Es geht nur gemeinsam! - Jutta Allmendinger - E-Book

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Jutta Allmendinger

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Beschreibung

In dieser Streitschrift zeigt Jutta Allmendinger, was sich endlich ändern muss, damit wir echte Gleichberechtigung herstellen. Ihr Buch ist ein Fahrplan in die Zukunft, in der Geschlechtergerechtigkeit keine Forderung mehr ist, sondern ein Fakt. Die Soziologin Jutta Allmendinger ist mit ihrer Geduld am Ende. Seit über drei Jahrzehnten untersucht sie, wie Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern erreicht werden kann, und ihr ernüchterndes Fazit lautet: Wir bewegen uns rückwärts in die Zukunft. Corona hat die wahren gesellschaftlichen Verhältnisse wie unter einem Brennglas hervortreten lassen: Männer arbeiten, Frauen arbeiten auch - und versorgen die Kinder. Männer verdienen, Frauen verdienen auch – aber bloß etwas dazu. Teilzeit und Elternzeit sind fast immer noch Frauensache, Führungspositionen und hohe Gehälter Männersache. "Die Soziologin Jutta Allmendinger - keiner kennt uns so gut wie sie." Deutschlandfunk

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Das Buch

Corona hat die wahren gesellschaftlichen Verhältnisse wie unter einem Brennglas hervortreten lassen: Männer arbeiten, Frauen arbeiten auch – und versorgen die Kinder. Männer verdienen, Frauen verdienen auch – aber bloß etwas dazu. Teilzeit und Elternzeit sind noch fast immer Frauensache, Führungspositionen und hohe Gehälter Männersache.

Faktenbasiert zeigt Jutta Allmendinger, was in Sachen Geschlechtergerechtigkeit alles (nicht) passiert ist, welche Instrumente etwas bewirkt haben und was passieren muss, damit Frauen endlich auf allen Ebenen gleichberechtigt sind. Ein zorniger, kluger, erfahrungsgesättigter Appell an Politik, Gesellschaft und uns alle.

Die Autorin

JUTTA ALLMENDINGER, geboren 1956, ist eine der führenden deutschen Soziologinnen. Sie wurde an der Harvard University promoviert. Von 1999 bis 2002 war Jutta Allmendinger als erste Frau Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Seit 2007 ist sie Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Für ihre Arbeiten wurde Jutta Allmendinger mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. 2018 war sie eine der ersten Fellows im Thomas-Mann-Haus in Los Angeles. Seit 2017 ist sie Mitglied im Herausgeberrat der Wochenzeitung DIE ZEIT.

Jutta Allmendinger

ES GEHT NUR GEMEINSAM!

Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-2468-5

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Lektorat: Jana Schrewe, BerlinUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenUmschlagfoto: © David AusserhoferE-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

INHALT

Über das Buch und die Autorin

Titelseite

Impressum

WARUM ICH DIESES BUCH SCHREIBE

TRADITIONEN

MEINE OMA, MEINE MUTTER, MEIN SOHN UND ICH

BURIDANS ESEL

UND TÄGLICH GRÜSST DAS MURMELTIER

MIND THE GAP

2020

DER WERT DER SYSTEMRELEVANZ

HOME, SWEET HOME

AUF DIE PLÄTZE, FERTIG, ZURÜCK!

DAS LEBEN MEINER ENKELTOCHTER: EIN FAHRPLAN

DANK

ABBILDUNGS- UND TABELLENVERZEICHNIS

LITERATUR

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

WARUM ICH DIESES BUCH SCHREIBE

Anfang Mai 2020. Nach dem ersten umfassenden Corona-Lockdown werden langsam einige Beschränkungen wieder gelockert. Ich sitze in der Talkshow bei Anne Will. Es soll über Konjunkturprogramme, die Abwrackprämie, Frauen diskutiert werden, darüber, wie eine Rezession verhindert oder zumindest abgeschwächt werden kann. Nach einer kurzen Einführung darf ich eine gefühlte Stunde lang zuhören. Mit von der Kamera abgewandtem Zwinkern und Fingerübungen versuche ich Anne Will anzudeuten, dass ich mich auch gerne zur Abwrackprämie äußern würde. Vergebens. Die Männer kommen zu Wort, Robert Habeck, Olaf Scholz, Markus Söder, zudem die VDA-Präsidentin und Lobbyistin Hildegard Müller. Ich ärgere mich. Eigentlich war ich zum Abendessen mit meinem Sohn und seiner Freundin verabredet.

Meine Gedanken schweifen ab. Unvermittelt fragt mich Anne Will: »Frau Allmendinger, hat die Krise Frauen zurückgeworfen?« Mit dieser Wendung habe ich nicht gerechnet. Zurückgeworfen? Das Jahr 1984 ist das erste, das mir in den Sinn kommt. Bericht der Sachverständigenkommission zur Verbesserung der Chancengleichheit von Mädchen. Aus der Ferne habe ich damals daran mitgearbeitet, vor über 30 Jahren, selbst noch keine 30 Jahre alt. In seinen Grundzügen könnte der Bericht auch Anfang Mai 2020 geschrieben worden sein: Frauen als Hauptansprechperson für die Kinder und Zuarbeiterinnen für das Haushaltseinkommen. Das Stück eigenes Leben weit weg. Forderungen wie Teilzeit für Männer, Forderungen nach mehr Führungspositionen für Frauen, nach Abbau von Lohnunterschieden. Ich antworte: »Ja. Die Frauen erleiden eine entsetzliche Re-Traditionalisierung.« Entsetzlich, da sich Lebensentwürfe und -erwartungen der jungen Frauen heute doch deutlich von denjenigen damals unterscheiden und sie eine traditionelle Arbeitsteilung heute als viel schmerzhafter erleben. Ich zitiere die neu erschienenen Studien des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), der Hans-Böckler-Stiftung, des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), des Sozioökonomischen Panels zu den Folgen der Corona-Pandemie für Frauen und Familien und berichte von meinen persönlichen Eindrücken aus den vergangenen Wochen. Von toughen Mitarbeiterinnen, die im Homeoffice arbeiten und sich gleichzeitig um ihre kleinen Kinder kümmern müssen, da die Kita geschlossen wurde, und die nun schlichtweg zusammenbrechen. Nichts geht mehr. Jeder Termin bedeutet puren Stress. Abgeleitet für uns alle.

Am nächsten Tag stapeln sich die Medienanfragen. Deutschland hat ein neues Thema. Schon wieder geschieht, was mir nicht unbekannt ist: Ich werde zur Frauen-Sachverständigen. Eine Frau in der Wissenschaft kommt an Frauenfragen kaum vorbei. Eines aber ist in diesen frühen Maitagen anders als sonst. Der Gegenwind fehlt. Kein Spott, keine Drohungen, nichts Übergriffiges. Mehr noch: Kurz danach traf ich mich mit einer Freundin und ihrer ältesten Tochter. Johanna, 24, studiert Jura. Sie ist großartig, gebildet, weiß, wohin sie beruflich will: Botschafterin. Nach dem Mund zu reden ist nicht ihr Ding. »Wir brauchen die Quote, dringend.« Sie erzählt mir von den letzten Prüfungen, von ihren männlichen Kommilitonen, die sich in die Brust werfen und sich gegenseitig versichern, dass mal wieder keine Frau unter den Top 10 bei den Prüfungsergebnissen sei, und von ihrer Freundin, die im Vorbeigehen den Jungs lässig zugeworfen habe, dass hier die Drittbeste komme. Solange selbst junge Männer die Leistungen von Frauen überhaupt nicht sehen oder wahrhaben wollen, solange sie ganz selbstverständlich sich selbst nach vorne stellen, so lange würde sich nichts ändern. Es brauche den Druck durch Quoten. Johanna ist die erste junge Frau in meiner unmittelbaren Umgebung, die bereits vor ihrem Eintritt in den Arbeitsmarkt beherzt die Quote fordert. Aus den Medien weiß ich, es werden immer mehr. Meistens aber müssen Frauen dafür erst einige Jahre erwerbstätig gewesen und Mütter geworden sein. Während der Schul- und Studienzeit fühlen sie sich bärenstark, als junge Mütter erleben sie dann, wie schnell die Männer an ihnen vorbeiziehen. Da tut sich etwas, dachte ich an diesem Abend. Endlich.

Wenige Tage später ein Anruf. »Wollen Sie ein Buch über die Frage der Geschlechtergerechtigkeit schreiben? Eine Streitschrift?« Während ich überlegte, überflog ich einige E-Mails, darunter eine Nachricht von Lena Hipp, meiner wunderbaren Kollegin am WZB und Professorin an der Universität Potsdam. Sie war für einige Wochen mit ihren drei kleinen Töchtern nach Süddeutschland zu ihren Eltern gezogen, um während des Lockdowns überhaupt arbeiten zu können. Dort erhielt sie die Einladung zu einer großen Talkshow. Sie sagte gerne zu (nichts von wegen »Frauen zieren sich«). Allerdings bat sie um Zuschaltung, da sie nicht für zwei Stunden nach Berlin und möglicherweise virenbehaftet zurück zu ihren Eltern kommen konnte. Kurz darauf wurde sie ausgeladen. Ich sah mir die Sendung an: Auf dem Podium saß ein männlicher Ersatz, der selbstverständlich gereist war.

Ich sagte zu, das Buch zu schreiben.

TRADITIONEN

Das Buch wurzelt in meiner Biografie und verbindet meine persönlichen Erfahrungen mit meinen Erkenntnissen als Sozialwissenschaftlerin. Es spannt den Bogen von meiner Großmutter bis zu meiner ungeborenen Enkeltochter. Meine Oma kam im Jahr 1900 zur Welt, mein Enkelkind wird, so mein Sohn heute, »so um 2025« erhofft. Wenn es eine Enkeltochter wird, erlebt Marie, wie ich sie für den Moment nenne, die nächste Jahrhundertwende, hoffentlich. Was sich im Laufe dieser 200 Jahre alles verändert haben wird! Meine Oma war sehr stolz auf ihre Erika, mein Opa auf seine Elektra. Beides waren Schreibmaschinen, die eine eher klein zum Reisen, die andere groß und laut. Zu meinem zehnten Geburtstag bekam ich eine Olympia, meine Dissertation schrieb ich bereits auf einem IBMPC Portable, einem riesigen und schweren Ding. Dieses Buch wird auf einem kleinen, sehr leichten Laptop verfasst. Mein Sohn tippt oft gar nicht mehr, sondern spricht mit seinen Geräten, Marie wird sie vermutlich mit ihren Gedanken steuern. Ein anderes Beispiel: Im Jahrgang meiner Eltern machten 5 Prozent Abitur, in meinem Jahrgang waren es 8 Prozent, bei meinem Sohn 43 Prozent und bei Marie werden es über 70 Prozent sein.1 Welch eine Veränderung.

Das Familienleben wird heute dagegen organisiert wie eh und je. Klar, immer mehr Frauen sind berufstätig, finanziell wird für Familien viel mehr getan als früher und auch die außerhäusliche Kinderbetreuung wurde ausgebaut. Die Sorge um Familie, Kinder und Haushalt ist dennoch überwiegend eine Sache der Frauen geblieben. Noch heute wird dies weitgehend mit Präferenzen und Entscheidungen begründet, die Frauen angeblich haben und für ihr Leben treffen. Aussagen wie »Frauen wollen Teilzeit erwerbstätig sein« und »Sie sind qualifiziert, wollen aber keine Führungspositionen ausüben« liest und hört man ständig. Deshalb werde ich hier die strukturellen, rechtlichen und familienpolitischen Bedingungen für Familien in den Mittelpunkt rücken, die hinter diesen »Präferenzen« und Entscheidungen stehen, und dabei auf meine Erfahrungen, das Leben meiner Familie und maßgebliche Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zurückgreifen. Außerdem werde ich die kulturellen Zuschreibungen genauer betrachten, die ebenfalls die großen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen erklären können.

MEINE OMA, MEINE MUTTER, MEIN SOHN UND ICH

Ein Jahrhundert, vier Generationen. Es könnten leicht fünf sein, doch ich habe eine Generation übersprungen. Meine Oma und meine Mutter waren 26 Jahre alt bei ihrem ersten Kind, ich 38. Die beiden hatten mehrere Kinder, ich habe eins. Heute ist mein Sohn 26. Die Frau an seiner Seite will, wie auch er, Kinder. »Aber nicht sofort.«

Die Eltern meiner Mutter wurden 1900 geboren. Sie waren standhaft. Nichts konnte sie erschüttern. In den beiden Weltkriegen hatten sie ihre Angst und ihren Glauben verloren, sich selbst waren sie treu geblieben. Zusammen führten sie einen großen Laden, waren bestens in der Nachbarschaft integriert, hatten viele Freunde. Meine Oma hands on, mein Opa im Hintergrund, ein Schöngeist, der die große Literatur liebte und oft auswendig vortrug, ein Leben lang. »Fest gemauert in der Erden / Steht die Form, aus Lehm gebrannt …« Sie lebten in einem großen Mehrfamilienhaus, das ihnen gehörte.

Meine Oma war ihr ganzes Leben lang berufstätig. Der Laden war ihr Homeoffice, die beiden Kinder liefen nebenher, gemeinsam betreut, zudem hat eine Kinderfrau geholfen. Wäre meinem Opa etwas zugestoßen, finanziell hätte meine Großmutter keine Sorgen gehabt. Auch ihre Netzwerke wären nicht an- oder gar abgerissen. Sie führte kein eigenständiges Leben, sozial und finanziell war sie es dennoch.

Meine Mutter kam 1930 als zweites Kind meiner Großeltern zur Welt. Ihre Jugend wurde durch den Krieg geprägt, die letzten Klassen des Gymnasiums verbrachte sie in einer Notschule in Klagenfurt. Dort machte sie ihr Abitur. Mein Vater war in derselben Klasse. »Er war gut aussehend, brillant und faul. Vokabeln konnte er nicht, auch keine Grammatik. Aber die griechischen und lateinischen Texte deklamierte er fließend, immer stehend, mit seinen 2,03 Metern Körpergröße. Und bekam die besseren Noten.« Meine Mutter erzählte mir diese Geschichte so oft und mit stets derselben Leidenschaft, dass ich immer aufs Neue erleben musste, wie sehr sie das fuchste. »Kind, du machst dir keine Vorstellungen, wie viele Fehler dein Vater gemacht hat. Aber das hat niemanden gestört. Die Lehrer waren geblendet.«

Beide kehrten mit prima Zeugnissen zurück, begannen ihr Studium, er Ingenieurswissenschaft und Architektur, sie Ökonomie. In ihrem sechsten Semester wurde ich geboren. Mein Vater studierte weiter, meine Mutter brach ihr Studium ab. In diesen Jahren lebte die Familie im Haus meiner Großeltern, meine Eltern zogen erst aus, als meine Schwester vier Jahre später zur Welt kam. Auch auf ihrer Geburtsurkunde ist mein Vater noch als Student eingetragen. Meine Mutter kommentierte das später so: »Er schaffte es einfach nicht, seine Diplomarbeit zu schreiben. Hätte ich weiterstudiert, ich wäre schon längst im Beruf gewesen. Ein drittes Kind wollte ich von einem Mann, der Student war, aber nicht.« Als ich zehn Jahre alt war, wurde mein Bruder als Sohn eines nun diplomierten Vaters geboren. Wieder zogen wir um, jetzt in ein großes Haus, andere Stadt, fremde Nachbarschaft. Meine Großeltern lebten nicht mehr um die Ecke und konnten nicht helfen, meine Mutter hatte umso mehr zu tun mit den drei Kindern, ihrem Mann und dem Haus. Ihre Bildung zeigte sich nur noch in ihren breiten Interessen, wenn sie uns bei den Hausaufgaben half und bei den Kreuzworträtseln der FAZ und der Zeit, die sie in einem Rutsch löste.

Als sie 45 Jahre alt war, starb mein Vater an einem Herzinfarkt. Plötzlich, während der Arbeit. Sie hatte keinen Berufsabschluss, keine Arbeit, keine Nachbarn, die sie stützten. Der Freundeskreis war bis auf ihre Jugendfreundinnen mit dem Tod meines Vaters verschwunden, es waren seine Kollegen, seine Freunde gewesen. Sie bekam keine Witwenrente, da mein Vater sich seine Rentenbeiträge hatte auszahlen lassen, um das Haus zu finanzieren. Die neu abgeschlossene Lebensversicherung war noch nicht in Kraft getreten. Sie hatte einen 9-jährigen Sohn und eine 15-jährige Tochter daheim, ich war schon ausgezogen. Was dann folgte, war für uns Kinder schwer und für sie noch viel schwerer. Ich zog wieder zurück, sie nahm ihr Studium wieder auf. Aber nichts war wie früher. Sie war wesentlich älter als alle anderen, so recht fand sie keinen Anschluss zu ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen. Als Alleinerziehende hatte sie keine Zeit für das Studentenleben, Lerngruppen und Partys liefen ohne sie. Sie wollte schnell sein, wegen ihrer Kinder. Von der Diplomarbeit bekam niemand etwas mit, sie entstand in der Nacht. Sie fand schwer einen Job, trotz frischem, sehr gutem Examen. Und packte es doch. Als sie mit 65 in den Ruhestand ging, hatte sie ihre eigene kleine Rente und das Erbe ihrer Eltern. Finanziell ging es ihr wieder gut. Und doch: Das Leben meiner Großmutter fühlt sich für mich weich an, das meiner Mutter unendlich hart.

Ich wurde 1956 geboren, hinein in den Frieden, hinein in das deutsche Wirtschaftswunder. Fast zwanzig Jahre umgab mich eine heile Welt. Schwimmen, Schule, Freunde, Reisen, Studien, politische Aktivitäten. Dann starb plötzlich mein Vater. Eine halbe Familie. Das Aufwachsen mit meiner Mutter hat mich früh gelehrt, vorauszuschauen, oder besser: das Leben vom Ende her zu denken. Was ist heute zu tun, um auch später Freunde zu haben, finanziell unabhängig, zumindest einigermaßen abgesichert und zufrieden zu sein? Meine Spontaneität habe ich nicht verloren, doch vor allen großen Entscheidungen meines Lebens lege ich eine kleine Pause ein. Ich habe gelernt, dass das Leben oft keine zweite Chance kennt.

Mein Sohn kam 1994 zur Welt. Ich war bereits auf Lebenszeit verbeamtet. Das liest sich sehr glatt, sehr überlegt, sehr geplant, ich weiß. Und doch gab es viele Phasen in meinem Leben, in denen ich verdammt aufpassen musste. Dazu später.

Mittlerweile leite ich seit fast zwanzig Jahren große Institute. Zuerst das IAB in Nürnberg, seit Längerem das WZB in Berlin. Ich war jeweils die erste Frau an der Spitze. Mein Sohn lebt auch in Berlin. Er arbeitet an seiner medizinischen Dissertation, absolviert sein praktisches Jahr. Wir treffen uns regelmäßig. Ein Vergnügen. Ein bisschen schaut er aus wie mein Vater, ein bisschen wie sein Vater, sein Lebensentwurf aber könnte nicht unterschiedlicher sein. Höchstens Teilzeit will er arbeiten, so sagt er seit mindestens zehn Jahren. Nicht erst im Rentnerbus reisen. Freunde besuchen, ein gutes Leben führen. Seit drei Jahren lebt er mit seiner Freundin zusammen, sie studiert Ökonomie. Ihre Eltern sind beide voll erwerbstätig, ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie bei ihren Großeltern. Unabhängigkeit ist für die junge Frau eine Selbstverständlichkeit, Kinder sind ihre große Liebe. Die meisten Paare versprechen sich heute eine partnerschaftliche Beziehung, die wenigsten halten das durch. Ich werde sehen, wie es den beiden gelingt.

So weit meine persönliche Geschichte, die bereits alle Aspekte des Buches anreißt. Und doch will, ja muss sie eingeordnet werden in die Sozialstruktur Deutschlands, muss systematisiert und kondensiert werden, um über den Einzelfall hinaus zu zeigen, dass eine Geschlechtergerechtigkeit nur gemeinsam erreicht werden kann. Gemeinsam mit Partnern, mit der Wirtschaft, mit dem Staat und dessen Politiken. Getragen von einer Kultur, die diesen Entwicklungen nicht entgegensteht oder sie sogar untergräbt.

Betrachten wir also die Lebensverläufe von Frauen und Männern im Spiegel der Statistik und konzentrieren uns zunächst auf die Erwerbsarbeit. Wie hat sich diese im letzten Jahrhundert und bis heute verändert? Welche Unterschiede zwischen Männern und Frauen bleiben bestehen? Wie sind diese einzuordnen?

Als meine Großeltern 1925 im Laden zu arbeiten begannen, lag die Erwerbsquote von Frauen bei knapp 49 Prozent, von Männern bei über 95 Prozent (siehe Abbildung 1). Mehr als ein Vierteljahrhundert später hatte sich an der Beschäftigung von Frauen nichts geändert, die der Männer war um 2 Prozentpunkte gefallen. In den nächsten Jahrzehnten nahm dann die Erwerbsquote von Männern kontinuierlich ab, die der Frauen dagegen stieg stetig. Heute liegt die Erwerbsquote der Frauen bei 72,8 Prozent und die der Männer bei 80,5 Prozent. Ein Unterschied von 46 Prozentpunkten reduziert sich damit innerhalb eines Jahrhunderts auf knapp 8 Prozentpunkte. Man stelle sich vor.

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