Zweiundsiebzig - Patricia Weiss - E-Book

Zweiundsiebzig E-Book

Patricia Weiss

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Beschreibung

"Nur wenige Meter vor sich sah sie eine Gestalt, dunkel gekleidet, Kapuze auf dem Kopf, in den Händen eine dicke Stange. Davor lag ein großes Bündel, zusammengerollt. Ein Mensch, Beine eng an den Bauch gezogen, Arme schützend um den Kopf geschlungen. Die Waffe sauste nach unten. Immer wieder drosch der Täter auf das Opfer ein. Traf den Körper, die Arme, den Kopf. Im fahlen Licht des Mondes glaubte Anisha, bei jedem Schlag das Blut spritzen zu sehen ..." Ein brutaler Mord erschüttert das beschauliche Bad Godesberg. Auf einem Parkplatz wird ein Junge erschlagen, die Zeitungen sprechen von einer Übertötung, die Polizei geht von einem Zufallsopfer aus. Doch das Verbrechen wurde von einer Gruppe Jugendlicher beobachtet, und der Täter setzt nun alles daran, sie aufzuspüren. Detektivin Laura Peters, die nach einem verschwundenen Jungen sucht, muss feststellen, dass die Fälle miteinander verbunden sind. Die Recherchen führen sie in islamistische Kreise, und die Hinweise verdichten sich, dass ein Attentat geplant ist. Als ein weiterer Mord passiert, gerät auch das Team der Detektei Peters ins Visier des Mörders, und es beginnt ein mörderischer Wettlauf gegen die Zeit.

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Seitenzahl: 414

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Zweiundsiebzig
Das Buch
Die Bücher von Patricia Weiss
Kontakt
Impressum
Der Kampf des IS gegen Mädchen und Frauen
1 Drei Jahre zuvor, Syrien
2 Nacht von Freitag auf Samstag, Rheinallee, Bad Godesberg
3 Montag, Bad Godesberg
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18 Drei Jahre zuvor, Syrien
19 Sieben Monate zuvor, Euskirchen
20 Dienstag, Düsseldorf
21 Dienstag, Bad Godesberg
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33 Drei Jahre zuvor, Syrien
34 Mittwoch, Bad Godesberg
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44 Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, Köln
45 Drei Jahre zuvor, Syrien
46 Donnerstag, Bad Godesberg
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55 Drei Jahre zuvor, Syrien
56 Donnerstag Nachmittag, Bad Godesberg
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64 Freitag, Bad Godesberg
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73 Samstag, Bad Godesberg
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81 Sonntag, Bad Godesberg
Nachbemerkung

Impressum neobooks

Zweiundsiebzig

Der dritte Fall für Laura Peters

Kriminalroman

von

Patricia Weiss

Das Buch

Ein brutaler Mord erschüttert das beschauliche Bad Godesberg. Auf einem Parkplatz wird ein Junge erschlagen, die Zeitungen sprechen von einer Übertötung, die Polizei geht von einem Zufallsopfer aus. Doch das Verbrechen wurde von einer Gruppe Jugendlicher beobachtet und der Täter setzt nun alles daran, sie aufzuspüren.

Detektivin Laura Peters, die nach einem verschwundenen Jungen sucht, muss feststellen, dass die Fälle miteinander verbunden sind. Die Recherchen führen sie in islamistische Kreise und die Hinweise verdichten sich, dass ein Attentat geplant ist.

Als ein weiterer Mord passiert, gerät auch das Team der Detektei Peters ins Visier des Täters und es beginnt ein erbarmungsloser Wettlauf gegen die Zeit.

Die Bücher von Patricia Weiss

Zweiundsiebzig ist der dritte Roman, in dem Laura Peters mit ihrem Team ermittelt.

Die gesamte Laura-Peters-Reihe mit Das Lager, Böse Obhut, Moloch Unsterblich, Monströse Moral, Verlassene Seelen und die Halloween-Novellen Cäcilie und Escape If You Can sind als Taschenbuch und als E-Book erhältlich im Internet, zum Beispiel auf der Autorenseite

https://www.patriciaweiss.de

Kontakt

Mehr Informationen finden Sie auf der Facebook-Seite Patricia Weiss – Autorin, auf X (Twitter) Tri_Weiss, auf Instagram tri_weiss und auf YouTube Patricia Weiss Autorin.

Zweiundsiebzig

Der dritte Fall für Laura Peters

Kriminalroman

von

Patricia Weiss

Impressum

Texte: © Copyright by Patricia Weiss

c/o

Relindis Second Hand

Gotenstr. 1

53175 Bonn

[email protected]

Covergestaltung und Foto: Patricia Weiss

Covermodel: Patricia Weiss

Lektorat: Katharina Abel

Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlichung: 2018

Zweiundsiebzig ist als Taschenbuch und als E-Book erhältlich.

Nichts ist so gefährlich wie ein Buch.

Laura Peters

Für meine two and a half men.

Der Kampf des IS gegen Mädchen und Frauen

Viele Tausend Mädchen und Frauen wurden vom IS verschleppt, furchtbar gequält, an die Kämpfer verschenkt oder auf Sklavenmärkten als Sklaven verkauft.

Doch es sind nicht nur die Männer des IS, die sich diese Mädchen als Sklaven halten.

In einem Bericht des Human Rights Council heißt es, dass die Mädchen auch an Männer aus Saudi Arabien, dem Irak, Syrien, Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Kasachstan, Sudan, und Usbekistan verkauft wurden.

Und auch an Männer aus der Türkei.

Und aus Australien.

Und sogar Belgien.

Und die meisten dieser Mädchen müssen immer noch jeden Tag dieses Martyrium als Sklavin erleiden.

1 Drei Jahre zuvor, Syrien

Es passierte mitten am Tag.

Nicht nachts, wie sie es erwartet hatten, im Schutz der Dunkelheit, in der man den Überfall erst bemerkte, wenn er bereits im Gange war, sondern als die Sonne am höchsten Punkt stand und sie noch damit beschäftigt waren, die Flucht vorzubereiten.

Warum waren sie nicht früher aufgebrochen?

Jedes Mal, wenn sie daran zurückdachte, stellte sie sich diese Frage. Sie kreiste in ihrem Kopf wie ein summendes, bösartiges Insekt, das immer wieder zustach, sie quälte und das sie nicht verscheuchen konnte.

Ihr Vater hatte bereits Tage vorher gewusst, dass sie kommen würden. Die verheerenden Nachrichten aus den nur wenige Kilometer entfernten Dörfern hatten sich in rasender Geschwindigkeit herumgesprochen. Es war klar, dass Flucht die einzige Rettung war. Für Ungläubige und Teufelsanbeter, wie sie von ihnen beschimpft wurden, gab es keine Gnade. Trotzdem hatte Vater sich mit den anderen Männern tagelang beraten und überlegt, was zu tun sei. Natürlich war es nicht leicht, sich zu entschließen, alles Hab und Gut zurückzulassen und irgendwo neu anzufangen, wo man nicht erwünscht war.

Aber war es besser zu sterben?

Erst als die Nachricht kam, dass sie den Nachbarort dem Erdboden gleichgemacht hatten und auf dem Weg ins Dorf waren, hatte er eingewilligt.

Fieberhaft hatten sie das bisschen Schmuck und Geld in den Kleidern, die sie am Leib trugen, versteckt. Die Sachen von bescheidenem Wert hatten sie ganz hinten in die Schränke geschoben, in der armseligen Hoffnung, hinter den Schüsseln würde niemand suchen. Und den Ziegen im Stall hatte sie die Eimer randvoll mit Wasser gefüllt. Mitnehmen konnten sie die Tiere nicht.

Die Unruhe auf der Straße spürten sie alle gleichzeitig. Dann hörten sie die dröhnenden Motoren der Militärautos. Kommandos wurden gebrüllt, ein Schuss, angstvolle Schreie gellten zum Himmel. Aus dem Hof gab es keinen Fluchtweg. Sie stürzten zurück ins Haus.

Zu spät.

Durchs Fenster sahen sie, dass ein Geländewagen vorfuhr. Fünf bärtige Männer, in grün-grauen Kampfanzügen und mit Gewehren im Anschlag sprangen vom Wagen und schwärmten in verschiedene Richtungen aus. Einer lief auf die offene Haustür zu, dann stand er vor ihnen. Im gleißenden Gegenlicht der Sonne zeichneten sich nur seine Silhouette und das Gewehr ab. Erst als er zwei Schritte in den Raum hinein machte, waren harte Gesichtszüge und eine Sonnenbrille zu erkennen. Mit der entsicherten Waffe und scharfen Worten, die sie nicht verstand, scheuchte er sie aus dem Haus.

Mutter legte die Arme schützend um sie und die zwei Schwestern, Vater nahm den Jüngsten hoch. Der ältere Bruder ging gesenkten Hauptes zwischen ihnen und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen.

Hinter dem Jeep stand ein Transporter mit offener Ladefläche. Einer der Bewaffneten zerrte ein Mädchen am Arm zu dem Fahrzeug und stieß es grob in den Rücken. Es stürzte vorwärts, konnte sich jedoch am Laster abfangen und kletterte ungeschickt hinauf. Drei weinende Mädchen knieten bereits dort und bettelten um Gnade oder schrien nach ihren Müttern. Die Familienangehörigen wurden weggezerrt.

Der Lärm war unbeschreiblich.

Der Mann griff ihr grob unter das Kinn, riss ihren Kopf hoch, dann zerrte er sie am Arm mit sich. Tief in ihrer Haut spürte sie die Fingernägel ihrer Mutter, die sie nicht loslassen wollte, doch es gab kein Entkommen. Er schleuderte sie gegen den Laster, dann krachte der Gewehrkolben in ihren Rücken. Vor Schmerz schrie sie auf und zog sich mit letzter Kraft auf die Ladefläche.

Angstvoll sah sie zu ihrer Familie. Der Vater hielt mit dem einen Arm den kleinen Sohn umklammert, mit dem anderen gestikulierte er bittend zu den Männern. Ihre Mutter weinte, flehte, schrie. Sie konnte sie in dem Lärm nicht heraushören, aber sie konnte es sehen. Der Mann ging zurück und wollte die Schwestern begutachten, doch die Mutter ließ es nicht zu. Die Arme um die Schultern der Mädchen gelegt, drehte sie sich zur Seite, wollte sie mit sich fortzerren.

Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, hob der Mann sein Gewehr und schoss ihr in den Kopf.

Die Mutter sackte zusammen, begrub die beiden Töchter unter sich. Ihr Blut mischte sich mit dem Staub der Straße zu einem dicken, rot-klebrigen Brei. Hilflos und schreiend versuchten die Mädchen, sich zu befreien, unter ihr hervorzukriechen. Der Vater rührte sich nicht. Er hielt den kleinen Bruder so fest im Griff, dass dieser kaum atmen konnte. Ohne nachzudenken, warf sie sich gegen die Seitenstreben des Transporters. In ihrem Kopf gab es nur maßloses Entsetzen und den unbezwingbaren Drang, die Mutter zu retten, die Schwestern.

Wie aus dem Nichts traf ein Schlag ihren Kopf. Sterne zerplatzten wie Feuerwerk vor ihren Augen.

Dann wurde es schwarz.

Das Erste, was sie wahrnahm, war das Rütteln, das durch ihren ganzen Körper ging. Und ihren Kopf, der bei jedem Stoß schmerzte. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Es war stockdunkel.

Wo war sie?

Nur langsam wurde ihr bewusst, dass sie über Land fuhr, dass es der Sternenhimmel war, den sie über sich sah, und dass es menschliche Leiber waren, gegen die sie immer wieder geschleudert wurde. Schemenhaft erkannte sie Gestalten um sich herum. Frauen, Mädchen. Bestimmt zwanzig. Sie waren zusammengepfercht wie Hühner in einem Käfig. Die Köpfe hielten sie gesenkt, bei manchen zuckten die Schultern vom Weinen. Oder war es die unbefestigte Straße, die ihre Körper erschütterte? Vorsichtig tastete sie ihren Hinterkopf ab, fühlte eine dicke, pochende Beule, Haarsträhnen klebten in der verkrusteten Wunde. Der Fahrtwind der kalten Nacht und der Gedanke an das Schicksal ihrer Familie trieben ihr die Tränen in die Augen. Sie meinte, den Geruch von Fäkalien wahrzunehmen. Von wem er kam, konnte sie nicht ausmachen.

Vielleicht von ihr selbst.

Niemand sprach ein Wort. Sie hätte gerne Fragen gestellt. Irgendwelche. Um sich zu orientieren. Um zu hören, dass alles gut war. Aber ihr Gehirn schmerzte, war nicht in der Lage, sinnvolle Sätze zu bilden, und ihr Mund blieb stumm.

So fuhren sie durch die Nacht über die holperige Piste.

Wie lange waren sie unterwegs? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Stunden oder Minuten mischten sich mit Schmerzen und Orientierungslosigkeit. Erst als am Horizont das rot-warme Glühen des Sonnenaufgangs sichtbar wurde, kam ein Funken Lebensenergie zurück in ihren Körper. Sie wollte nur noch ankommen. Irgendwo. Nichts konnte schlimmer sein als diese Ruckelei in der bedrängenden Enge mit den anderen Mädchen.

Doch sie irrte sich.

2 Nacht von Freitag auf Samstag, Rheinallee, Bad Godesberg

Die Bushaltestelle war eine Insel aus Licht in der Dunkelheit.

Mit unsicheren Beinen kletterten und taumelten sie aus dem Bus. Zum Glück hatte der Fahrer sie mitgenommen, obwohl sie ziemlich getankt hatten. Anisha wartete, bis alle sicheren Boden unter den Füßen hatten, und stieg als Letzte aus. Sie hatte nur ein paar Wodkas getrunken und war, verglichen mit den anderen, einigermaßen nüchtern.

Quietschend schlossen sich die Türen hinter ihr, der Fahrer gab Gas. Die Gruppe hatte sich in der Rheinaue getroffen und den lauen Abend mit Trinken verbracht. Wie das alle bei schönem Wetter machten, die nicht alt genug waren, um in Bars abzuhängen. Eigentlich hätte Anisha längst zu Hause sein müssen, sie hatte nur Ausgang bis halb elf, doch sie war so froh gewesen, dass die Gruppe sie mitgenommen hatte, dass sie ausgeharrt hatte.

Schwarze Mädchen hatten es nicht immer leicht, Freunde zu finden.

Pia-Jill hatte sie gefragt, ob sie mitkommen wollte. Ein paar Drinks kippen, bisschen Spaß haben, chillen mit ihr, ihrem Freund Göran und den Kumpels. Sie hatte begeistert zugesagt, obwohl sie Pia-Jill nicht sonderlich mochte. Sie hatte sie für verschlagen und ordinär gehalten. Und nach diesem Abend wusste sie, dass der Eindruck stimmte. Aber Anisha war ihr trotzdem dankbar, dass sie dabei sein durfte.

Pia-Jill schwankte gefährlich auf den hohen Schuhen. Es war sowieso ein Abenteuer, dass sie so etwas trug. Sie war so rund und schwer, dass man fürchtete, die Absätze könnten jeden Augenblick wie Streichhölzer unter ihr zusammenknacken. Ihr schmächtiger Freund Göran zog eine Dose Bier, die er mit in den Bus geschmuggelt hatte, unter der Jacke hervor. Er öffnete sie zischend, nahm einen tiefen Schluck und stopfte sie in Pia-Jills Ausschnitt zwischen ihre üppigen Brüste.

Anisha sah betreten weg.

Das hatte er schon den ganzen Abend so gemacht.

Pia-Jill als Bierhalter missbraucht.

Sie trug einen Schlauch aus T-Shirt-Stoff, der von der kugeligen Figur so gespannt wurde, dass er oben gerade noch die Spitzen der Brüste bedeckte und unten kaum bis unter den voluminösen Hintern reichte. Jedes Mal, wenn er ihr eine Dose ins Dekolleté stopfte, rutschte das Kleid unter den Busen und musste mit viel Mühe wieder hochgezogen werden. Sah Pia-Jill nicht, wie er den Kumpels zuzwinkerte und die dreckig grinsten? Doch sie lachte nur und sagte ups. Bei Anisha hatten die Jungs es auch versucht, aber das war ein aussichtsloses Unterfangen gewesen, sie war zu dünn. Oben herum war sie flach wie ein Brett, worüber sie zum ersten Mal im Leben froh war.

Warum hatte Pia-Jill Göran als Freund? Es war klar, dass er sie nur für Sex gebrauchte. Fickmaschine nannte er sie und Pia-Jill schaute geschmeichelt, wenn er das sagte. Anisha verstand das nicht. Warum ließ sie sich so von ihm behandeln? War sie so happy, einen Freund zu haben, der sich in der Öffentlichkeit mit ihr zeigte, dass sie dafür alles akzeptierte? So hässlich, wie sie war, wollte sie ansonsten vermutlich keiner anrühren. Warum wusch sie die mausgrauen Haare nicht mal, anstatt sie in fettigen Strähnen um das teigige Gesicht ringeln zu lassen? Da halfen auch die langen, pinken Kunstfingernägel nicht und das zentimeterdick aufgespachtelte Make-up.

Pia-Jill hatte ihr anvertraut, dass Göran Frauen liebte, bei denen es etwas zum Anfassen gab. Nicht solche dürren Bohnenstangen wie Anisha. Deshalb sollte sie es gar nicht erst bei ihm versuchen. Und schwarze Mädchen könne er sowieso nicht ab. Die seien hässlich und dumm.

Als wenn sie jemals so verzweifelt wäre, sich Göran an den Hals zu werfen. Er machte zwar etwas aus sich, in die kurz geschorenen Haare hatte er Blitze rasiert, er trug Markenklamotten und hatte Geld, um Alkohol zu kaufen, aber er war arschig und schmächtig. Sie überragte ihn um mindestens fünfzehn Zentimeter.

Trotzdem. Alles war besser, als zu Hause zu hocken. Einmal nicht mehr abends in der engen Wohnung mit der Familie zu sitzen. Einmal den Abend in der Rheinaue unter freiem Himmel mit Freunden zu genießen. Na ja, mit Kumpels.

Schillok, Görans bester Freund und seit der Grundschule benannt nach seinem Lieblingspokémon, stolperte hinter das Wartehäuschen. Durch die Glasscheibe sah sie ihn breitbeinig vor einem Zeitungskasten stehen. Leise plätscherte es durch die Nacht.

Dann hörten sie den Schrei.

Ein Stöhnen, Keuchen, Schläge, das Knirschen von Kies. Die Geräusche kamen vom Parkplatz neben der Bahnlinie, der komplett im Dunkeln lag.

„Was ist da los?“ Anisha packte die Angst.

Die anderen waren wie elektrisiert. Schillok schloss eilig seine Hose, Pia-Jill und Göran zückten die Handys.

„Los, kommt!“ Göran schlich gebückt vorwärts, seine Kumpel taten es ihm nach.

Pia-Jill zog die Bierdose aus dem Dekolleté und senkte den Kopf, ihr großer Bauch und die hohen Schuhe erlaubten nicht mehr Akrobatik. Anisha ging auf Zehenspitzen hinterher, gleichermaßen getrieben von Neugier und der Panik, allein zurückzubleiben. Sie bezogen Stellung hinter einem Auto, die Jungs linsten über den Kofferraum. Pia-Jill hantierte an ihrem Handy. Das Keuchen und Stöhnen und das dumpfe Geräusch von Hieben war jetzt direkt vor ihnen.

Anisha erhob sich aus der Hocke.

Nur wenige Meter vor sich sah sie eine Gestalt, dunkel gekleidet, Kapuze auf dem Kopf, in den Händen eine dicke Stange. Davor lag ein großes Bündel, zusammengerollt. Ein Mensch. Beine eng an den Bauch gezogen, Arme schützend um den Kopf geschlungen. Die Waffe sauste nach unten. Immer wieder drosch der Täter auf das Opfer ein. Traf den Körper, die Arme, den Kopf. Im fahlen Licht des Mondes glaubte Anisha, bei jedem Schlag das Blut spritzen zu sehen.

„Wir müssen Hilfe holen!“ Ihre Worte waren ein einziges Zittern. Sie wollte 'Aufhören' schreien. Doch ihre Stimme versagte den Dienst. Ihr fehlte der Mut. Ihre fahrigen, eiskalten Finger kriegten das Handy nicht zu fassen, konnten es nicht aus der Tasche des Hoodies ziehen. Ein verzweifelter Blick auf die Kumpels zeigte, dass die überhaupt nicht daran dachten, die Polizei zu rufen. Göran filmte, die Freunde gafften erregt, Schillok hatte die rechte Hand in der Hosentasche und schien sich zu reiben. Pia-Jill tippte mit langen Fingernägeln hektisch auf dem Telefon herum.

Anisha wollte sich abwenden. Sie konnte nicht ertragen, was sie sah. Dort wurde ein Mensch erschlagen. Doch sie stand wie gelähmt und starrte.

Plötzlich erhellte ein Lichtblitz die Nacht, tauchte die brutale Szene für Sekundenbruchteile in gleißende Helligkeit, ließ die Zeit stillstehen.

Der Täter hielt in der Bewegung inne, wandte sich zu ihnen um. Diabolische Augen sahen Anisha direkt an, fraßen sich in sie hinein, schienen sich bis in ihre Seele zu graben. Dann senkte er die Arme und lief über den Parkplatz davon.

„Fick dich, Pia-Jill, du bist zu blöd zum Scheißen. Jetzt hast du ihn vertrieben.“ Göran gab seiner Freundin einen kräftigen Stoß.

Die geriet ins Taumeln und fiel hart auf das Hinterteil.

„So ein Fuck“, schrie er in die Nacht.

Er trat auf Pia-Jill ein, die wie ein Mistkäfer auf dem Rücken strampelte und vergeblich versuchte, aufzustehen.

Anisha erwachte aus der Erstarrung.

Vorsichtig schlich sie um das Auto herum, näherte sich dem Opfer, von dem eine unheilige Ruhe ausging. Sie ging in die Hocke. Pia-Jill und Göran waren gefolgt und stellten sich neben ihr auf. Schillok leuchtete mit der Taschenlampe des Handys über das zerstörte, blutige Gesicht des Toten.

Anisha sah Knochensplitter, die aus Wunden ragten, blutverklebte Haarbüschel, Finger, die unnatürlich abgeknickt in alle Richtungen abstanden, und einen goldenen Ring, der für einen Augenblick im Lichtkegel aufblitzte. Göran hatte ihn auch entdeckt. Er zerrte das blutbefleckte Schmuckstück von dem lädierten Finger und steckte es, ohne es abzuwischen, in die Tasche seiner Jeans.

„Da hat sich der Abend doch noch gelohnt.“ Er grinste seine Kumpels an, dann wandte er sich zu Pia-Jill. „Jetzt bist du dran, Fickmaschine. Du hättest fast alles ruiniert mit deinem Scheiß-Blitzlicht. Jetzt zeige ich dir, was passiert, wenn man sich so dämlich anstellt.“

Er zerrte sie zum nächsten Auto und drückte sie über die Motorhaube. Mit der anderen Hand öffnete er seine Hose und die Jungs stellten sich mit gezückten Handys im Kreis um die beiden auf.

Anisha entfernte sich mit unsicheren Schritten. Sie presste die Hände auf die Ohren, um das Keuchen des kopulierenden Pärchens und das Johlen der Spanner nicht hören zu müssen. Neben einem Busch beugte sie sich vor und übergab sich. Wieder und wieder. Als wollte sie nicht nur allen Wodka, sondern auch das gesamte Böse des heutigen Abends loswerden. Dann sank sie erschöpft auf die Knie. Sie wollte nur noch nach Hause. Weg von diesem Grauen. Und weg von dem Gedanken, der ständig durch ihren Kopf kreiste.

Sie kannte den Ring.

3 Montag, Bad Godesberg

Bepackt mit Taschen und mit Tüten vom Bäcker schob sich Detektivin Laura Peters durch den Vorgarten der Altbauvilla, vorbei an wuchernden Büschen, die die Zweige nach ihr ausstreckten und mit den Blättern sanft über ihr Gesicht fuhren. Unter ihren Armen klemmten Tageszeitungen und Zeitschriften, den Schlüssel hielt sie zwar vorsorglich schon in der Hand, trotzdem grenzte es an ein Zirkuskunststück, die Tür zu öffnen, ohne etwas fallenzulassen.

Aufatmend lächelte sie der jungen Assistentin, Gilda Lambi, zu, die im Vorraum an ihrem Arbeitsplatz saß und sie erwartungsvoll ansah.

„Guten Morgen.“

„Ciao Laura.“ Gilda sprang auf, strich die langen, braunen Haare zurück, lief um den Schreibtisch herum und nahm der Chefin die Tüten ab.

„Schoko-Croissants?“

„Natürlich. Und belegte Brötchen. Die vom Kiosk auf dem Busbahnhof.“

„Wunderbar. Das sind die Besten. Ich hole uns Teller und setze Kaffee auf. Gut?“

Laura nickte. „Perfekt.“

Gildas Familie stammte aus Süditalien. Als sie in der Detektei Peters angefangen hatte, hatte sie eine Napoletana mitgebracht. Eine Metall-Kaffeekanne, die auf die Herdplatte gestellt wird, um richtigen Kaffee zu machen, wie Gilda es nannte. Doch das bittere, starke Gebräu, das in kleinen Tassen serviert wurde, hatte Laura und Marek, den zweiten Detektiv, nicht dauerhaft überzeugen können. Sie liebten den Kaffee in großen Mengen und aus großen Bechern. Die italienische Variante war wunderbar, um nach einem opulenten Essen nicht in Tiefschlaf zu verfallen, aber zum Tagesgeschäft gehörte klassischer Büro-Kaffee. Es hatte eine Weile gebraucht, bis sie die junge Assistentin überzeugt hatten. Doch mittlerweile fragte sie schon gar nicht mehr, welche Art von Kaffee sie zubereiten sollte, sondern befüllte direkt die Maschine für den Filterkaffee.

Laura öffnete die Tür zu ihrem Büro und warf die Zeitungen auf den Tisch. Die Schlagzeilen hatten alle dasselbe Thema und waren der Grund, warum sie so viele Exemplare gekauft hatte: Es hatte einen Mord gegeben. Mitten in Bad Godesberg. Ein ganz junges Opfer. Ähnlich wie vor einem Jahr. Und fast genau an derselben Stelle, wo auch der andere Junge zu Tode geprügelt worden war. Nicht weit entfernt von der Detektei Peters.

Der Mord damals hatte hohe Wellen geschlagen, die Bürger hatten sich zu Mahnwachen und Demonstrationen gegen Gewalt zusammengefunden und selbst ausländische Fernsehsender hatten darüber berichtet. Jetzt gab es wieder einen toten Jungen. Das kleine Bad Godesberg, in dem auf engstem Raum die ganze Bandbreite sozialer Schichten und kultureller Gegensätze aufeinanderprallte, kam nicht zur Ruhe.

Laura ging zu den hohen Flügeltüren, die in den Garten hinausführten, und öffnete sie. Sie betrat die Terrasse, legte den Kopf in den Nacken und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf dem Gesicht. Die Vögel zwitscherten und übertönten fast den Verkehrslärm. Was für ein schöner Tag. So friedlich und verheißungsvoll.

Es war unvorstellbar, dass ganz in der Nähe ein Junge getötet worden war.

Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, sie schlang die nackten Arme um sich. Trotz der Hitze, die bereits am frühen Morgen herrschte, war ihr innerlich kalt.

„Der Garten ist ein Urwald. Die Hausverwaltung muss irgendwann etwas dagegen unternehmen.“

Laura zuckte zusammen. Gilda war leise wie eine Katze neben sie getreten.

„Den Hausmeister kannst du vergessen. Der kommt nur, um Kaffee zu trinken, ein Schwätzchen zu halten und um dich Liebelein zu nennen. Wir müssten selbst Hand anlegen. Aber dazu haben wir keine Zeit.“

„Der Rosenbusch wuchert den halben Rasen zu. Bald wird alles so zugewachsen sein, dass wir wie zwei Dornröschen einschlafen und unsere Kunden sich nur noch mit dem Schwert Zugang verschaffen können.“

Laura kicherte. „Zum Glück kommen sie durch den Vorgarten. Da ist der Weg noch relativ frei.“

„Relativ! Aber auch nicht wirklich. Könnte sich nicht die Anwältin von oben darum kümmern? Oder ist sie zu adelig dafür?“ Gilda deutete auf den Balkon über ihren Köpfen. „Hast du eigentlich jemals mit ihr gesprochen? Ich noch nie. Und gesehen habe ich sie auch nur ganz selten. Existiert die Kanzlei überhaupt noch?“

„Ich denke schon. Ich habe sie einmal getroffen, als ich bei den Godesberger Unternehmerinnen eingeladen war. Das ist schon etwas her, kurz nach dem ersten Fall. Sie wollten, dass ich einen Vortrag über das Erfolgsgeheimnis unserer Detektei halte. Ich habe über die Bedeutung von Teamchemie, offener Kommunikation und effektivem Delegieren als Schlüsselfaktoren gesprochen. Ehrlicherweise hätte ich wohl Schoko-Croissants, Glück und Marek nennen müssen.“ Laura lachte. „Danach ist sie auf mich zugekommen und hat mich angesprochen.“

„Und? Wie ist sie so?“

Laura zuckte die Achseln. „Kaschmirpulli, Perlenkette, Siegelring. Selbstbewusst, Haare auf den Zähnen, aber ich fand sie sympathisch.“

„Verstehe, also keinen grünen Daumen. Wie du. Schade, dann bleibt es wohl an mir hängen. Vielleicht schaffe ich es am Wochenende, mich im Garten auszutoben. Ich rufe trotzdem den Hausmeister an, manchmal hat man Glück. Komm, der Kaffee ist fertig und bei der Hitze fängt die Schokolade in den Croissants an zu schmelzen.“

Laura folgte ihrer Assistentin ins Büro und überlegte, ob die knappen, ausgefransten Jeans-Shorts, das Tank-Top mit dem Logo einer Gamer-Mannschaft und die weißen Sneakers ein angemessenes Büro-Outfit waren. Sie entschied sich für ein eindeutiges Ja. Gildas lange, schlanke Beine waren glatt und gebräunt, sie wirkte korrekt angezogen, egal was sie trug.

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, drehte Gilda sich um und warf einen Blick auf Lauras Jeans. „Ist dir nicht zu warm?“

„Im Moment geht es. Und Shorts sind keine Option, ich werde leider nicht so schnell braun wie du. Fangen wir mit der Arbeit an. Was haben wir für Themen?“

„Zu den bestehenden Fällen ist einiges dazugekommen. Meine Idee, Fake-Profile in den sozialen Medien zu entlarven, ist wie eine Bombe eingeschlagen. Wir können uns vor Anfragen kaum retten. Es ist nicht zu glauben, wie viele Menschen sich im Internet ernsthaft verlieben, ohne den anderen jemals gesehen zu haben.“

„Gefälschte Profile?“ Laura ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen, trank einen Schluck Kaffee und biss genüsslich in ein Croissant.

„Ja. Accounts von Frauen bei Facebook, Twitter oder irgendwelchen Datingplattformen mit tollen, sexy Fotos, die nicht der Wirklichkeit entsprechen.“

„Vermutlich steckt jemand dahinter, der nicht ganz so hübsch, schlank und jung ist?“

Gilda lachte. „Natürlich. Fast jeder benutzt Foto-Filter, um die Realität zu schönen. Aber es gibt Leute, die stehlen Bilder und nehmen, manchmal nicht nur optisch, die Identität einer anderen Person an. Als ich die Idee hatte, dass wir die wahren Menschen hinter den Accounts finden, war mir allerdings nicht bewusst, welche Dramatik damit verbunden ist. In einem Fall hat sich ein Pärchen über zwei Jahre geschrieben. Sie sind zu Seelenverwandten geworden, wollten heiraten und ihr Leben miteinander verbringen. Es kam jedoch nie zu einem realen Treffen. Oder auch nur zu einem Video-Anruf.“

„Das ist verdächtig. Ich vermute, irgendwann wurde der Belogene stutzig und hat uns beauftragt“, vollendete Laura Gildas Wortschwall.

„Ganz genau. Leider musste ich eine schlechte Nachricht überbringen: Die Frau war nicht die langhaarige Schönheit mit den sexy Kurven und dem strahlenden Lächeln von den Bildern, sondern eine Bohnenstange mit gepiercter Oberlippe und Igel-Frisur. Unsere Kunden möchten ja die Wahrheit erfahren. Trotzdem fühle ich mich wie das Gegenteil von Eros, dem kleinen, dicken Engel, der mit seinem Liebespfeil die Paare zusammenbringt. Ich bin Luzifer, der mit den Recherche-Ergebnissen die Liebenden trennt und in die Hölle schickt.“

„Jetzt übertreib nicht. Es ist nicht deine Schuld, wenn das Glück zweier Menschen auf einer Lüge aufgebaut ist. Es wäre auf jeden Fall herausgekommen.“

Gilda verzog einen Mundwinkel, dann erschien wieder ihr strahlendes Lächeln. „Dafür macht die Entlarvung der Fuckboys alles wieder wett.“

„Bitte?“

Gilda lachte. „Fuckboys. So nennt man die Männer, die sich Frauen für Sex warmhalten, nur in der Nacht texten, wenn sie scharf sind, aber bei den Mädels die Hoffnung wecken, sie wären ernsthaft interessiert. Die sind die Pest.“

„Fuckboys“, murmelte Laura, „soso.“ Grell blitzte die Erinnerung an ihren Ex-Liebhaber auf, doch sie verscheuchte den Gedanken sofort.

Darin hatte sie Übung.

„Ja. Da tue ich echt ein gutes Werk. Ich finde für die Mädchen heraus, dass ihre Typen noch mit anderen herummachen und nicht im Traum an eine feste Beziehung denken. Das ist zuerst ein Schock, aber dann sind die Girls total dankbar.“

„Und wie bewirbst du unsere Dienstleistung? Unterstützung bei der Entlarvung eines ...“, Laura machte eine kurze Pause, „Fuckboys? Benutzt du den Fachterminus in den Anzeigen? Damit dürften wir uns definitiv von der Konkurrenz abheben.“ Sie konnte das Lachen nicht mehr unterdrücken.

„Nein. Obwohl man die wirklich so nennt. Ernsthaft.“ Gilda gluckste. „Das geht über Mundpropaganda. Du glaubst nicht, wie schnell sich das herumgesprochen hat. Täglich kommen neue Anfragen.“

„Sehr schön. Mir gefällt deine Initiative. Es ist wichtig, neue Dinge auszuprobieren und sich als Firma weiterzuentwickeln. In dem Unternehmen, in dem ich früher angestellt war, hieß es immer, Stillstand ist Rückschritt. Da ist was Wahres dran. Aber zurück zum klassischen Teil unserer Dienstleistungen: Steht heute etwas Spezielles an?“

Gilda nickte. „Gleich kommt eine frühere Schulkameradin von mir. Wir haben am Freitag telefoniert. Sie hat nicht gesagt, worum es geht, aber sie möchte unsere Hilfe in Anspruch nehmen. Kannst du bei dem Treffen dabei sein?“

„Wenn es deiner Freundin nicht unangenehm ist, kein Problem. Ich bin flexibel. Keine Termine.“

„Kommt Marek heute?“ Gilda blies unschuldig in den heißen Kaffee.

„Weiß ich nicht.“ Lauras Stimme wurde kratzig, das Croissant, auf dem sie herumkaute, schmeckte plötzlich nach Sägemehl.

Da sie nichts weiter sagte, stand Gilda auf und räumte das Geschirr zusammen. „Ich muss noch viel erledigen, wir sehen uns nachher.“

Laura nickte nur.

Ihr Blick wanderte über die Wände des Büros. Streifte die Magnetleisten, die blank und kahl waren, weil es zurzeit keine Fälle gab, die tiefer diskutiert werden mussten, flog über die Lithografie der kämpferischen Brunhild aus der Nibelungensage, die sie von ihrer Freundin Barbara zur Firmengründung geschenkt bekommen hatte, und blieb schließlich auf den gerahmten Zeitungsausschnitten mit den Fotos des Teams der Detektei Peters ruhen.

Sie nahm die Kaffeetasse und stand auf, um sie aus der Nähe zu betrachten. Der Empfang im Bonner Rathaus. Der Bürgermeister hatte sie nach der Lösung des ersten, großen Falles eingeladen, um sich persönlich bei ihnen zu bedanken, und Presse, Funk und Fernsehen dazu gebeten. Sie erinnerte sich, dass er viel zu lange ihre Hand geschüttelt hatte, um allen Journalisten die Gelegenheit zu geben, sein Nussknacker-Lächeln im Großformat zu knipsen. Wie unwohl sie sich gefühlt hatte, zeigte ihr angespannter Gesichtsausdruck. Sie gefiel sich gar nicht auf dem Foto. Aber damals hatte sie eine Trennung und eine schwere Zeit hinter sich gehabt. Mittlerweile waren die nach der gescheiterten Beziehung in einem Anfall von Verzweiflung selbst abgeschnittenen Haare zum Glück wieder gewachsen und reichten bis zur Schulter. Und die türkise Bluse, von der sie gehofft hatte, sie würde ihr deutlich besser stehen, war nach dem Termin kurzerhand in die Kleidersammlung gewandert. Nur die Abneigung gegen öffentliche Auftritte hatte sie bis heute nicht ablegen können.

Neben ihr auf dem Foto stand ihre Freundin Barbara, die selbstbewusst strahlte und in einem orientalisch angehauchten Kleid mit tiefem Ausschnitt eine gute Figur machte. Als bekannte Pianistin war sie Publicity gewohnt und hatte Routine darin, ihre Schokoladenseite zu präsentieren.

Gilda, das Küken des Teams, lehnte auf dem Bild so dicht neben Barbara, als wollte sie sich hinter ihr verstecken. Ihr Kopf war gesenkt, die langen, glänzenden Haare verdeckten die Hälfte des Gesichts. Wie immer trug sie ausgeblichene Jeans und T-Shirt. Ein Empfang beim Bürgermeister und ein Pressetermin waren für sie kein Grund, sich extra in Schale zu werfen. Sie sah trotzdem umwerfend aus mit der grazilen Figur und den dunklen Augen. Wer sie kannte, dem fielen allerdings die Schatten unter den Augen und eine für sie untypische Blässe auf.

Beim ersten, großen Fall der Detektei war Gilda in die Fänge eines sadistischen Mörders geraten. Auch wenn sie danach behauptet hatte, es gehe ihr gut, hatte Laura das Gefühl, dass das Erlebnis ein Trauma hinterlassen hatte. Doch vor ungefähr einem halben Jahr schien die Last von Gilda abgefallen zu sein. Sie war eines Morgens wie ausgewechselt im Büro erschienen und hatte wieder so frei und zuversichtlich gewirkt, wie zu Beginn, als Laura sie kennengelernt hatte. Was diese Verwandlung in ihrem Wesen bewirkt hatte, hatte sie nicht erzählt.

Vielleicht war es einfach die Zeit gewesen, die die Wunden geheilt hatte.

Marek fehlte auf dem Zeitungsfoto. Dabei hätte er sich gut darauf gemacht: attraktiv, trainiert, in Lederjacke, Jeans und Biker-Boots. Optisch definitiv eher Action-Hero als sensibler Schöngeist. Aber er war direkt nach der Lösung des Falls verschwunden. Oder, besser ausgedrückt, er hatte sich aus dem Staub gemacht.

Weil er in Wirklichkeit nur seine eigenen Ziele verfolgt hatte.

Vermutet hatte sie das von Anfang an. Trotzdem war sie verletzt gewesen, als sich herausgestellt hatte, dass es stimmte. Und dass er sich so lange nicht gemeldet hatte, ärgerte sie heute noch. Zum Glück war er rechtzeitig wieder aufgetaucht, als sie es mit dem zweiten großen Fall zu tun bekommen hatten. Nicht nur, weil sie ihn vermisst hatte, sondern auch, weil sie ohne ihn ganz schön in Schwierigkeiten gewesen wären.

Seitdem hatte er seine Tätigkeit als polnischer James Bond, wie sie ihn gern nannte, an den Nagel gehängt und sich auf die Arbeit in der Detektei konzentriert. Er hatte sogar überlegt, als Teilhaber in die Firma einzusteigen. Voller Elan hatte er sich in die Fälle gestürzt, hatte untreue Ehemänner bespitzelt, verschwundene Familienmitglieder gefunden und Zeitungsdiebe gestellt.

Doch in letzter Zeit wirkte er rastlos, zeigte wenig Interesse an den Jobs und tauchte nur noch selten im Büro auf. Laura seufzte. Sie wusste, wie sehr er sich bemühte, ein geregeltes, normales Leben zu führen. Er wollte sein Team nicht im Stich lassen. Aber sie machte sich nichts vor. Lange würde er es nicht mehr aushalten, dieses tägliche Bad im Trivialen, im immer Gleichen. Er brauchte die Herausforderung, die Gefahr, den Adrenalin-Kick wie die Luft zum Atmen. Irgendwann würde er gehen. Und sie würde ihn nicht aufhalten können. Aber sie konnte sich darauf vorbereiten. Sie musste Verstärkung finden. Einen Detektiv, der die Lücke ausfüllen konnte, die Marek hinterlassen würde.

Und das möglichst bald.

4

Eine Stunde später hörte Laura die Türklingel, dann gedämpftes, erregtes Gemurmel und Schluchzen im Vorraum. Doch erst nach einer Weile bewegte sich die Klinke der Bürotür und zwei Mädchen schoben sich in den Raum: Gilda, die die Haare oben auf dem Kopf zu einem wilden Dutt geschlungen hatte, und dahinter ein molliges Wesen mit verweintem Gesicht, Kopftuch und maritimem Ringel-T-Shirt, das mindestens zwei Nummern zu klein war. Die Linien, eigentlich als Querstreifen gedacht, wanderten in abenteuerlichen Bögen über einen üppigen Busen und darunter liegende Rollen und Dellen. Die Nase lief, die schwarzen Augen sahen Laura misstrauisch an.

„Guten Morgen, immer herein.“ Sie erhob sich und setzte ein munteres Lächeln auf. „Sie müssen Gildas Schulfreundin sein.“

Gilda zog die Besucherin vollends in den Raum. „Das ist Merve, eine frühere Klassenkameradin. Soll ich dir noch einen Kaffee holen?“

„Danke, das mache ich gleich selbst. Wollt ihr euch setzen?“ Laura wies auf die hellblauen Besuchersessel.

Ihre Assistentin warf einen fragenden Blick auf die Bekannte, dann zuckte sie die Achseln. „Merve, möchtest du uns beauftragen? Du musst nicht mit uns sprechen. Du bist freiwillig hier.“

Die junge Frau schluchzte und wischte sich mit plumpen Fingern durch das Gesicht. Über ihrem Arm hing ein schwarzer Mantel, von dem ein strenger Geruch ausging, der sich schnell im ganzen Raum verbreitete. Laura verspürte einen Anflug von Übelkeit. Das Mädchen sagte keinen Ton, schniefte vor sich hin und schien sich immer tiefer in ihr Kopftuch und den Panzer aus Speck zurückzuziehen.

Laura bekämpfte die Gereiztheit. Es kam vor, dass Klienten plötzlich unschlüssig wurden. Und auch, dass sie weinten. Vor allem Frauen. Fast jedem Auftrag, den sie erhielten, war aufseiten des Auftraggebers eine Phase des Kummers oder Ärgers vorausgegangen. Aber es machte einen Unterschied, ob ein schöner, sympathischer Mensch weinte oder ein mürrisches Teiggesicht, das den Mund nicht aufkriegen wollte und streng roch. Laura wusste, wie unfair ihre Gedanken waren, und bemühte sich, den Anflug von schlechtem Gewissen mit aufgesetzter Freundlichkeit zu kompensieren.

„Kann ich etwas für Sie tun? Nehmen Sie sich Zeit. Möchten Sie ein Stück Schokolade? Ist gut für die Nerven. Oder einen Kaffee? Verdammt noch mal!“ Laura fing Gildas verwirrten Blick auf und fügte geistesgegenwärtig „Ist das heiß!“ hinzu. Ihr Büro roch sauer nach Mensch, das Mädchen war bockig wie ein Esel, sie hatte ihr Bestes versucht. Sie sprang auf, ging zur Flügeltür, rüttelte an den alten Griffen, bis sie aufsprang, und sog tief die warme Sommerluft ein.

„Merve“, Gilda probierte es auf die sanfte Tour. „Jetzt erzähl uns, was dich beunruhigt. Du kannst uns vertrauen. Wir werden dich nicht bei deinen Leuten verraten.“

„Verraten?“ Laura drehte sich um, verließ jedoch nicht ihren Posten an der frischen Luft.

Gilda setzte sich auf die Sessellehne und legte den Arm um die Freundin. Laura bewunderte sie dafür. Sie schreckte wirklich vor nichts zurück. Merve entwand sich unwillig der Umarmung und betrachtete Laura mit wässrigem Blick.

„Kommen Sie.“ Lauras Lächeln funktionierte wieder. „Entspannen Sie sich. Erzählen Sie, was Sie bedrückt. Wir kriegen das wieder hin.“ Warum bemühte sie sich so um diese Person? Auf den Auftrag waren sie nicht angewiesen. Und ihr schlechtes Gewissen war in dem Mief auch schon längst wieder verflogen.

Das Mädchen faltete die molligen Hände über dem großen Bauch. „Es ist nichts. Jedenfalls nichts Schlimmes. Mein Bruder ist verschwunden. Yasin. Aber er kann auf sich aufpassen.“

„Seit wann ist er nicht nach Hause gekommen?“

„Seit ein paar Tagen. Ich habe deshalb Freitag bei Gilda angerufen.“

„Wie alt ist er?“

„Achtzehn.“

„Okay. Das ist alt genug, um eigene Wege zu gehen. Wohnt er noch zu Hause?“

„Natürlich. Er ist nicht verheiratet.“ Merves Gesichtsausdruck drückte deutlich aus, was sie von der Frage hielt.

„War er schon mal länger weg, ohne zu sagen, wo er sich aufhält?“

„Nein. So etwas macht er nicht. Er lässt die Familie nicht im Stich. So einer ist er nicht.“

„Sind Sie Türkin?“ Laura sah ihr fest in die Augen, verbot ihrem Blick, über das Kopftuch zu wandern.

„Nein, ich bin Deutsche. Ist das wichtig? Seid ihr so asi-deutsch, dass ihr nur Aufträge von Bio-Deutschen annehmt?“

Laura ignorierte den verbalen Angriff. „Nein. Wir suchen uns die Fälle zwar aus, die wir bearbeiten, aber die Nationalität des Auftraggebers spielt keine Rolle. Wir sind ja auch ein international gemischtes Team. Ich habe das nur gefragt, um mehr Informationen über das Umfeld Ihres Bruders zu bekommen.“

Sie warf Gilda einen schnellen Blick zu, die nickte knapp. Sie würde Laura später über die Details von Merves Herkunft ins Bild setzen.

„Gibt es weitere Gründe, warum Sie sich Sorgen machen? Also außer, dass Yasin nicht nach Hause gekommen ist?“

Merve zuckte die Achseln und zwirbelte an den Enden des Kopftuchs. Mehrmals wippte sie mit dem Oberkörper, dann wuchtete sie sich aus dem Sessel. „Das hier ist ein Fehler. Ich hätte nicht kommen sollen. Wir regeln das besser unter uns.“

Bevor Laura erfreut zustimmen konnte, legte Gilda dem Mädchen die Hand auf den Arm und zog sie in den Sessel zurück.

„Lass mich erzählen. Ich kenne Yasin aus der Schule und habe einiges mitbekommen.“ Sie drehte sich zu Laura um. „Merves Bruder hatte es ziemlich schwer. Er war damals Zielscheibe von üblen Streichen. Zu Hause wurde er streng erzogen“, sie machte eine kurze Pause, sah Merve an, diese nickte widerwillig. „Nach dem Realschulabschluss hat er eine Lehre als Schreiner begonnen. Die müsste er jetzt abgeschlossen haben, oder?“

Merve schüttelte den Kopf. Sie sprach kein Wort zu viel.

„Okay, also ist er noch in der Ausbildung. Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist er dort nicht glücklich. Das kann ich mir auch denken, er wirkte immer so sanft, weich, sensibel. Mehr Ästhet als Handwerker. Ach, schwer zu beschreiben. Jedenfalls kann man ihn sich kaum zwischen Dreck, Sägespänen, Lärm und dicken Brettern vorstellen. Aber ein Kopfmensch ist er auch nicht gerade.“

Langsam dämmerte es Laura, was Gilda andeuten wollte. „Ist er homosexuell?“

„Nein!“ Merve fauchte wie eine wütende Katze. „Sind Sie total bescheuert? Mein Bruder ist nicht schwul! Sie haben wohl einen an der Klatsche! Typisch deutsch!“ Gilda wollte wieder ihre Hand auf Merves Arm legen, doch die schlug sie weg. „Ihr seid solche Arschlöcher. Alle. Mit diesen schwachsinnigen Behauptungen habt ihr sein Leben zerstört.“

Gilda biss sich auf die Lippen und sah Laura an. „In der Schule wurde er 'schwule Sau' genannt. Sie haben ihn ständig damit aufgezogen, obwohl er sich für Mädchen interessiert hat. Mich hat er mal gefragt, ob ich mit ihm ausgehen möchte.“

„Was?“ Merve sah sie überrascht an. „Das habe ich gar nicht gewusst. Ihr hattet ein Date?“

Gilda schüttelte den Kopf und wich ihrem Blick aus.

„Du hast abgelehnt? Bestimmt, weil wir Muslime sind. Warst dir zu fein? Du kamst dir ja immer wie etwas Besseres vor. Nur weil deine Eltern ein Restaurant haben. Dabei bist du nichts weiter als eine blöde, italienische Schlampe. Eine Bitch. Gehst glatt als Deutsche durch.“

„Was soll das heißen?“ Gilda wurde auch laut. „Ich glaube, jetzt hackts. Du weißt genau, was die strenggläubigen muslimischen Jungs in unserer Schule über die Mädchen dachten, die mit ihnen ausgegangen sind: Sie haben sie für Hoes gehalten. Verachtet haben sie sie. Ausgenutzt. Ihre Witze über sie gemacht. Nackt-Videos von ihnen ausgetauscht. Denkst du, mit so jemandem gehe ich aus? Und du hast die Mädchen auch für Huren gehalten. Du bist keinen Deut besser.“

Die beiden waren aufgesprungen und standen sich wie Kampfhähne gegenüber.

„Ladys, beruhigt euch.“ Laura versuchte, die Wogen zu glätten. „Ich habe verstanden, dass Yasin schwierige Zeiten durchgemacht hat. Aber das ist jetzt vorbei. Oder hat das mit seinem Verschwinden zu tun? Vermutlich nicht. Ich nehme an, Sie haben bei seinen Freunden nach ihm gefragt?“ Sie sah Merve fest in die Augen.

Die schluckte, senkte den Kopf und nickte.

„Freunde? Hat er Freunde?“ Gilda zog eine Augenbraue hoch.

„Nun, er wird doch Freunde haben? Jeder hat irgendwelche Freunde oder Leute, mit denen man zu tun hat.“ Laura sah zu Merve, die zuckte die Achseln und wich ihrem Blick aus.

„Jungs, mit denen er etwas unternimmt?“

Erneutes Schulterzucken.

„Kollegen, mit denen er sich gut versteht?“

Merve schaute zur Seite.

„Er wird doch irgendjemanden haben, mit dem er sich mal trifft. Was macht er denn, wenn er nicht arbeitet? Sitzt er den ganzen Tag zu Hause?“

„Nein. Er geht in die Moschee. Und zu solchen Treffen. Er verbringt dort viel Zeit. Er ist ein guter Mensch.“ Merves Stimme war leise, fast nur noch ein Flüstern.

„Yasin? Bei den Bärten? Das glaube ich jetzt nicht.“ Gilda riss die dunklen Augen auf.

„Doch. Es gefällt ihm. Sie diskutieren viel. Über den Koran. Über das Leben. Er ist gerne dort.“

„Haben Sie diese“, Laura räusperte sich, „Leute nach ihm gefragt?“

Merve nickte.

„Die wissen also nichts.“ Jedes Wort musste sie dem Mädchen aus der Nase ziehen.

„Aber er ist doch nicht radikal geworden?“ Gilda sprach aus, was auch Laura durch den Kopf spukte.

„Nein! Spinnst du?“ Merve wurde wieder laut. Doch sie klang nicht überzeugt.

Laura merkte, dass das der Punkt war, der dem Mädchen die größten Sorgen bereitete und weshalb sie zu ihnen in die Detektei gekommen war. Sie wollte Gewissheit haben, gepaart mit Diskretion. Zu den eigenen Leuten konnte sie nicht gehen, das hätte sofort die Runde gemacht. Und der Polizei konnte sie sich auch nicht anvertrauen. Der Verdacht, mit Islamisten zu sympathisieren, konnte ihrem Bruder große Schwierigkeiten einbrocken.

Am liebsten hätte sie das Mädchen fortgeschickt und nie wieder an sie gedacht. Doch so ein Thema durfte sie nicht ignorieren. Sie setzte ein Lächeln auf und legte die Handflächen gegeneinander. „Wir wollen nicht gleich den Teufel an die Wand malen. Yasin wird schon auftauchen. Wir werden uns ein bisschen umhören, dann finden wir ihn bestimmt bald.“

„Da ist noch etwas.“ Merve kramte in der Tasche, die zusammen mit dem Mantel auf ihrem Schoß lag, zog ein zerknittertes Papier hervor und hielt es ihnen unter die Nase.

„Das können wir nicht lesen. Was steht da? Hat Yasin das geschrieben?“ Gilda sah stirnrunzelnd auf die Wörter in schön geschwungener Schrift.

„Ja, das ist von ihm. Ich habe es im Papierkorb gefunden. Anscheinend hat er einen Brief schreiben wollen und auf diesem Blatt die Formulierungen entworfen. Er möchte mit jemandem sprechen, um ihn zu warnen. Er sagt, er kenne eine Person, die alles entlarven kann. So in der Art. Er hat die beiden Sätze mehrfach umformuliert.“

„An wen ist das Schreiben gerichtet?“ Laura kniff die Augen zusammen.

„Das steht hier nicht. Ich habe doch gesagt, er hat auf dem Zettel nur geübt.“

„Okay. Aber das klingt natürlich“, Laura suchte nach der passenden Formulierung, „nach einer ernsten Sache. Auch wenn wahrscheinlich nichts Dramatisches dahinter steckt. Aber es scheint Yasin wichtig genug zu sein, um seine Worte sorgfältig zu wählen. Sonst hätte er den Brief nicht vorgeschrieben.“ Sie bemerkte Merves erschrockenes Gesicht und ruderte schnell zurück: „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin sicher, dass es sich um etwas Harmloses handelt. Wir finden Yasin und dann kann er uns erzählen, was er sich dabei gedacht hat.“

Sie streckte Merve die Hand zum Abschied hin. „Gehen Sie bitte mit Gilda zu ihrem Schreibtisch im Vorraum, da können Sie den Auftrag unterschreiben. Und verzeihen Sie, wenn ich zu direkt bin, aber Sie kennen unsere Tarife?“

„Nein, ich dachte, ihr macht das umsonst.“ Das Mädchen zog eine Grimasse und stemmte sich aus dem Sessel. „Aus alter Freundschaft.“ Sie warf einen giftigen Blick auf Gilda.

Doch die ließ sich kein weiteres Mal provozieren, sondern lachte. „Die Preise habe ich dir schon genannt. Sowie du überwiesen hast, fangen wir an.“

5

Durch die geschlossene Bürotür drangen gedämpft die Stimmen der Mädchen, die im Vorraum miteinander redeten. Laura nahm die Handtasche aus der Schreibtischschublade und zog ein Eau de Toilette hervor. Ein paarmal sprühte sie in die Luft, dann auf ihren Hals. Der Duft war nicht billig, aber um den unangenehmen Geruch aus dem Raum zu vertreiben, war ihr jedes Mittel recht. Sie hörte die Wohnungstür ins Schloss fallen und riss die Tür zum Nebenraum auf.

Gilda sah vom Computer hoch. „Du riechst aber gut.“

„Was man von deiner Freundin leider nicht behaupten kann.“

Gilda zuckte die Achseln. „Sie sind eine große Familie und teilen sich die Waschmaschine mit den anderen Mietparteien im Haus. Diese Synthetik-Mäntel müffeln leider ziemlich schnell. Sie hat zu Schulzeiten schon so gerochen. Das kam natürlich nicht gut an bei den Mitschülern. Ich habe sie darauf angesprochen, weil ich dachte, es würde ihr das Leben in der Klasse leichter machen, wenn sie etwas dagegen unternähme. Aber sie hat gesagt, ich würde spinnen und solle mich um meinen eigenen Scheiß kümmern.“

Laura ging in die Küche, um sich Kaffee nachzuschenken. „Ihr seid merkwürdige Freundinnen. Sehr viel raue Herzlichkeit. Und die Betonung liegt auf rau“, rief sie über die Schulter.

„Wir sind keine Freundinnen. Ich habe mich nur manchmal mit ihr unterhalten oder sie gefragt, ob sie bei Gruppenarbeiten mitmachen möchte. Das ist alles. Sie war immer allein. Das hat mir leidgetan.“

Laura lehnte sich an den Türrahmen und nippte an der dampfenden Kaffeetasse. „Du bist eine Heilige. Ich hätte ihre patzige, dickfellige Art nicht lange ertragen. Und erst recht nicht den Geruch.“

„Doch, hättest du“, Gilda lächelte. „Wenn du miterlebt hättest, wie oft sie von den anderen verarscht worden ist und wie einsam sie war, dann hättest du dich auch um sie gekümmert.“

Laura nahm einen Schluck Kaffee, um sich eine Entgegnung zu sparen. Sie freute sich, dass ihre Assistentin so ein positives Bild von ihr hatte, aber sie befürchtete, dass sie es in diesem Fall nicht verdient hatte.

„Merve scheint es dir nicht zu danken.“

Gilda lachte. „Nein, tut sie nicht. Du hast recht. Ich glaube, sie verabscheut mich sogar dafür. Oft hatte ich das Gefühl, sie hat mich noch mehr gehasst als die anderen, die sie jeden Tag geärgert haben. Bei denen hatte sie wenigstens einen Grund, auf sie sauer sein zu können. Ich bot ihr keine Angriffsfläche. Im Übrigen riecht sie nicht so schlimm. Du hast nur deine empfindlichen Tage, an denen du an allem herumschnupperst wie ein Hund, der einen Knochen wittert.“

Laura lachte. „Habe ich? Ist mir gar nicht aufgefallen.“ Aber es stimmte. Sie war wieder in der Phase, in der sie abgestandenes Blumenwasser quer durch die Wohnung riechen konnte, menschliche Ausdünstungen schon von weitem wahrnahm und positiv auf bestimmte Rasierwasser reagierte. Daher wohl auch die Lust, sich wieder ins Nachtleben in Köln zu stürzen und möglicherweise ein Abenteuer zu riskieren. Hormone. Fruchtbare Tage. Gut, sich dessen bewusst zu sein, dann konnte man gegensteuern. Wenn man wollte.

„Was ist mit Yasin? Kennst du ihn näher? Warum ist er wohl verschwunden?“

„Nein, ich kenne ihn nur vom Sehen. Er war in der Schule zwei Klassen unter mir. Kleinere Jungs beachtet man nicht. Ich wusste nur, dass er Merves Bruder war. Dass er mich gefragt hat, ob ich mit ihm ausgehen will, lag wahrscheinlich daran, dass ich als Einzige nett zu seiner Schwester war. Aber ich war viel zu alt für ihn.“

„Manche Männer stehen auf ältere Frauen.“

„Er war damals fünfzehn. Das geht kaum als Mann durch.“

„Geschenkt. Was ist er für ein Typ?“

„Er ist okay. Eigentlich ganz süß. Sollte man nicht glauben, wenn man Merve so sieht. Immer gepflegt, gute Figur, fast ein bisschen zu schmal. Schöne Augen mit langen Wimpern. Und coole Klamotten. Nicht gerade die teuersten Marken, aber er hat ein Gefühl für Stil.“

„Das klingt nicht nach jemandem, der gemobbt wird. Wobei das ja Quatsch ist“, verbesserte sich Laura hastig, „jeder kann Mobbing-Opfer werden. Die Klugen, die Dummen, die Schönen, die Hässlichen. Das weiß ich.“

Gilda nickte. „Stimmt. Frag mich, ich kenne mich da aus. Eine Zeit lang war ich selbst Zielscheibe solcher Aktivitäten. Mobbing war an unserer Schule ganz großer Sport.“

Laura musterte das hoch aufgeschossene, grazile Mädchen mit den dunklen Bambi-Augen und dem strahlenden Lächeln.

„Doch, glaub mir, ich war auch Opfer. Was denkst du, warum ich so gut mit Computern umgehen kann? Es war eine wunderbare Möglichkeit, mich zurückzuziehen. Und mich zu wehren, wenn sie über mich in den Chatrooms herzogen. Aber es macht mir natürlich auch unheimlich viel Spaß.“

„Apropos Spaß“, hakte Laura ein, „offiziell weiß ich ja von nichts. Aber inoffiziell sage ich dir hiermit ausdrücklich: Ab jetzt gibt es keine krummen Computer-Recherche-Touren mehr. Unsere Detektei ist mittlerweile so bekannt, dass jemand auf die Idee kommen könnte, hinter uns herzuspionieren, um herauszufinden, welch genialen Schachzügen wir die spektakulären Ermittlungserfolge verdanken. Du bist nicht die Einzige, die mit dem Computer umgehen kann. Ich darf gar nicht darüber nachdenken, was passiert, wenn uns jemand auf die Schliche kommt. Das wäre ein Desaster. Für uns alle.“

Gilda nickte brav. „Ist okay. Mach dir keine Sorgen, es kommt uns keiner drauf.“

Ihr zufriedenes Lächeln gefiel Laura nicht. Trotzdem beließ sie es dabei. „Zurück zu Yasin. Du bist so andeutungsvoll. Was hast du mir bisher verschwiegen?“

„Ich denke, dass er schwul ist. Bin mir sogar ziemlich sicher. Das ist alles.“

„Das ist alles?“

„Mehr weiß ich nicht. Ich glaube, er hat mich damals nur aus Alibi-Gründen gefragt, ob ich mit ihm ausgehen möchte. Damit jeder denkt, er wäre Hetero. Er hat ein riesen Bohai darum gemacht. Seht alle her, ich habe ein Date mit einer Frau. Das hat er danach noch oft gemacht. Bestimmt, um sich seine Peiniger vom Hals zu halten. Angeblich hat er es sogar mal heimlich gefilmt, als er eine flachgelegt hat, und es überall herumgezeigt.“

„Ein Sex-Video mit einem Mädchen? Das klingt nicht sonderlich schwul. Eher nach Arschloch.“ Laura runzelte die Stirn.

„Du weißt nicht, wie sehr sie ihn davor gepiesackt haben. Es begann damit, dass sie ihn auf dem Schulhof zwingen wollten, es mit einer Klassenkameradin zu treiben. Die hat sogar freiwillig mitgemacht. So eine blöde Kuh aus seiner Stufe. Ich wollte ihm helfen, aber allein konnte ich nichts ausrichten. Sie haben mich weggeschubst, auf den Boden geworfen und da festgehalten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie die Geschichte ausgegangen ist. Wahrscheinlich hat ihn die Schulklingel gerettet. Jedenfalls ist er noch mal davongekommen. Doch seitdem hat er sich alle Mühe gegeben, als Frauenheld aufzutreten.“

„Eigentlich unvorstellbar, dass Homosexualität ein Grund zum Mobben ist. Jedenfalls hier in der Umgebung. Köln ist direkt nebenan: Dort hat man in manchen Vierteln fast den Eindruck, dass es keine Heteros gibt.“