ein sonniger Tag und er war mit seiner Schwester Zula unterwegs. Sie hatte sich nicht abwimmeln lassen, gerade heute wollte sie ihn unbedingt begleiten. Obwohl sie Zwillinge waren, waren sie an verschiedenen Tagen geboren worden. Er eine Viertelstunde vor Mitternacht, sie eine halbe Stunde später. Dreißig Minuten klang nach nicht viel, doch sie machten ihn zum großen Bruder und sie zur kleinen Schwester, für die er die Verantwortung trug.

Der Frühling hatte die Landschaft mit zartem Grün überzogen, es wehte ein laues Lüftchen und endlich war es nicht mehr so kalt. Er hatte seine Wollstrümpfe heruntergerollt und fühlte die Sonne warm auf den nackten Beinen.

Krieg, Angst und Hunger schienen weit weg zu sein.

Sie wanderten über die Wiese zum Waldrand und achteten darauf, dass sie von der Straße aus nicht gesehen werden konnten. Es war seine Idee gewesen, in den Wald zu gehen, um nach Kräutern zu suchen. Da es schon keinen Kuchen gab, sollte ihm seine Mutter wenigstens am Abend eine leckere Suppe kochen. Er war fest entschlossen, erst dann den Heimweg wieder anzutreten, wenn sie ihre Beutel gefüllt hatten. Zula hatte seine Hand genommen und je tiefer sie in den Wald vordrangen, umso ängstlicher drückte sie sie.

Und dann sahen sie das Reh.

Es stand ruhig auf einer Lichtung und schien sie nicht bemerkt zu haben. Aufgeregt hatte er Zula ein Zeichen gemacht, dass sie nur ja keinen Laut von sich gab. Fleisch hatten sie schon lange nicht mehr gegessen. Natürlich war es verboten, Tiere zu jagen. Das war den Deutschen vorbehalten. Aber der Hunger brachte die Menschen dazu, die Regeln zu missachten und zu wildern, obwohl sie damit ihr Leben riskierten. Im Wald und in der Umgebung des Dorfes gab es deshalb kaum noch Wildtiere. Und auch keine Hunde und Katzen. Aufgeregt stellte er sich vor, wie seine Mutter sich freuen würde, wenn er einen solchen Braten mit nach Hause brächte. Sie würden genug zu essen haben für Wochen. Aber wie konnte er das Reh fangen?

Das Verhängnis kam ohne Vorwarnung.

Später hatte er sich immer wieder gefragt, ob etwas zu hören oder zu sehen gewesen war, was sie beide hätte warnen können. Aber er war zu sehr auf das Reh fixiert gewesen, um irgendetwas anderes wahrzunehmen.

Plötzlich hatte sich eine Hand in seine Schulter gekrallt.

Eine Hand, die viel zu hart zugriff.

Und die nicht mehr losließ.