Das Land, in dem wir leben wollen - Jutta Allmendinger - E-Book

Das Land, in dem wir leben wollen E-Book

Jutta Allmendinger

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Beschreibung

Einmalige Einblicke in die deutsche Seele: Wie wollen wir leben?

In ihrem Buch untersucht Allmendinger, wo unser Land heute steht und was wir für die nächsten Generationen bewahren wollen. Aus den überraschenden Erkenntnissen leitet sich eine Agenda ab, wie wir angesichts der großen Herausforderungen, die auf uns zukommen, gemeinsam eine lebenswerte Zukunft nach unseren Vorstellungen gestalten können.

Wie wollen Menschen in Deutschland leben? Was wünschen sie sich für die Zukunft, für das Leben ihrer Kinder? Wo suchen sie Veränderung, wo halten sie an Traditionen fest, wo gibt es gesellschaftliche Blockaden? In ihrer einmaligen, groß angelegten »Vermächtnisstudie« schaut die Soziologin Jutta Allmendinger den Deutschen in die Seele und fragt nach ihren Werten und Wünschen, Hoffnungen und Sorgen im Hier und Jetzt und für die Zukunft. Das Land, in dem wir leben wollen zeigt, dass wir in Fragen von Familie, Karriere, Gesundheit und Technik oft anders denken, wünschen und fühlen, als wir annehmen.

Nominiert für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2017.

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Seitenzahl: 308

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Zum Buch

Wie wollen Menschen in Deutschland leben? Was wünschen sie sich für die Zukunft, für das Leben ihrer Kinder? Wo suchen wir Veränderung, wo halten wir an Traditionen fest, wo gibt es gesellschaftliche Blockaden? In ihrer einmaligen, groß angelegten Vermächtnisstudie schaut die renommierte Soziologin Jutta Allmendinger den Deutschen in die Seele und fragt nach ihren Werten und Wünschen, Hoffnungen und Sorgen im Hier und Jetzt und für die Zukunft. Die überraschenden Ergebnisse zeigen, dass wir in Fragen von Familie, Karriere, Gesundheit und Technik oft anders denken, wünschen und fühlen, als wir annehmen. Daraus leitet sich eine Agenda ab, wie wir angesichts der großen Herausforderungen, die auf uns zukommen, gemeinsam eine lebenswerte Zukunft nach unseren Vorstellungen gestalten können.

Zur Autorin

Jutta Allmendinger, geboren 1956, ist nach Stationen am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, an der Harvard Business School und an der Ludwig-Maximilians-Universität München seit 2007 Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Für ihre wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Communicator-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Allmendinger ist Autorin zahlreicher Bücher, bei Pantheon erschienen »Frauen auf dem Sprung« (2009) und »Schulaufgaben« (2012).

Jutta Allmendinger

DAS LAND, IN DEM WIR LEBEN WOLLEN

Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen

Pantheon

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Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der VerlagsgruppeRandom House GmbH.Erste AuflageJuni 2017Copyright © 2017 by Pantheon Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München,unter Verwendung einer Vorlage von Kognito Gestaltung, BerlinSatz: Ditta Ahmadi, BerlinGrafiken: Peter Palm, BerlinIllustrationen: Stephanie Wunderlich, HamburgISBN 978-3-641-20518-8V001www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Der Ruf, das Vermächtnis

I. GRUNDLAGEN

1. Die Vermächtnisstudie: Um was es geht

2. Sinneseindrücke: Wie sich das Leben anfühlt

3. Einstellungen: Wie wir über unser Leben denken

4. Sinneseindrücke und Einstellungen: Ein Vergleich

II. WAS UNS UMTREIBT UND DIE WELT VON MORGEN FORMT

Einleitung

1. Erwerbsarbeit: Höchste Priorität

2. Besitz: Vererben ist wichtig

3. Technik: Offen für Entwicklung

4. Liebe: Eine Ode an die Vielfalt

5. Solidarität: Schützt unseren Wohlfahrtsstaat

6. Information: Wir wollen mehr

III. SOZIALE UNTERSCHIEDE UND IHRE FOLGEN

Einleitung

1. Alter: Werden die jungen Menschen unsere Gesellschaft verändern?

2. Bildung: Wird sie unsere Gesellschaft spalten?

3. Armut: Was den Menschen fehlt

4. Geschlecht: Das Land, das Frauen und Männer erleben wollen

5. Kinder: Ein Land, das sich Eltern wünschen

6. West und Ost: Ein Land, ein Vermächtnis, eine Zukunft?

7. Migranten: Angekommen? Aufgenommen?

IV. DAS LAND, IN DEM WIR LEBEN WOLLEN

1. Die Veränderungen zwischen 2015 und 2016: Wir können gestalten

2. Das Vermächtnis und der gesellschaftliche Auftrag

Das Werk, ein Andenken

ANHANG

Anmerkungen

Literatur

Der Ruf, das Vermächtnis

Mein Handy piepste ungewohnt hell und eindringlich. Selten erreichte mich damals eine SMS. »Habe eine Idee. Können wir reden? Liebe Grüße, Andreas.«

Ich war vorgewarnt. Vor zehn Jahren, ich arbeitete am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, war es ganz ähnlich gewesen. Andreas Lebert, damals Chefredakteur der Frauenzeitschrift Brigitte, bat um ein Gespräch – damals allerdings auf Papier und handschriftlich. »Hätten Sie Lust und Zeit, gemeinsam eine Studie über die Vorstellungen von jungen Frauen zu machen?« Ich erinnere besonders das Wort »machen«. Journalisten sind Handwerker, im besten Sinne. Sie machen ein Blatt, eine Geschichte, ein großes Ding. Sie haben Kunden. In der Wissenschaft laufen die Dinge etwas anders. Hier geht es langsamer zu. Wir leiten aus großen Theorien kleine Hypothesen ab. Wir suchen belastbare Daten, brauchen Vergleichsgruppen, ordentliche Methoden. Wir nehmen uns Zeit.

Wir kamen dann doch zusammen. Schon damals gemeinsam mit dem infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft, insbesondere mit Doris Hess, Bereichsleiterin Sozialforschung. Zu dritt arbeiteten wir präzise und schnell, entwickelten neue Befragungsmethoden, entdeckten Verschiebungen in den Achsen gesellschaftlicher Ungleichheit. Die Zusammenarbeit machte Spaß, auch weil wir uns so wunderbar streiten konnten.

Ich freute mich daher über die SMS. Ende 2014 trafen wir uns am WZB. Andreas Lebert, heute Chefredakteur von ZEIT WISSEN, Doris Hess und ich. Das alte Team. Hinzu kamen Rainer Esser, Geschäftsführer des Zeitverlags, und Moritz Müller-Wirth, stellvertretender Chefredakteur der ZEIT. Neu dabei war auch Menno Smid, Geschäftsführer von infas, und Heinrich Baßler, administrativer Geschäftsführer des WZB. Die Zusammensetzung zeigte: Es war ernst.

Moritz Müller-Wirth eröffnete: »Bald wird DIE ZEIT 70 Jahre alt. Andreas hatte eine Idee. Eine Studie. Eine Studie über die Zukunft, nicht über die Vergangenheit, keine alten Geschichten, wie man es sonst bei Geburtstagen macht.« Es ging um eine Zukunftsstudie. »Wir wollen wissen, was die Menschen umtreibt, was sie behalten und was sie wegwerfen wollen. Wofür sie kämpfen. Was sie vermissen.«

Eine Zukunftsstudie. Es gibt viele Zukunftsforscher; Fokusgruppen, Expertengespräche, narrative Interviews, qualitative Analysen sind die methodischen Grundlagen. Das ist nicht mein Gebiet. Mein Interesse galt schon immer der Sozialstruktur, den vielen Unterschieden in unserer Gesellschaft und der Frage, wann aus Unterschieden eine strukturierte soziale Ungleichheit wird. Um das zu erforschen, brauchen wir belastbare und repräsentative Daten. Das ist mein eigentliches Metier. Es ist das, was ich gelernt habe und kann.

Es ist Andreas Lebert zu verdanken, dass dieses erste Treffen nicht das letzte war. Er brachte und hielt uns zusammen. Dennoch: Bei den Treffen knirschte es. Viele, oft wechselnde Leute, vor allem aber: völlig unterschiedliche Vorstellungen und Vorgehensweisen. Moritz betonte immer wieder: »Wir müssen vom Ergebnis her denken. Wir brauchen zehn Überschriften, mit denen wir die Ergebnisse gut vermarkten können.« Dabei schaute er mich an. Zu solchen Spielen gehören immer zwei. Einer wirft den Ball, die andere fängt ihn auf. Rückblickend verstehe ich nicht, warum ich mich hier überhaupt angesprochen und gefordert fühlte. So aber hörte ich mich reden, schlug Überschriften vor, natürlich unterbrochen von Andreas, immer aufspringend, immer wilder, oft kommentiert von Moritz mit Sätzen wie: »Sehr gut, aber diese Überschrift hatten wir schon im letzten Jahr.« Wir hatten keine saubere Fragestellung, kein Design, erst recht keine Daten. Wir dachten alles vom Ende her, eine verkehrte Welt. So verbrachten wir Stunden über Stunden.

Dieses Buch würde nicht vorliegen, wenn wir uns und unser genaues Thema nicht irgendwann gefunden hätten. Rückblickend können wir nur vermuten, wer den Titel »Vermächtnis« vorgeschlagen hat. Wahrscheinlich Andreas. Wir wissen auch nicht genau, wer auf die Idee kam, die Sinneswahrnehmungen von Menschen in die Befragung mit aufzunehmen. Wahrscheinlich ging das auf einen Austausch zwischen Andreas und mir zurück. Er: »Damit die Menschen ihr Vermächtnis überhaupt formulieren können, müssen wir sie in einen Zustand versetzen, der sie in ihre Kindheit beamt und entzückt. Bei mir wäre es der Geruch von Südtiroler Wiesen.« Ich, leicht sarkastisch und sehr trocken: »Dann müssen wir sie an Gras riechen und Kirschen essen lassen. Auf einer kantigen Granitplatte sitzend, mit weitem Blick über die Täler und Vogelgezwitscher.« Ich dachte, das wäre es gewesen. Aber wir waren und sind ja zu dritt. Jedes andere Sozialforschungsinstitut hätte hier abgewinkt. Wir aber hörten Doris Hess sagen: »Kann man doch machen.« Und so wurden Wiese, Zwitschern, Granit zu Riechen, Hören und Fühlen. Nur das Sehen und Schmecken ließ sich technisch nicht umsetzen, doch dazu später.

Der Bogen in die Zukunft war geschlagen. Es sollte ein Dreischritt sein. Zunächst die Gefühle und die Einstellungen, jetzt und hier. Dann die Frage: Wollen Sie dieses Gefühl und diese Einstellung vermachen, weitergeben an die kommenden Generationen? Was wollen Sie wegwerfen, hinter sich lassen? Und schließlich: Wie wird es sein? Wie wird sich das Leben zukünftig tatsächlich anfühlen? Welche Ansichten werden die Menschen haben? Wie werden sie leben?

Daraus ergab sie sich wie von selbst meine gute alte Sozialstrukturanalyse. Worin würden sich die Menschen in Deutschland mehr voneinander unterscheiden: In ihren Einstellungen hier und heute? In ihrem Vermächtnis, also ihren Vorstellungen, wie es sein sollte? Oder in ihren Erwartungen, wie die Zukunft sein wird? Das ist spannend. Gibt es ein Vermächtnis über die Gruppen, Schichten und Klassen hinweg? Hält es unsere Gesellschaft zusammen? Sind es schichtspezifische Ängste, die die Kluft zwischen dem Vermächtnis und der erwarteten Zukunft besonders tief werden lassen? Jetzt kamen natürlich auch die Überschriften von Moritz. Sie gaben die Bereiche vor, auf welche wir diesen Dreiklang übertragen haben: Gesundheit, Arbeit, Besitz, Technik, Medien, Essen, Liebe.

Diese Entstehungsgeschichte wäre unvollständig, würde sie nicht von unseren Sorgen und unseren Zweifeln erzählen. Sorgen ergaben sich aus der Größe des Projekts und den Kosten, die es mit sich bringen würde. Menno Smid ist hier besonders zu danken, weil er rasch seine Bereitschaft erklärte, einen eigenen finanziellen Beitrag des infas Instituts für die Durchführung der Studie zu leisten. Schließlich haben alle drei Partner – DIE ZEIT, das WZB und infas – die Studie finanziert und zu ihrem Gelingen beigetragen. Zweifel lagen in der Machbarkeit. Würden die Menschen mitmachen und uns ernst nehmen? Würden sie, über alle Gebiete hinweg, immer wieder den Dreiklang unserer Fragen – »Wie ist es heute?«, »Wie soll es werden?«, »Wie wird es sein?« – beantworten? 54 Mal? Würden sie riechen, tasten, hören? Und uns dann noch berichten, warum sie sich für die jeweiligen Düfte, Oberflächen und Rhythmen entschieden haben? Egal, ob sie 15 oder 80 Jahre alt sind? Würde das alles funktionieren? Was, wenn sie zwischen den Fragedimensionen nicht unterscheiden? Immer das weitergeben, was sie haben? Was, wenn die Menschen meinten, wir hätten das Wesentliche vergessen, einfach nicht gefragt? Viel später, mit unserem Dank für das Interview, schickten wir ihnen deswegen einen frankierten Umschlag. Und einen Bogen mit der Bitte, offengebliebene Punkte hier zu verzeichnen. Wir erhielten viele Bögen zurück. Insbesondere ältere Menschen erläuterten in wunderbarer Handschrift ausführlich die Gründe, warum sie wie geantwortet hatten. In einigen Umschlägen fand sich der kleine Geldbetrag, den wir ihnen zum Dank geschickt hatten. »Bitte an Flüchtlinge weitergeben«, schrieben die Menschen dazu.

Umgetrieben hat mich noch etwas anderes. Wir brauchten Hilfe, mehr als sonst. Wir brauchten Menschen, die in ganz unterschiedlichen Bereichen ausgebildet waren. Wer kennt sich aus mit den Sinnen? Welche Auswahl der Sinne kann man wie begründen? Und wie können wir sie überhaupt erheben? Die Zusammenarbeit von WZB und infas war auch hier kongenial. Das WZB hat eine wunderbare Bibliothek, die schnell die grundlegende Literatur zusammenstellte. Und es gab die Abteilung »Kulturelle Quellen von Neuheit« von Michael Hutter. Eine seiner Mitarbeiterinnen, Nona Schulte-Römer, konnte für das neue Projekt als Expertin für Licht und Sinne gewonnen werden. Auch Claudia Nentwich, Musikerin im Nebenjob, half, wo sie konnte. Dann ist uns Jan Wetzel zugeflogen, Student der Soziologie, im Wechsel von Dresden nach Berlin, vom Bachelor zum Master, mit Erfahrung als Rundfunkjournalist. Er weiß alles zu Rhythmen, und mehr als das. Lisa Schulz, die leider mittlerweile in Frankfurt ist, machte sich an die Düfte. Schließlich gab es noch Georg Helbing, unseren Mathe-Informatiker. Anfangs skeptisch, dann begeistert. Ich war erleichtert. Bei infas lief alles ebenso gut zusammen. Der engere Stab, Jacob Steinwede und Anne Kersting, zauberte, kümmerte sich um den Fragebogen und dessen Programmierung, bestellte Düfte, probte das Feld, testete, was ging und was eben nicht. Birgit Jesske, Bereichsleiterin für Datenerhebung bei infas, tat das ihre und eröffnete uns zudem den Weg zu einer Behindertenwerkstatt. Dort wurden alle Proben für die Sinneserhebungen hergestellt. Die Befragung erfolgte professionell wie immer. Und Rainer Gilberg stellte mit seinen Gewichtungen sicher, dass wir auch tatsächlich repräsentative Aussagen machen konnten.

Dann stand die Auswertung an. Doch kaum hatten wir die Sinne analytisch unter Kontrolle, bekam Nona Schulte-Römer, mittlerweile mit höchster Auszeichnung promoviert, ein tolles Jobangebot in der Ferne. Wir suchten erneut und wieder hatten wir Glück: Wir fanden Patricia Wratil in Trento. Mit dieser jungen Frau zu arbeiten, ist uns allen eine tägliche Freude und eine Ehre, da sie in Berlin bleibt und hier promoviert. Aufgrund der großen Datenmengen habe ich noch zwei andere kluge Menschen hinzugezogen, Henrik Rubner und Vanessa Wintermantel. Ebenso wie Jan Wetzel und Patricia Wratil sind sie so gut, dass sie einige Teile des vorliegenden Buches selbstständig vorbereitet haben, die Texte sind entsprechend ausgewiesen. In das Jammern über die Studierenden von heute kann ich nicht einstimmen. Sie sind klasse.

Mittlerweile schreibe ich SMS. Der helle Ton klingt nun vertraut. Wir sind ein gutes Team geworden. Das Ruckeln hat es gebraucht. Wenn dieses Buch erscheint, haben wir jede Menge gerockt. Alle zusammen, in Hamburg, Bonn und Berlin. Doch davon erzählt der Epilog.

I. GRUNDLAGEN

1. Die Vermächtnisstudie: Um was es geht

Was wollen die Menschen in Deutschland den kommenden Generationen mitgeben und bewahrt wissen? Von was wollen sie sich trennen? Diese Fragen bilden den Kern der Vermächtnisstudie. Wie ein Fächer ergeben sich daraus Antworten auf viele andere neugierige Nachfragen. Unterscheiden sich die Zukunftswünsche der Menschen? Spiegeln sich in ihnen das Alter, die Generationenzugehörigkeit und die soziale Spaltung der Gesellschaft, wie wir sie heute erleben? Welche Rolle spielen die vielen Gesichter von Armut, Reichtum und Geschlecht? Welche Dynamiken zeigen sich in den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen? Wie will man morgen arbeiten, wie gestaltet sich der Umgang mit der Technik, welche Familienmodelle erhoffen sich die Menschen? Wie steht es um die Vorstellungen von Solidarität? Die Antworten zeigen, welchen Gesellschaftsentwurf die Befragten haben und in welchen Bereichen politische Interventionen angemessen und erforderlich sind.

In diesem Buch fasse ich die wesentlichen Ergebnisse der Vermächtnisstudie zusammen, die im Jahr 2015 gemeinsam vom infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft, dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und der Wochenzeitung DIE ZEIT konzipiert und durchgeführt wurde. Über 3100 Menschen im Alter zwischen 14 und 80 Jahren wurden in ganz Deutschland befragt. Es ist ein Lesebuch geworden, da ich weitgehend auf theoretische und methodische Ausführungen verzichten konnte. Letztere finden sich in einer ausführlichen Studienbeschreibung.1 Ergänzt habe ich die Darstellung um neue Ergebnisse aus einer Wiederholungsbefragung der Vermächtnisstudie, welche Mitte 2016 erfolgte.

Das Buch beginnt mit einer Einführung in den Aufbau der Untersuchung, da sich die einfachen und naheliegenden Fragen in ihrer empirischen Umsetzung als eine echte Herausforderung entpuppt haben. Für dieses einleitende Kapitel bitte ich daher um Aufmerksamkeit und Geduld für die Beschreibung einer Studie, die einmalig ist, auch in ihrer Komplexität. In dem Kapitel wird erklärt, warum wir neben dem Vermächtnis auch nach dem heutigen Leben der Menschen fragen und danach, wie man sich die Zukunft jenseits der eigenen Wünsche tatsächlich vorstellt. Es erläutert, wie und was wir gefragt haben und mit welchen Methoden wir die überaus reichen Daten analysieren.

Drei zentrale Fragen: Das Vermächtnis, das Heute und das Morgen

Es gibt viele Studien, die zeigen, wie wir heute leben. Sie konzentrieren sich auf das Hier und Jetzt, auf unsere Einstellungen und Verhaltensweisen. Manche Untersuchungen schauen auch zurück in die Vergangenheit oder folgen den Menschen über einen längeren Zeitraum. Sie erfassen ganze Lebensverläufe. Von diesen Daten lernen wir viel. Wir erfahren, wie unsere Lebenschancen durch unsere Eltern geprägt werden, wie sich Bildung in Arbeit, Einkommen, Gesundheit und Zufriedenheit übersetzt, wie sich Partnerschaften entwickeln und welche Tätigkeiten man während eines Lebens verrichtet. Ein großes Reservoir an Informationen, das unablässig fortgeschrieben wird.

Neben den vielen Schilderungen der Lebensverläufe heute springen uns in den Buchläden auch zahlreiche Bücher mit Zukunftsprognosen ins Auge. Sie entwerfen Szenarien der neuen digitalen Welt, des wachsenden Arbeitskräftemangels und der Übervölkerung, der Folgen klimatischer Veränderungen.

Bücher zu der Frage »Wie wollen die Menschen leben?« aber fehlen. Was wünscht man sich für die Zukunft unserer Gesellschaft? Was möchte man als Vermächtnis hinterlassen? Wie soll es werden? Wir beantworten diese Fragen. Dies geht allerdings nicht, ohne zu wissen, wie es heute ist. Denn vieles, was Menschen den kommenden Generationen weitergeben wollen, ist eine Reaktion auf das Leben heute. Um das Vermächtnis zu verstehen, müssen wir also das Heute kennen.

Ebenso zwingend war eine dritte Frage. Was erwarten die Menschen in der Zukunft tatsächlich? Um das Vermächtnis sinnvoll interpretieren zu können, müssen wir auch wissen, womit die Menschen rechnen. Entsprechen sich das Vermächtnis und die erwartete Zukunft? Wo sind die Unterschiede besonders gewaltig, in welchen Bereichen eher gering?

»Wie ist es heute?«, »Wie soll es werden?«, »Wie wird es sein?«, lauten schließlich die drei Fragen, die wir den Menschen gestellt haben. Immer direkt aufeinanderfolgend und bezogen auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche. Insgesamt 54 Mal. Außerdem haben wir die drei Fragen auf die Sinne Riechen, Tasten und Hören angewendet; darauf werde ich ausführlich im nächsten Kapitel eingehen. Antworten konnten die Menschen bei allen 54 Frageeinheiten auf einer Skala von 1 bis 7. Bei der Bewertung der Ziffern haben wir uns an Schulnoten orientiert. Geben die Menschen eine 1, so stimmen sie der Frage voll und ganz zu, geben sie eine 7, lehnen sie die Inhalte völlig ab.

»Wie soll es werden?« ist die wichtigste Fragedimension. Sie zeigt, welche Einstellungen und Verhaltensweisen die Menschen den folgenden Generationen empfehlen, und sie hat der Studie ihren Namen gegeben. Sie umreißt unser Vermächtnis. Die Erhebung konzentriert sich dabei auf den Aspekt des »Sollens«. Wie wichtig sollte es nachfolgenden Generationen sein, sich zu bilden, dem Neuen gegenüber aufgeschlossen zu sein, sich solidarisch zu verhalten? An den Antworten können wir dann ablesen, inwieweit sich das Vermächtnis der Menschen in Deutschland ähnelt, oder ob sie ganz unterschiedliche Vorstellungen haben.

»Wie ist es heute?« bezieht sich auf das Hier und Jetzt. Welche Einstellungen haben die Menschen heute? Diese Erhebungsdimension teilt die Vermächtnisstudie mit vielen anderen Untersuchungen. Sie ist etablierter Standard.

»Wie wird es sein?« fragt nach den Zukunftserwartungen der Menschen. Was denken die Menschen, wie sich die Zukunft tatsächlich entwickeln wird? Hier geht es also nicht mehr um das »Ich«, die eigenen Werte und das, was man selbst der kommenden Generation weitergeben möchte. Hier geht es darum, welche Einstellungen man bei den anderen Menschen wahrnimmt und wie diese, nach Meinung unserer Befragten, die Zukunft Deutschlands gestalten werden.

Abbildung 1. Erhebungsdesign

Betrachtungsperspektiven

Die Antworten auf die drei Fragen »Wie ist es heute?«, »Wie soll es werden?« und »Wie wird es sein?« können jeweils für sich allein oder zusammen analysiert werden. Zunächst möchten wir wissen, wie sich das Vermächtnis über alle 3100 Befragten hinweg darstellt und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich zwischen sozialen Gruppen und thematischen Feldern zeigen. Wir betrachten also nur die Antworten zu »Wie soll es werden?«.

Dann interessieren wir uns für das Antwortmuster, das sich für jede und jeden Einzelnen über die drei Fragen hinweg ergibt, also für die Abfolge von »Wie ist es heute?«, »Wie soll es werden?«, »Wie wird es sein?«.

Die erste Betrachtungsperspektive: Teilen die Menschen in Deutschland ein gemeinsames Vermächtnis?

Die klassische Sozialstrukturanalyse untersucht, inwieweit Gesellschaften in Klassen oder Schichten zerfallen und welche anderen Gruppenmerkmale eine soziale Strukturierung bestimmen. Die Vermächtnisstudie nimmt diese Fragestellung auf und bezieht sie auf das Vermächtnis der Menschen in Deutschland. Das Erkenntnisinteresse besteht zunächst darin, zu erfahren, welche Bereiche den Menschen sehr wichtig sind und welche eher nicht. Dann geht es darum, in welchen Bereichen die Meinungen und Lebenswelten der Menschen sich ähneln und in welchen sie weit auseinanderliegen. Können wir die Unterschiede auf die etablierten Achsen der Sozialstrukturanalyse – Alter, Bildung, Einkommen und Haushaltszusammensetzung – zurückführen, oder haben diese ihre Erklärungskraft verloren? Welche anderen Merkmale erlauben es, Unterschiede zwischen den Menschen zu beschreiben?

Das Potenzial der Vermächtnisstudie zeigt sich besonders dann, wenn wir die Unterschiede im Vermächtnis (So soll es werden) mit denjenigen vergleichen, die sich in der Wahrnehmung der heutigen Situation (So ist es heute) und der Zukunftserwartung (So wird es tatsächlich sein) ermitteln lassen. Haben die Menschen in Deutschland ein gemeinsames Vermächtnis, also einen gemeinsamen Bezugsrahmen, trotz gänzlich unterschiedlicher Lebenswelten heute? Dann sprechen wir von geteilten Werten. Sehen wir bei den Sollvorstellungen aber große Unterschiede zwischen den Menschen, haben wir es mit Lebensbereichen zu tun, in denen die Werte der Befragten radikal voneinander abweichen. Der individuelle Wert ist dann vielleicht ein gruppenspezifischer Wert, das wird sich zeigen. Ein gesellschaftsweiter Wert ist er nicht – oder noch nicht oder nicht mehr.

Dieser Aspekt ist von großer Reichweite. Gemeinsame Werte können eine Gesellschaft zusammenhalten, die Gemeinschaft konstituieren oder schützen. Sie können aber auch die individuelle Entfaltung einschränken und Grundlage für Exklusion oder Diskriminierung sein.

Veranschaulichen wir diese erste Betrachtungsperspektive mithilfe eines Beispiels. Oft wird davon berichtet, welch starke gesellschaftliche Impulse von der Generation Y ausgehen. Arbeitsorganisationen hätten sich einzustellen auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die der Erwerbsarbeit einen geringeren Stellenwert zugunsten des ganzen Lebens gäben, auf Vereinbarkeit der Lebensbereiche pochten, auf freie Zeit. Diese Aussage lässt sich mit der Vermächtnisstudie überprüfen. »Wie ist es heute?« oder »Was ist Ihnen heute wichtig?«, lauten dann die Fragen. Nehmen wir an, dass sich die Antworten stark nach dem Alter der Menschen unterscheiden. Das wäre als solches interessant, bliebe aber weit hinter den Möglichkeiten der Vermächtnisstudie zurück. Mit der zentralen Frage nach dem Vermächtnis »Wie soll es werden?« können wir sehen, ob junge Menschen ihre gegenwärtigen Einstellungen den kommenden Generationen mitgeben möchten oder ob sie diese in ihrem Vermächtnis korrigieren. Bleiben sie bei ihrer Haltung, können wir mit einem gesellschaftlichen Wandel rechnen. Schwenken sie aber auf die Haltung der Älteren ein, so ist dies kaum zu erwarten.

Die zweite Betrachtungsperspektive: Wollen wir das vermachen, was wir im Moment haben?

Auf den ersten Blick mag diese Perspektive der ersten sehr ähneln. Wenn alle ihre heutige Gegenwart vermachen, bleiben Gemeinsamkeiten wie Unterschiede einfach bestehen. Der große Unterschied liegt aber darin, dass wir hier nicht die 3100 Antworten auf die Frage »Wie soll es werden?« mit den 3100 Antworten auf die Frage »Wie ist es heute?« vergleichen. Wir gehen den Antworten jeder einzelnen Person nach. Was sagt sie auf Frage 1 (So ist es heute)? Wie lautet die Antwort auf Frage 2 (So soll es werden)? Und was hören wir zu Frage 3 (So wird es sein)? Um den Verlauf abzubilden, erstellen wir hilfsweise so etwas wie kleine »Filmchen«, eines für jede Person und jede Frage. Jedes »Filmchen« hat drei Szenen, die die drei Fragen miteinander verbinden.

Die erste Szene verknüpft das »Wie ist es heute?« mit dem »Wie soll es werden?«. Dies ist das Vermächtnis. Möglich sind drei Verläufe. Wünscht sich eine Person von der kommenden Generation, genau wie sie selbst zu leben? Dann gibt sie auf beide Fragen dieselbe Antwort, wählt also denselben Skalenpunkt. Diese Menschen sind mit dem Heute ganz offenbar zufrieden. Geben sie aber unterschiedliche Antworten, drücken sie damit aus, dass sie selbst nicht so fühlen, denken und sich verhalten, wie sie es sich für die nachfolgenden Generationen wünschen. Die Menschen distanzieren sich also von ihrer eigenen Vorstellung und sagen: Macht es anders, als ich es getan habe oder tun musste. Diese Empfehlung kann unterschiedlich ausfallen, die Sollvorstellung kann strenger oder lockerer sein als die Beurteilung des heutigen Lebens.

Die zweite Szene verbindet das, was sich die Menschen wünschen, mit dem, was sie für die Zukunft tatsächlich erwarten. Sie zeigen Zuversicht oder Sorge. Geben die Befragten auf beiden Dimensionen dasselbe an, glauben sie, dass sich die Gesellschaft in Zukunft ihren Wünschen, ihren Wertvorstellungen gemäß entwickeln wird. Sie sind zuversichtlich. Antworten die Befragten auf beiden Dimensionen unterschiedlich, drücken sie damit ihre Sorge aus.

Die dritte Szene beschäftigt sich mit der Achse zwischen dem heutigen Leben und dem, was die Menschen für die Zukunft tatsächlich erwarten, mit Kontinuität und Wandel. Wenn sie auf beide Fragen dasselbe antworten, vermuten sie: So, wie mein Leben heute ist, wird auch das Leben aller in Zukunft sein. Da das Vermächtnis hier außen vor gelassen ist, können wir keine Aussage darüber treffen, ob dies gut oder schlecht ist. Geben die Menschen auf beide Fragen unterschiedliche Antworten, wissen wir es auch nicht. Sie drücken damit nur aus, dass die Menschen in Zukunft anders leben werden als sie selbst heute – ganz egal, was sie davon halten.

Aus diesen drei Szenen setzen sich dann die individuellen »Filme« zusammen. Es ergeben sich neun unterschiedliche Muster, dargestellt in Tabelle 1. Jedes der neun Muster enthält eine spezifische Aufforderung an die Politik und die gesellschaftlichen Akteure. Die empirischen Analysen in den weiteren Kapiteln werden zeigen, wie häufig die unterschiedlichen Verlaufsmuster gewählt werden, in welchen gesellschaftlichen Bereichen sich welche Muster überwiegend zeigen und inwieweit man auch die Menschen selbst, über alle Bereiche hinweg, danach unterscheiden kann, ob sie eher gesellschaftliche Stabilität, Erosion, Modernisierung oder einen (ungewollten) Stillstand sehen.2

Tabelle 1. Die neun Verlaufsmuster

Stabilität (Muster 1). Die Menschen haben bestimmte Einstellungen und wollen diese bewahrt sehen. Sie gehen davon aus, dass dies in Zukunft auch so eintreten wird. Es ist eine stabile Gesellschaft, die diese Menschen beschreiben. Der Politik wird hier die Aufgabe zugewiesen, die Situation passiv zu beobachten. In diesen Bereichen sind Veränderungen unwahrscheinlich.

Antizipierte Erosion (Muster 2 und 3). Beide Verläufe zeigen Menschen, die ihre Einstellungen bewahren möchten. Dabei gehen sie allerdings davon aus, dass ihre Vorstellungen in der Zukunft nicht gelebt werden. Sie antizipieren eine Erosion. Diese kann zwei Formen annehmen. Werte können sich in der Zukunft entweder auflösen oder verschärfen. Es bedarf einer aktiven Koordination. Es muss etwas getan werden, um die Zukunft in eine Richtung zu lenken, die erstrebenswert erscheint. Oder umgekehrt: Es muss etwas getan werden, damit es den Menschen möglich sein wird, sich für bestimmte Veränderungen zu öffnen. Was und wie das geschehen soll, richtet sich dabei nach den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen.

Inklusive Modernisierung (Muster 4 und 5). Hier sehen wir Menschen, die offen für Veränderungen sind und optimistisch, dass diese auch genau so in der Zukunft eintreten werden. Konkret: Man empfiehlt der nächsten Generation eine Einstellung oder ein Verhalten, welches sich von dem eigenen unterscheidet. Eine Veränderung, eine Modernisierung (oder deren Gegenteil) wird gewünscht. Man geht weiterhin davon aus, dass sich genau diese empfohlene Entwicklung zukünftig tatsächlich zeigen wird. Das Vermächtnis wird umgesetzt, man fühlt sich mitgenommen, inkludiert. Die Politik muss diese Veränderungen unterstützend begleiten.

Exklusive Modernisierung (Muster 6 und 7). Auch hier sind Menschen offen für Veränderungen. Man empfiehlt der kommenden Generation Einstellungen und Verhaltensweisen, die von den eigenen abweichen. Allerdings rechnet man damit, dass in der Zukunft tatsächlich noch viel mehr gefordert sein wird. Man zeigt sich zwar veränderungsoffen, geht aber nur den halben Weg. Die erwartete Zukunft überfordert die Menschen oder stellt sich in einer Weise dar, die sie nicht unterstützen oder leben möchten. Die Modernisierung hat einen ausschließenden Charakter, sie exkludiert. Hier muss die Politik aufklärend tätig sein und die Menschen in die Lage versetzen, den ganzen Weg mitzugehen. Oder sie muss aktuelle Entwicklungen etwas bremsen, sodass ihnen mehr Menschen folgen können.

Stillstand und Kapitulation (Muster 8 und 9). Auch hier sehen wir eine große Offenheit. Man möchte, dass sich etwas tut, dass sich Einstellungen und Werte verändern. Aber man wird enttäuscht. Denn es werden böse Rückschritte erwartet, bestenfalls eine Stabilität des Status quo. Man ruckelt, fordert Veränderungen, die anderen ziehen aber nicht mit. Es passiert also nichts, die eigenen Vorstellungen laufen ins Leere. Gesellschaftlicher Stillstand droht, man gibt auf. Hier sind Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft am stärksten gefragt, und hier können sie vielleicht auch am meisten bewirken. Denn die Menschen sehen, dass es notwendig ist, sich zu bewegen. Sie selbst schaffen diese Veränderungen aber nicht und schieben die Verantwortung auf die Trägheit der anderen. Dabei sind sie selbst natürlich auch Teil der anderen. Ein klassisches soziales Dilemma.3 Die Politik und andere gesellschaftliche Akteure müssen helfen, indem sie Hürden abbauen und klare Linien ziehen. In den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen beschreiben wir, wie das gelingen kann. Die Wiederholung der Studie im Sommer 2016 zeigt, dass sich die Einstellungsmuster tatsächlich verändern lassen.

Inhalte

Uns interessierten die Einstellungen der Menschen in neun gesellschaftlich wichtigen Bereichen: soziales Leben, Wohnen, Lebensstil, Berufsleben, Besitz, Liebe und Partnerschaft, Ernährung, Gesundheit, Kommunikation und Technik. In jedem Bereich kamen die drei Fragedimensionen zum Einsatz und wurden ergänzt durch weitere Fragen, die in die Tiefe gehen. Dafür nutzten wir ungewöhnliche, aber bereits erprobte Visualisierungen. Eine Visualisierung zeigte ein Dreieck. Dieses symbolisiert eine Gesellschaft mit vielen armen und wenigen reichen Menschen. Wir baten die Befragten, sich innerhalb des Dreiecks einzuordnen, und dann eine Linie zu ziehen, an der ihrer Meinung nach die Grenze zwischen Arm und Reich verläuft.

Während der Befragung haben wir die Menschen intensiv und immer wieder darum gebeten, ihre Empfehlungen aus ihrer eigenen Erfahrung abzuleiten, also bei sich selbst anzusetzen. Um diesen Bezugspunkt zu stärken, haben wir die Befragten im Verlauf des Interviews wiederholt Sinnesreizen ausgesetzt. Wir baten sie, mithilfe sinnlicher Stimuli ihre Eindrücke zu bestimmten Düften, Oberflächen und Rhythmen zu schildern und diese mit ihren Wünschen und Erwartungen zu verbinden. Entsprechend stellten wir vor den 54 Einstellungsfragen jene zum Sinnesreiz Duft. Nach dem ersten Drittel des Fragenbündels folgte das Modul zum Tastsinn und vor dem letzten Drittel wurden schließlich die Eindrücke zu den Rhythmen ermittelt.

Die Datenerhebung

Von Beginn an wollten wir immer das Beste: eine hohe Fallzahl, die größtmögliche Altersspanne, eine Einwohnermeldestichprobe, persönliche Interviews und viel Zeit von den Befragten. Wir wollten, dass alle gern mitmachen, dass nur wenige die Teilnahme verweigern, nur wenige das Interview abbrechen. Und wir wünschten uns, dass sie uns am Ende bestätigen: »Aber sicher, falls Sie weitere Fragen haben, kommen Sie gern wieder. Ich würde auch ein zweites Mal antworten.« Das alles wollten wir.

Infas hat das geschafft, unsere Ziele wurden sogar übertroffen. 3000 Befragte hatten wir uns erhofft, 3104 haben wir bekommen. Hätten uns davon 75 Prozent erlaubt, sie später nochmals zu kontaktieren, wir wären höchst angetan gewesen. Es waren 88 Prozent. Doch der Reihe nach.4

Die Interviews zur Studie fanden zwischen Anfang Juli und Mitte Oktober 2015 statt. Im Durchschnitt dauerten sie 102 Minuten, manche waren kürzer, andere länger. Die komplexen Themen und der zeitliche Umfang forderten die Befragten durchaus heraus. Doch die gute Antwortbereitschaft zeigt: Der Fragebogen hat funktioniert.

Die Erhebung

Die Vermächtnisstudie wurde als CAPI-Befragung (Computer Assisted Personal Interview) durchgeführt. Jedes Interviewgespräch fand persönlich-mündlich statt. Alle 228 in der Studie tätigen Interviewer waren mit einem Laptop ausgerüstet, auf dem das Fragebogenprogramm hinterlegt war. Auch die Stichprobe wurde sorgfältig gezogen. Es wurde eine Personenstichprobe aus Adressregistern zufällig ausgewählter Gemeinden erstellt. Die Grundgesamtheit bildete die in Privathaushalten der Bundesrepublik lebende Bevölkerung im Alter zwischen 14 und 80 Jahren. Die Interviewer erhielten feste Kontaktdaten zur Bearbeitung. Alle ausgewählten Personen wurden vor Befragungsstart angeschrieben, über die Studie informiert und über den Datenschutz aufgeklärt. Neben einer studienspezifischen Schulung wurden ein Studienhandbuch sowie eine eigens hergestellte Materialausstattung für sensorische Messungen ausgegeben.

Die Ansprache der Sinne

Allen Befragten wurden während des Interviews verschiedene Sinnesreize vorgelegt (dazu ausführlich in Kapitel I.2). Mit kleinen Duftdosen zum Riechen, einem Fühlbeutel für eine haptische Messung sowie einem Modul zum Vorspielen von Tonfolgen wurden neue Wege im Rahmen einer CAPI-Erhebung beschritten.

Die Materialien für die Sinnesmessungen mussten natürlich erst produziert werden. Der Stoffbeutel beispielsweise, den die Interviewer den Befragten bei der »haptischen Erhebung« übergaben, enthielt eine Pappplatte mit vier Fenstern, in die die systematisch ausgewählten Oberflächen – Watte, Glas, Schmirgelpapier und Wellpappe – eingelassen waren. Die Befragten konnten durch eine schmale Öffnung in den Beutel greifen und sich so ganz auf ihren Tastsinn konzentrieren, ohne durch optische Reize abgelenkt zu werden. Die Reihenfolge war durch Buchstaben auf dem Beutel vorgegeben.

Bei der Herstellung dieser Haptikplatten standen wir vor Herausforderungen, die im sozialwissenschaftlichen Bereich nicht gerade alltäglich sind. Mit welchem Werkzeug lassen sich Kunststoffglas und Schmirgelpapier sauber zuschneiden? Und welcher Kleber haftet gut an allen Materialien – ohne dabei die Pappfassung aufzulösen? Nachdem das Produkt bei infas entwickelt worden war, wurden 250 Haptikplatten angefertigt.5

Spezifische Anforderungen gab es auch beim Interview selbst. Der verschlossene Beutel mit der Fühlplatte musste sichtbar und für die Befragten griffbereit auf den Tisch gelegt werden. Aus hygienischen Gründen wurden die Befragten dann gebeten, ihre Hände mit einem dafür vorgesehenen Desinfektionstuch zu reinigen. Die Akzeptanz für die – immer wieder auch als »Experiment« oder »Spielerei« bezeichneten – Messungen war indes von Anfang an gut und blieb hoch: An der Geruchs- und Fühlmessung nahmen jeweils 95 Prozent der befragten Personen teil, am Rhythmusmodul 90 Prozent.

Die Gewichtung

Wie für Umfragen in der Bundesrepublik kennzeichnend, haben auch bei der Vermächtnisstudie besser gebildete Personen etwas häufiger und weniger gebildete Personen eher etwas seltener an der Befragung teilgenommen. Allerdings war die Größenordnung dieses Phänomens, in der Fachwelt als Bildungsbias bekannt, vergleichsweise gering. Hier wurde eine Gewichtung durchgeführt, um die Verteilungen entsprechend anzupassen.6

Auswertung und Analysemodell

Bildung, Beruf und Einkommen prägen das Leben und die Chancen von Menschen und strukturieren damit auch die Gesellschaft. Alter, Geschlecht, Familienstand und Herkunft sind weitere Beispiele. Wir müssen diese Strukturen kennen, um zu verstehen, welche Welten Menschen erleben wollen. Wir werden daher die Einstellungen und gewählten Sinnesreize der Menschen daraufhin untersuchen, ob sie sich systematisch nach den sozialstrukturellen Merkmalen der Menschen unterscheiden.

Um diese darzustellen, mussten viele Entscheidungen getroffen werden. Welche Alters- und Bildungsgruppen fassen wir zusammen? Wie bilden wir die Migrationserfahrung der Menschen ab? Was machen wir, wenn Angaben zum Einkommen fehlen? Um nicht zu technisch zu werden, haben wir hier die wichtigsten Informationen in Tabelle 2 zusammengestellt und verweisen ansonsten auf die Forschungsberichte zu dieser Studie.10

Dieses sozialstrukturelle Modell erweitern wir um Fragen zum Sozialkapital. Nach Pierre Bourdieu umfasst das soziale Kapital »die Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen, die mit der Teilhabe am Netz sozialer Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind«.11 In unserer Untersuchung geht es dabei weniger um statusbestimmende oder statuserhaltende Möglichkeiten, die soziale Netzwerke eröffnen. Wichtig ist uns eine andere, damit zusammenhängende Ressource: die Offenheit gegenüber Neuem, unabhängig davon, ob es sich um Menschen oder gesellschaftliche Entwicklungen handelt. Wir untersuchen, ob Menschen, die selbst einen sehr diversen Freundeskreis haben, sich systematisch in ihrem »So ist es heute«, noch stärker aber in ihrem »So soll es werden« von Menschen mit einem homogenen Freundeskreis unterscheiden.