Die Vertrauensfrage - Jutta Allmendinger - E-Book

Die Vertrauensfrage E-Book

Jutta Allmendinger

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Beschreibung

Vielfach ist die Rede davon, der soziale Zusammenhalt in Deutschland sei am Bröckeln - Überzeugungen, Werte und Ziele der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen drifteten immer weiter auseinander. Regelmäßig wird daher ein Wir-Gefühl beschworen, das neue Bande zwischen den Menschen herstellen soll. Im Rahmen ihrer Forschung haben Jutta Allmendinger und Jan Wetzel tatsächlich ein solches Wir-Gefühl beobachtet, allerdings beschränkt es sich meist nur auf das engere Umfeld von Familie und Freunden. Dieses "Wir" ist allzu überschaubar. Der "Kitt", der die Gesellschaft im Großen zusammenhält, muss daher etwas anderes sein: Vertrauen auch und gerade in all die Menschen, die man nicht kennt. Wo und wie aber lässt sich dieses Vertrauen gewinnen? In ihrem hochaktuellen Essay skizzieren Allmendinger und Wetzel eine Politik, die auf Vertrauen baut, damit wir die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen können.

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INHALT

Einführung

1 Der Werkzeugkasten: Wie wirkt Vertrauen?

2 Die Daten: Wer vertraut wem?

3 Die Aufgabe: Eine Politik des Vertrauens

Anhang

Die Vermächtnisstudie

Danksagung

Literatur

Anmerkungen

EINFÜHRUNG

Wer steckt heute nicht in der Vertrauenskrise? Die parlamentarische Demokratie erscheint überfordert, machtlos, getrieben von Globalisierung und Einzelinteressen, nicht mehr zur politischen Entscheidung fähig. Die Marktwirtschaft wird als korrupt wahrgenommen, sie opfere einen Wohlstand für alle dem maximalen Profit. Die Massenmedien gelten als unglaubwürdig, sie jagten nach Sensationen und könnten die komplexen Zusammenhänge der Welt nicht mehr verständlich erklären.

Solchen Diskursen gegenüber steht das weniger spektakuläre Alltagsleben, in dem die meisten Menschen zumindest so weit vertrauen, dass sie zur Wahl gehen, ihr Geld für wertvoll halten und in der Regel glauben, was in den Nachrichten kommt.

Die Diagnose von Vertrauenskrisen ist also nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. Entsprechend hilflos wirken manche politischen Forderungen, die auf eine allgemein empfundene Vertrauenskrise reagieren: Appelle zum Zusammenhalt, zur Solidarität oder auch nur zum Dialog mit Menschen, die andere politische Ansichten vertreten als man selbst. Denn fehlt eine verbindliche gemeinsame Grundlage, können weder Aufrufe noch das Gespräch eine nachhaltige Wirkung entfalten. Es bleibt beim – mehr oder weniger höflichen – Schlagabtausch.

Wenn wir in diesem Buch die Frage nach dem Vertrauen stellen, geht es uns um Vertrauen als eine Beziehung, die gemeinsames Handeln überhaupt erst ermöglicht. Es ist der entscheidende Faktor, wenn wir uns fragen, wie wir die großen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen wollen. Denn von der Digitalisierung der Arbeitswelt bis hin zum Klimawandel ist die Wahrnehmung der Probleme davon abhängig, wie wir unser eigenes Handeln mit dem Handeln der anderen verknüpft sehen. Um den Herausforderungen begegnen zu können, braucht es einerseits das individuelle Vertrauen, selbst etwas bewirken zu können, die Überzeugung, dass eigene Anstrengungen auch für die Gesellschaft insgesamt etwas verändern. Andererseits sind wir darauf angewiesen, dass dieses Handeln von den anderen beachtet und berücksichtigt wird, also nicht isoliert bleibt.

Vertrauen hat viel mit Kontrolle zu tun. Wenn bei den Menschen etwa der Eindruck entsteht, dass staatliche Institutionen die Kontrolle über wichtige Aufgabenfelder verloren haben, schwindet mittelfristig ihr Vertrauen in sie. Hier blüht das Geschäft populistischer Politik, die ja mehr oder weniger glaubhaft vorgibt, volle Kontrolle zurückerlangen zu können. Dafür bekommt sie, oft scheinbar gegen jede Vernunft, von einem Teil der Wählerinnen und Wähler einen gewaltigen Vertrauensvorschuss. Oder die Menschen kümmern sich nicht weiter um Politik, suchen ihr Glück im Privaten, investieren ihre Zeit und ihr Geld lieber in sich selbst und in ihre Kinder. Das verspricht wenigstens eine gewisse Kontrolle über das eigene Leben. Für all jene, die es sich leisten können, ersetzt sie die Unterstützung seitens der Politik. Die Lebensmöglichkeiten derjenigen, die sich das nicht leisten können, schwinden dagegen.

Vertrauen ist nicht einfach ein individuelles Vermögen. Es besteht immer in Beziehungen – Beziehungen zu sich selbst, der Familie, den Freunden, der Gesellschaft insgesamt. Welche Art von Kontakt das eigene Leben mit dem der anderen verbindet, entscheidet somit zu einem guten Teil darüber, wer wem Vertrauen schenken kann. Die Möglichkeiten zum Kontakt mit anderen sind, wie wir sehen werden, in Bezug auf ökonomische Ressourcen wie auf Bildung sehr ungleich verteilt. Die Vertrauensfrage steht deshalb für eine Neudefinition der Verteilungsfrage: Es geht nicht mehr allein um die Verteilung von Gütern, sondern auch darum, wie individuelle Ressourcen zur Gestaltung des eigenen Lebens sowie des sozialen Miteinanders in den Beziehungsgeflechten unserer Gesellschaft verteilt sind. Und wer dabei die Gewinner und wer die Verlierer sind.

Um nachvollziehen zu können, wie die Menschen in Vertrauensbeziehungen eingebunden sind und wie sie auf ihre Mitmenschen blicken, brauchen wir Daten. Wir erhalten sie aus einer Studie, die wir am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung zusammen mit der Wochenzeitung DIE ZEIT und dem infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft durchgeführt haben. In einer ersten repräsentativen Erhebung von 2015 befragten wir die Menschen in Deutschland zu ihren Einstellungen und ihrem Handeln heute und dazu, ob diese als Maßstab für die »nachfolgenden Generationen«, also für die Gesellschaft der Zukunft, gelten sollten. Wir konnten sehen, wo das, was die Befragten über ihr Leben heute sagten, auch dem entsprach, was sie sich für die Zukunft wünschten, wie Sein und Sollen zueinander stehen. Das nannten wir das »Vermächtnis«, weshalb die Studie »Vermächtnisstudie« heißt (eine kurze Übersicht zu ihr findet sich auf S. 113 ff. dieses Buches).

Wenn wir die individuellen Aussagen der Befragten über ihr eigenes Leben und ihre Wünsche für die Zukunft vergleichen, wissen wir aber noch nicht, wie sich ihre Ansichten zu dem verhalten, was sie an ihren Mitmenschen wahrnehmen. Für die Überzeugung der Menschen, dass ihre Wünsche auch gesellschaftlich umsetzbar sind und sie damit nicht allein dastehen, ist dieses Verhältnis jedoch grundlegend. Wir mussten also auch ermitteln, wie die Befragten ihre Mitmenschen heute sehen. Deswegen haben wir 2018 in einer zweiten großen Erhebung diese Frage ergänzt. Wir betrachten, wie die Befragten sich selbst, ihre Einstellungen und ihr Verhalten im Vergleich zu den anderen Menschen in Deutschland einschätzen.

Damit sind wir beim Kern unserer Vertrauensfrage: Bei welchen Themen glauben die Menschen, dass andere eine ähnliche Ansicht vertreten wie sie selbst? Wo schenken sie den anderen Vertrauen, weil sie davon ausgehen, dass diese wie sie denken und sich wie sie verhalten? Der Unterschied zwischen den Antworten auf die Fragen »Was ist mir wichtig?« und »Was ist den anderen Menschen in Deutschland wichtig?« ist in einigen Bereichen des täglichen Lebens riesig. In anderen Bereichen passt kein Blatt zwischen das, was die Menschen über sich und über die anderen sagen. Warum ist das so? Was unterscheidet die Themen? Wie kommt es, dass viele Menschen zwar sehr ähnliche Meinungen teilen, aber trotzdem davon ausgehen, ganz unterschiedlicher Ansicht als die anderen zu sein? Dieses Missverständnis, um nicht zu sagen: Unverständnis, ist es, was wir mit der »Vertrauensfrage« meinen.

Mit diesem Blick machen wir auf die Bedingungen von sozialem Fortschritt aufmerksam. Vertrauen ist immer ein Risiko. Wer Vertrauen schenkt, macht sich verletzbar. Doch erst, indem man den anderen vertraut und ihnen somit ihre Selbstständigkeit zugesteht, gibt man ihnen den Raum, der etwas Neues überhaupt erst ermöglicht. Beziehungen aufzubauen, die ein solches Risiko rechtfertigen, ist ein langwieriger Prozess. Er erfordert eine gewisse Verlässlichkeit im Lebenslauf, genügend Zeit und Geld sowie das Vermögen, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten. Und schließlich Infrastrukturen, die dafür sorgen, dass man dabei nicht isoliert bleibt, mit anderen in Kontakt kommt.

Maßnahmen, die diese Bedingungen herstellen, nennen wir eine Politik des Vertrauens. Es ist eine Politik, die nicht in moralischen Appellen zu gesellschaftlichem Zusammenhalt besteht, sondern nach seinen Bedingungen fragt. Wie eine solche Politik aussehen kann, werden wir am Ende des Buches aufzeigen. Auch wenn wir die Maßnahmen nur skizzieren können, so hoffen wir doch, Ihnen, den Leserinnen und Lesern, genügend Instrumente an die Hand zu geben, die Politik des Vertrauens nach der Lektüre weiterzudenken. Sie haben unser Vertrauen.

1 DER WERKZEUGKASTEN: WIE WIRKT VERTRAUEN?

Unsere Vorstellung von Vertrauen wird durch alltägliche Vorannahmen geprägt. »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!«, heißt es immer wieder. Die eigene Umwelt zu kontrollieren ist demnach sicherer, als sich ihr vertrauensselig auszuliefern. Diese Einstellung klingt heute auch in vielen politischen Debatten mit. »Take back control«, die Kontrolle zurückzugewinnen, versprach etwa die letztlich erfolgreiche Brexit-Kampagne. Wenn wir in diesem Buch dennoch für Vertrauen werben, müssen wir also zuerst fragen: Wie verhalten sich Vertrauen und Kontrolle zueinander? Schließen sie sich wirklich aus?

Vertrauen und Kontrolle

Beginnen wir mit einem Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf und haben kein Vertrauen mehr. In nichts und niemanden. Kein Vertrauen in sich selbst. Schaffen Sie es aus dem Bett? Wie sollen Sie den Tag bewältigen – ohne Vertrauen in die Menschen, mit denen Sie leben, Ihre Partner, Kinder oder Mitbewohnerinnen? Die führen doch bestimmt etwas im Schilde! Sind Sie überhaupt noch sicher in den eigenen vier Wänden? Allerdings sähe es draußen nicht besser aus. Den Menschen auf der Straße kann man erst recht nicht trauen. Also doch besser im Bett bleiben? Wer garantiert Ihnen, dass den Sicherheitsstandards, die Ihr Bett erfüllen soll, überhaupt zu trauen ist und dieses nicht im nächsten Moment zusammenbricht?

Statt auf Vertrauen setzen Sie nun also auf Kontrolle, auf Wissen. Wie können Sie Ihren Körper kontrollieren? Immerhin gibt Ihnen Technik die Möglichkeit, die wichtigsten Körperwerte ständig zu überwachen, und lässt Sie wissen, ob Sie fit für den Tag sind. Auch regelmäßige Kontrolluntersuchungen beim Arzt sind zu schaffen. Auf den zweiten Blick müssen Sie jedoch auch der Technik und dem Arzt erst einmal vertrauen. Was Ihre Wohnung angeht, wird es schon aufwendiger. Am sichersten scheint das Überwachen mit Videokameras. Aber woher die Zeit nehmen, die ganzen Aufnahmen zu sichten? Sie brauchen also Angestellte, die das für Sie übernehmen. Und eine Hausmeisterin, die Sonderschichten einlegt, um auch Ihre Einrichtung regelmäßig auf Sicherheit zu überprüfen. Schließlich sind da noch Ihre Nachbarn, weshalb Sie einen Sicherheitsdienst benötigen. Und noch mehr Kameras. Und bei all dem Personal stellt sich die Frage: Wie kontrollieren Sie eigentlich Ihre Angestellten?

Irgendwann in der langen Kette müssen Sie folglich dennoch vertrauen. Vertrauen und Kontrolle schließen sich also gar nicht aus. Vielmehr sind sie eng aufeinander bezogen. Was intuitiv erst einmal schwer nachvollziehbar ist, ist letztlich eine Grunderkenntnis unserer Wissenschaft, der Soziologie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb der Soziologe Georg Simmel über eine Welt, in der die Industrialisierung, die anonyme Großstadt und die Oberflächlichkeit des modernen Lebens noch relativ neue Phänomene waren. Vor allem beschäftigte ihn die Frage, wie eine Gesellschaft, in der die Leute sich nicht mehr kennen, nicht auseinanderfällt und in Mord und Totschlag endet. Was hält sie zusammen? Seine Antwort: Vertrauen.1

Mit Blick auf unser heutiges Leben würde Simmel fragen: Wie viel wissen Sie von den Menschen, mit denen Sie im Alltag zu tun haben, wirklich? Von den anderen Verkehrsteilnehmern, der Verkäuferin im Geschäft, Ihrer Ärztin, Ihren Arbeitskollegen, ja selbst von Ihren Freunden? Alles in allem nicht besonders viel, zumindest nicht genug, um hundertprozentig sagen zu können, mit wem Sie es zu tun haben. Sie verbringen eben nur einen bestimmten Ausschnitt Ihres Lebens mit ihnen. Laut Simmel spielt das jedoch keine Rolle. Es genügt, wenn Ihnen diese Leute im Hinblick auf diesen Ausschnitt zuverlässig erscheinen. Wenn sie sich im Straßenverkehr erwartbar verhalten, wenn die Verkäuferin freundlich ist und Ihnen Dinge verkauft, ohne Sie zu hintergehen, wenn Ihre Ärztin kompetent ist, Ihre Kollegen halbwegs zuverlässig sind und Ihre Freunde Sie nicht andauernd versetzen.

Dieser mit anderen geteilte Ausschnitt reicht, um ein gemeinsames Verständnis für die Situation zu entwickeln und das eigene Verhalten darauf abzustimmen: sich gemeinsam durch den Verkehr zu bewegen, einzukaufen, den Körper untersuchen zu lassen, Zeit miteinander zu verbringen. Es braucht nur genügend Anhaltspunkte dafür, dass sich andere Menschen auch tatsächlich so verhalten, wie man selbst es erwartet. Vertrauen ist demnach, so Simmel, eine »Hypothese künftigen Verhaltens, die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen«.2 Daraus schließt er im Übrigen auch, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht von der Individualität der einzelnen Menschen bedroht wird. Allerdings ist mit dem zunehmenden Individualismus unbedingt auch mehr Vertrauen erforderlich. Denn wer mit den Menschen im Alltag nicht mehr notwendigerweise gemeinsame Lebenserfahrungen teilt, braucht andere Wege, die Gegenseitigkeit und Verbindlichkeit im Zusammenleben sicherstellen.

Vertrauen ist daher nicht blind. Im Gegenteil: Es beruht auf einer Kombination von Kontrollierbarkeit und Wissen. Im Alltag sind es oft Details, die darüber entscheiden, ob wir jemandem vertrauen. Menschen, die uns äußerlich ähneln, schenken wir zum Beispiel eher unser Vertrauen. Gleiches gilt für Menschen, die wir gut aussehend finden. Beim Vertrauen in Institutionen ist es eine Mischung aus Erfahrungen, die wir gemacht haben, und aus Geschichten, die wir gehört haben. Auch Intuition spielt eine Rolle. Und so sind selbst Fakten kein Ersatz für Vertrauen. Sie steigern das eigene Urteilsvermögen nur so lange, wie man denen vertraut, die sie produzieren – seien es Verwaltung, Wissenschaft oder Medien.

In der Ökonomie und in der Soziologie ist das Verständnis von Vertrauen als »Hypothese künftigen Verhaltens« oft entscheidungstheoretisch zugespitzt worden. Vertrauen wird als eine Wette über zukünftige Handlungen anderer gesehen. Individuen, so die Vorstellung, rechneten sich aus, wie wahrscheinlich bestimmte Handlungen anderer seien, und entschieden dann, ob sich Vertrauen lohnen könnte. Vertrauen erscheint als kalkulierende wie kalkulierbare Ressource sozialer Beziehungen.3

Dabei ist es gerade nicht die Berechenbarkeit, die uns füreinander vertrauenswürdig macht. Vertrauen ist keine Ressource, die in uns selbst steckt und die wir einsetzen, um unseren Eigennutzen zu optimieren. Vielmehr steckt Vertrauen zwischen uns, in unseren Beziehungen. Und in diesen entscheiden wir nur in den seltensten Fällen ganz bewusst, ob wir jemandem vertrauen oder nicht. In der Regel ist Vertrauen in Alltagsroutinen eingebettet, was wir mit unserem Beispiel vom Anfang gezeigt haben: Wenn Sie morgens, ohne weiter darüber nachzudenken, vor die Tür treten, mussten Sie zwar mindestens schon Ihrem Körper, Ihrem Bett, den Menschen, mit denen Sie zusammenleben, und den Menschen auf der Straße trauen. Doch Ihre bewusste Entscheidung war das nicht. Es hat sich einfach bewährt, ist Normalität. Wird Vertrauen also explizit angesprochen, stehen Zweifel und Misstrauen oft schon im Raum. Nicht zufällig ist es für manche Politikerinnen und Politiker zum bösen Omen geworden, wenn Angela Merkel ihnen ihr »vollstes Vertrauen« aussprach: Die Tage ihrer politischen Karriere waren damit häufig gezählt.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser? Eher bedingen sich die beiden: Vertrauen schenken kann man nur aus einer Position der Stärke, der Kontrolle und des Wissens. »Der völlig Nichtwissende«, so abermals Simmel, »kann vernünftigerweise nicht einmal vertrauen.«4 Es kommt also immer auf das Zusammenspiel an. Eine gewisse Kontrolle ist nötig, um vertrauen zu können. Vollständige Kontrolle aber gibt es nicht: Je mehr man kontrolliert, desto mehr muss man vertrauen. Was ist dann aber die positive Wirkung von Vertrauen? Vertrauen, so der Soziologe Niklas Luhmann, ist sich im Klaren darüber, dass es immer auch anders sein könnte.5 Dort, wo es vorhanden ist, stärkt es folglich auch die Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeit. Es lässt sich von dieser nicht verunsichern, sondern ist offen für die unüberschaubare Vielfalt, die unvorhersehbaren Ereignisse des Lebens.

Die positive Wirkung des Vertrauens

Vertrauen macht das Zusammenleben daher nicht nur »flüssiger«, sondern auch toleranter. Das klingt gut, und so hat das Konzept »Vertrauen« in den letzten Jahrzehnten eine echte Karriere in den Sozialwissenschaften hingelegt. Vertrauen verspricht zweierlei herzustellen: eine starke Wirtschaft – und eine starke Gesellschaft. Im Fall des Wirtschaftens senkt Vertrauen die sogenannten Transaktionskosten. Damit bezeichnet die Ökonomie den Aufwand an Ressourcen, den man für ökonomische Handlungen wie Kaufen, Verkaufen oder Mieten einsetzen muss.

Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Drogen so teuer sind? Das liegt zu einem guten Teil an diesen Transaktionskosten. Auf einem illegalen Markt, auf dem es keinen Staat gibt, der die Regeln bestimmt, können sich die Marktteilnehmer gegenseitig nur sehr schlecht kontrollieren. Ihnen fehlt die Handhabe. So vertraut kein Produzent dem Händler, kein Händler dem Zwischenhändler, kein Zwischenhändler dem Endkunden. Denn wenn etwas schiefgeht, kann niemand einfach die Polizei rufen, niemand auf sein Recht pochen. Damit das Geschäft unter dieser Bedingung des Misstrauens dennoch zustande kommt, muss sich das Risiko lohnen – und deshalb muss mehr für alle herausspringen. In der Ökonomie ist Vertrauen darum als »Schmiermittel« bezeichnet worden.6 Im Fall des Drogenhandels fehlt es und wird durch Geld ersetzt. Die Risikoprämien machen Drogen so teuer.

Die positive Wirkung eines höheren Vertrauens, den diese Theorie in Bezug auf die Wirtschaft behauptet, findet sich durch international vergleichende Umfragen bestätigt. Höheres Vertrauen in Fremde geht demnach mit Wirtschaftswachstum und besserer Ausbildung der Bevölkerung einher. Aber nicht allein ökonomische, sondern auch psychische und soziale Faktoren wie Lebenszufriedenheit oder eine geringere Selbstmordrate hängen mit höherem Vertrauen zusammen.7 Was diese Ergebnisse nicht erklären können: Was war zuerst da? Das Vertrauen? Das Wirtschaftswachstum? Die Zufriedenheit?

Um diese Fragen zu beantworten, muss man sich genauer anschauen, auf welchen Ebenen Vertrauen aufgebaut wird und welche Arten des Vertrauens sich unterscheiden lassen. Im Kleinen gibt es zunächst das, was man »partikulares Vertrauen« nennt. Es basiert auf Beziehungen zwischen Personen, die sich persönlich kennen oder deren Verhalten weitgehend gegenseitig bekannt ist. Solches Vertrauen besteht in Familien, zwischen Freunden, im Idealfall am Arbeitsplatz. Wir sprechen vom kleinen Wir.

Grundlage ländervergleichender Analysen ist demgegenüber das »generalisierte Vertrauen«. Es basiert nicht auf konkreten Beziehungen zu Menschen, die man persönlich kennt, sondern auf dem Bild, das man von seinen Mitmenschen im Allgemeinen hat. Warum dieses generalisierte Vertrauen in einzelnen Ländern so verschieden ausgeprägt ist, wird seit Jahrzehnten diskutiert. Die jeweiligen Erklärungen lassen sich vor allem danach unterscheiden, aus welcher Richtung sie argumentieren: von unten nach oben – oder umgekehrt.

Im ersten Fall wird vor allem die Rolle bürgerschaftlichen Engagements betont. Mit ihm und insbesondere seinem Verfall hat sich der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Putnam auseinandergesetzt.8 Er fragte, wie Demokratien funktionieren, und fand die Antwort im sozialen Kapital. Darunter versteht Putnam drei eng miteinander verbundene soziale Mechanismen. Erstens das Vertrauen. Zweitens Normen der Gegenseitigkeit: Ich helfe in der Erwartung, dass mir in der Zukunft geholfen wird. Und drittens freiwillige Vereinigungen, also Vereine oder auch losere Gruppen etwa in der Nachbarschaft, in denen diese Gegenseitigkeit gepflegt und soziales Vertrauen aufgebaut werden kann.

In solchen Vereinigungen lernen die Menschen die Grundnorm der Demokratie, das gegenseitige Geben und Nehmen, und damit das daraus erwachsende Vertrauen. Putnam geht davon aus, dass sich dieses zunächst noch partikulare Vertrauen in der Nachbarschaft oder im Verein schließlich auch auf die Gesellschaft insgesamt übertragen lässt, also zu einem generalisierten Vertrauen wird. Vertrauen beginnt im Kleinen und geht dann ins Allgemeine.9

Andere argumentieren genau umgekehrt und sagen, es seien die großen politischen Rahmenbedingungen, die darüber bestimmten, ob eine Gesellschaft von generalisiertem Vertrauen geprägt sei oder nicht. Als überzeugend hat sich in diesem Zusammenhang insbesondere die Analyse der sozialstaatlichen Modelle erwiesen. So lässt sich zum Beispiel zeigen, dass in den breit ausgebauten Sozialdemokratien Skandinaviens das Vertrauen zwischen den Menschen sehr hoch ist.10

Vertrauensvorschuss

Jutta Allmendinger

An einer Universität ist eine wichtige Professur zu besetzen. Es geht um viel. Die nächste Exzellenzrunde steht an, man sucht ein Zauberwesen: international wissenschaftlich ausgewiesen, breit aufgestellt, neugierig auf die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen, kollegial, bereit, sich für die Belange der Universität einzusetzen, den Diskurs mit Politik und Öffentlichkeit zu suchen.

Ich leite die Berufungskommission. Anhörung folgt auf Anhörung. Begeisterung kommt nicht auf, von einer Einigung ist die Kommission weit entfernt. Ein Mehrheitsentscheid? Eine Neuausschreibung? Ich muss entscheiden.