Das Lavendelhaus - Hilary Boyd - E-Book

Das Lavendelhaus E-Book

Hilary Boyd

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eigentlich ist Nancy recht zufrieden: In ihrem Häuschen im südenglischen Sussex fühlt sie sich wohl, und sie muss nur durch den Garten gehen, um bei ihrer Tochter und ihren heißgeliebten Enkelinnen zu sein. Ihren Exmann – und Männer im Allgemeinen – hat sie abgeschrieben. Bis sie eines Abends Jim begegnet, der als Musiker durch die Pubs tingelt. Im Grunde ist Jim überhaupt nicht Nancys Typ. Trotzdem fühlt sie sich zu ihm hingezogen, und auch Jim scheint Gefühle für Nancy zu hegen. Als Jim unverhofft ein Haus in der Provence erbt, muss Nancy sich entscheiden. Ist sie bereit, sich kopfüber in ein neues Leben zu stürzen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 603

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Ein Haus in der Provence, umgeben von duftenden Lavendelfeldern … Das käme der 61-jährigen Nancy nicht mal in ihren kühnsten Träumen in den Sinn. Sie ist zufrieden, so wie es ist: In ihrem Häuschen im südenglischen Sussex fühlt sie sich wohl, und sie muss nur durch den Garten gehen, um bei ihrer Tochter und ihren Enkelinnen zu sein. Und mit dem Störfaktor Mann hat sie ohnehin abgeschlossen, seit ihr Exmann sich an der Seite einer Jüngeren vergnügt. Aber dann begegnet sie eines Abends Jim: Countrysänger, Raucher, Cowboystiefel-Träger – also eigentlich überhaupt nicht Nancys Typ. Und doch ist da etwas. Etwas, das auf Gegenseitigkeit zu beruhen scheint … Als Jim unverhofft ein Haus in der Provence erbt, muss Nancy sich entscheiden. Ist sie bereit, alles hinter sich zu lassen? Aber in Nancys Alter kann man doch nicht einfach so ein neues Leben beginnen … Oder doch?

Weitere Informationen zu Hilary Boyd

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

HILARY BOYD

DAS

LAVENDEL-

HAUS

Roman

Aus dem Englischen

von Kristina Lake-Zapp

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»The Lavender House« bei Quercus Editions Ltd,

an Hachette UK Company, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2017

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Hilary Boyd

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Picture Press/Anke Schütz

Redaktion: Gabriele Zigldrum

An · Herstellung: ik

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-20594-2V001

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

»Frauen sind wie Teebeutel.

Man weiß erst, wie stark sie sind,

wenn man sie in heißes Wasser wirft.«

Eleanor Roosevelt

PROLOG

Nancy stand in der Küche und bereitete das Abendessen zu. Im Radio lief The Archers, die wohl älteste Hörfunkseifenoper der Welt, die seit über sechzig Jahren auf BBC 4 gesendet wurde. Der Juliabend war windig und kühl, trotzdem standen die Türen zum Garten weit offen, die Schildpattkatze der Nachbarn schlich um die Pflanzkübel auf der gefliesten Terrasse und rieb sich genussvoll an dem leicht rauen Terrakotta eines großen Topfes mit Lavendel. Gerade als Nancy das für den Grill kleingeschnittene Sommergemüse mit Olivenöl beträufelte, kam ihr Ehemann Christopher in die Küche und teilte ihr mit, dass er gehen werde.

Christopher blieb vor der Kücheninsel stehen. Er trug Jeans und einen marineblauen Pulli mit Reißverschluss bis zum Kinn. Er war ein attraktiver Mann, hager, durchtrainiert und gebräunt von seinen endlosen Spaziergängen im Moor- und Marschland von Suffolk, das graue Haar kurz geschoren. Er wirkte entschlossen, beinahe grimmig, als er sie ansah, seine braune Ledertasche fest in der linken Hand.

»Wohin willst du denn?«, fragte Nancy, die öligen Hände in die Luft gestreckt wie ein Chirurg, der darauf wartet, dass man ihm vor einer anstehenden Operation die Handschuhe überstreift. Vor ihr auf der Anrichte lagen Zwiebeln, Zucchini, Paprika und Babytomaten. »Es ist bald Zeit fürs Abendessen.« Sie stellte mit dem Ellbogen das Radio aus. Christopher hasste The Archers.

»Zu Tatjana.«

»Jetzt? Warum?«

Tatjana war das neueste Mitglied der Downland Singers, eines kleinen Madrigalchors, den Christopher vor fast dreißig Jahren gegründet hatte. Tatjana kam aus Lettland und hatte sich bei ihnen vorgestellt, nachdem eine der Sängerinnen den Chor wegen der Krebserkrankung ihres Mannes verlassen hatte. Christopher war ganz begeistert gewesen von Tatjana, da diese eine junge, außergewöhnlich reine Sopranstimme besaß. Offensichtlich nicht ihr einziger Vorzug, wie Nancy nun feststellen sollte.

Ohne ihre Frage zu beantworten, fuhr Christopher fort: »Ich komme heute Nacht nicht nach Hause.«

Nancy sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ich komme heute Nacht nicht nach Hause«, wiederholte ihr Mann.

»Du kommst nicht nach Hause? Aber warum denn nicht?«

»Weil ich bei Tatjana bleibe, Nancy.«

Als Nancy ihn nach wie vor verständnislos ansah, fügte er hinzu: »Wir haben uns verliebt.«

Sie starrte ihn an. Bei einem Neunundsechzigjährigen klangen diese Worte irgendwie aufgesetzt, albern. Unfähig zu begreifen, ließ sie die Hände sinken und griff nach der Küchenrolle, um sich die Finger damit abzuwischen, einen nach dem anderen. »Aha«, sagte sie schließlich. »Wenn das so ist, solltest du jetzt tatsächlich lieber gehen.« Ihre Augen waren auf sein Gesicht geheftet, auf dem sie den Schock, die Bestürzung über ihre Antwort sehen konnte – den Schock, der ihren eigenen widerspiegelte.

»Es tut mir leid«, sagte er und wandte den Blick ab.

Vermutlich, dachte Nancy, tat es ihm auf seine eigene Weise tatsächlich leid. Christopher de Freitas redete nicht viel über seine Gefühle, und sein Herz schlug für kaum etwas anderes als für seine Musik, aber er hielt sich für einen anständigen Menschen. Und für einen brillanten Musiker – auch wenn ihm da nicht jeder zustimmte. Als Spezialist für Alte Musik hatte er Klassische Gitarre am Royal College studiert und anschließend Laute. Seine Madrigalsänger waren unter den Fans der Vorklassik international berühmt.

Nancy hatte Christopher kennengelernt, als er ans Royal Northern College of Music kam – sie studierte dort Klavier –, wo er die Meisterklasse der Lautenschüler übernahm. Sie selbst hatte kein großes Interesse an diesem Instrument, ganz anders als ihr Kommilitone Oliver, und für den interessierte sie sich. Doch Oliver war schnell vergessen, als Nancy von Christophers durchdringenden blauen Augen in den Bann gezogen wurde, die während des Seminars immer wieder an ihr hängen blieben und sie genauso faszinierten wie seine herausragenden Fertigkeiten im Umgang mit der Laute und die Eloquenz, mit der er seinen Studenten die Musik der Renaissance und die Formen des Madrigals nahebrachte. Am Ende der zweistündigen Veranstaltung war sie so fasziniert, dass sie aufstand und sich bei ihm bedankte.

Er hatte ihr seine Karte gegeben. »Sie können mich gern besuchen, sollten Sie mal nach London kommen. Im Juni gebe ich ein Konzert in der Cadogan Hall. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen Tickets besorgen?« Er formulierte das wie eine Frage, doch sie spürte, dass er ein Ja voraussetzte. Sein Selbstbewusstsein war enorm.

»Das hättest du mir eher mitteilen sollen«, sagte sie jetzt, wobei sie das Gefühl hatte, aus sich herauszutreten und dem älteren Paar in der sauberen Mittelklasseküche zuzuschauen. Sie schrie nicht, machte keine Szene, sondern fügte mit ausgesuchter Höflichkeit an: »Dann hätte ich mir keine Mühe mit dem Abendessen machen müssen.« Ihr Körper schien in einem Schraubstock zu stecken, der immer enger wurde, sodass sie nur noch Nichtigkeiten hervorpressen konnte, während sie darauf wartete, dass er ging.

»Richtig …«, murmelte ihr Ehemann weiter verharrend, als zögere er, sie zu verlassen, obwohl doch eigentlich genau das Gegenteil der Fall sein müsste, dachte Nancy. Müsste er sich nicht danach sehnen, es hinter sich zu bringen, seinen unerträglichen Schuldgefühlen zu entkommen? Müsste er sich nicht danach sehnen, voller Erleichterung an Tatjanas üppigen Busen zu sinken?

Richtig. Das war das letzte Wort in ihrer vierunddreißigjährigen Ehe.

Ist das besser als eine Nachricht auf dem Küchentisch?, fragte sich Nancy nach einer dreiviertel Flasche Rioja auf leeren Magen, während sie auf das Gemüse starrte, das verloren auf der Arbeitsfläche lag – verschmäht, genau wie sie, für nicht länger tauglich befunden. Vor Schock wie betäubt weinte sie nicht. Und erst nach der ganzen Flasche Wein und mehreren großzügig eingeschenkten Gläsern von Christophers geliebtem Glenfiddich dämmerte ihr durch den trüben Schleier des Alkohols hindurch, dass sie längst gewusst hatte, was zwischen ihrem Mann und Tatjana Liepa lief.

KAPITELEINS

Vier Jahre später

Was um alles in der Welt zieht man bei einem Line-Dance-Abend in einem Brightoner Pub an?, fragte sich Nancy, als sie ihre Garderobe vergeblich nach einem Outfit für den sechzigsten Geburtstag ihrer Freundin Lindy durchging. Lindy war ihr auch keine Hilfe gewesen.

»Zieh an, was du willst«, hatte sie leichthin auf Nancys verzweifelte Frage geantwortet. »Du kannst auch in Jeans und Cowboystiefeln kommen, wenn du möchtest.« Aber Nancy trug Jeggins von Marks & Spencer, die nicht einmal entfernte Ähnlichkeit mit echten Levi’s aufwiesen, und ihre schwarzen Stiefel passten weit besser ins Büro als auf die Tanzfläche eines Pubs, noch dazu, wenn dort Dolly-Parton-Songs gespielt wurden.

All die Klamotten, die während ihrer Zeit als Mrs Christopher de Freitas ihren Kleiderschrank gefüllt hatten – elegante Kleider mit Samtblazern, schwarze Abendhosen, Seidenoberteile und perlenbestickte Handtaschen –, waren längst in den Wohltätigkeitsladen in Aldeburgh gewandert, und sie konnte nicht behaupten, dass sie sie vermisste.

Ich werde aussehen, als käme ich direkt von einem der Bridge-Abende meiner Mutter, dachte sie, während sie die altbackene hellblaue Baumwollbluse abstreifte, die sie probiert hatte, weil ihre Farbe im weitesten Sinne an Jeansblau erinnerte. Im Grunde ziehe ich mich jeden Tag mehr an wie Mum. Entschlossen knallte sie die Schranktür zu und eilte treppab, aus ihrem kleinen Cottage hinaus und über den Kiesweg zu dem größeren Haus, in dem ihre Tochter Louise mit ihrer Familie lebte.

»Hallo!«, begrüßte sie Ross, ihr Schwiegersohn, lächelnd, als Nancy in die Küche stürmte. Er stand mit einem Wiegemesser in der Hand vor einem großen Hackbrett voller leuchtend grüner Kräuter. Daneben sah Nancy eine Schüssel mit ungekochten grauen Garnelen, eine weitere mit Broccoli und eine dritte, kleinere mit gehacktem Knoblauch, außerdem eine Flasche Sojasoße und eine glänzende rote Chili. Nancy erwiderte sein Lächeln und fragte sich, ob sie ihren Schwiegersohn jemals ohne Messer in der Hand, umgeben von Kochzutaten, gesehen hatte. Er besaß ein eigenes Restaurant, das Lime Kiln, drei Meilen entfernt, aber selbst wenn er nicht dort war – wie heute, an einem Samstag –, schien er von morgens bis abends nichts anderes zu tun als zu kochen.

»Wie geht’s?«, fragte er, während er in Höchstgeschwindigkeit den Berg Kräuter verarbeitete. Er war eine imposante Erscheinung, übergewichtig, breitschultrig und über eins achtzig groß. Sein kahlrasierter, glänzender Schädel brachte seine schönen braunen Augen, die umgeben waren von einem Kranz dunkler Wimpern, seinen vollen Mund und sein markantes Kinn noch besser zur Geltung. Sein Gesicht war blass, weil er viel zu viel Zeit drinnen verbrachte, und er war keine Schönheit, aber er hatte Charisma, was nicht zuletzt an seiner lauten, volltönenden Stimme und seinem offenen Lächeln lag. Nancy mochte ihn sehr.

»Nicht so gut«, antwortete sie, schob Bob, die Katze – kein Kater, aber ihre Enkelinnen hatten auf dem Namen bestanden –, zur Seite und ließ sich auf das verschossene grüne Sofa fallen, auf dem ein kunterbuntes Sammelsurium von Kissen verstreut war. »Ist Louise oben? Ich brauche unbedingt ein passendes Outfit … zum Line Dancing.«

Ross riss verblüfft die Augen auf, dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Line Dancing? Willst du mich auf den Arm nehmen, Nancy? Ich hätte nie gedacht, dass du darauf stehst!«

»Das tue ich auch nicht, aber es ist nun mal Lindys sechzigster Geburtstag, und sie möchte es so.« Es war auch gar nicht das Tanzen, das Nancy zu schaffen machte – ganz im Gegenteil: Sie liebte es zu tanzen, auch wenn sie nur selten Gelegenheit dazu hatte. Nein, es war die Party an sich. Partys waren nicht Nancys Ding. Anders als ihr Exmann, der einen Raum voller völlig fremder Menschen betreten und sich sofort prächtig mit ihnen unterhalten konnte, waren gesellschaftliche Veranstaltungen für Nancy so anstrengend wie Zähneziehen, und die unterschwellige Panik, die sie immer dann überkam, wenn ein solches Ereignis anstand, würde wohl niemals verschwinden. In den vier Jahren seit der Trennung war sie fast nie ausgegangen. Nach Christophers Treuebruch hatte sie sich zurückgezogen, hatte die Türen ihres weißgestrichenen Landhauses in Suffolk vor Freunden verschlossen und sich in unzählige Ausreden geflüchtet, die irgendwann vollkommen unglaubwürdig wurden – so lange, bis ihre Freunde aufgaben. Ein Jahr später war sie in das kleine Dorf Applecroft nördlich von Brighton gezogen, in ein Cottage gleich neben dem Haus von Louise und Ross. Das war nun drei Jahre her.

Noch bevor Ross ihre Frage beantworten konnte, drang ein Schrei aus dem Fernsehzimmer. Hope, neun, und Jazzy, sechs Jahre alt, stürzten in die Küche, laut »Nana, Nana!« rufend, und warfen sich in die Arme ihrer Großmutter.

Ein großes Glas Pinot in der Hand, das Ross ihr aufgedrängt hatte, und ein Schälchen Salzmandeln später saß Nancy auf dem Ehebett ihrer Tochter. Hope durchwühlte bereits die Schubladen und Schränke ihrer Mutter.

»Schau mal, Nana«, sagte sie eifrig, »das ist perfekt für eine Party.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und zog einen glitzernden goldenen Strickbolero vom Bügel, der Nancys Meinung nach eher zu einer von Hopes Barbies als zu ihr oder Louise passte. Mit ihren großen braunen Augen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, sah sie ihre Großmutter an.

»Ähm … Ist der nicht etwas zu … glänzend?«

Louise kicherte, als sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter bemerkte. »Ein Spontankauf«, erklärte sie und warf Nancy eine mit Fransen besetzte cremefarbene Wildlederjacke zu. »Die ist perfekt, stimmt’s?« Sie drehte sich wieder um und durchforstete weiter ihre Garderobe. »Irgendwo müsste noch eine Jeanslatzhose sein … Obwohl das vielleicht mehr nach Bauer aussieht als nach Cowboy.«

Jazzy, die neben Nancy auf dem Bett saß, riss entsetzt die blauen Augen auf. »Nana kann auf einer Party doch keine Latzhose anziehen!« Sie klang zutiefst schockiert.

Louise nickte beipflichtend und zauberte aus den Tiefen ihres Kleiderschranks eine Jeans hervor. »Die hier ist besser. Eine echte Levi’s, und sie sieht so aus, als würde sie dir passen.«

Nancys Tochter kam vom Äußeren her nach Christopher: feingliedrig, schlank mit scharfgeschnittenen, fast kantigen Geschichtszügen. Sie war ungefähr fünf Zentimeter kleiner als ihre Mutter und sah ihrem Vater sehr ähnlich, hatte seine blauen Augen. Nur ihr volles dunkelbraunes Haar stammte von Nancy, auch wenn Louise nicht viel daraus machte und es meist zu einem kurzen, strengen Pferdeschwanz zurückband. Sie hatte etwas Knabenhaftes an sich, das auf Männer oftmals sehr attraktiv wirkte, außerdem ein bezauberndes Lächeln, das ihr Gesicht sofort weicher machte.

»Na los, probier sie an«, drängte Louise und streckte ihrer Mutter die Jeans entgegen.

»Jetzt? Vielleicht sollte ich die Sachen mit rübernehmen …« Nancy warf einen verlegenen Blick auf die beiden Mädchen, die missbilligend die Kombination musterten, die ihre Mutter zusammengestellt hatte.

»Ach, komm schon. Ich will wissen, wie du darin aussiehst! Husch, raus mit euch, Mädels, damit Nana sich umziehen kann. Ich rufe euch, sobald sie fertig ist.«

Als die Mädchen draußen waren und kichernd vor der Tür warteten, zog sich Nancy bis auf T-Shirt und Unterhose aus und schlüpfte in Jeans und Wildlederjacke. Die Hose war ein Stückchen zu kurz und um die Taille etwas eng, aber die Jacke passte perfekt. Sie betrachtete sich in dem großen Spiegel an der Schlafzimmerwand, während Bob ihr schnurrend um die Beine strich.

»Hab ich’s nicht gesagt? Du siehst toll aus!« Ihre Tochter hatte sich auf die andere Bettseite fallen lassen und strahlte sie begeistert an. »Total C & W.«

»C & W?«

»Country & Western, Mum. Passend zum Programm.«

»Stimmt.« Sie drehte sich in den Sachen ihrer Tochter vor dem Spiegel hin und her und zupfte ihre Ponyfransen zurecht. Ihr mittlerweile silberweißes Haar war zu einem Bob geschnitten, der gleich unterhalb des Kinns endete und ihre ausgeprägten Wangenknochen betonte, genau wie ihre großen grauen Augen. Für eine Sekunde sah sie ihr jüngeres Selbst vor sich. »Ich hatte schon Panik, dass ich anfange, mich zu kleiden wie Mum.«

Louise lachte. »Es gibt Schlimmeres. Granny sieht umwerfend aus!«

»Ja, aber sie ist vierundachtzig. Ich habe genau die gleichen Jeggins von Marks & Spencer wie sie.«

»Du und das halbe Land.«

Nancy seufzte. »Ich glaube, ich hab Panik bekommen, weil sie neulich gesagt hat, ich sei jetzt im selben Alter wie sie, als Daddy starb. Damals ist sie mir so alt vorgekommen!«

»Du bist nicht alt, Mum. Sechzig ist das neue vierzig«, widersprach Louise, wie immer entschlossen, Nancys Sorgen zu zerstreuen. Dabei machte sie sich selbst andauernd um alles Mögliche Gedanken – vermutlich konnte sie daher nicht auch noch die Unsicherheit ihrer Mutter ertragen. Nancy fand das mitunter befremdlich, aber vielleicht war es besser, nicht über Dinge nachzugrübeln, die sie ohnehin nicht ändern konnte. Es war lediglich die schleichende Angst, der Rest ihres Lebens könnte schon jetzt klar und deutlich vorgezeichnet sein, die ihr neuerdings zu schaffen machte. Nancy fand die Vorstellung schrecklich, dem Beispiel ihrer Mutter zu folgen und die Zeit bis zum Tod in rein weiblicher Gesellschaft mit Brigde-Spielen, Noël Coward, ausgefallenen Torten, Kreuzfahrten und Streifzügen durch Marks & Spencer zu verbringen – um nicht zu sagen zu verplempern. Obwohl Frances ein für ihr Alter beneidenswertes Leben führte, wirkte sie stets unzufrieden und enttäuscht über die Entwicklung, die die Dinge genommen hatten.

»Ich hab sie!« Louise, die mittlerweile auf Knien vor ihrem Schrank hockte, schwenkte ein Paar spitze hellbraune Wildlederstiefeletten mit kleinem Absatz und Ziernieten durch die Luft. »Die sehen fast aus wie Cowboystiefel«, verkündete sie munter und reichte sie ihrer Mutter. »Sie passen zwar farblich nicht hundertprozentig zur Jacke, aber das wird schon keinem auffallen.«

»Glaubst du, die Größe stimmt?«

»Probier sie an. Ich habe sie oft getragen, das Leder ist ganz weich.« Sie sah zu, wie Nancy in die Stiefeletten schlüpfte. »Fantastisch. Kommt rein, Mädels, und schaut euch Nana an.« Sie musterte ihre Mutter von Kopf bis Fuß. »Absolut stilecht, Mum, und trotzdem elegant. In dem Outfit kannst du dich auf jeder Line-Dance-Party sehen lassen.«

KAPITELZWEI

Im Pub lief ein Countrysong, wenn auch keiner, den Nancy kannte. Sie war spät dran, da sie bis zur letzten Sekunde mit sich gerungen hatte, ob sie hingehen sollte oder nicht.

Dass sie die Sachen ihrer Tochter trug, hob nicht gerade ihr Selbstbewusstsein. Sie kam sich vor wie jemand, der unbedingt auf jung machen wollte und dadurch noch viel älter wirkte, außerdem zwängten die spitzen Stiefeletten ihren Zehen ein, sodass ihr die Füße schon nach dem kurzen Weg vom Parkplatz ins Pub wehtaten. Zudem schnitt ihr der Jeansbund ins Fleisch und warf einen hässlichen Wulst unter ihrem weißen T-Shirt.

Reiß dich zusammen, schalt sie sich, straffte die Schultern und holte tief Luft, als sie Lindy in dem überfüllten Pub entdeckte. Ihre Freundin stand mit einer Gruppe Frauen an der Bar, eine Flasche Lager-Bier in der Hand. Sie trug unverschämt kurze Jeans-Shorts, eine mit Fransen besetzte Lederweste über einem schmalen weißen Baumwolloberteil und dazu die Krokodillederstiefel, die sie vor dreißig Jahren in Denver gekauft hatte. Sie sah umwerfend aus mit ihrem großen Stetson und den langen blonden Haaren – wie fünfundzwanzig, fand Nancy.

»Juhu! Nancy ist da! Ich dachte schon, du würdest kneifen«, jubelte Lindy und schlang begeistert die Arme um ihre Freundin. Nancy hatte Lindy am Schultor kennengelernt, als sie beide ihre Enkel abholten – Toby ging in Hopes Klasse. Daraus hatte sich eine Freundschaft entwickelt, befeuert durch Lindys unersättlichen Appetit auf jede Form von Kultur. Kino, Literatur, Musik, Theater, Tanz – was auch immer, Lindy besorgte die Eintrittskarten.

Nancy überreichte ihr ein Geburtstagsgeschenk: einen silbernen Armreif mit einem kleinen Türkis in der Mitte, den sie in einem Shop in den Brightoner Lanes entdeckt hatte – einem Labyrinth aus schmalen Straßen und noch schmaleren Gassen, in denen sich ein ausgefallener Laden an den anderen drängte.

»Das ist so lieb von dir, Süße! Es sollte doch niemand Geld für mich ausgeben!« Lindy bückte sich und steckte die in Geschenkpapier eingeschlagene Schachtel mitsamt Karte in die große Tasche zu ihren Füßen. »Ich werde später auspacken – momentan ist hier viel zu viel los.« Sie richtete sich wieder auf. »So, wen kennst du alles?«

Lindy stellte ihr Monica, Jessy, Alison, Rosanne, Suzie, Precious und zwei weitere Frauen vor, deren Namen Nancy nicht verstand. Die Einzige, die Nancy schon kannte, war Alison, Lindys alte College-Freundin. Gemeinsam hatten sie sich einen Terence-Davies-Film angesehen, The Deep Blue Sea, der im Duke-of-York’s-Kino in Brighton gelaufen war. Nancy erinnerte sich, wie sie sich vom Soundtrack, einem herzzerreißenden Violinkonzert von Samuel Barber, hatte davontragen lassen, während Alison eher unberührt wirkte und sich auch später nicht sonderlich gesprächig zeigte.

Die Frauen waren bereits ziemlich beschwipst – Nancy würde sich anstrengen müssen, um aufzuholen. Erleichtert stellte sie fest, dass Lindys Gäste bunt gemischte Outfits trugen – nur zwei der Frauen hatten Hüte aufgesetzt, drei echte Cowboystiefel angezogen. Einzig Lindy füllte ihre Rolle voll und ganz aus … mehr als das, um ehrlich zu sein.

»Was möchtest du trinken?«, fragte Rosanne, die Leiterin des Malkurses, den Lindy in Lewes besuchte.

Nancy bat um ein Budweiser. Wein mochte sie lieber, aber sie wollte keinen Schwips bekommen, weil sie mit dem Auto da war.

»Hört mal her, Mädels! Ich bin Jim Bowdry, euer Line-Dance-Lehrer. Ich führe euch durch den heutigen Abend, und ich bin mir sicher, dass wir jede Menge Spaß haben werden.«

Der hochgewachsene Mann, der gekleidet war wie ein Cowboy, winkte die Geburtstagsgesellschaft zu einem abgesperrten Bereich weiter hinten, in dem sich eine kleine, schwarz gestrichene Bühne mit Lautsprechern und einer Stereoanlage befand. Auf einem der Lautsprecher stand ein aufgeklappter Laptop. In einer Ecke entdeckte Nancy ein Schlagzeug. Sie war erleichtert, dass sie anscheinend gleich loslegen würden, was ihr weiteren Smalltalk ersparte. Inzwischen war sie bei ihrem zweiten Bier und wurde langsam lockerer. Die Frauen, so hatte sich herausgestellt, waren ein nettes Grüppchen, lebhaft und unprätentiös – selbst Alison taute langsam auf.

»So, meine Damen.« Jim richtete das Mikro seines Headsets aus, das er unter seinem silberweißen Stetson trug. »Wer von euch hat schon einmal Line Dancing gemacht?«

Nur vier Hände gingen in die Höhe, eine davon gehörte Lindy. Jim grinste. »Oje – so viele bezaubernde junge Ladys in eine Reihe zu bringen … das wird ein langer Abend!« Angeheitertes Gelächter folgte. »Zerbrecht euch nicht den Kopf, ob ihr alle Schritte richtig macht – hier geht es nur darum, Spaß zu haben. Denkt an das alte japanische Sprichwort: ›Wir sind Narren, ganz gleich, ob wir tanzen oder nicht, also können wir genauso gut tanzen.‹«

Es war klar, dass das zum einstudierten Programm gehörte, trotzdem brachte das Sprichwort – wenn es denn tatsächlich eins war und Jim es sich nicht speziell für diese Gelegenheit ausgedacht hatte – Nancy zum Schmunzeln. Als sie seinem Blick begegnete, musste sie unwillkürlich lachen.

Lindy stand neben ihr, als sie auf Jims Geheiß hin zwei Reihen bildeten, und flüsterte mit einem lasziven Augenaufschlag: »Sieht gut aus, unser Freund, findest du nicht? In dem Outfit kommt er rüber wie ein knallharter Macho, der jeden Augenblick einen Bullen zu Boden ringen wird oder was Cowboys sonst so machen – du verstehst, was ich meine?«

Nancy nickte grinsend, auch wenn sie sich mit Lindys Bemerkung leicht überfordert fühlte. Es war im wahrsten Sinne des Wortes Jahrzehnte her, dass sie ein solches Gespräch über einen Mann geführt hatte. Allerdings gefiel ihr Jim in der Tat. Er war ungefähr in ihrem Alter, um die sechzig, über eins achtzig groß, und er trug sein dichtes eisgraues Haar mit den tiefen Geheimratsecken zu einem kurzen Pferdeschwanz zurückgebunden. Dunkle Augenbrauen wölbten sich über seinen strahlend blauen Augen, die stets leicht amüsiert dreinblickten, seine Nase war ausgeprägt und leicht gebogen, die Lippen scharf geschnitten. Er erinnerte sie an eine ungeschliffenere Version des Schauspielers Terence Stamp.

»Wir fangen mit ein paar Grundschritten an«, sagte Jim. »Ich mache die Schrittfolge einmal vor, dann leite ich euch entsprechend an. Das ist nicht weiter kompliziert, ihr werdet es in null Komma nichts draufhaben.«

Was Nancy für unwahrscheinlich hielt. Immerhin hatte er es hier mit zehn beschwipsten Frauen zu tun, von denen die meisten noch nie in einer Reihe getanzt hatten, aber sie ließ sich ihre Zweifel nicht anmerken. Er hatte das schon öfter gemacht, er würde wissen, was auf ihn zukam.

»Als Erstes der Kreuzschritt, ›Grapevine‹ genannt. Der ist ganz einfach.« Er stellte die Stereoanlage an, baute sich vor ihnen auf, die Daumen in die Vordertaschen seiner Jeans gesteckt, und fing an, sich zu den Klängen eines Countrysongs zu bewegen. »Rechter Fuß: Schritt nach rechts, linker Fuß kreuzt hinter rechten Fuß, rechter Fuß: Schritt nach rechts, Füße zusammen, tap.« Er machte die Bewegungen langsam vor, dann wiederholte er die Schrittfolge in die linke Richtung, immer noch langsam, aber flüssig. »Jetzt seid ihr dran.«

Mit unterschiedlicher Begeisterung machte sich die Gruppe daran, Jims Tanzschritte nachzuahmen.

»Super! Jetzt ein bisschen schneller: nach rechts, linker Fuß kreuzt hinter rechten, rechter Fuß nach rechts, tap. Schritt nach links …«

Jim schlug auf seinem Oberschenkel den Takt und zählte laut mit, während die Gruppe seine Anweisungen befolgte. Eins-zwei-drei-vier, eins-zwei-drei-vier … Nach einer Weile fügte er weitere Schritte, Drehungen und Sprünge hinzu und machte ihnen vor, wie man auftippte, rutschte oder stampfte. »Zurück, zurück, zurück, zurück, nach links, nach rechts, Grapevine …« Die Musik wechselte, und Jim zeigte ihnen Choreographien mit selbstredenden exotischen Namen wie Electric Slide, Bootscoot Boogie oder Tush Push. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, verkündete via Mikro die Schrittfolgen und schwang aufreizend die schmalen Hüften.

Es war heiß auf der kleinen Tanzfläche, die Luft stickig, die Musik laut. Hinter ihnen füllte sich der Pub mit dem üblichen Samstagabendpublikum. Nancy spürte, wie ihr Gesicht schweißnass wurde, trotzdem genoss sie jede einzelne Minute.

»Ups!« Kichernd, mit Armen und Beinen fuchtelnd, stieß Lindy gegen Nancy, die daraufhin gegen Precious zu ihrer Rechten prallte.

Jim drehte sich um. »Brauchst du Hilfe?«, fragte er Nancy und stellte sich zwischen sie und Lindy. Die Hand auf ihren Arm gelegt brachte er sie wieder in den Takt. »Sprung … Füße zusammen, Ferse, Spitze, tap! He, du bist gut!« Seine Worte klangen plötzlich so intim in dem überfüllten Raum. Sie wagte nicht, ihn anzusehen.

»Links und rechts – verflixt noch mal! Das kriege ich nie hin! Ihr seid mir einfach zu schnell!« Lindy schnappte nach Luft, wedelte mit den Armen und tanzte erneut in die falsche Richtung, wobei sie gegen Jim und Nancy stieß. Jim fing sie lachend auf und begegnete über Lindys Kopf hinweg Nancys Blick. Nancy stellte überrascht fest, wie das ungewohnte Gefühl reiner Freude in ihr aufstieg.

»Was bist du nur für eine Streberin!« Lindy streckte Nancy die Zunge raus, als Jim wieder vor die Gruppe trat und ihnen den Rücken zuwandte. »Geiler Hintern«, flüsterte sie viel zu laut. Nancy krümmte sich vor Verlegenheit, als Jim sich umdrehte, ein schiefes Grinsen auf dem Gesicht, und anfing, sie in die Macarena einzuweisen, einen weniger schnellen Tanz, bei dem hauptsächlich Arm- und Hüfteinsatz gefordert war.

»Das war ein Riesenspaß!« Lindy, noch immer außer Atem, thronte auf einem Barhocker, den Stetson vor sich auf der Theke, die nackten, gebräunten Beine, beneidenswert straff und muskulös vom vielen Workout, übereinandergeschlagen. Alison und Nancy waren die einzigen noch verbliebenen Gäste: Es war schon nach Mitternacht, die anderen hatten sich gleich nach dem Tanzen verabschiedet. Jim war drüben bei der Bühne, nahm Hut und Headset ab, strich die Strähnen, die sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst hatten, zurück und wischte sich mit einem rot getupften Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. Jetzt spielte langsamere Musik, Kris Kristofferson sang »Sunday Morning Coming Down«.

»Jim kommt noch auf einen Drink zu uns.« Lindys Augen wanderten lüstern zu dem Line-Dance-Lehrer, der nun leise mitsingend zu ihnen herübergeschlendert kam.

»Macht es euch etwas aus, wenn ich schnell eine rauchen gehe?«, fragte er, als er sich zu dem Dreiergrüppchen gesellte. »Dauert nicht lange.«

»Was möchtest du trinken?«, fragte Alison.

»Oh, ähm, ein Heineken wäre großartig. Danke.« Er fischte seine Zigaretten aus der Hemdtasche und verschwand hinaus in die Nacht. Nancy war enttäuscht. Sie hasste Raucher.

»Der gehört mir«, verkündete Lindy betrunken und wiegte lasziv ihre Hüften.

Alison verdrehte die Augen. »Lass ihn in Ruhe, Lindy.«

»Warum sollte ich? Er trägt keinen Ehering, und er steht definitiv auf mich.« Sie kicherte. »Wie könnte es auch anders sein?«

»Es war ein wunderschöner Abend«, wechselte Nancy eilig das Thema. »Ich habe schon seit Jahren nicht mehr getanzt.«

»Ich auch nicht«, gestand Alison. »Es war fantastisch!«

Nancy fand, dass sie außergewöhnlich erhitzt und glücklich wirkte. Alison war Schulpsychologin, eine kleine, ernsthafte Frau, die sich nur selten entspannte. Ihr Ehemann Nick war mit Mitte vierzig einem Herzproblem erlegen. Nach seinem Tod hatte sie nicht wieder geheiratet.

Als Jim wieder auftauchte, einen Schwall kalte Luft und Zigarettenrauch mit sich bringend, zog Lindy einen freien Barhocker an ihre Seite. »Bitte schön, setz dich und unterhalte dich mit mir.«

Jim nahm ihr Angebot höflich an, doch er schob den Stuhl ein kleines Stück zurück, bevor er sich setzte, nach seinem Bier griff und einen langen, durstigen Schluck nahm. Nancy hatte den Eindruck, dass Lindys kokette Art ihn leicht nervös machte, obwohl er bei seinem Job doch mit Sicherheit an Frauen wie sie gewöhnt war.

»Dann hast du deinen Geburtstag also genossen?«, fragte er sie. Er hatte eine tiefe raue Stimme – wahrscheinlich vom vielen Rauchen, dachte Nancy –, und sie meinte wieder, einen amüsierten Unterton herauszuhören.

»Genossen? Geliebt ist das richtige Wort, Süßer«, tönte Lindy und legte besitzergreifend die Hand auf seinen Arm. »Auch wenn ich links nicht von rechts unterscheiden kann.«

»Du warst toll … Ihr alle wart toll, vor allem weil die meisten von euch das zum ersten Mal gemacht haben.«

»Ha! Das glaube ich nicht. Ich war furchtbar schlecht.« Lindy streckte den Arm aus und zog Nancy an sich. »Schaut euch Nancy an, sie ist ein Naturtalent!«

Jim musterte Nancy lächelnd.

»Es ist nicht schwer, wenn man nur das machen muss, was die anderen tun«, sagte Nancy und wandte schnell den Blick ab, als sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Sie hoffte, er würde es nicht bemerken, doch als sie sich ihm wieder zuwandte, waren seine blauen Augen noch immer auf ihr Gesicht gerichtet. Du albernes Weib, schalt sie sich stumm. Nach Jahren sieht dich mal wieder ein Mann an, und du wirst rot.

»Ich hatte ein paarmal Schwierigkeiten mitzukommen«, gab Alison zu, und Nancy seufzte erleichtert, dass Jims Aufmerksamkeit abgelenkt wurde. »Sobald ich auch nur eine Minute unkonzentriert war, bin ich sofort aus dem Takt gekommen.«

»Das ist alles eine Frage der Übung«, beschwichtigte Jim. »Wenn du die Schritte erst einmal draufhast, machen deine Füße sie von ganz allein.«

»Meine nicht.« Lindy streckte ihre Krokodillederstiefel in die Luft, um ihre wohlgeformten Beine zu präsentieren, und wackelte mit den Füßen, doch dabei geriet sie auf ihrem Barhocker gefährlich ins Wanken und klammerte sich Halt suchend an der Bar fest.

»Veranstaltest du oft solche Abende?«, fragte Nancy eilig, um von Lindy abzulenken. Der viele Alkohol bekam ihrer Freundin gar nicht – sie fing schon an zu lallen.

»Nein, nicht so oft. Hauptsächlich singe ich. Country.«

»Du bist Sänger?« Lindy wandte sich ruckartig Jim zu, wobei sie beinahe ihre Bierflasche umgestoßen hätte. »Wow, ich liebe Sänger! Hast du eine Platte aufgenommen?«

Jim lächelte. »Ja, aber das ist schon ziemlich lange her.«

Lindy stupste ihn spielerisch an. »Na, dann mal los. Sing uns etwas vor!«

»Ich habe meine Gitarre nicht dabei.«

»Ist doch egal. Nun komm schon, biiitte. Nur ein klitzekleines Lied – für mich. Irgendwas von Johnny Cash. Ich hab doch heute Geburtstag! Dem Geburtstagskind darf man keinen Wunsch abschlagen.« Sie klimperte mit den langen schwarzen Wimpern. »Das wäre gemein.«

Jim rutschte unbehaglich auf seinem Barhocker hin und her. »Liebend gerne, aber ohne meine Gitarre wird das nichts.«

Lindys Gesicht verfinsterte sich – so leicht akzeptierte sie kein Nein. »Ach, tu mir doch den Gefallen, Süßer.« Sie versuchte, sich aufzurichten, und ihr Ton wurde plötzlich herrisch. »Ich habe dich gebucht. Wenn wir wollen, dass du singst, gehört das zum Programmpaket.« Sie bedachte Jim mit einem strengen Blick, als erwarte sie, dass er auf der Stelle einen Song schmetterte.

Nancy erstarrte und warf Alison einen unsicheren Blick zu, die bestürzt die Augen aufriss. Diese Seite an Lindy – die alkoholbefeuerte Seite – hatte Nancy bislang nicht kennengelernt.

Jim zog bloß die Augenbrauen hoch. »Warum kommst du nicht zu meinem nächsten Gig, Lindy? Dann kannst du mich in Bestform erleben!« Sein Lächeln war so gewinnend, dass sich Lindys Gesichtszüge tatsächlich glätteten.

»Ja … ja, das ist eine gute Idee«, gab sie sich zufrieden.

»Ich glaube, wir sollten dich jetzt besser nach Hause bringen.« Alison glitt entschlossen von ihrem Barhocker und nahm Lindys Arm, doch die schüttelte die Hand ihrer Freundin ab.

»Nein! Es ist noch viel zu früh! Herrgott, ich habe Geburtstag! Ich will die ganze Nacht aufbleiben!« Und damit rutschte Lindy vom Hocker und sackte auf dem Pub-Boden zusammen, wo sie, die nackten Beine angewinkelt, liegen blieb.

Jim half Alison, Lindy ins Auto zu verfrachten. Gemeinsam hatten sie sie überredet, ein Glas Wasser zu trinken. Der Barkeeper hatte ihr einen starken Kaffee gemacht, den sie sofort erbrochen hatte – zum Glück auf der Damentoilette. Sie war kaum noch bei sich.

»Sollten wir sie nicht lieber in die Notaufnahme bringen?«, fragte Alison, nachdem sie Lindy auf dem Beifahrersitz angeschnallt hatten. »Ich hab sie noch nie in diesem Zustand erlebt, nicht mal auf dem College.« Ihr schmales Gesicht war verkniffen vor Sorge.

Nancy sah Jim an in der Hoffnung, er habe vielleicht mehr Erfahrung im Umgang mit derartigen Problemen, aber er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, ob das etwas bringt.«

»Soll sie ihren Rausch nicht einfach ausschlafen?«, schlug Nancy vor. Die drei standen neben Alisons blauem Mondeo auf dem leeren, schwach beleuchteten Parkplatz. Die Nacht war beißend kalt im Vergleich mit der überhitzten Luft im Pub. Nancy betrachtete ihre Freundin durchs Fenster. Lindy schlief, den Kopf auf der Brust, die blonden Haare wirr ins Gesicht hängend, die Hände in die Ärmel ihrer Lederjacke gesteckt.

»Was, wenn sie sich im Schlaf übergibt und sich an ihrem Erbrochenen verschluckt?«, gab Alison zu bedenken.

»Das ist ein Argument«, pflichtete Jim ihr bei. »Obwohl – in der Notaufnahme werden sie auch nichts anderes machen. Vermutlich legen sie sie vier Stunden auf eine Liege und schicken sie anschließend nach Hause.«

»Trotzdem habe ich kein gutes Gefühl, sie allein zu lassen. Ich nehme sie mit zu mir«, beschloss Alison stirnrunzelnd. »Man hört ja die übelsten Geschichten …«

Nancy fiel ein, dass Lindy sich des Öfteren über ihre Freundin Alison lustig machte, weil diese sich wegen jeder Kleinigkeit Sorgen machte. »Möchtest du, dass ich mitkomme?«, bot sie an und war erleichtert, als Alison verneinend den Kopf schüttelte.

»Danke, das kriege ich schon hin.« Sie seufzte. »Es war ein wunderschöner Abend. Entschuldige, dass Lindy etwas unhöflich war«, fügte sie an Jim gewandt an.

Jim hob abwehrend die Hände. »Sie hat ein bisschen zu viel getrunken, das kann man doch nicht ernst nehmen.«

Nancy und Jim sahen zu, wie Alison einstieg und mit Lindy davonfuhr. Als der Mondeo außer Sichtweite war, bückte sich Jim und hob seinen schwarzen Rucksack auf. »Wie kommst du nach Hause?«, fragte er.

»Ich bin mit dem Auto da. Der da drüben gehört mir.« Nancy deutete auf ihren Golf, der einsam und verlassen am anderen Ende des Parkplatzes stand.

»Kannst du denn noch fahren?«

»Kein Problem. Ich habe nicht viel getrunken.« Sie schauderte in der kühlen Aprilluft und zog Louises dünne Wildlederjacke enger um sich. Ihre Füße schmerzten höllisch in den spitzen Stiefeln ihrer Tochter. »Kann ich dich irgendwo absetzen?«

Jim zögerte. »Ähm … nein danke. Ich gehe zu Fuß, die Nachtluft wird mir guttun. Es ist nicht weit.«

Nancy war froh, dass er ihr Angebot ablehnte. Plötzlich war es ihr schrecklich peinlich, dass sie allein mit diesem gutaussehenden Mann in der Dunkelheit stand. Sie wollte etwas Witziges sagen, etwas, das die Verbundenheit stärkte, die sie während des Abends mehrfach verspürt hatte, aber ihr wollte partout nichts einfallen. »Wenn du meinst …«

Er nickte und setzte seinen Rucksack auf. Keiner von beiden rührte sich von der Stelle.

»Es war schön, dich kennenzulernen«, sagte Nancy schließlich und streckte ihm die Hand entgegen. »Der Abend war ein Riesenspaß.«

Lächelnd nahm er ihre kalte Hand in seine große, warme und drückte sie fest. »Danke. Das Gleiche gilt für dich, Nancy.«

Ihre Blicke begegneten sich, und Nancy hatte plötzlich das seltsame Gefühl, die Welt drehe sich langsamer, als befinde sie sich im Auge eines Sturms. Ein Polizeiwagen raste mit Blaulicht und Sirene die Straße entlang und holte sie mit einem Schlag zurück in die Realität. Sie ließ die Hand sinken.

»Nächsten Samstag trete ich auf – nicht hier, in einem Club in der Nähe des Bahnhofs. Wenn deine Freundin mich wirklich singen hören möchte …« Jim zog eine Karte aus der Tasche und reichte sie ihr. »Hier steht alles drauf. Wenn sie mich anruft, besorge ich euch Freikarten.«

Nancy nahm die Karte und warf einen Blick darauf, doch ohne ihre Brille konnte sie in der Dunkelheit nichts erkennen. »Danke.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob Countrymusic dein Ding ist.« Er sah sie fragend an, aber sie antwortete nicht. Ihr war kalt, und sie war müde, ausgepowert von dem anstrengenden Abend, überfordert von dem, was die Blicke zwischen ihr und diesem Fremden hier auszudrücken schienen. Momentan wusste sie nicht, was überhaupt ihr Ding war, geschweige denn, was sie von alldem halten sollte. War die Karte für Lindy, oder lud er auch sie zu seinem Gig ein? Sie standen ungewöhnlich dicht zusammen für zwei Menschen, die sich kaum kannten, weshalb Nancy einen Schritt zurück machte, um Distanz zu gewinnen.

»Ich liebe jede Art von Musik«, sagte sie nach einer Weile, erstaunt über die Leidenschaft in ihrer Stimme. Nicht etwa, weil diese Behauptung nicht der Wahrheit entsprach, sondern weil sie das Bedürfnis verspürte, Jim dies mitzuteilen.

Er lächelte. »Ja, ich auch.«

Es entstand eine Pause. »Also dann, mach’s gut.« Sie drehte sich um und ging zu ihrem Wagen.

Als sie eingestiegen war, ließ sie den Motor an und schaltete die Heizung ein, aber sie gab nicht sofort Gas, wollte, dass er zuerst den Parkplatz verließ, damit sie nicht an ihm vorbeifahren und womöglich winken musste. Sie wollte ihn heute Nacht nicht noch einmal sehen. Er hatte sie erschöpft.

KAPITELDREI

Jim platzte fast vor Aufregung, als er den Parkplatz verließ und durch die Stadt streifte. So wie jetzt hatte er sich seit Jahren, vielleicht seit Jahrzehnten nicht mehr gefühlt. Nancy. Er ließ sich ihren Namen auf der Zunge zergehen. Nancy … Nancy. Er hatte es sofort gewusst. Schon als sie heute Abend das Pub betreten hatte – viel zu spät, unsicher, mit einem charmanten, entschuldigenden Lächeln –, hatte er gefühlt, dass sie anders war als die anderen Frauen. Als sich ihre Blicke zum ersten Mal begegnet waren, hatte er tief im Innern einen Stich verspürt.

Während er durch die Straßen schlenderte, sang er leise einen Kris-Kristofferson-Song vor sich hin, einen Song, den er immer schon geliebt hatte, obwohl er von einer Trennung handelte: »For the Good Times«.

So fühlt es sich an, wenn man lebt, dachte er, verlangsamte sein Tempo und schlug den Weg am Meer entlang ein zu seinem kleinen Haus in Kemptown, einem Stadtteil im Osten von Brighton. Er genoss den kalten Wind, der ihm um die Nase wehte wie eine Nachricht des Universums, dass sein Leben kurz vor einem Umbruch stand. Er hatte keine Lust, schon nach Hause zu gehen, denn vielleicht war Chrissie noch wach. Wird Nancy nächsten Samstag kommen? Hab ich mich klar genug ausgedrückt, dass die Einladung nicht allein für ihre Freundin gilt, sondern eigentlich für Nancy gedacht ist? Er verfluchte sich insgeheim dafür, dass er nicht offensiver gewesen war. Doch andererseits hatte er sie gerade erst kennengelernt – und er wollte sie auf keinen Fall verschrecken. Sie kam ihm ziemlich zurückhaltend vor, ganz anders als ihre Freundin, das »Geburtstagskind«.

Hätte ich Nancy direkt eingeladen, hätte sie die Beine in die Hand genommen, dachte er, hob die Stimme und sang aus voller Kehle in die dunkle Nacht hinein. Das Lied war so traurig, dass es ihm fast das Herz abschnürte.

Plötzlich änderte er seine Meinung. Nein, ich hab’s vermasselt. Sie wird die Karte ihrer Freundin geben, und ich sehe sie nie wieder. Ich kenne ja nicht mal ihren Nachnamen, habe keine Ahnung, wo sie wohnt, und ich kann kaum Lindy anrufen und sie danach fragen.

Entmutigt zog er eine Schachtel Camel Blue aus der Innentasche seiner Lederjacke. Er wollte das Rauchen aufgeben, weshalb er sich einredete, es wäre am einfachsten, zunächst die leichte Variante zu probieren. Schützend schloss er die Hand um die Zigarettenspitze, klickte sein Feuerzeug an und zog den Rauch tief in die Lunge, um seine Nerven zu beruhigen.

Zu Hause angekommen stellte er fest, dass Chrissie noch wach war. Zumindest halb. Sie lag dösend auf dem Sofa in der Wohnküche im Souterrain, zugedeckt mit einer alten Wolldecke. Die bunt gemusterten Quadrate waren eigentlich für die Flüchtlinge in Darfur oder im Irak bestimmt gewesen, doch dann hatte Chrissie sich nicht von dem selbstgestrickten Stück trennen können. Sie hob den Kopf, als sie ihn eintreten hörte, und blinzelte verschlafen.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte sie, richtete sich auf, streckte träge die Arme über den Kopf und gähnte. Chrissie hatte etwas Katzenartiges, dachte er. Sie war hübsch mit ihren grünen Augen in dem schmalen, sommersprossigen Gesicht und den Haaren, deren Farbe Jim stets an Orangenmarmelade erinnerte und die noch immer nicht verblasst war, obwohl Chrissie vor ein paar Jahren die fünfzig überschritten hatte. Der kurze Schnitt stand ihr und brachte ihre geschwungenen Lippen und das kleine Grübchen in ihrem Kinn gut zur Geltung.

»Ganz okay.«

Chrissie runzelte die Stirn. »Das ist alles? Bloß ›ganz okay‹?«

»Ich dachte, du wärst längst ins Bett gegangen«, gab Jim anstelle einer Antwort zurück, auf der untersten Treppenstufe verharrend, als wolle er die Küche lieber nicht betreten.

»Das hatte ich vor, aber irgendein betrunkener Volltrottel hat gegen mein Schlafzimmerfenster gehämmert und verlangt, dass ich ihn reinlasse. Dachte wohl, er wohnt hier. Ich hab versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, aber dann ist er hoch zur Haustür und hat weiter Rabatz gemacht. Hat erst Ruhe gegeben, nachdem er die ganze Nachbarschaft aufgeweckt hatte und Jared aus der Nummer zwölf drohte, ihm etwas anzutun, sollte er nicht endlich die Klappe halten.«

»Ich hoffe, du hast ihm nicht aufgemacht.«

»Ich bin doch nicht verrückt! Allerdings ist es ganz schön schwer, jemandem durch die verschlossene Tür klarzumachen, dass er sich in der Adresse geirrt hat.« Sie gähnte erneut, faltete die Decke zusammen und legte sie über die Armlehne des Sofas. »Anschließend war an Schlaf nicht mehr zu denken.«

Jim wollte nicht hier stehen und mit seiner Frau plaudern. Mit jedem Wort, das sie wechselten, verflog die Euphorie, in der er schwelgte, seit er Nancy auf dem Pub-Parkplatz zurückgelassen hatte, löste sich auf wie eine Fata Morgana. Er fühlte sich ernüchtert und deprimiert – wie damals, wenn die Wirkung der Drogen nachließ, mit denen er experimentiert hatte. Damals, als er noch jung und unbedarft gewesen war. »Ich hoffe, er kommt nicht wieder«, sagte er.

Chrissie schaute ihn finster an. »Ist das alles? Ich finde, du könntest ruhig etwas mehr Mitleid mit mir haben. Was ist heute Abend bloß los mit dir? Willst du keinen Kaffee machen und mir den neuesten Klatsch und Tratsch erzählen?«

Was er häufig tat, wenn er spätabends nach einem Gig oder einer Line-Dance-Veranstaltung nach Hause kam. Doch jetzt schüttelte Jim den Kopf. »Gar nichts ist los. Ich bin bloß fix und fertig, das ist alles.«

Er zog seine Jacke aus und warf sie sich über die Schulter. »Gute Nacht!«, rief er, dann stieg er die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer im Erdgeschoss, das auf den kleinen gepflasterten Garten auf der Rückseite ihres Reihenhauses hinausging. Das Schlafzimmer seiner Ehefrau im Souterrain grenzte direkt an den Gehsteig der Straße, daher hatte sie sich nach der Auseinandersetzung mit dem Betrunkenen nicht mehr dorthin gewagt.

Jims Wohnbereich bestand aus zwei aneinandergrenzenden Zimmern und einem Bad – mehr Zimmer gab es im Erdgeschoss nicht, nur noch einen kleinen Eingangsbereich. Er hatte sich hier eingerichtet, seit ihr gemeinsamer Sohn Tommy ausgezogen war, um in Edinburgh einen Programmiererjob bei einer IT-Firma anzunehmen. Was genau er dort machte, war Jim schleierhaft.

Um ins Schlafzimmer zu gelangen, musste man das Wohnzimmer durchqueren, das Jim mit einem großen braunen Ledersessel ausstaffiert hatte, der mit den Jahren wunderbar weich geworden war, außerdem mit einem rechteckigen Vintage-Couchtisch aus Glas und Teakholz, gekauft in den Siebzigern, als er etwas Geld übrig gehabt hatte. Auf den Holzdielen lag ein Teppich aus Mexiko, einst leuchtend rot, türkis und gelb, doch inzwischen waren die Farben verblasst. In einer Ecke des Zimmers standen ein Notenständer aus Metall und ein Keyboard. An der Wand daneben lehnte seine Gitarre. Seit über dreißig Jahren besaß er die Gitarre nun schon, eine Gibson Akustik, die zu seinem Alter Ego, seiner Muse geworden war. Ein Leben ohne diese Gitarre konnte Jim sich nicht mehr vorstellen.

Er setzte sich, zog seine Stiefel aus und warf sie in die Ecke, dann griff er nach der Flasche Jim Beam, die auf einem runden Tablett auf seinem Couchtisch stand. Jim schenkte sich ein kleines Glas ein und sah sich in dem Zimmer um, das er so sehr liebte. Notenblätter stapelten sich entlang der Fußleisten, daneben türmten sich Bücher – von seinem Lieblingsschriftsteller Ed McBain, dazu unzählige Biographien –, an den Wänden hingen gerahmte Poster von Bob Dylan, Mama Cass und Joni Mitchell, außerdem eines von Hank Williams aus den Vierzigern und ein sehr seltenes von Nina Simone bei einem Konzert zur Unterstützung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960ern.

Entspannt zurückgelehnt nippte er mit geschlossenen Augen an seinem Bourbon und genoss den Augenblick. Er hätte einen Mord begehen können für eine Zigarette, aber er blieb konsequent: Im Haus wurde nicht geraucht. Zum einen, so musste er zugeben, war es in seinem Zimmer ohne Qualm sehr viel angenehmer, zum anderen hatte er seinen Zigarettenkonsum durch diese selbstauferlegte Einschränkung um gut achtzig Prozent einschränken können. Er hatte schon lange vor, ganz aufzuhören – nur schien einfach nie der richtige Tag dafür zu sein.

Ich bin total bescheuert, dachte er, als er an den vergangenen Abend und Nancy zurückdachte. Was für eine seltsame Begegnung, aber so etwas kommt nun mal vor. Vermutlich hat sie mich gar nicht richtig wahrgenommen, und ich bilde mir alles nur ein. Trotzdem wurde er das schicksalhafte Gefühl nicht los, das ihn beschlichen hatte, als er zum ersten Mal in Nancys graue Augen blickte. War es wirklich möglich, dass er sich alles nur einbildete, zumal er sonst ein absolut realistischer Mensch war? So etwas hatte er noch nie empfunden, nicht einmal, als er Chrissie begegnet war.

Chrissie. Der Gedanke an seine Frau deprimierte ihn. Sprach es nicht Bände, dass sie ihren Wohnbereich komplett ins Souterrain verlagert hatte, sodass sie nun auf zwei verschiedenen Ebenen lebten – sie unten, er oben? Was zum Teufel sollten sie tun? Sie waren in diesem Reihenhaus gefangen, handlungsunfähig durch die finanzielle Notwendigkeit. Das konnte nicht gesund sein. Ja, sie kamen momentan ganz gut miteinander klar, hatten gelernt, zivilisiert miteinander umzugehen, was ein großer Fortschritt war. Jeder lebte sein eigenes Leben, Mann und Frau waren sie schon seit drei Jahren nicht mehr.

Jim war am Boden zerstört gewesen, als er Chrissie beim Fremdgehen ertappt hatte. Nicht zum ersten Mal. In den dreiundzwanzig Jahren ihrer Ehe hatte sie sich mindestens zwei Fehltritte geleistet, doch an dem Morgen, an dem sie ihm wie nebenbei mitgeteilt hatte, dass sie ihn verlassen würde, war das Fass übergelaufen. Ihre Taschen waren gepackt, es gab kein Zurück. Chrissie teilte ihm mit, dass sie schon seit Monaten mit Benji, diesem miesen Scheißkerl von Barkeeper, zusammen war, der stets auf bester Kumpel machte, wenn Jim zu ihm ins Pub kam. Genau das trieb Jim zur Weißglut: die Demütigung. Wahrscheinlich hatte das halbe Pub gewusst, dass etwas zwischen seiner Frau und Benji lief, und sich köstlich hinter seinem Rücken darüber amüsiert.

Jim hatte Chrissie geliebt, war ihr treu gewesen, obwohl ihn bei seinen Gigs ständig irgendwelche Mädels anmachten. Er wusste, dass sie auf die Musik abfuhren, auf die Performance und nicht auf ihn, trotzdem: Die Gelegenheiten waren da, und er nutzte sie nicht – wegen seiner Familie.

Chrissie blieb fast ein Jahr fort – ein Jahr, in dem sie kein Wort miteinander sprachen. Tommy versuchte wiederholt, sie zu einer Aussprache zu bewegen, aber Jim blieb stur, war viel zu verletzt. Dann servierte Benji sie wegen einer jungen Kollegin ab – was für eine Überraschung! –, und Chrissie kehrte nach Hause zurück, um dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten. Genau wie beim letzten Mal.

Jim gab sich gern als lockerer Typ – der er in der Vergangenheit tatsächlich gewesen war –, weshalb er bald aufhörte, sie zu hassen. Chrissie allerdings wollte nicht akzeptieren, dass ihre Beziehung unwiderruflich zerstört war, dass sie sie zerstört hatte, indem sie ihn mit Benji betrog. Sie versuchte, ihm weiszumachen, er sei altmodisch; es war ihr unbegreiflich, wieso er sie nicht zurücknahm. Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht war er altmodisch. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass er nicht mehr mit ihr schlafen konnte, ohne Benjis dämliche Visage vor sich zu sehen.

Eine Weile gab er sich große Mühe, über das, was sie ihm angetan hatte, hinwegzukommen, aber irgendwann gab er es auf und akzeptierte, dass ihm das wohl nie gelingen würde. So war es einfacher. Und Chrissie und er kamen sehr viel besser miteinander klar. Außer dass sie in letzter Zeit begonnen hatte, kaum merkliche Annäherungsversuche zu unternehmen. Zum Beispiel dass sie wie heute Abend unter einem Vorwand aufgeblieben war, damit er sich auf ein Tässchen Kaffee und einen gemütlichen Plausch zu ihr aufs Sofa setzte. Bislang hatte er mitgezogen, zumal ein Teil von ihm sich immer noch wünschte, sie könnten zusammen glücklich sein. Auch wenn er sich nicht sicher war, ob er sie überhaupt noch liebte. Nicht so, wie er sie zuvor geliebt hatte, nicht so, wie er sie lieben sollte.

Und nun war er Nancy begegnet und wusste, dass er Chrissie auch in Zukunft nicht mehr lieben würde. Nancy. Er würde sie wiedersehen, selbst wenn das bedeutete, sich bei ihrer dreisten Freundin anbiedern und sie beide zu einem seiner Gigs einladen zu müssen. Diese Vorstellung ließ ihn unwillkürlich zu seiner Gitarre greifen. Er würde nächsten Samstag einen sensationellen Auftritt hinlegen, nur für den Fall, dass sie aufkreuzte. Während der nächsten zwei Stunden spielte er leise vor sich hin, überlegte, welche Lieder sein Talent und seine Gefühle am besten zum Ausdruck brachten, und stellte die perfekte Reihenfolge zusammen. Als er endlich ins Bett fiel, war er sich sicher, dass es ihm gelingen würde, Nancys Aufmerksamkeit zu gewinnen, sollte sie denn tatsächlich zu seinem Gig kommen. Immerhin war er den großen Auftritt gewohnt, war der geborene Performer. Der Rest lag in Gottes Hand.

KAPITELVIER

»O Gott, o Gott! Ich hab das Gefühl, mich in Schutt und Asche aufzulösen. Ich bin völlig erledigt!« Lindy stöhnte leise ins Telefon.

Nancy lachte. »So schlimm?«

»›Schlimm‹ ist nicht der richtige Ausdruck, Süße, ›grauenvoll‹ trifft eher zu. Ich kann kaum noch geradeaus schauen, in meinem Schädel lärmt jemand mit einem Presslufthammer, und meine Leber steht kurz davor, den Geist aufzugeben.«

»Ich wusste gar nicht, dass deine Leber so geistreich ist.«

Aus der Leitung kam ein Stöhnen.

»Alison stand kurz davor, dich in die Notaufnahme zu verfrachten!«

»Ich weiß. Die Gute hat mich bei sich zu Hause ins Bett verfrachtet und selbst auf dem Sofa geschlafen.«

Es war später Sonntagvormittag, und Nancy wollte gleich rüber zum Mittagessen mit ihrer Familie gehen. Sie hörte, wie Lindy schluckte – vermutlich hielt sie eine Tasse starken Kaffee in der Hand. Schwarz. »Ich hoffe, du hast den Abend genossen.«

»Jede einzelne Sekunde, das kannst du mir glauben. Ein glorreicher Abschluss meines sechsten Lebensjahrzehnts. Die Party war ein Bombenerfolg, auch wenn ich mir wünschte, ich hätte zwei Stunden früher mit der Trinkerei aufgehört.«

Nancy hörte eine Bettdecke rascheln, dann ein neuerliches Stöhnen.

»Erzählst du mir, was genau passiert ist?«, nuschelte Lindy mit kleinlauter Stimme. »Ali weigert sich, ins Detail zu gehen. Sie behauptet, ich sei ziemlich unsicher auf den Beinen gewesen, weshalb sie mich mit zu sich genommen hätte – mehr ist aus ihr nicht rauszukriegen. Bitte, Nancy, ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass ich mich vor dem schönen Jim lächerlich gemacht habe.«

Nancy zögerte. Wie viel musste Lindy wissen? Sie beschloss, die unhöflichen Pöbeleien ihrer Freundin unerwähnt zu lassen, zumal Jim daran anscheinend keinerlei Anstoß genommen hatte. »So schlimm war es gar nicht. Du bist bloß vom Barhocker gerutscht und auf dem Fußboden gelandet.«

»O nein! Das ist so ziemlich das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann! Gibt es etwas Deprimierenderes als eine alte Frau, die betrunken zu Boden geht?«

»Du bist ausgesprochen anmutig zu Boden gegangen«, tröstete Nancy ihre Freundin, und beide brachen in Gelächter aus.

»Jim war mit Sicherheit ziemlich abgestoßen.« Lindys Stimme klang plötzlich matt und verlegen. »Ich werde ihm nie wieder in die Augen sehen können.«

»Aber nein, Lindy, ihn hat das nicht gestört. Er wirkte nicht mal überrascht. In seinem Job hat er mit Sicherheit Hunderte mehr oder minder beschwipste Frauen umkippen sehen!«

»Ja schon, aber das macht es auch nicht besser. Er war so süß! Ich würde ihn so gerne singen hören, du nicht?«

Bevor Nancy etwas erwiderte, betrachtete sie die Karte, die Jim aus seiner Jeanstasche gezogen hatte und die nun vor ihr auf dem Küchentisch lag. Den ganzen Morgen über hatte sie immer wieder dorthin blicken müssen. Gestern Nacht war sie total erschöpft nach Hause gekommen und hatte nur noch ins Bett fallen wollen, doch dann hatte sie hellwach in der Dunkelheit gelegen und an die erregende Spannung gedacht, die sie zwischen ihnen gespürt hatte.

Nach den vier zölibatären Jahren, die inzwischen hinter ihr lagen, wusste Nancy, dass sie extrem anfällig war für männlichen Charme. Seit Christophers Zurückweisung hatte sie nur selten mit einem Mann gesprochen, geschweige denn geflirtet: Sie hatte sich und ihren Schmerz in ihrer Rolle als Tochter, Mutter, Großmutter und Musiklehrerin vergraben, und ihr war völlig klar, dass sie jedem Mann verfallen wäre, der sie so angesehen hätte wie Jim – mit diesen strahlend blauen Augen, fragend, einladend, voller Esprit und Humor.

»Hast du Lust?«, fragte Lindy. »Soll ich ihn anrufen und herausfinden, wann er das nächste Mal auftritt? Ich erinnere mich verschwommen, dass er ein Datum genannt hat, allerdings will es mir partout nicht mehr einfallen …«

»Er hat mir seine Karte für dich mitgegeben.« Nancy biss in den sauren Apfel. »Sie muss hier irgendwo liegen. Er sagte, er würde uns Freikarten besorgen, wenn wir wirklich kommen wollten. Ich glaube, er gibt am Samstag ein Konzert.« Es war ihr peinlich zu flunkern, allerdings konnte sie unmöglich zugeben, dass sie längst seine Website aufgerufen hatte und bestens über die anstehenden Veranstaltungen informiert war.

»Super! Du kommst doch mit, oder? Ich weiß, dass Countrymusic nicht dein Ding ist, aber ich kann wohl kaum allein hingehen, und Alison ist völlig humorlos, wenn es um Männerfang geht.«

»Na klar komme ich mit. Ich mag Livemusik, ganz gleich, ob Klassik, Jazz oder Country.«

»Es geht mir nicht um die Musik, Süße.« Lindy kicherte. »Dann gibt er mir also seine Karte … Das ist ein gutes Zeichen. Anscheinend war er doch nicht total abgestoßen von meiner Besoffene-alte-Lady-Nummer. Was denkst du?«

»Es war dein sechzigster Geburtstag«, erinnerte Nancy ihre Freundin.

»Bitte erwähne nie wieder diese vermaledeite Sechs!« Lindy seufzte. »Gib mir lieber seine Nummer durch, dann rufe ich ihn an.«

In der Küche von Louise und Ross lief heute ganz großes Kino – genau wie die beiden es liebten. Ross, der Chef de Cuisine, bereitete das Mittagessen zu: Ofen und Herdplatten liefen auf Hochtouren, während er mit Pfannen, Tellern und Besteck klapperte. Sein tiefes Lachen füllte den Raum, der Duft von gebratenem Fleisch hing in der Luft. Louise übernahm die Rolle der Gastgeberin, deckte den Tisch, füllte die Gläser und kümmerte sich darum, dass alle hatten, was sie brauchten.

Heute kamen außer Nancy und Granny Frances noch andere Gäste hinzu – Ross’ stellvertretender Küchenchef Jason mit seiner Freundin Kyla sowie ein weiteres Paar aus dem Ort –, sodass sie mit Jazzy und Hope zu zehnt am Tisch saßen. Nancy fühlte sich unausgeschlafen und zermürbt von der gestrigen Nacht und hätte viel lieber bei sich zu Hause ein schlichtes Sandwich gegessen. Doch da sie nun mal nebenan wohnte, fiel ihr keine passende Ausrede ein – es sei denn, sie würde lügen –, und Ross nahm es sehr persönlich, wenn man seine Einladung zum Essen ablehnte. Also setzte sich Nancy zu ihrer Mutter aufs Sofa und überließ es den anderen, das Festmahl zu organisieren.

»Du siehst müde aus, Liebes«, bemerkte Frances, sobald ihre Tochter Platz genommen hatte. »Ich hoffe, du brütest nichts aus.«

War ja klar, dass dir das nicht entgeht, dachte Nancy gereizt. Ihr fiel auf, wie zerbrechlich ihre Mutter wirkte, obwohl sie so tadellos gepflegt und adrett aussah wie immer. Der schneeweiße Kurzhaarschnitt umrahmte ein straffes Gesicht mit blassblauen Augen und noch immer vollen zartrosa geschminkten Lippen. Heute trug sie ein graues Leinenkleid, eine hellblaue Kaschmirstrickjacke und einen Seidenschal mit blauen Rosen. In letzter Zeit konnte sich Nancy des Eindrucks nicht erwehren, dass Frances jedes Mal, wenn sie sie sah, ein bisschen dünner geworden war. Sie nahm sich vor, mit Louise darüber zu sprechen, denn wenn sie ihre Mutter damit konfrontierte, winkte diese mit einem leichtfertigen »Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst« ab.

»Es ist gestern spät geworden. Ich war auf dem sechzigsten Geburtstag einer Freundin.«

Frances’ Gesicht hellte sich auf. »Oh, eine Party! Wie schön! Welches Kleid hast du getragen?«

Louise, damit beschäftigt, den Tisch zu decken, bekam das Gespräch mit. »Kein Kleid, Granny«, ließ sie sich vernehmen. »Mum war beim Line Dancing in einem Pub in Brighton. Sie hatte meine Jeans und eine Wildlederjacke an, dazu die Stiefeletten mit den Nieten, die dir so gut gefallen. Sie sah großartig aus!«

Frances zog die Augenbrauen hoch. »Ach, du liebes bisschen! Das klingt ein wenig … nun, sagen wir exzentrisch. Sechzig, sagst du?«

Nancy sah die vertraute Mischung aus Verblüffung und Missbilligung auf ihrem Gesicht. Sie war noch nie den Erwartungen ihrer Mutter gerecht geworden. Selbst als sie mit Christopher verheiratet gewesen war, hatte ihr Frances – ohne es je direkt auszusprechen – zu verstehen gegeben, dass Nancy die Anforderungen als Ehefrau eines im Fokus der Öffentlichkeit stehenden Musikers nicht erfüllte. Die Scheidung hatte ihr recht gegeben.

»Wie war’s, Mum?«, fragte Louise, die Hände voller Besteck.

»Lustig«, gab Nancy zurück. »Das Tanzen hat riesigen Spaß gemacht. Leider hat sich Lindy hoffnungslos betrunken und musste nach Hause gebracht werden, aber da war die Party ohnehin schon vorbei. Heute früh klang sie ziemlich wehleidig.«

»Die arme Lindy.« Louise lachte. »Wer hat euch die Schritte beigebracht?«

»Ein Mann namens Jim, ein Countrysänger.«

Noch während sie sprach, spürte sie Jim neben sich, sah, wie seine Augen auf ihrem Gesicht ruhten. Die Erinnerung ließ sie den Atem anhalten. Lindy hatte ihn vermutlich schon angerufen und die Freikarten organisiert – er wusste also, dass sie kommen würden. Nancy hätte die Karten lieber über seine Website bezogen, um anonym zu bleiben, aber dafür war es jetzt zu spät. Wo ritt sie sich da bloß hinein? Ihre Freundin hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass sie auf Jim stand. Konnte sie wirklich einfach dasitzen und zusehen, wie Lindy sich an ihn heranschmiss? Und wie würde Lindy reagieren, wenn sich herausstellte, dass Jims Aufmerksamkeit Nancy galt? Das Ganze würde wohl oder übel in Tränen enden.

Sie riss sich zusammen und versuchte, ihr Augenmerk auf die Leute um sie herum zu richten, nahm das Glas Wein, das Kyla ihr reichte, und lauschte dem Loblied, das Ross auf diesen speziellen chilenischen Rosé sang, doch es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren.

Wenn Lindy auf ihn steht, kann sie ihn haben, redete sie sich ein. Was soll ich überhaupt mit einem Mann anfangen? Diese Frage brachte sie zum Lächeln.

»Was gibt es da zu grinsen?«, fragte ihre Mutter argwöhnisch.

»Nichts«, erwiderte Nancy. »Ich hatte gestern einfach einen sehr lustigen Abend.«

Was nicht dazu beitrug, die unverhohlene Sorge ihrer Mutter zu mindern.

»Du bist doch viel zu alt, um dich zu betrinken, Liebes.«

»Ich war nicht betrunken«, protestierte Nancy leise. Wenn es so gewesen wäre, hätte ihr das ja die perfekte Ausrede geliefert, warum sie Jim so verfallen war. Jim Bowdry.