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"Die Fesseln schnitten tief in die Handgelenke und die Finger waren in das Eisengitter gekrallt. Das Opfer hatte sich für das romantische Treffen lange, pinke, mit kleinen Glitzersteinchen verzierte Plastiknägel angeklebt. Einige waren bei der Tortur abgerissen und lagen wie Blütenblätter auf dem blutgetränkten Laken um ihren Kopf verteilt. Sie hatte sich freiwillig fesseln lassen. In Erwartung einer Nacht voller Leidenschaft und Ekstase. In der Hoffnung auf Liebe. Doch dann war es anders gelaufen." Detektivin Laura Peters sucht nach Luca, der während einer Party in einem verfallenen Hotel mitten im Wald verschwunden ist. Die Spuren führen zu einer glamourösen Kinderpsychiaterin, die für ihre rigorosen Therapien gefeiert wird, und zu einem Heim für verhaltensgestörte Jugendliche. Schnell merkt Laura, dass die respektable Fassade trügt, denn nachts streift dort ein Vergewaltiger auf der Jagd nach jungen Mädchen unbehelligt durch die Gänge. Als ein weiterer Freund von Luca verschwindet, muss Laura feststellen, dass nicht jedes Opfer unschuldig ist und dass Sehnsucht tödlich sein kann.
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Seitenzahl: 600
Veröffentlichungsjahr: 2022
Impressum neobooks
Patricia Weiss
Die Fesseln schnitten tief in die Handgelenke und die Finger waren in das Eisengitter gekrallt. Das Opfer hatte sich für das romantische Treffen lange, pinke, mit kleinen Glitzersteinchen verzierte Plastiknägel angeklebt. Einige waren bei der Tortur abgerissen und lagen wie Blütenblätter auf dem blutgetränkten Laken um ihren Kopf verteilt.
Sie hatte sich freiwillig fesseln lassen. In Erwartung einer Nacht voller Leidenschaft und Ekstase.
In der Hoffnung auf Liebe.
Doch dann war es anders gelaufen.
Detektivin Laura Peters sucht nach Luca, der nach einer Party in einem verfallenen Hotel mitten im Wald verschwunden ist. Die Spuren führen zu einer glamourösen Kinderpsychiaterin, die für ihre rigorosen Therapien gefeiert wird, und zu einem Heim für verhaltensgestörte Jugendliche. Schnell merkt Laura, dass die respektable Fassade trügt, denn nachts streift dort ein Vergewaltiger auf der Jagd nach jungen Mädchen unbehelligt durch die Gänge.
Als ein weiterer Freund von Luca verschwindet, muss Laura feststellen, dass nicht jedes Opfer unschuldig ist und dass Sehnsucht tödlich enden kann.
Verlassene Seelen ist der sechste Fall, in dem Laura Peters mit ihrem Team ermittelt.
Die Laura-Peters-Serie mit Das Lager, Böse Obhut, Zweiundsiebzig, Moloch Unsterblich, Monströse Moral und die Halloween-Novellen Cäcilie und Excape If You Can sind als Taschenbuch und als E-Book im Internet erhältlich, zum Beispiel auf meiner Autorenseite
https://www.patriciaweiss.de
Patricia Weiss freut sich auf den Austausch mit ihren Lesern auf der Facebook-Seite Patricia Weiss – Autorin, auf X (Twitter) Tri_Weiss, auf Instagram tri_weiss und auf YouTube Patricia Weiss Autorin.
Für Dad.
Copyright © 2022 Patricia Weiss
c/o Relindis Second Hand
Gotenstr. 1
53175 Bonn
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung und Foto: Patricia Weiss
Model: Nina Kuhlmann
Lektorat: Katharina Abel
Dieses E-Book ist auch als Taschenbuch erhältlich.
Als die DDR 1989 die Grenze zur BRD öffnete, sind viele Menschen in den Westen gegangen. Auch viele Eltern, die ihre Kinder einfach zurückgelassen haben.
Die Schätzungen, wie viele Kinder verlassen wurden, bewegen sich in den Größenordnungen von Einwohnerzahlen einer deutschen Kleinstadt.
Sie wurden von allen vergessen.
Sprache ist lebendig. In diesem Buch kommt Jugendsprache vor. Für diejenigen, denen diese Wörter fremd sind, gibt es am Ende ein Glossar.
Wenn das Baby aufhört zu weinen, wird jemand sterben.
Warum kam ihr das ausgerechnet jetzt in den Sinn? Warum fühlte es sich an wie eine Warnung? Diese Nacht würde ein Traum werden. Wie im Märchen.
Nicht so wie die Nacht, die sie fast nicht überlebt hätte, als ihre Mutter sie ihren Freunden überlassen und die sie mit Alkohol abgefüllt hatten, bis sie sich nicht mehr hatte wehren können.
Als sie totendeprimiert wieder zu sich gekommen war, hatte sie zum ersten Mal das kleine Mädchen gesehen. Tief in ihrem Inneren. Im hintersten Winkel ihrer Seele. Es hockte in der Ecke eines dunklen, feuchten Kellerraums, hatte die Knie angezogen, die Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte. Untröstlich. Es war ein Schock gewesen. Weil es ein Teil von ihr war. Ein Teil, den sie verdrängt hatte. Und über den sie auf keinen Fall nachdenken wollte. Nur eins hatte sie mit absoluter Sicherheit gewusst: Sie musste das Mädchen unbedingt weiter weinen lassen. Denn wenn es aufhörte, würde jemand sterben.
Jemand anderes oder, noch wahrscheinlicher, sie selbst.
Sie hatte den Satz zu der Hexe vom Jugendamt gesagt, die von den Nachbarn gerufen worden war. (Sie hatten sie am nächsten Morgen benachrichtigt. Nicht in der Nacht, in der alles passiert war.) Und die hatte glatt die Polizei alarmiert, um das Baby zu suchen.
Warum hörte ihr nie einer zu?
Danach war sie eingeliefert worden.
Neben Kindeswohlgefährdung stand der Verdacht auf dissoziative Identitätsstörung in den Formularen (totaler Quatsch, was sollte das überhaupt sein?), später dann kindlicher Narzissmus (auch totaler Quatsch, dafür fand sie sich selbst viel zu hässlich). Das war jetzt schon eine Weile her und seitdem ging es ihr eigentlich ganz okay.
Und wirklich großartig seit einer Woche.
Seit sie ihn kennengelernt hatte.
Ihr Herz klopfte so laut, dass es in ihren Ohren dröhnte. Gleich würden sie sich treffen.
Ganz allein.
Alle ihre Wünsche würden in Erfüllung gehen. Deshalb machte es auch keinen Sinn, dass ihr der Satz mit dem weinenden Baby ausgerechnet jetzt eingefallen war. Die Kleine weinte ihre Tränen, die nicht nach außen dringen durften. Aber dafür gab es im Moment keinen Grund.
Sie starrte in die Dunkelheit und konzentrierte sich auf die Geräusche der Nacht. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen fiel fahles Mondlicht auf die Lehne eines Stuhls und die darauf abgelegten Kleidungsstücke und aus dem Bett in der gegenüberliegenden Ecke waren die regelmäßigen Atemzüge ihrer Zimmergenossin zu hören. Auf der Straße fuhr von Zeit zu Zeit ein Auto entlang.
Ansonsten war es still.
Die Nachtpflegerin hatte vor einer Stunde die letzte Runde gedreht, das leise Quietschen ihrer Schuhe hatte einen Augenblick vor der Tür verharrt, dann hatte es sich wieder entfernt und war schließlich verstummt.
Sie drückte unter der Bettdecke den Knopf des Handys, wie schon tausende Male zuvor, um die Uhrzeit aufzurufen. Die Zeit verging gleichzeitig quälend langsam und rasend schnell. Sie konnte es kaum erwarten, trotzdem wuchs mit jeder Minute der Druck in ihrer Magengegend. Diese unbestimmte Angst, die sie an nichts festmachen konnte und die sie schließlich als Aufregung abtat.
Endlich war es soweit.
Vorsichtig schob sie die Decke zur Seite, richtete sich auf und schwang ihre Beine über die Bettkante. Dann tastete sie sich vor zu dem Stuhl und zog das Top und die Jeans an. Ihre Zimmergenossin schnarchte weiter leise vor sich hin, wenn die schlief, konnte auch ein Erdbeben sie nicht wecken. Trotzdem wagte sie es kaum zu atmen. Sie huschte zur Tür, öffnete sie und betrat den von Notlichtern beleuchteten Gang.
Das Badezimmer war nur wenige Schritte entfernt. Sie schlich sich in den gekachelten Raum mit den vielen Waschbecken, schaltete das Licht an, sah in den Spiegel und zog eine Grimasse. Die langen, mausbraunen Haare hingen so glatt und schnurgerade herunter, dass ihre Ohren herausstanden wie bei einem Elf. Sie fuhr mit den Fingern hindurch, um sie aufzulockern, doch sie schmiegten sich nur umso enger an ihren Kopf. Dabei hätte sie sich gerade jetzt verführerisch sanfte Wellen gewünscht.
Ein bisschen Make-up könnte es noch herausreißen. Sie wollten nicht, dass sie sich schminkte, aber die anderen taten es doch auch. Und wenn sie ihre Augen betonte, kam deren geheimnisvoll glitzerndes Grün viel besser zur Geltung.
Deine Blicke machen mich verrückt.
Wenn sie an ihn dachte, wurde es ihr wieder schlecht vor Aufregung. Er sah so verdammt gut aus. Sie hätte nie gedacht, dass er sie überhaupt bemerken würde. Er konnte jede haben. Frauen in coolen Outfits, die superdünn waren und ihre perfekt gerundeten Pos in engen Leggins präsentierten. Und die vor allem Erfahrung hatten.
Herumgeknutscht hatte sie schon oft. Auf Partys mit Jungs, die besoffen waren. Und die sie am nächsten Morgen nicht erkannt hatten. Oder es zumindest nicht hatten zugeben wollen. Mehr hatte sie nie zugelassen (außer vielleicht bei den Freunden ihrer Mutter, aber daran konnte sie sich zum Glück nicht erinnern). Man hatte sie dafür ausgelacht. Sogar beschimpft. Sie solle sich nicht so anstellen, Männer bräuchten das, hatte ihre Freundin gesagt.
Aber sie war noch nicht so weit.
Er respektierte das.
Hab keine Angst, ich werde spüren, wenn du bereit bist.
Sie drehte sich vor dem Spiegel und zog den Ausschnitt des oversized Shirts über die Schulter, damit der rote BH-Träger zum Vorschein kam. Und das dünne Kettchen mit dem Herzanhänger. Ein Geschenk von ihm.
Er liebte sie wirklich.
Deine Haut ist wunderschön.
Die Erinnerung an seine Stimme ließ sie erschauern.
Sie sah auf die Uhr. Fünf vor zwei.
Mitten in der Nacht.
Du bist doch eine Wilde. Traust du dich, dich wegzuschleichen? Damit wir uns sehen können? Ich mag nicht mehr von dir getrennt sein.
Sie war gar nicht so wild. Die meiste Zeit machte sie nur, was von ihr verlangt wurde, und versuchte, den Tag zu überstehen. Das kostete sie, seit sie die Medikamente bekam, schon genug Kraft. Doch nichts auf der Welt hätte sie davon abhalten können, sich mit ihm zu treffen!
Für ihn würde sie alles tun.
Er spielte in einer ganz anderen Liga, gehörte zu den Reichen und Besseren. Zu denen, die auf der Sonnenseite des Lebens in großen Villen wohnten und dicke Autos fuhren. Am liebsten hätte sie sich ihrer Freundin anvertraut. Dass sie ein Date mit dem tollsten Typen hatte. Dass er in sie verliebt war. Dass er verrückt nach ihr war. Doch das hatte er ihr verboten.
Du darfst keinem von uns erzählen! Niemandem, hast du verstanden? Sie werden uns sonst trennen. Für immer.
Das Geheimnis für sich zu behalten, war das Schwierigste. Obwohl sie sich fast nicht vorstellen konnte, dass man ihr überhaupt glauben würde, wenn sie verriet, wer er war. Trotzdem musste sie sich zusammenreißen. Und alle Chats mit ihm löschen. Einmal hatte sie es vergessen und er war furchtbar wütend geworden. Auf diese kalte Art wütend, die ihr noch mehr Angst machte, als wenn er geschrien und getobt hätte. Zum Glück hatte er sich wieder beruhigt. Und ihr eine zweite Chance gegeben. Die sie diesmal nicht verbocken durfte.
Nach einem letzten Blick in den Spiegel schaltete sie das Licht aus, öffnete die Tür und lauschte in die Tiefen des weitläufigen Gebäudes. Die anderen schliefen und aus den Geräuschen, die aus dem Personalzimmer drangen, schloss sie, dass die Nachtaufsicht sich einen Film ansah. Sie schlich an den Schlafräumen vorbei und bog in den Gang mit den Untersuchungszimmern ab.
Eigentlich kein angenehmer Treffpunkt.
Ich bringe Kerzen mit, du wirst gar nicht merken, wo wir sind. Wir werden die Welt vergessen.
Er hatte recht.
Es kam nicht darauf an, wo man sich traf, sondern mit wem.
Mit ihm war es überall schön. Romantisch. Auch in dem Sprechzimmer mit der schwarzen Liege und der gruseligen Lampe an dem geknickten Schwenkarm. Deren grelles Licht bei den Untersuchungen nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele bis in den letzten Winkel auslotete.
Heute Nacht würde es anders sein.
Sie blieb vor der Tür stehen und atmete tief durch. Ihr Herz hämmerte vor Aufregung und plötzlich fühlte sie kalte Enttäuschung in sich aufsteigen. Bestimmt war er nicht gekommen. Das war alles nur ein Scherz. Er hatte sie hierher gelockt, um sie an der Nase herumzuführen und sich über sie lustig zu machen.
Jemand wie er verliebte sich nicht in ein Mädchen wie sie. Nicht einmal in den Filmen, die sie so gerne sah. Da war die Hauptperson immer attraktiv und brauchte höchstens ein radikales Umstyling, um die große Liebe zu finden. Aber sie war nicht hübsch. Nicht einmal ansatzweise.
Zu klein, zu dick, zu dumm.
Das hatte ihr Vater immer gesagt, wenn sie etwas falsch gemacht hatte. Und das war oft gewesen.
Du bist etwas ganz Besonderes. Ich liebe dein Lachen.
Sie kämpfte die Zweifel nieder. Wenn er nicht da war, würde sie einfach zurück ins Bett gehen. Und leise in ihr Kissen weinen, damit keiner es merkte. Oder für immer weglaufen. Aber jetzt durfte sie nicht kneifen, sonst würde sie nie Gewissheit haben.
Sie klopfte.
Leise.
Und fast sofort wurde die Tür geöffnet.
Er stand vor ihr.
Sah ihr tief in die Augen und reichte ihr ein Glas.
Sie merkte, dass sie ihn anstrahlte. „Du bist gekommen.“
„Natürlich. Ich konnte es kaum erwarten. Komm rein.“
Er nahm ihre freie Hand, zog sie in den Raum und schloss die Tür hinter ihr.
Sie hörte, wie er den Schlüssel drehte, und wollte etwas sagen. Sanft legte er ihr den Finger auf den Mund: „Nur zur Sicherheit. Wir wollen doch nicht, dass uns jemand stört.“
Er stieß sein Glas leise an ihres. „Cheers.“
„Cheers.“ Sie nippte an ihrem Getränk, ohne den Blick von ihm zu lösen. Und musste husten.
„Das ist aber stark.“
„Du musst die ersten Schlucke schnell nehmen, als würdest du Saft trinken, dann gewöhnst du dich daran. Oder bist du nicht alt genug dafür?“ Er zog sich ein Stück von ihr zurück. Musterte sie.
Kühl?
Distanziert?
Nein, nein, nein, nein, nein! Das wollte sie nicht!
„Warte, ich mache das jetzt.“ Sie kippte die Hälfte der Flüssigkeit in einem Zug hinunter und hustete noch viel mehr.
Er nahm sie in den Arm und lachte. Küsste sie auf die erhitzte Wange und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Ihre Haut kribbelte angenehm unter seinen Fingern. Sie lehnte sich ganz leicht an ihn und atmete seinen Duft ein.
Er schob sie von sich weg. „Warte kurz. Gleich wird es dir großartig gehen. Wir haben noch viel mit dir vor.“
Verwirrt sah sie sich um.
Die Lampen waren ausgeschaltet, die Rollladen vor den Fenstern heruntergelassen und überall standen Teelichter. Die tanzenden Flammen verwandelten den tagsüber so nüchternen und einschüchternden Raum in einen märchenhaften Palast.
Doch was meinte er mit ‚wir‘?
In der Ecke bewegte sich etwas. Jemand trat aus der Dunkelheit hervor.
Die Enttäuschung trieb ihr die Tränen in die Augen. Wollte er nicht mit ihr allein sein? So, wie sie sich das wünschte?
„Komm, trink aus. Dann starten wir unsere kleine Party.“ Er sah sie prüfend an, schien ihre Verunsicherung zu spüren. Zog sich wieder ein Stück zurück. „Ich dachte, du wärst anders, aber vielleicht ist das ja nichts für dich. Wenn du nicht möchtest ...“
„Doch, ich will!“ Sie nickte heftig. Dabei wurde ihr so schwindelig, dass sie ins Wanken geriet.
Er lachte leise und griff nach ihrem Arm.
„Hoppla. Komm her, ich halte dich fest. Am besten setzt du dich.“
Er zog sie hinter den Schreibtisch und manövrierte sie auf den Stuhl.
„Ist dir zu warm? Komm, ich helfe dir ...“
Plötzlich war seine Stimme weit entfernt. Mischte sich mit einer zweiten, fremden Stimme.
Mit Gelächter.
Das gar nicht lustig klang.
Eher bedrohlich. Furchteinflößend.
Der Raum verschwamm vor ihren Augen, Lichter tanzten durch ihr Gehirn und das Rauschen in ihren Ohren wurde lauter. Vergeblich versuchte sie, ihn daran zu hindern, ihr das T-Shirt über den Kopf zu ziehen.
Warum tat er das?
Sie wollte ihn wegschieben. Ihn abwehren. Doch es waren zu viele Hände, die an ihr zerrten und zogen. Sie überall berührten. Ihr wehtaten.
In ihrem Kopf drehte sich alles.
Immer schneller.
Dann riss der Strudel sie mit sich in die Dunkelheit.
Die Nacht gehört mir. Die Welt gehört mir.
Euer Leben gehört mir.
Der Psychiater, der mich damals zwang, Tagebuch zu führen, wollte solche Aussagen nicht lesen. Ich sollte nur aufschreiben, was ich täglich mache und welche Gefühle ich dabei habe.
Wann ich Wut fühle. (Eigentlich nicht sehr oft.)
Ob ich mich bremsen kann, wenn ich ein Mädchen sehe. (Klar, ich falle ja nicht direkt über sie her. Ein bisschen Vorbereitung braucht es schon.)
Ob ich angemessenen Respekt habe. (Definiere ‚angemessen‘!!! Angemessen ist mein Respekt bestimmt.)
Ob ich mir darüber im Klaren bin, dass sie genauso Gefühle haben wie ich. (Das haben sie sicher nicht!!!)
Er war so lustig.
Ich habe für ihn ein zweites Heft angelegt, in dem alles drinstand, was er hören wollte. Ganz überzeugend war ich wohl nicht, denn er wollte mich vor allem loswerden.
Heute bin ich besser.
Viel besser!
Trotzdem hat jemand etwas bemerkt.
Ich weiß es.
Höchste Zeit, Maßnahmen zu treffen.
Kapitel 1 Verfallenes Hotel im Wald
An einem Ort ohne Zeit.
Ohne irgendetwas, das existierte.
Nur sie und er.
In der Unendlichkeit.
Und die Musik.
Das Auto rollte auf den leeren, unbeleuchteten Parkplatz und kam in einer Ecke zum Stehen. Die Musik verstummte und das verlöschende Licht der Scheinwerfer ließ für einen letzten Augenblick einen knorrigen Baum mit lang ausgestreckten, geisterhaft dünnen Fingern aus der Schwärze des Waldes hervortreten.
„Ich hoffe, von hier aus ist es nicht mehr weit.“ Luca griff sich seinen Rucksack und öffnete die Beifahrertür.
„Sheesh! Ist das kalt!“ Sein Freund Simon zog den Reißverschluss bis zum Kinn hoch.
„Wird schon, Bro. Trink was, dann wird es dir schnell warm.“ Luca trat neben ihn, rempelte ihn freundschaftlich an und hielt ihm die Weinflasche hin.
Simon nahm sie, öffnete den Schraubverschluss, trank ein paar tiefe Schlucke und wischte sich dann mit der freien Hand den Mund ab.
„Valid, ready?“ Luca drehte sich zu dem Freund um, der sie gefahren hatte und eine große Kameratasche aus dem Kofferraum zerrte.
Der nickte. „Alles klar, Digga. Abmarsch! Hier entlang.“
Die beiden folgten ihm zu einem zugewachsenen Pfad, der in den Wald hinein führte.
„Scheiße Mann, hat jemand an eine Taschenlampe gedacht?“ Simon zog sich die Kapuze des Hoodies vom Kopf, um besser sehen zu können.
„Ich habe eine Stand-Leuchte mit Akku dabei. Für die Fotos. Aber die hole ich nicht raus. Wir sind gleich da.“ Valid stapfte unbeirrt weiter.
„Ich hoffe, das lohnt sich, Alter“, murrte Luca. „Wär das lässig, wenn wir jetzt in Bens Bude chillen könnten, statt wie die Idioten bei der Kälte durch den Wald zu rennen.“
„Du weißt doch, dass AkaBoom eine Location für das neue Video sucht. Es wäre so cool, wenn ich das drehen könnte. War ja schließlich meine Idee mit dem Lost Place. Ich habe mir schon ein paar Einstellungen und Effekte überlegt. Grüne Smokegranaten kämen krass in der richtigen Beleuchtung. Und dann gibt es da so ein Metallgitter, wie so ein großer Käfig. Da könnte man eine coole Szene stellen.“
„Träum weiter, Valid. AkaBoom macht seine Videos nur noch mit den Producern von Dropdead, das weiß doch jeder. Die haben viele große Rapper unter Vertrag, da hast du keine Chance. Außerdem taucht der garantiert nicht auf. Er hat bestimmt Besseres zu tun, als mit uns im Wald abzuhängen.“
„Doch“, widersprach Simon und klopfte auf seine Jackentasche, in der sich sein Handy befand, „Ben hat eben gewhatsappt, dass sie schon da sind. AkaBoom ist dabei.“
„Stand aber kein Auto auf dem Parkplatz. Die sind ja wohl kaum mit dem Fahrrad gekommen.“ Luca war noch nicht überzeugt.
„AkaBoom hat eine Limo mit Fahrer, der sie bestimmt nachher wieder abholt. Die kam doch mal in einem seiner Videos vor.“ Valid war nur undeutlich zu verstehen, da er bereits einen ziemlichen Vorsprung hatte.
„Krass. Stell dir das vor: Drinks, Musik, getönte Scheiben, einen Jay ... Da hat man es echt geschafft. Los, geben wir ein bisschen Speed.“ Luca, dessen Laune sich schlagartig gebessert hatte, beschleunigte und schloss zu Valid auf.
Simon folgte den beiden und starrte konzentriert auf den Boden, um nicht zu stolpern. Plötzlich knackte ein Ast. Laut.
Und ganz in der Nähe.
„Wartet! Seid mal still: Habt ihr das gehört? Scheiße, ich glaube, da ist jemand. Ich habe die ganze Zeit schon das Gefühl, dass uns einer folgt.“
Die beiden Freunde blieben stehen und drehten sich zu ihm um. Einen Augenblick lang lauschten sie in die Dunkelheit, doch außer einem leisen Rascheln im Unterholz war nichts zu hören.
Valid lachte. „Digga, mach dir nicht ins Hemd. Das war eine Maus. Let’s go, wir sind gleich da. Ich kann schon die Musik hören.“
Der Weg beschrieb eine langgezogene Biegung, dann erreichten sie eine Schranke. Valid hielt seine Tasche hoch und schob sich daran vorbei, die anderen folgten. Vor ihnen tat sich ein vom Mondlicht beschienenes Hochplateau auf. Seitlich ragte ein verfallenes Gebäude in den Nachthimmel und weit unter ihnen entfaltete sich das Panorama des Rheintals mit dunkel schimmernden Fluten und Ortschaften, die als glitzernde Lichtpunkte am Ufer verteilt lagen.
„Krass.“ Luca blieb stehen und sah sich um.
Valid hatte ihnen auf der Fahrt erzählt, dass hier früher ein nobles Hotel betrieben worden war. Jetzt standen auf dem Areal nur noch die Ruinen: verfallene Mauern, schön geschwungene Sprossenfenster mit zerbrochenen Scheiben, zersplitterte Dachbalken und darüber die Reste eines mit schnörkeligen Emblemen verzierten Turms.
„Da vorne sind sie!“ Valid rückte den Gurt der schweren Tasche auf seiner Schulter zurecht und steuerte auf die Musik zu, die durch einen Mauerdurchlass zu ihnen herüberklang.
Simon und Luca folgten ihm in eine Halle, die nur von den Flammen eines Feuers in einer Blechtonne erhellt wurde. Lange Schatten tanzten auf verfallenen, mit Graffiti besprühten Wänden und der Boden bestand nur noch aus betonierten Querstreben, zwischen denen die Steinbrocken der eingestürzten Decke lagen. Weiter hinten stand das Wrack eines Autos, daneben trotzte ein ramponiertes Klavier den Elementen.
Dort hatten sich Ben und ein Mädchen niedergelassen.
Und AkaBoom.
Luca zwang sich, cool zu bleiben, und kämpfte seine Aufregung nieder. Er folgte den Freunden zu der Gruppe, stolperte dabei immer wieder und Bröckchen von Putz und Mörtel zerbarsten knirschend unter seinen Sneakers.
„Hi, Leute, seid ihr schon lange da?“ Valid stellte seine Tasche ab und machte die Begrüßungsrunde mit Faustcheck.
„Kommt näher, Leuts.“ AkaBoom, der auf einem Stein hockte, winkte ihnen mit einer Weinflasche zu. Zwischen den Fingern der anderen Hand, die mit vielen silbernen Ringen geschmückt waren, steckte ein Joint. Luca bemühte sich, ihn nicht anzustarren. Er kannte die weißblonden Locken und das jungenhafte Gesicht mit der runden Metallbrille aus unzähligen Videos.
Jeder kannte es.
„Kippchen? Oder gleich was Anständiges?“ AkaBoom legte lächelnd den Kopf in den Nacken, blies Rauch gegen die Decke und war auch im real Life so korrekt wie in den Interviews auf YouTube.
„Ich nehme einen Zug.“ Luca drängte sich an Simon vorbei, ließ sich neben dem Rapper nieder und nahm ehrfürchtig den glimmenden Dübel entgegen.
Und der Abend nahm seinen Lauf.
Sie hörten Musik, auch ein paar Tracks von AkaBoom, der nur schwach dagegen protestierte und sich dann in sein Schicksal fügte, ließen die Weinflasche kreisen und redeten über Gott und die Welt. Lucas Blick wanderte zwischendurch immer wieder zu Shorty, dem einzigen Mädchen in der Runde, mit Augen so groß wie zwei Moorseen und einem Lachen, das die Schmetterlinge in seinem Bauch zum Tanzen brachte. Sie hatte schon ein paarmal mit ihnen gechillt, aber nie etwas von sich erzählt. Und er hatte sich nicht getraut, zu fragen. Da er nicht wusste, ob sie vielleicht zu Ben oder, viel wahrscheinlicher (obwohl der sie kaum beachtete), zu AkaBoom gehörte, lächelte er sie nur manchmal kurz an und hielt sich ansonsten zurück.
Valid, der nie Alkohol trank und als Fahrer aufs Kiffen verzichtete, hatte seine Kamera zusammengebaut und machte Touren durch das verfallene Areal, um ihnen danach seine krassen Pics zu zeigen.
Der Alkoholpegel stieg, die Entspannung griff um sich, ihre Stimmen wurden lauter und die Kälte war kaum noch zu spüren. Genauso wenig wie der Alltag, die turmhohen Erwartungen der Eltern oder die gelegentlichen Panikanfälle, dass alle recht behalten und es ihnen sowieso nie gelingen würde, ihren Scheiß irgendwann auf die Reihe zu kriegen.
Sie drehten die Musik auf. Shorty kletterte auf die Motorhaube des Autowracks, wand sich im Schein der tanzenden Flammen zu den Songs von AkaBoom und posierte mit in den Himmel gestreckten Armen für Valid, der sie von allen Seiten fotografierte.
Luca konnte den Blick nicht von ihr wenden. Ihre langen, dunklen Haare, die dünnen, bestrumpften Beine, die groben Boots und die sanft kreisenden Bewegungen ihrer Hüften zum Rhythmus der harten Beats - er hatte das Gefühl, zu schweben.
An einem Ort ohne Zeit.
Ohne irgendetwas, das existierte.
Nur sie und er.
In der Unendlichkeit.
Und die Musik.
Für einen Moment schloss er die Augen, um sich nicht völlig zu verlieren. Schob es auf das Haze, das sein Fühlen so intensivierte, und versuchte, sich einzureden, dass die Faszination morgen vorbei sein würde. Dass Shorty dann wieder ein ganz normales Mädchen war, die Freundin eines anderen und ansonsten nur ein guter Kumpel. Sofern er sie überhaupt jemals wiedersah.
Als er die Augen öffnete, sah er, dass Shorty aufgehört hatte zu tanzen. Sie kletterte von der Motorhaube, kam direkt auf ihn zu und beugte sich zu ihm hinunter.
Der kleine Herzanhänger an ihrer Kette baumelte direkt vor ihm und blinkte im Schein des Feuers auf, dann kamen ihre dunklen Augen so nah, dass er kaum atmen konnte. Aber sie waren keine Moorseen mehr, geheimnisvoll und tiefgründig, sondern schwarzglänzender Obsidian. Steinhart.
Zuerst verstand er nicht, was sie ihm zuflüsterte.
Doch als sie sich abwandte und wieder tanzte, tropfte es Wort für Wort in sein Bewusstsein. Und jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
Er brauchte Luft.
Mühsam stemmte er sich hoch und wankte im Zickzack und oft gefährlich über die Betonstreben stolpernd Richtung Ausgang.
„Alles okay, Bro? Brauchst du Wasser?“
Aus dem Augenwinkel sah er, dass Ben aufstand und ihm hinterherkam.
Doch er ging weiter.
Er musste jetzt allein sein.
- - -
Luca lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum und schloss die Augen. Ben hatte er zurück zu den anderen geschickt, im Moment konnte er keine Gesellschaft gebrauchen. Nicht nur, weil sich in seinem Kopf alles drehte, sondern auch, weil er unbedingt über das nachdenken musste, was Shorty gesagt hatte.
Nachtmahr.
Plötzlich waren die Erinnerungen hochgekommen. Heraufgekrochen aus dem dunklen Abgrund. In den er nie einen Blick warf, damit es ihn nicht zerstörte. Bilder aus Zeiten, die er hasste. Und von Geschehnissen, die er verdrängt hatte.
Weil er damals ein Mensch gewesen war, der er nicht mehr sein wollte.
Er kannte das Wort aus einem Kinderreim, der ihm immer Angst gemacht hatte. Dabei war er schon relativ groß gewesen, als er ihn zum ersten Mal gehört hatte.
Schlägt die Turmuhr sechs,
kommt die alte Hex.
Jeder muss aufs Töpfchen,
sonst haut man dich aufs Köpfchen.
Brutal und herzlos.
Schlägt die Turmuhr acht,
wird das Essen gemacht.
Und möchtest du nicht essen,
wirst du im Schrank vergessen.
Schlägt die Turmuhr zwei,
ist ja nichts dabei,
niemand hört dich weinen,
interessiert hier ja auch keinen.
Schlägt die Turmuhr vier,
bleibst du weiter hier.
Die Mama, die ist weg,
du bleibst allein, denn du bist Dreck.
Ja, seine Mutter hatte ihn wie Dreck zurückgelassen. Deshalb hatte sich der Reim so tief in sein Gehirn gebrannt. Und deshalb war er zu dem geworden, der er nie hatte sein wollen.
Bitch!
Bitch!
Schlägt die Turmuhr acht,
heißt es ‚Gute Nacht‘.
Dann schläfst du ohne Sorgen
bis zum frühen Morgen.
Nur der kleine Johnny nicht ...
denn den hat der Nachtmahr erwischt.
Eine Weile kreisten seine Gedanken um dieses Wort.
„Nachtmahr“, flüsterte er vor sich hin.
Jetzt wusste er wieder, was es mit dem Nachtmahr auf sich hatte. Der nächtliche Albtraum. Aber das war doch vorbei. Er hatte sich geändert.
Das Böse abgeschüttelt.
„Nachtmahr.“ Er rief es laut. Um sich Mut zu machen.
Und um die Erinnerungen zu vertreiben.
Dann lachte er.
„So ein Quatsch. SO EIN QUATSCH! Alles vorbei!“
Es war nicht real. Nicht real!
Und so lange her, dass es nie stattgefunden hatte.
Langsam lichtete sich der Nebel in seinem Gehirn und die Realität drang zu ihm durch. Und auch die Kälte. Er sollte wieder reingehen zu den anderen. Einfach ins Hier und Jetzt zurückkehren, noch was trinken und die ganze Scheiße vergessen.
Shorty wusste nichts.
Konnte nichts wissen.
- - -
Bevor die Hölle losbricht, gibt es diesen Moment, den man nie mehr vergisst. Diesen Augenblick, in dem das Leben zum Standbild gefriert. In dem alle Alarmsirenen losgehen, obwohl man nicht versteht, was passiert.
Valid hätte später nicht mehr sagen können, ob er zuerst die Schreie gehört oder den Mann mit der Maske gesehen hatte.
Der mitten in der Halle stand.
Und zu ihnen hinübersah.
Dann ging alles ganz schnell.
Ben sprang auf. Verlor das Gleichgewicht. Die Feuertonne fiel um. Glühende Holzscheite kullerten Funken sprühend über den Boden. Der Raum wurde nur noch von den Knien abwärts beleuchtet und verschwand ansonsten im Dunkeln. Shorty kreischte. Der Maskierte stolperte durch die Steine zu ihr hinüber. AkaBoom erhob sich und taumelte ihm entgegen, schrie etwas und brachte die Fäuste in Kampfstellung. Obwohl er so viel kleiner war.
Valid wollte ihm beistehen. Doch er kam nur langsam vorwärts.
Endlich schaffte er es bis zu dem Riesen. Der AkaBoom in diesem Augenblick grob von sich stieß. Aus dem Augenwinkel sah er den schmalen Rapper, dessen helle Locken in der Dunkelheit schimmerten, gegen die Wand taumeln. Dann gab er alle Kraft in den Schlag. Haute mit voller Wucht auf den Rücken des Goliaths. Doch der war durch eine dicke Lederjacke geschützt.
Es war ein ungleicher Kampf.
Keiner von ihnen konnte diesem muskulösen, gesichtslosen Herkules etwas entgegensetzen. Obwohl sie durch die Substanzen, die sie konsumiert hatten, enthemmt waren. Selbst Valid, der gar nichts geraucht hatte.
Sie hatten keine Chance.
An einem Punkt fiel Valid so hart auf den Rücken, dass er nur noch Sterne sah. Er hörte Handgemenge, Stöhnen, Tritte und Steine, die zersplitterten.
Und die Musik, die in voller Lautstärke weiterspielte.
So surreal, als wäre das Ganze nur eine Szene aus einem Film.
Doch plötzlich kehrte Ruhe ein.
Er hob den Kopf und sah sich um. Der Riese schien verschwunden zu sein.
Als hätte er sich in Luft aufgelöst.
Die Freunde rafften ihre Sachen zusammen.
Jemand zerrte an seinem Arm.
„Alter, komm, nichts wie weg!“ Es war Simon.
„Meine Kamera, die Akku-Leuchte ...“
„Hab ich alles. Komm einfach!“
Die Flucht durch den Wald nahm er nur im Nebel wahr. Zu tief saß ihm der Schock in den Gliedern. Mehrmals stolperte er, doch Simon riss ihn immer wieder hoch und zerrte ihn weiter. Rückwirkend wunderte er sich, dass es ihnen gelungen war, dem Riesen zu entkommen. Obwohl sie so angeschlagen waren. An die Autofahrt erinnerte er sich später nicht mehr, dabei war er selbst gefahren. Und auch nicht daran, wie er es in sein Bett geschafft hatte.
Der Gedanke, was aus den anderen geworden war, kam ihm erst am nächsten Morgen.
Als Lucas Mutter anrief.
Jeder ist, wie er ist.
Ich bin besser.
Die Herausforderung ist, die richtige Dosis zu finden. Die Experimente mit den Hunden damals waren zwar unterhaltsam, aber nicht hilfreich. Einfaches Hochrechnen auf das zusätzliche Körpergewicht reicht nicht aus. Der Stoffwechsel ist zu unterschiedlich. Im Internet sind Dosierungsangaben zu finden, doch viele sind falsch.
Wichtig ist, dass jede Erinnerung ausgelöscht wird.
Detektivin Laura Peters öffnete das schmiedeeiserne Tor, das quietschend protestierte und nur widerstrebend den Weg in den verwilderten Vorgarten des ramponierten Altbaus in fast bester Wohnlage freigab. Dackel Friedi drängte an ihr vorbei und sie bückte sich, um die Leine auszuhaken. Sofort schoss er davon. Zeitgleich sprang die schwarze Nachbarskatze fauchend aus dem Gebüsch, raste die Mauer hoch und machte auf der Krone einen Buckel.
„Friedi, lass das. Komm her.“ Sie klopfte auf ihren Oberschenkel, doch der Hund reagierte nicht. Stattdessen sprang er an den Backsteinen hoch und bellte sich in Rage, während die Katze auf ihn hinuntersah und gar nicht daran dachte, das Terrain zu räumen.
Die beiden Tiere verband eine herzliche Feindschaft.
Wahrscheinlich hätte ihr jeder Hundetrainer gesagt, dass man dem Tier den Ungehorsam nicht durchgehen lassen durfte, aber sie sah es anders. Er hatte seine geliebten Gewohnheiten und sie ihre. Und sie respektierten sich gegenseitig darin. Das wollte sie nicht aufs Spiel setzen. Friedi war schon im fortgeschrittenen Alter gewesen, als Laura ihn zu sich genommen hatte. Sein Frauchen hatte mit ihm nebenan gewohnt, als Laura vor ein paar Monaten in ihre neue Wohnung gezogen war. Eines Abends war die neunzigjährige Dame wegen Herzinfarkt vom Notarzt ins Krankenhaus gebracht worden und ein Sanitäter hatte kurzerhand bei ihr geklingelt und ihr die Leine in die Hand gedrückt. Und bevor sie etwas hatte sagen können, war er verschwunden und hatte sie mit dem freundlich wedelnden Dackel in ihrer Wohnung zurückgelassen.
An dem Abend hatte sie sich nur ihr Schinkenbrot mit ihm teilen können, doch schon am nächsten Tag hatte Laura die Tierhandlungen abgeklappert und Futter, Leckerlis, ein geflochtenes, weich ausgepolstertes Körbchen und kuschelige Decken für ihn besorgt. Und ein Hundeshampoo. Das ausgiebige Bad hatte er als Demütigung empfunden. Zerzaust und beleidigt war er nach der Prozedur hinter einen Sessel gekrochen und hatte sich eine ganze Weile nicht mehr blicken lassen. Doch dann hatten sie sich schnell angefreundet. So sehr, dass die Nachricht zwei Wochen später, dass sein Frauchen es nicht geschafft hatte, sie zwar bestürzt, aber auch erleichtert und glücklich gemacht hatte.
Friedi war zu einem festen Bestandteil ihres Lebens geworden, den sie nicht mehr missen wollte.
Der Wind riss Laura die Kapuze vom Kopf und wirbelte durch ihre langen, dunkelbraunen Haare. Vergeblich versuchte sie, die Strähnen vor den Augen zur Seite zu schieben, und setzte halb blind ihren Weg fort. Als sie den Eingang erreichte, hielt sie die Tür auf und schnalzte mit der Zunge.
„Friedi!“
Diesmal funktionierte es. Der Dackel drehte den Kopf, kam mit wehenden Ohren auf sie zugeprescht und fegte an ihr vorbei ins Treppenhaus. Laura ließ die schwere Tür hinter sich zufallen und folgte ihm die Stufen hinauf ins Hochparterre, wo er wedelnd auf sie wartete. Sie schloss die Tür zum Büro auf und warme Luft und das betörende Aroma von frischem Kaffee schlugen ihr entgegen.
„Ciao Friedi!“ Assistentin Gilda, die im Vorraum gearbeitet hatte, stand von ihrem Gamerstuhl auf und umrundete den Schreibtisch, auf dem sich Papiere und Aktenordner türmten, um den Dackel gebührend zu begrüßen.
„Guten Morgen.“ Laura schälte sich aus der wattierten Jacke und hängte sie an die Garderobe.
„Ciao Laura.“ Gilda, die sich neben den Hund auf den Boden gekniet hatte, sah hoch und strahlte sie an. „Du siehst durchfroren aus. Kaffee?“
„Unbedingt. Es ist arschkalt. Pardon my French!“
Die Assistentin zuckte die Schultern. „Bei minus zehn Grad ist das der treffende Ausdruck.“ Sie richtete sich auf und folgte ihrer Chefin in die kleine Küche mit dem gefliesten Schachbrettmuster-Boden.
Laura stellte sich auf die Zehenspitzen und angelte nach ihrem Lieblingskaffeebecher mit der Aufschrift ‚Coffee turns my magic on‘, den sie von ihrer Schwester zum Geburtstag bekommen hatte und der auf dem oberen Regal stand. Gilda platzierte ein Tablett auf dem Bistrotisch und legte eine Brötchentüte darauf.
„Oh, du hast Frühstück mitgebracht! Das hatte ich so gehofft. Ich habe einen Bärenhunger.“ Laura goss Kaffee in ihre Tasse. „Möchtest du auch?“
„Danke. Ich habe schon einen, steht auf meinem Schreibtisch.“ Gilda schlang die Arme, die in viel zu langen Ärmeln eines viel zu großen, grob gestrickten Wollpullis steckten, eng um ihren Körper und lehnte sich an den Küchenschrank.
Laura platzierte den Kaffeebecher auf dem Tablett und trug es in ihr Büro, Gilda und Friedi dicht auf den Fersen. Sie stellte es auf dem Besuchertischchen ab und öffnete die Tüte.
„Schokocroissants. Herrlich. Bei der Kälte brauche ich Kohlehydrate.“ Sie nahm sich eins, trat hinter ihren modern geschwungenen Schreibtisch, ließ sich auf den Stuhl fallen und schaltete den Computer an.
Gilda setzte sich auf einen der hellblauen Besuchersessel und zog auch ein Croissant aus der Tüte.
„Was steht heute an?“ Laura warf einen Blick auf den analogen Tischkalender, auf dem für den heutigen Tag nichts notiert war.
Die Assistentin zuckte die Achseln, kaute hastig und schluckte den Bissen hinunter. „Ich habe ein gebrochenes Herz auf dem Tisch, für das ich einen Twitterer unter die Lupe nehmen soll. Immer das gleiche: Eine einsame Frau, die auf die große Liebe hofft, und ein Mann, der das ausnutzt, um seinen Spaß zu haben. Das wird schnell erledigt sein.“ Sie biss wieder in ihr Croissant, redete aber trotzdem weiter. „Ich habe mir überlegt, dass wir in den Social Media präsenter sein sollten. Wir haben lange nichts mehr gepostet.“
„Um Werbung zu machen?“
„Klar. Was sonst?“
„Was stellst du dir vor?“ Laura nahm einen Schluck Kaffee und rief nebenher ihre Mails auf.
„Eine Mischung aus Impressionen aus unserem Alltag in der Detektei und nützlichen Informationen. Warnungen zu Scamprofilen zum Beispiel. Wir beschreiben, wie die Täter vorgehen, wer dahintersteckt und welchen Schaden sie anrichten. Oder zu Identitätsklau. Die Liste ist endlos, Kriminalität im Netz wuchert von Tag zu Tag. Wie eine Hydra: Schlägst du einen Schlangenkopf ab, wachsen ihr zwei neue. Die Themen werden uns nicht ausgehen.“
„Klingt gut“, murmelte Laura, während sie ihre Nachrichten überflog. „Ist das nicht sehr zeitintensiv?“
„Das kriege ich hin. Es sollte nur jemand über die Texte gucken, bevor ich sie poste. Ich möchte mich nicht allein auf die Autokorrektur verlassen.“
Gilda war Legasthenikerin, aber nie dagegen therapiert worden, weil ihre Eltern, fleißige und tief in ihrem Herzen konservative Süditaliener mit gutgehendem Restaurant, den Platz ihrer Tochter in der Küche gesehen hatten. Dementsprechend hatte Gilda es, obwohl sie ein heller Kopf war, nur mit Mühe bis zur Mittleren Reife geschafft. Da sie ihr Leben nicht im Familienbetrieb fristen wollte, war sie eine Weile durch die Welt getingelt und hatte sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Und wahrscheinlich würde sie jetzt in einer Ferienanlage Yoga unterrichten, wenn Laura ihr nicht die Chance gegeben hätte, in der Detektei anzufangen.
„Kein Ding, ich helfe dir. Das ist eine gute Idee. Wir müssen wieder mehr Aufträge kriegen, sonst wird es langsam eng.“
„Was? Aber wir sind doch berühmt! Alle Zeitungen haben über uns berichtet, weil wir die Red-Room-Morde aufgeklärt haben. Du warst Gast bei Radio-Interviews, Podcasts und sogar bei einer Talkshow im Fernsehen.“
Laura winkte ab.
Und versuchte, die Erinnerung an den peinlichen Auftritt zu verdrängen. Das Licht der Studiolampen und die unbarmherzigen Augen der Kameras hatten ihr dickes Make-Up schmelzen lassen und der Moderator hatte ihr Worte in den Mund gelegt, die sie nie gesagt hatte. Er hatte einfach behauptet, sie kritisiere die Politik und die Polizei, weil sie nicht in der Lage waren, für Recht und Ordnung zu sorgen. Stattdessen müssten Detekteien wie ihre den Job übernehmen und Kriminelle jagen, die harmlose Bürger abschlachteten. Schlimm war es geworden, als der rotgesichtige, schweratmende Polizeigewerkschafter sich davon angegriffen fühlte und in die Offensive ging. Ihre Versuche, sich zu verteidigen, waren in der hitzigen Diskussion untergegangen. Es war ein Albtraum gewesen und sie hatte sich geschworen, nie wieder vor eine Kamera zu treten.
Sie lächelte schief. „Viel hat uns das nicht gebracht. Ja, vielleicht sind wir bekannt. Aber bekannt dafür, psychopathische Serienmörder zu jagen. Das hält den durchschnittlichen Kunden eher davon ab, die Untreue seines Ehepartners oder die Sabotageakte des Nachbarn von uns untersuchen zu lassen. Doch das sind die Aufträge, die uns das Geld bringen. Wir müssen in der Außenwirkung wieder bodenständiger werden, deshalb passt deine Social-Media-Initiative sehr gut.“
„Dann lege ich gleich los. Ich werde ein paar Fotos von Friedi machen. Wir können ihn in den Posts Dr. Watson nennen. Sie werden ihn lieben!“
„Ja, bestimmt. Nicht wahr, Friedi?“
Der Dackel, der sich zu Gildas Füßen zusammengerollt hatte, hob kurz den Kopf und deutete ein Wedeln an, dann döste er weiter vor sich hin.
Laura sah auf ihre Armbanduhr. „Wenn sonst nichts ansteht, seile mich für ein paar Stunden ab. Du kannst anrufen, falls sich etwas ergibt.“
„Halt, wir haben einen Termin. In“, Gilda warf einen Blick auf ihr Handy, „fünfundvierzig Minuten.“
„Worum geht es?“
„Keine Ahnung. Die Anfrage kam heute Morgen telefonisch rein. Aber ich habe die Interessentin gegoogelt und ihr schon unsere Preisliste per Mail geschickt.“
„Und?“
„Marion Gruber. Sie arbeitet in der Kinderpsychiatrie.“
„Gut, dann hören wir uns mal an, was sie von uns will.“
Gilda hatte sich wieder an den Schreibtisch im Vorraum verzogen und Laura ging ihre Mails durch.
Bereits als die Assistentin mit ihr gefrühstückt hatte, war ihr die Drohnachricht ins Auge gefallen, aber sie hatte sich nichts anmerken lassen.
Es gab immer mal einen unzufriedenen Kunden, der gehofft hatte, dass der Partner doch treu war, und seine Wut an dem Überbringer der schlechten Nachricht ausließ. Oder eine verärgerte Zielperson, über die sie Nachforschungen angestellt und deren Leben sie ruiniert hatten. (Etwas mehr Offenheit in der Beziehung oder Zurückhaltung angesichts der Versuchung hätte so manche Katastrophe verhindern können.)
Aber das hier war anders.
Obszöne Beschimpfungen, frauenfeindlich und aggressiv, die in eine blutig-sexuell durchtränkte Todesdrohung mündeten.
Natürlich anonym.
Und immer wieder dieses eine Wort:
HURE.
Sie wusste, dass sie die Schmähungen nicht persönlich nehmen, das Gift nicht an sich herankommen lassen durfte. Und trotzdem entfaltete es seine Wirkung. Hatte sie etwas falsch gemacht? Sich daneben benommen? Es musste einen Grund geben, warum sie diese Mails erhielt. Das schrieb doch nicht jemand einfach so.
Die Mail-Adresse bestand aus einer zufälligen Aneinanderreihung von Buchstaben und Zahlen und ließ keine Rückschlüsse auf die Identität zu. Für Gilda, die ein Ass am Computer und ein Champion im Hacken war (was Laura ihr natürlich offiziell verboten, ihnen aber inoffiziell schon das Leben gerettet hatte), wäre es ein Leichtes, ihn aufzuspüren. Sie fragte sich, warum sie ihr nicht direkt die Mail weiterleitete, und musste sich eingestehen, dass es ihr peinlich war. Sie schämte sich, dass jemand sie so demütigte und als wertlos betrachtete. Sie hatte Angst, dass Gilda sie dann mit anderen Augen sehen würde.
Friedi schien zu spüren, was in ihr vorging. Er verließ seine Kuscheldecke, wanderte zu ihr hinüber und stupste an ihr Bein.
„Du hast ja recht.“ Sie beugte sich hinunter und streichelte ihn. „Von so einem Mist sollte ich mir nicht den Tag verderben lassen.“
Entschlossen klickte sie die Mail weg. Vielleicht erledigte sich das Thema ja von selbst, wenn sie es ignorierte.
Laura hörte die Klingel und Augenblicke später kam Leben in den Vorraum. Gedämpfte Stimmen, leises, höfliches Lachen, dann klopfte es an der Tür. Gilda trat in den Raum, eine schmale, leicht aufgeregt wirkende Frau im Schlepptau.
Laura stand auf und kam ihr entgegen. „Guten Morgen, ich bin Laura Peters.“
„Marion Gruber.“ Die Besucherin zögerte, bevor sie Lauras Hand ergriff.
Friedi kam unter dem Schreibtisch hervor, beschnüffelte die weißen Gesundheitsschuhe der Fremden, dann zog er sich wieder zurück.
„Setzen Sie sich. Hat Gilda Ihnen schon einen Kaffee angeboten?“
„Hat sie“, lächelte die Assistentin und nahm mit gezücktem Bleistift und Notizblock ebenfalls Platz.
„Ja, danke. Aber ich brauche nichts.“ Die Besucherin öffnete bis zur Hälfte den Reißverschluss ihrer beigen Winterjacke.
„Wie sind Sie denn auf uns gekommen?“
„Ach, mein Freund kennt jemanden, ich glaube, Sie sind verwandt, keine Ahnung ...“ Mit der Frage schien sie nicht gerechnet zu haben. „Ich habe über Sie in der Zeitung gelesen. Sie sind berühmt.“
Laura lächelte. „Was können wir für Sie tun, Frau Gruber?“
„Es geht in gewisser Weise um meinen Job. Ich arbeite in der Kinderpsychiatrie. Seit fünf Jahren. Und dort gibt es ... es geht um die Mädchen ... ich kann das nicht länger mitansehen. Es muss etwas passieren.“
„Was meinen Sie?“ Laura griff nach ihrem Schreibblock.
„Das Problem ist, dass ich Ihnen nichts erzählen darf. Es unterliegt der Schweigepflicht.“
„Da hilft sicher ein Blick in Ihren Arbeitsvertrag?“
Marion lachte bitter auf. „Oh, wir wurden ausführlich darüber aufgeklärt. Alles, was mit der Arbeit zu tun hat, ist vertraulich. Und wenn wir privat etwas denken oder außerhalb des Dienstortes mitbekommen, ist das nur unsere persönliche, inkompetente Meinung, die keinen Wert hat. Und die auch geheim ist.“
„Das ist ein Dilemma. Haben Sie eine Idee, wie wir diese Hürden umgehen können?“ Lauras Blick streifte über die kurzen, aubergine rot gefärbten Haare, das blasse Gesicht mit der ausgeprägten Falte zwischen den hellen Augenbrauen und das angegraute Sweatshirt, das im Ausschnitt den Ansatz eines Tattoos erahnen ließ.
„Ja.“ Marion Gruber faltete die geröteten, rauen Hände und sah Laura an: „Sie müssen recherchieren. Dann finden Sie schnell heraus, was da passiert.“
Gilda legte den Kuli auf das Tischchen und beugte sich vor. „Bitte, wir brauchen irgendeinen Hinweis. Geht es um Kindesmissbrauch? Fehldiagnosen? Vernachlässigung? Wir können nicht einfach im Trüben fischen. Wenn es etwas Kriminelles ist, sind Sie verpflichtet, das zu melden.“
Marion Gruber sah sie erschrocken an und wich zurück. „Ich weiß nicht genau, was da vor sich geht. Aber man kann nicht verhindern, dass man dies und das beobachtet. Und seine Schlüsse zieht. Allerdings habe ich keine Beweise.“
Laura versuchte es mit Besonnenheit. „Wenn ein Gewaltverbrechen vorläge, hätte Frau Gruber sicher längst die Polizei verständigt, nicht wahr? In solchen Fällen sind der Arbeitsvertrag und die Verschwiegenheitsklausel obsolet. Loten wir erst mal die anderen Dinge aus, die relevant sind.“
Die Pflegerin nickte verhalten. Sie blieb wachsam.
„Fangen wir mit uns an. Sie kennen die kommerziellen Bedingungen?“
Gilda sah Laura an und verdrehte ganz leicht die Augen. Die presste die Lippen aufeinander und nickte unmerklich. Ihre Assistentin hatte recht, ihr Vorstoß war kein Stück feinfühliger. Aber es brachte nichts, weiter herumzurätseln, wenn schon die Grundlage nicht gegeben war.
„Ja. Mein Freund meinte, das Thema sei von öffentlichem Interesse. Wenn bekannt wird, was da vor sich geht, werden Sie garantiert dafür bezahlt werden.“
„Von wem?“, hakte Laura nach.
„Vielleicht von den Behörden? Das Mädchen steht unter der Obhut des Jugendamtes. Die sind bestimmt bereit, Ihre Rechnung zu bezahlen, wenn es Ihnen gelingt, das Ganze aufzudecken und publik zu machen.“
„Das hört sich für mich nicht sehr wahrscheinlich an. Klären Sie das bitte zuerst ab. Es muss sichergestellt sein, dass wir bezahlt werden, auch wenn wir nicht die gewünschten Beweise für was auch immer finden.“
„Oh, das werden Sie. Sie haben schon ganz andere Fälle gelöst.“
„Wir werden sehen. Ihren Freund haben Sie eingeweiht?“
„Er ist auch mein Kollege und weiß über alles Bescheid. Es war sogar seine Idee, Sie einzuschalten. Er konnte nur nicht mitkommen, weil er gleich Dienst hat.“
„Ich verstehe. Dann stelle ich Ihnen jetzt ein paar Fragen, die ein bisschen allgemeiner sind. Vielleicht können Sie die beantworten.“
„Okay.“
„Wurden die Probleme gegenüber der Heimleitung oder innerhalb der Organisation angesprochen?“
„Das würde nichts bringen.“
„Also nein. Haben sich Patienten beschwert?“
Marion wiegte sich hin und her. „Viele sind nicht glücklich. Das ist normal, es gibt ja einen Grund dafür, dass sie bei uns sind. Aber ich bin nicht sicher, ob die Mädchen überhaupt ahnen ... dass sie wissen ... also ...“
„Okay. Haben sich Eltern eingeschaltet?“
„Das darf ich Ihnen nicht sagen. Aber sie konnten nichts ausrichten, sie wurden sofort von den Anwälten attackiert. Waren sogar froh, dass sie mit einem blauen Auge davongekommen sind.“
„Krass.“ Gilda sah von ihrem Schreibblock hoch und strich sich eine lange, haselnussbraune Haarsträhne hinters Ohr. „Also ist das eine Art offenes Geheimnis?“
Marion lachte bitter auf. „Jeder weiß, was passiert. Und wenn erst diese Sache rauskommt ...“
„Wir auch?“, unterbrach Laura sie.
„Jedenfalls könnten Sie es wissen.“
„Oh Mann, jetzt bin ich echt neugierig geworden.“ Gilda rückte bis zur Kante ihres Sessels vor.
„Ja, das klingt interessant. Aber wir kommen im Augenblick nicht weiter.“ Laura lächelte die Besucherin an. „Kümmern Sie sich bitte um die finanzielle Absicherung des Auftrags. Dann helfen wir Ihnen.“
„Das werde ich nicht hinkriegen.“
Laura sah auf die Uhr. „Bitte verstehen Sie, dass wir nicht pro bono arbeiten können.“
Marion Gruber nickte mit hängendem Kopf und erhob sich, als läge eine schwere Last auf ihren Schultern. Sie sagte nicht ‚die armen Mädchen‘, aber Laura konnte es trotzdem hören.
„Es gibt bestimmt Stellen, an die Sie sich wenden können“, versuchte sie, ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. „Vereine, die sich um die Rechte von Patienten kümmern. Und die das kostenlos machen. Die kennen sich mit solchen Themen aus.“
Marion Gruber reagierte nicht. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und flüchtete geradezu aus dem Büro.
Gilda sprang auf und lief ihr hinterher.
Laura seufzte.
Und hoffte, dass sie keinen Fehler gemacht hatte.
Wenig später klopfte es und Gilda kam mit zwei Tassen zurück. „Ich weiß doch, dass du mindestens noch einen Kaffee brauchst, um auf Betriebstemperatur zu kommen.“
„Wohl wahr“, murmelte Laura und drückte auf den Send-Button, um eine Antwort mit ihren Geschäftsbedingungen an einen Interessenten zu schicken. Dann drehte sie sich mit dem Schreibtischstuhl zu Gilda um: „Was hältst du von Marion Gruber?“
„Schwer zu sagen. Das klang alles sehr dramatisch, obwohl sie uns gar nichts gesagt hat. Oder vielleicht gerade deshalb.“
„Ja. Es kommt mir merkwürdig vor, dass es etwas Skandalöses oder Kriminelles geben soll, bei dem Kinder gefährdet sind und von dem jeder weiß, und keiner etwas dagegen unternimmt.“
„Die Welt ist voll davon“, sagte Gilda düster. Sie setzte sich in einen Sessel, streifte die Sneakers ab, zog die dünnen Jeansbeine an den Körper und schlang die Arme darum.
„Du hast recht. Streich, was ich gesagt habe.“ Laura seufzte. „Ich fühle mich mies, weil ich sie weggeschickt habe. Aber was soll ich denn tun? Und wer weiß, ob es stimmt, was sie angedeutet hat. Vielleicht ist sie unzufrieden in ihrem Job? Oder ihr soll gekündigt werden und sie versucht, ihren Arbeitgeber unter Druck zu setzen? Es gibt so viele Möglichkeiten.“
„Glaubst du, sie kriegt das Geld für den Auftrag zusammen?“
„Wenn es eine ernste Sache ist, vielleicht. Aber wenn es sich nur um Hirngespinste handelt, sicher nicht.“
„Ich hoffe, du hast recht.“
„Ich auch.“
„Und wenn ich schon ein bisschen recherchiere? Einfach mal gucke, was in dem Heim los ist? Wer da arbeitet? Ob es Skandale gab?“
„Im Moment haben wir anderes zu tun. Wir müssen Aufträge akquirieren und sollten damit vor allem Geld verdienen.“
„Das wird nicht zu kurz kommen. Mich beunruhigt das Thema. Und wenn ich herausfinde dass jemand den armen, hilflosen Mädchen ...“ Gildas raue Stimme bekam einen drohenden Unterton.
„Stopp, stopp, stopp.“ Laura hob abwehrend die Hände.
Gilda lachte. „Keine Alleingänge. Versprochen!“
„Unbedingt! Du wirst jeden Schritt mit mir absprechen. Wer weiß, was hinter dieser Geschichte steckt. Diese Heime sind mir suspekt. Denk nur an unseren Fall mit dem Mann, der als Kind von Priestern missbraucht worden ist. Er lebte unauffällig vor sich hin, bis ihn die Erinnerung traf. Und dann brach die Hölle los.“
„Wie könnte ich das vergessen? Ich wurde in den Atombunker unter dem Hauptbahnhof verschleppt ...“ Gilda senkte leicht den Kopf, ließ die langen Haare wie einen Vorhang vors Gesicht fallen und strich abwesend über die Narbe einer großen Brandwunde auf dem rechten Handgelenk.
„Geht es dir gut? Vielleicht solltest du mal mit einem Experten sprechen.“
Die Assistentin sah auf und ihr strahlendes Lächeln kam wieder zum Vorschein. „Alles gut. Du weißt doch, die Rechnung mit den Tätern ist beglichen. Ich bin kein Opfer. Das Thema ist erledigt.“
Laura fühlte sich hilflos, aber sie zwang sich, nichts weiter dazu zu sagen. Die Geschichte war zu komplex, um sie in fünf Minuten beim Kaffee aufzuarbeiten. Gilda hatte nie erzählt, was man ihr angetan hatte, als sie in dem unterirdischen Labyrinth gefangengehalten worden war, und mauerte, wenn Laura das Thema ‚seelische Belastung‘ anschnitt, oder zog ihre Besorgnis ins Lächerliche. „Du kannst ein bisschen recherchieren. Aber vorsichtig. Und nur in den Leerzeiten.“
„Ja, klar.“
„Gut.“ Laura lehnte sich zurück, nahm einen Schluck Kaffee und starrte durch die Scheiben der Flügeltür in den winterlich tristen Garten. „Ich verstehe dich ja. Nicht alle Institutionen sind schlecht für Kinder. Aber Erwachsene, die es auf sie abgesehen haben, suchen sich natürlich Berufe, wo sie Macht über sie ausüben können. Es ist zum Verrücktwerden.“
Gilda ballte die Hände zu Fäusten. „Ja, das kann einen wahnsinnig machen.“
„Aber du hast dich bitte im Griff. Wenn du herausfindest, dass in dem Heim etwas vor sich geht, kommst du zu mir. Du regelst das nicht wieder allein.“
Gilda nickte. „Klar. Ich habe meine Lektion gelernt. Du würdest mir sonst den Kopf abreißen.“
„Das ist nicht der Grund! Selbstjustiz ist einfach nicht richtig. Und viel zu gefährlich. Aber vor allem, ich wiederhole: Es. Ist. Nicht. Richtig.“
„Jahaaa. Verstanden.“
Laura sah sie an und konnte nur hoffen, dass sie es ernst meinte, denn das Glitzern in Gildas Augen machte sie misstrauisch. Zweimal war ihre Assistentin auf eigene Faust losgezogen, um selbst für Gerechtigkeit zu sorgen, nachdem die Behörden versagt hatten. Und zweimal hatte es in einer Katastrophe geendet. Beim ersten Mal hatte Laura es noch auf ihre Unerfahrenheit und ihren Leichtsinn geschoben, beim zweiten Mal hatte sie jedoch erkannt, dass Gildas Gerechtigkeitssinn übermächtig und fester Bestandteil ihrer Persönlichkeit war.
„Dann mache ich mich an die Arbeit.“ Gilda stand auf und schnappte sich den Notizblock, den sie nach Marion Grubers Besuch auf dem Tischchen liegengelassen hatte. „Und was hast du vor?“
Doch bevor Laura antworten konnte, klingelte es an der Haustür.
Bobby Schulze lehnte am Küchenfenster, die Stirn an die eiskalte Scheibe gedrückt, und starrte mit leerem Blick hinab auf die belebte Straße. So verbrachte er meist seine Zeit, bevor die Mittagsschicht anfing. Regungslos dastehend und seinen Gedanken ausgeliefert.
Wie ein Gefangener.
In seinem eigenen Körper.
Er hatte sich das angewöhnt, als er noch klein war. Man konnte nicht so viel falsch machen, wenn man sich still verhielt. Nicht auffiel. Nicht störte. Anfangs hatte er sich sogar versteckt. Unter dem Bett. War bis in die hinterste Ecke gekrochen und hatte sich dort eingerollt. Doch sie waren unglaublich wütend geworden, wenn sie ihn suchen mussten. Deshalb war er dazu übergegangen, nur noch sein Ich tief in seinem Inneren abzukapseln. Physisch anwesend zu sein, aber nicht mit seinem Geist.
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus der Lethargie.
Er drehte sich um, nahm das Handy vom Küchentisch und meldete sich mit seinem vollen Namen.
Obwohl die Anruferin ihm sehr vertraut war.
„Hi, Bobby. Hier ist Marion Gruber.“
Auch sie nannte immer ihren vollen Namen.
Dabei waren sie seit drei Monaten ein Paar.
„Wie ist es gelaufen?“
„Schlecht. Sie wollen natürlich Geld von uns für den Auftrag und das können wir uns nicht leisten. Dass die Aufdeckung des Falls im öffentlichen Interesse ist, haben sie nicht geschluckt. Oder es ist ihnen egal.“
Bobby sagte nichts. Wenn zu viele Gefühle auf ihn einstürmten, wurde er stumm.
„Jetzt reg dich nicht auf. Vielleicht können wir ein paar Patienteneltern überreden, uns finanziell zu unterstützen. Oder wir finden einen anderen Weg.“
Wörter wirbelten durch seinen Kopf, doch keines fand den Weg durch seinen Mund nach draußen.
„Konzentrier dich aufs Atmen!“ Marions Stimme wurde schrill. „Ich schwöre dir, wir kriegen das hin! Glaub mir!“
Er nahm das Handy vom Ohr. Tippte auf den roten Button. Legte es sorgfältig auf die Tischplatte zurück.
Machte drei Schritte zum Küchenschrank. Nahm ein Glas heraus. Sah es einen kurzen Moment an.
Dann schmetterte er es, ohne es loszulassen, auf die Küchenplatte.
Die Scherben gruben sich tief in sein Fleisch. Hellrot glänzendes Blut breitete sich um seine Hand herum aus. Der Schmerz fuhr mit Verspätung, doch dann gleißend wie ein Blitz in sein Gehirn.
Und brachte die Dämonen zum Schweigen.
Für einen kurzen, friedvollen Augenblick.
Sie hörte Gelächter und wusste sofort, wer gekommen war.
„Barbara!“
Barbara Hellmann war Lauras beste Freundin. Schon seit Ewigkeiten. Sie hatten sich in der Schule kennengelernt in einer Phase, als Laura ihre Zeit vor allem mit Lesen, Chemieexperimenten und der Lösung mathematischer Rätsel verbracht hatte. Sie hatte als Streberin gegolten, weil die Mitschüler sich nicht vorstellen konnten, dass sie sich tatsächlich für die Dinge interessierte, die sie als langweiligen Kram abtaten. Und die Jungs hatten sie nur beachtet, wenn sie von ihr die Hausaufgaben abschreiben wollten. Umso mehr war sie überrascht gewesen - und zu Beginn auch misstrauisch –, als ausgerechnet das beliebteste Mädchen der Klasse sich mit ihr treffen wollte: Barbara.
Sie war offen, lustig, selbstbewusst und alle wollten mit ihr befreundet sein. Ihre Outfits wurden von den Mitschülerinnen kopiert und die Jungs standen bei ihr Schlange. Die Nachmittage mit Klavierüben zu verbringen, hätte bei jedem anderen Mädchen uncool gewirkt, an ihr wurde es bewundert.
Sie waren ein ungleiches Paar, doch sie liebten es, zusammen abzuhängen und über Gott und die Welt zu reden. Und über Jungs.
Nach dem Abitur waren ihre Lebenswege sehr unterschiedlich verlaufen. Barbara war jetzt eine gefeierte Pianistin mit besten Kontakten zur Bonner Society, während Laura sich als Detektivin eher im zwielichtigen Milieu der Subkulturen bewegte. Doch eins hatte sich nie geändert: Sie quatschten immer noch die Nächte durch und fanden nur schwer ein Ende.
Die Freundin tauchte im Türrahmen auf und verbreitete eine Aura aus kalter Luft, guter Laune und dem Aroma von Zimt, Schokolade und einem Hauch Orange.
Laura winkte sie herein. „Du duftest wie ein Weihnachtstee.“
Barbara lächelte und zog sich eine schwarze Beanie von den goldenen, schulterlangen Locken. „Das Parfüm habe ich von Simon bekommen. Findest du es zu intensiv?“
„Nein, sehr angenehm. Hat er gut ausgesucht. Du hast mir gar nicht erzählt, dass du wieder Kontakt zu ihm hast?“
„Er hat sich gestern zum ersten Mal seit langer Zeit blicken lassen. Davor war ja ewig Funkstille. Aber das ist okay. Vielleicht hat er das nach der Scheidung gebraucht. Und in dem Alter hat man sowieso andere Dinge im Kopf, als sich um seine Ex-Stiefmutter zu kümmern, oder? Als ich noch mit Heinolf verheiratet war, hatte ich ja auch nicht viel mit ihm zu tun. Er wohnte nicht zu Hause und hat den Großteil der Ferien bei seiner Mutter verbracht. Ich kann an den Fingern einer Hand abzählen, wie oft ich ihn gesehen habe.“
„Freut mich für dich, dass er sich gemeldet hat. Du hast ihn immer sehr gern gehabt. Er ist ja auch ein echt netter Kerl.“ Das „Ganz-anders-als-sein-Vater“ schluckte sie hinunter. „Was führt dich zu uns? Bist du nicht in Klausur, um für dein Konzert zu üben? Du wolltest doch nichts anderes mehr machen als Klavierspielen und nicht gestört werden, bis die Veranstaltung vorbei ist.“
„Eigentlich schon. Aber Simon hat mir etwas erzählt, das mir nicht aus dem Kopf geht.“
Laura dirigierte Barbara zu einem Sessel und nahm ihr gegenüber Platz. „Schieß los.“
„Wahrscheinlich ist gar nichts an der Sache dran.“
„Geschenkt. Worum gehts?“