Das Leben lesen - Ulrich Bahnsen - E-Book

Das Leben lesen E-Book

Ulrich Bahnsen

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Beschreibung

Neue Bluttests und ihre Folgen: ein brisantes Wissenschaftsbuch und ein engagierter Debatten-Beitrag über Fortschritt und ethische Verantwortung in Wissenschaft und Medizin, Politik und Gesellschaft. Mit Hochdruck entwickeln Labore derzeit neue Testverfahren, die bislang verborgene Informationen im Blut lesbar machen und sehr viel früher als bisher mögliche Erkrankungen anzeigen - und das mit einer sehr viel höheren Zuverlässigkeit und einer vergleichsweise geringen Belastung und einem niedrigen Risiko für die Test-Personen. Ulrich Bahnsen macht diese einschneidende Entwicklung anhand konkreter Beispiele zur Krebs-Früherkennung (u.a. als Mammographie-Ersatz), zur vorgeburtlichen Diagnostik (Pränatal-Diagnostik) und zur Forschung über die biologischen Prozesse des Alterns ("Innere Uhr") deutlich. Vor allem aber konfrontiert er uns mit den Fragen zur Ethik, die diese Revolution in der Medizin aufwirft: Wie werden wir mit diesem Wissen umgehen (Stichwort Lebensführung)? Wie können wir entscheiden, was wir wissen wollen und was nicht (Stichwort Eigenverantwortung)? Und was geschieht, wenn diese Informationen in falsche Hände geraten (Stichwort Daten-Missbrauch)? Schon heute kämpfen Pharma-Unternehmen um die Anteile an diesem Markt, der gewaltige Gewinne verspricht …

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Ulrich Bahnsen

Das Leben lesen

Was das Blut über unsere Zukunft verrät

Knaur e-books

Über dieses Buch

Neue Bluttests und ihre Folgen: ein brisantes Wissenschaftsbuch und ein engagierter Debatten-Beitrag über Fortschritt und ethische Verantwortung in Wissenschaft und Medizin, Politik und Gesellschaft. Mit Hochdruck entwickeln Labore derzeit neue Testverfahren, die bislang verborgene Informationen im Blut lesbar machen und sehr viel früher als bisher mögliche Erkrankungen anzeigen – und das mit einer sehr viel höheren Zuverlässigkeit und einer vergleichsweise geringen Belastung und einem niedrigen Risiko für die Test-Personen. Ulrich Bahnsen macht diese einschneidende Entwicklung anhand konkreter Beispiele zur Krebs-Früherkennung (u.a. als Mammographie-Ersatz), zur vorgeburtlichen Diagnostik (Pränatal-Diagnostik) und zur Forschung über die biologischen Prozesse des Alterns (»Innere Uhr«) deutlich. Vor allem aber konfrontiert er uns mit den Fragen zur Ethik, die diese Revolution in der Medizin aufwirft: Wie werden wir mit diesem Wissen umgehen (Stichwort Lebensführung)? Wie können wir entscheiden, was wir wissen wollen und was nicht (Stichwort Eigenverantwortung)? Und welche Bedeutung haben diese Informationen für Dritte (Stichwort Medizin-Ethik)? Schon heute kämpfen Pharma-Unternehmen um die Anteile an diesem Markt, der gewaltige Gewinne verspricht …

Inhaltsübersicht

1 Die Zukunft ist jetzt2 Unser flüssiges OrganVon den vier Säften und dem besonderen SaftDas Leben im BlutLogistiker für Sauerstoff: rote BlutkörperchenAufspüren, jagen, fressen: weiße BlutkörperchenDie Allesfresser: MakrophagenErste Hilfe: Blutplättchen3 Wie wir lernten, unsere Gene zu lesenEin Denkmal für MarjoleinMein Genom, dein Genom, und jeder Jeck ist andersVon Großeltern zu Urenkeln: das Getriebe der GenerationenCode-Brecher: der Aufstieg der MaschinenDie nächste GenerationDas geheime Genom4  Unter Kontrolle: das werdende LebenGuter Hoffnung, böse Überraschung?Die geheimen Botschaften im MutterblutZ-ScoreDer TestErwarte das UnerwarteteEine Industrie formiert sich5  Eine Gesellschaft ohne Behinderte?Unsere Biologie: Fehler und PannenDie späten MütterDie alten VäterVon Ethik und Moral: falsch und doch richtigWas dürfen wir tun – und was dürfen wir unterlassen?Das ist doch heute nicht mehr nötig …?6  Das VersprechenEin großer Plan und großes GeldZeichen im BlutUnsichtbare KillerBöse GeneFindet den Krebs!Liquid Biopsy: ins Blut geschriebenDie ersten Zeichen7  Das Menetekel im BlutCheck-upDiagnosen, Fehldiagnosen, ÜberdiagnosenMammografie – Früherkennung für BrustkrebsAbstrich – Früherkennung für GebärmutterhalskrebsKoloskopie – Früherkennung für DarmkrebsPSA-Test – Früherkennung für ProstatakrebsCA-125-Test – Früherkennung für EierstockkrebsDie Teufel der DetailsDie VerheißungDie Ablösung der Mammografie?8  Horvath’s Clock: die Uhr des SensenmannesDrei Bier und eine E-MailTödliche ThermodynamikImmer aufwärts – die LebenserwartungLanglebigkeit: das Geheimnis der HundertjährigenDer Herr der FliegenUnd Yoda stirbt nichtDie gleichgültige EvolutionAlgorithmus: die Zahnräder der LebensuhrIn den Genen – ein Ticken?9  Der unmögliche Traum: neue TräumerDen Tod betrügenJunges BlutDie Sehnsucht der PharaonenErneuerungDie DraculaformelDie Macht der SchalterZähmt das Alter!Der menschliche FaktorUnd dann?10  Epilog
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1 Die Zukunft ist jetzt

Was wäre, wenn? Wie würden wir leben, wenn wir über unsere Kinder schon alles wüssten, noch bevor sie geboren wurden? Ob sie gesund oder krank zur Welt kommen werden. Wenn wir das werdende Leben – Zeugung, Schwangerschaft und Geburt – vollständig unter Kontrolle hätten? Wir würden in einer anderen Gesellschaft leben, in der krank und behindert geborene Kinder kein Schicksal mehr sind. Aber wäre sie schöner, auch menschlicher?

Wäre es nicht die Erfüllung eines Menschheitstraums, wenn wir Krebs besiegen würden? Wenn jeder Tumor, sobald er entsteht, sofort entdeckt und beseitigt würde? Und niemand mehr an dieser Menschheitsgeißel sterben müsste? Wie viel Tode vor der Zeit, welches Leid und welche Tragödien könnten wir dann verhindern. Die Angst, die Sorge, irgendwann an Krebs zu erkranken, begleitet uns alle. Würden wir nicht ganz anders leben, wäre sie verschwunden?

Und was ist mit der ganz verrückten Sehnsucht, der größten Anmaßung, die wir uns vorstellen können: Wenn wir das Alter besiegen würden? Wenn wir endlich verstehen könnten, was das eigentlich ist, warum es so unausweichlich scheint. Was wäre, wenn wir es nun zähmen, es bremsen oder gar umkehren könnten? Die Idee ist uralt, aber erscheint uns so vermessen, dass sich kaum jemand mehr gestattet, sie auszusprechen. Doch wenn es gelänge – eine tiefere Zäsur in der Geschichte der Menschheit ist nicht denkbar.

Sind das wirklich Träume? Unerfüllbare Hirngespinste?

Als ich vor fünf Jahren mit den Recherchen rund um diese Themen begann – ohne jede Absicht, ein Buch zu schreiben –, war ich überzeugt, dass die Antwort lautet: Ja, das sind Fantastereien. Das Altern, die Gefahr durch Krebs und die Unberechenbarkeit des werdenden Lebens sind einfach Teil unserer Natur. In diesen fünf Jahren habe ich mit Ärzten gesprochen, Wissenschaftler in ihren Instituten besucht, an Tagungen teilgenommen. Und viele Forschungsberichte gelesen.

Es war keine plötzliche Erkenntnis, doch nach und nach stellte ich dabei fest – die Forschung war im Begriff, Grenzen niederzureißen, Barrieren zu durchbrechen, die ich für nicht überwindbar gehalten hatte. Die Frage »Was wäre, wenn …?« wandelte sich für mich zu »Wann wird es geschehen?«, »Wie wird es geschehen?« und »Was tun wir dann?«.

Es hat eine medizinische Revolution begonnen, in ihrem Mittelpunkt steht das Blut. Es ist in den vergangenen Jahren zu dem wohl aufregendsten Forschungsgebiet der Medizin und der Genetik aufgestiegen. Die Stoffe im Blut, Erbmoleküle und Eiweiße, machen einen neuen, einen grundstürzend anderen Blick in unseren Körper möglich: Im Blut spiegelt sich präzise, wie ein Fötus im Mutterleib wächst. Oder ob ein gefährlicher Tumor entsteht. Ihre Botschaften verraten buchstäblich alles über uns, über unsere Kinder, sogar über unser zukünftiges Leben. Und jetzt können wir diesen geheimen Code entschlüsseln.

Diese Revolution verschafft uns enormes Wissen und verlangt Antworten. Aus ein wenig Blut werden wir bald brisante Informationen über jeden Menschen – geboren oder ungeboren – herauslesen können: Bleibt er gesund, ist er krank, oder wird er krank werden? Wie alt ist sein Körper wirklich, und ist er in Gefahr, bald zu sterben? Und das Blut wird uns eine bislang utopische Einsicht verschaffen: wie wir das Alter zähmen können.

Was wird dann sein? Wissen ist immer besser als nicht wissen. Aber das bedeutet nicht, dass es keine Risiken und Nebenwirkungen gäbe. Wir leben bereits in überalterten Gesellschaften. Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, wenn wir unsere Lebensspanne verlängern? Werden wir dann zu einer statischen Gesellschaft, die weder Fortschritt noch Veränderung akzeptiert? Verarmt unser Zusammenleben, wenn nur noch gesunde Kinder zur Welt kommen? Und was macht das mit unserem Menschenbild? Sind wir dabei, das Schicksal abzuschaffen? Die Ungewissheit über Leben und Tod, Gesundheit und Leiden aus dem Leben zu verbannen?

Auf keine dieser Fragen gibt es heute schon Antworten. Doch es ist jetzt an der Zeit, sich ihnen zu stellen. Denn die Revolution hat bereits begonnen. Sie verspricht nicht nur enorme Möglichkeiten, sondern ebenso gewaltige Profite für Unternehmen. Es wäre naiv, sie stoppen zu wollen. Also nehmen wir uns der Herausforderung an.

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2 Unser flüssiges Organ

Von den vier Säften und dem besonderen Saft

Es ist eine der erstaunlichsten Erfindungen der Natur: das Blut. Sie gelang ihr vor vielen Millionen Jahren, als in der Evolution die Wirbeltiere entstanden, zu denen ja auch wir Menschen gehören. Zwar kommen viele andere Tiere ohne Blut aus – Insekten etwa, Krebse, Tintenfische oder Muscheln besitzen auch eine Form von Körperflüssigkeit. Echtes Blut zirkulierte aber erst in den Körpern der höheren Tiere.

Wir könnten ohne unser Blut niemals existieren. Wir wissen alle, was passiert, wenn ein Mensch bei einer schweren Verletzung zu viel Blut verliert: Er stirbt sofort. Das Blut ernährt uns, es beschützt uns. Es heilt unsere Wunden, und es dient Tag und Nacht als Nachrichtendienst zwischen den vielen Organen und Geweben im Körper. Eigentlich macht erst das Blut unseren Körper zu einer harmonisch zusammenarbeitenden Einheit. Und – das Blut »weiß« fast alles über unseren Körper: Ist er gesund oder leidend, jung oder alt? Droht eine Krankheit? Das Blut kennt sogar unsere Gene, selbst die ungeborener Kinder. Mit dieser neuen Erkenntnis werden wir uns noch eingehend beschäftigen.

Natürlich ist das Blut bei allen Menschen gleich aufgebaut. Trotzdem ist Blut nicht gleich Blut. Jeder von uns besitzt Blut mit ganz eigenen, einzigartigen Eigenschaften. Deswegen kann man Blutspenden nicht bei beliebigen Patienten einsetzen. Das übertragene muss dem Blut des Empfängers genügend ähnlich sein, damit es nicht zu einer fatalen Abwehrreaktion in dessen Körper kommt. Und doch gibt es ganz besondere Menschen, die dieser Regel trotzen können. Denn sie haben das »goldene Blut«. Es gibt nur sehr wenige von ihnen – erst ein paar Dutzend wurden bisher auf der Welt entdeckt. Sie können ihr Blut jedem Menschen spenden. Dadurch haben sie schon viele Leben gerettet.

Blut hat die Menschen schon immer fasziniert. Wir kennen alle das berühmte Zitat aus Goethes Faust: Blut sei eben »ein ganz besonderer Saft«. Dem würden wohl auch heute noch die meisten Menschen zustimmen. Doch fast ebenso verbreitet wie des Dichters Lob ist in der Gegenwart die Idee, unser Blut sei eigentlich nur eine Körperflüssigkeit. Ein Transportmittel in den Gefäßen, in einem logistischen System, das unseren Organismus versorgt. Lebenswichtig natürlich, weil es Sauerstoff und Nährstoffe im Körper verteilt. Und weil es den Abfall unseres Stoffwechsels abtransportiert. Aber eben doch nur eine Flüssigkeit, der rote Körpersaft. Diese Ansicht ist ganz falsch. Goethe hatte recht, auch wenn der berühmte Gelehrte damals nicht im Entferntesten ahnen konnte, aus welchen Gründen die moderne Naturwissenschaft ihm heute zustimmt.

Beginnen wir unsere aufregende Reise hinein in den modernen wissenschaftlichen Mythos vom Blut mit einer kleinen Erkundung des roten Stoffs, der in jeder Sekunde unseres Lebens durch den Körper kreist. Lange glaubten wir, längst praktisch alles Wissenswerte im Blut zu kennen und erforscht zu haben. Seine Zusammensetzung, seine Arbeitsweise und seine Aufgaben – all das scheint uns seit vielen Jahren geklärt. Der Hausarzt kann deshalb mithilfe des Blutes ganz gut einschätzen, wie es um die körperliche Gesundheit bestellt ist. Beim jährlichen Gesundheits-Check-up in der Praxis nimmt man uns einige Milliliter Blut ab, und nach der Untersuchung im Labor hat der Doktor alle Ergebnisse auf dem Tisch: die Menge der Blutkörperchen, die Zucker-, Fett- und Cholesterinwerte, den Eisenspiegel, die Konzentration der Mineralien, Salze und Leberenzyme, die Entzündungsparameter und manche mehr. Anhand einer Blutuntersuchung kann der Arzt sehen, ob zum Beispiel die Leber gesund ist und die Nieren gut arbeiten. Denn die Ergebnisse variieren, je nachdem, ob wir eine Infektion haben, eine Stoffwechselstörung oder vielleicht sogar ein bösartiges Leiden.

Der Blick in unseren Körper über das Blut ist schon lange Routine in der ärztlichen Praxis. Man darf darüber aber nicht vergessen, dass erst die moderne Medizin, wie wir sie heute kennen, die Entwicklung all dieser Untersuchungsverfahren im Blut hervorgebracht hat. Als wir damit begannen, das Blut zum Sprechen zu bringen, löste das eine erste medizinische Revolution aus. Heute, seit wir lernen, auch die geheimen Codes des Blutes zu verstehen, steht eine zweite, noch weit dramatischere Umwälzung in der Medizin bevor.

Dabei wissen wir noch gar nicht so lange, was Blut eigentlich ist. Seit der Antike herrschte unter den Heilkundigen die Vorstellung von den vier Säften des Körpers: helle und schwarze Galle, Blut und Schleim. Blut, so meinte man, entstünde in der Leber (was im Wesentlichen falsch ist, aber nicht ganz) und würde dann in den Organen verbraucht. Diese Lehre griff vor allem der berühmte griechische Arzt Galen im 2. und 3. Jahrhundert auf. Der Blutkreislauf war ihm noch unbekannt. Erst die Forschungen des Briten William Harvey zogen einen Schlussstrich unter eineinhalb Jahrtausende Vier-Säfte-Lehre. Als der Arzt und Anatom Harvey sein Werk 1628 veröffentlichte, gewann die aufstrebende naturwissenschaftliche Medizin erstmals ein realistisches Bild von der Architektur der Blutströme im Körper: dass manche Gefäße das Blut vom Herzen wegführen – die Arterien; dass Blut in anderen Gefäßen, den Venen, zurück zum Herzen strömt; dass unser Herz nicht Sitz der Seele ist oder – zu Harveys Zeit populär – eine Art Wärmepumpe im Körper darstellt, sondern ein hohler Pumpmuskel ist, der das Blut unentwegt durch den gesamten Körper treibt. Die wissenschaftlich exakte Vermessung der menschlichen Körperfunktionen, die gesamte Physiologie nahm mit Harveys Werk Fahrt auf.

Ein Rätsel aber blieb auch dem berühmten Mediziner verschlossen: Wo wird der Kreislauf geschlossen? Niemand fand eine Verbindung zwischen den Arterien, die vom Herzen kommend in die Organe führen, und den Venen, die von dort den Weg zurück zum Herzen bahnen. Das war kein Wunder. Man konnte die Verbindungen zwischen dem arteriellen und dem venösen Teil des Blutkreislaufs mit bloßem Auge eben auch gar nicht sehen. Erst das Mikroskop offenbarte den Wissenschaftlern später, dass die Organe von feinsten Gefäßen durchzogen sind. Es sind diese Kapillaren, die den Blutkreislauf schließen, sie verbinden den arteriellen mit dem venösen Teil des Gefäßsystems. Und in ihnen findet auch eine der wichtigen Aufgaben des Blutes statt: Hier gibt es Sauerstoff und Nährstoffe in die Gewebe unseres Köpers ab, nimmt Stoffwechselmüll und Kohlendioxid auf und transportiert alles zur Entsorgung in Lunge, Leber und Nieren.

Doch damit war erst eine der vielen Leistungen unseres Blutes entdeckt worden. Bis ins 19. Jahrhundert hinein ahnte niemand, welche Vielfalt an lebendigen Zellen es birgt. Dass es unsere Gewebe und Organe untereinander und mit dem Gehirn kommunizieren lässt. Dass es Wunden heilt, uns vor Krankheitserregern schützt. Und wie es diese Aufgaben bewältigt.

Blut ist zwar flüssig, aber es ist aus chemisch-physikalischer Sicht keine Flüssigkeit, sondern eine Suspension. Das bedeutet, es enthält feste Partikelchen, die in der eigentlichen Blutflüssigkeit fein verteilt sind. Und diese winzigen Festkörperchen sind enorm wichtig. Es sind die Blutzellen. Ganze 45 Prozent, also fast die Hälfte unseres Blutvolumens besteht aus Zellen. Sie machen aus dem Blut ein richtiges Organ. Wenn wir uns aus Versehen in den Finger schneiden, sehen wir es den roten Tropfen nicht an: Wir haben aber mit dem Blut das nach dem Gehirn komplexeste System des Körpers vor Augen. Nur die Nervenzellen im Kopf führen ein so kompliziertes Leben wie das Blut in unseren Gefäßen.

Doch nicht nur seine vielfältigen Zelltypen machen Blut zu einem erstaunlich vielschichtigen Organ. Wenn man im Labor, wie es etwa in Einrichtungen zur Blutspende geschieht, frisches Blut in einer Zentrifuge schleudert, sitzen danach die zellulären Bestandteile im Sediment. Darüber befindet sich das Blutplasma – der eigentliche flüssige Teil des Blutes. Der größte Teil davon ist Wasser, aber Plasma enthält immer noch rund 120 verschiedene Arten von Eiweißen und anderen biochemischen Molekülen. Darunter sind die vielen Signalstoffe, mit deren Hilfe das Blut kommuniziert, Abwehrwaffen gegen Eindringlinge und Erste-Hilfe-Systeme gegen Verletzungen. Entfernt man auch die Eiweiße für die Blutgerinnung aus dem Plasma, so bleibt eine Flüssigkeit übrig, die man als Blutserum bezeichnet. Darin sind immer noch Eiweiße wie Antikörper und Albumin, aber auch Hormone, Salze, Mineralien, Zucker und Aminosäuren gelöst.

Das Leben im Blut

Geboren werden alle unsere Blutzellen im Knochenmark. Es ist ein schwammiges Gewebe und steckt im hohlen Inneren der großen Röhrenknochen unseres Skeletts (und ist nicht zu verwechseln mit dem Rückenmark). Dort lebt eine besondere Art von Zellen, sie sind so etwas wie die Mutter allen Blutes. Man nennt sie deshalb blutbildende (hämatopoetische) Stammzellen. Ganz eindeutig beschrieben und im Labor isoliert wurden diese Zellen bis heute nicht, aber wir wissen, es gibt sie. Hin und wieder erfahren wir von Aufrufen, unser Knochenmark typisieren zu lassen, weil ein schwerkranker Patient mit Leukämie eine Transplantation mit gespendetem Knochenmark benötigt – das ist oft seine letzte Hoffnung. Der Grund sind die blutbildenden Stammzellen im Transplantat. Sie bilden im Körper des Patienten neue Immunzellen, die dann dessen Krebszellen heftig attackieren. Oft können Todkranke auf diese Weise noch von dem Blutkrebs befreit werden. Die Krebsärzte nutzen bei dieser Behandlung also eine der Aufgaben von blutbildenden Stammzellen im Knochenmark aus.

Doch was sind nun die Aufgaben der »Mutterzellen« unseres Blutes? Wir werden gleich ihre vielfältigen Aktionen näher betrachten. Was immer sie tun, es beginnt damit, dass sie sich teilen. Eine der Töchter bleibt weiterhin eine Stammzelle. Die andere aber wird über mehrere Zwischenstufen zu einer Blutzelle, die durch die Gefäße kreist. Dabei kann sie sich zu drei ganz verschiedenen Grundtypen entwickeln. Diese wollen wir uns etwas genauer ansehen, bevor wir uns in den kommenden Kapiteln mit den verschlüsselten Botschaften in unserem Blut befassen. Und der Frage, wie sie unser künftiges Leben verändern werden.

Logistiker für Sauerstoff: rote Blutkörperchen

Es passiert immer wieder, bei der Tour de France, bei Olympischen Spielen oder Leichtathletikweltmeisterschaften: Hochleistungssportler werden disqualifiziert, gesperrt, müssen Titel zurückgeben, Rekorde werden aberkannt. Der Grund: Doping. Oft haben die Betrüger das Medikament Epo gespritzt. Mittlerweile hat es dieser seltsam anmutende Name zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, weil immer wieder Radrennfahrer bei der Tour de France überführt wurden.

Epo steigert die Leistung der Fahrer und auch anderer Leistungssportler, das ist wohlbekannt. Aber wie tut es das? Der Stoff ist eigentlich ein natürliches Hormon des menschlichen Körpers, sein korrekter Name ist Erythropoietin. Es wird in der Niere gebildet, und wenn es ins Knochenmark gelangt, stimuliert es die blutbildenden Stammzellen im Knochenmark. Diese teilen sich dann häufig und verwandeln sich dabei in noch unreife Blutzellen, die zu roten Blutkörperchen werden, medizinisch gesprochen zu Erythrozyten. Sie machen das Blut rot, und das liegt daran, dass sie große Mengen Sauerstoff durch den Körper transportieren. Epo-Missbrauch kommt so häufig vor, weil man die Mengen an Erythrozyten auf diese Weise künstlich steigern kann. Mehr rote Blutkörperchen bedeuten mehr transportierter Sauerstoff, also mehr Leistung der Muskeln, der Lunge und des Herzens. Allerdings steigt dabei auch die Menge an Zellen im Blut, es wird dickflüssiger. Und das ist gefährlich, es kann ein unter Umständen lebensbedrohlicher Gefäßverschluss entstehen. Epo-Doping ist also vor allem verboten, um die Sportler vor gesundheitlichen Schäden zu schützen, und nicht nur, weil es unfair gegenüber den ehrlichen Konkurrenten im Wettkampf ist.

Die roten Blutzellen sind eigentlich farblose abgeplattete Körperchen. In ihrem Inneren tragen sie aber den Blutfarbstoff, das Hämoglobin. Es ist ein Eiweiß, an das Eisenatome fixiert sind. Wenn in der Lunge Sauerstoff in die Erythrozyten gelangt, bindet er an das Eisen, das dabei also oxidiert wird. Dann passiert das, was auch passiert, wenn ein Eisennagel rostet – er wird rot. Das geschieht auch in unserem Blut, wenn es mit Sauerstoff beladen und auf die Reise durch den Körper geschickt wird. Es bekommt seine hellrote Farbe. Tief in den Geweben der Organe angekommen, dort, wo der Sauerstoff knapp ist, entlädt sich das Hämoglobin wieder: Es gibt den Sauerstoff frei, das Blut wird dabei dunkelrot und strömt, nun mit Kohlendioxid gesättigt, zurück in Richtung Herz und Lunge. Dort, in den Bronchien, atmen wir den Stoffwechselabfall CO2 aus und beladen das Hämoglobin wieder mit Sauerstoff.

Die Leistung der roten Blutkörperchen und ihres Hämoglobins ist erstaunlich: Eine Person durchschnittlicher Größe verfügt über sechs bis sieben Liter Blut. Die Zahl der Erythrozyten schwankt von Mensch zu Mensch und hängt zum Beispiel vom Trainingszustand ab. Wenn wir in etwa dem Durchschnitt entsprechen, dann kreisen in unseren Gefäßen in diesem Moment etwa 25 Billionen rote Blutkörperchen. Voll beladen, kann jeder Liter Blut ungefähr 200 Milliliter Sauerstoff transportieren. Allerdings leben unsere Erythrozyten nur kurz: Nach etwa 120 Tagen sind sie verbraucht und werden in der Milz abgebaut. Deswegen muss unser Knochenmark ständig unvorstellbare Mengen neuer Erythrozyten hervorbringen: Tag für Tag entstehen im Körper 200 Milliarden frische rote Blutkörperchen. Auch seine Fähigkeit zur Erneuerung ist also eine ziemlich unglaubliche Leistung unseres Blutes.

Eine weitere Eigenschaft unserer roten Blutkörperchen ist für die moderne Medizin wichtig. Auf ihrer Oberfläche tragen sie eine ganze Reihe von molekularen Strukturen, die das Blut jedes Menschen charakterisieren. Sie sind erblich und bestimmen über unsere Blutgruppen. Wir kennen die Bedeutung von Blutgruppen für Bluttransfusionen. Blutspender und -empfänger müssen einigermaßen übereinstimmen. Diese Erkennungsmerkmale auf unseren roten Blutzellen bilden ein sehr komplexes Muster. Man teilt sie in knapp drei Dutzend verschiedene Systeme ein. Die zwei wichtigsten davon sollen uns hier als Beispiel genügen: Das System der AB0-Gruppe ist das bekannteste. Wir haben entweder die Gruppe A oder B, AB oder 0. Das zweitwichtigste ist das Rhesus-System. Spricht man landläufig von Rhesus-positiv oder Rhesus-negativ, so meint das in der Regel, dass der Rhesus-Faktor D (RhD) auf der Zelloberfläche der Erythrozyten vorhanden ist oder fehlt. Doch das Rhesus-System umfasst tatsächlich noch sehr viel mehr Faktoren auf den roten Blutkörperchen. Und manche Menschen besitzen so seltene Kombinationen in ihren Rhesus-Merkmalen, dass es sehr schwierig ist, geeignete Blutspender für sie zu finden. Sie würden das Blut praktisch aller anderen Menschen nicht tolerieren. Nur ganz wenige Spender können ihnen helfen: Sie besitzen das goldene Blut.

Über einen von ihnen berichtete im Jahr 2014 Mosaic, das Magazin des britischen Wellcome Trust.[1] Thomas, so wurde er in dem umfangreichen Artikel genannt, lebt in der Schweiz. Immer wieder bitten ihn Blutspendedienste um Hilfe. Denn durch eine genetische Besonderheit tragen seine roten Blutkörperchen überhaupt keine molekularen Strukturen aus dem Rhesus-System auf ihrer Oberfläche. Thomas ist nicht nur RhD-negativ, er ist Rhesus-null. Sein Blut können die Mediziner also allen Menschen übertragen, egal, wie ihre Rhesus-Blutgruppe aussieht. So wurde er zum Lebensretter für Menschen, denen die Mediziner sonst nicht mehr hätten helfen können. Menschen mit Rhesus-null sind bisher erst ein paar wenige Male entdeckt worden.

Aufspüren, jagen, fressen: weiße Blutkörperchen

Unser Körper ist stets und ständig bedroht. Von überall stürzen fremde Wesen auf ihn ein: Viren, Bakterien, Pilze und andere Einzeller. Dazu kommen Parasiten, etwa Würmer. Ohne eine wachsame und höchst aggressive Verteidigung hätten wir nicht die geringste Chance, am Leben zu bleiben. Diesen Schutz bekommen wir durch das Immunsystem. Überall in unserem Körper patrouillieren die Zellen dieser Abwehrtruppe. Unser Immunsystem nutzt dafür verschiedene Typen weißer Blutkörperchen, die Leukozyten. Sie besitzen jeweils ganz bestimmte Fähigkeiten – und manche sind regelrecht beängstigend.

Als die Wissenschaftler damit begannen, die Zellen des Blutes zu erforschen, hatten sie dafür kaum mehr als das Mikroskop zur Verfügung. Also konnten sie bei der Einteilung nur nach dem Aussehen der Zellen gehen, die sie in der Vergrößerung erblickten. So kommt es, dass in der Medizin noch heute die historisch entstandene Unterscheidung der weißen Blutzellen in Granulozyten, Monozyten und Lymphozyten gebräuchlich ist. Wir interessieren uns hier aber vor allem für die verschiedenen Aufgaben und Eigenschaften der Leukozyten und richten uns deshalb nach der Einteilung, die in der Immunbiologie und längst auch in der Infektionsmedizin benutzt wird.

Die Waffenschmiede unseres Körpers und zugleich seine Artillerie sind die B-Zellen. Sie stellen die Antikörper her. Das sind Proteine, die im Blut zirkulieren und alles Körperfremde erkennen. Jede B-Zelle kann zwar nur eine Art Antikörper produzieren, der sich nur an eine bestimmte fremde Molekülstruktur anheften kann. Doch durch einen wirklich raffinierten genetischen Bausatzmechanismus besitzt jede B-Zelle eine andere und einzigartige genetische Information für ihren Antikörper. Der Mechanismus, mit dessen Hilfe unser Immunsystem dieses unbegrenzte »Antikörper-Repertoire« erzeugt, ist im Detail sehr kompliziert; das Prinzip aber gilt als eine der genialsten Erfindungen der Evolution. Denn die vielfältige B-Zell-Truppe in unserem Blut kann auf diese Weise fast unbegrenzt vielfältige Fremdstrukturen identifizieren.

Den Patrouillen der B-Zellen entgeht also nichts, was im Körper nichts zu suchen hat. Was auch immer für ein Eindringling in unseren Körper gelangt – eine der vielen B-Zellen hat den richtigen, den passenden Antikörper parat und schlägt Alarm. Geschieht das, zum Beispiel weil eine B-Zelle ein Virus erkannt hat, dann beginnt diese Zelle mit rapiden Teilungen. Ihre vielen Tochterzellen überschwemmen das Blut mit genau dem passenden Antikörper und schlagen die Vireninvasion zurück.

Ist das geschafft, ziehen sich die B-Zellen zurück. Die meisten sterben irgendwann, doch einige bleiben auf der Hut: Aus ihnen werden die Gedächtniszellen. Taucht derselbe Feind erneut im Körper auf, schlagen sie sofort los und vernichten ihn, bevor er sich erneut im Körper festsetzen kann und eine Infektion auslöst. Diesen Effekt kennt jeder von uns – wir nennen es Immunität. Wer eine Ansteckung mit einem Erreger überwunden hat, ist in Zukunft gegen ihn geschützt. Auch alle Impfungen nutzen das Gedächtnis des Immunsystems aus: Der Impfstoff simuliert nämlich eine Invasion mit einem Erreger; dabei bildet die Immunverteidigung unseres Körpers Gedächtniszellen gegen eine vorgetäuschte Infektion, die in Wahrheit nie stattgefunden hat.

Impfungen sind also eine geniale Idee, doch die Strategie funktioniert nicht immer. Warum sonst rollt jeden Winter die Grippe erneut durchs Land und schickt Zehntausende Bürger tagelang mit Fieber, Kopfweh und Gliederschmerzen ins Bett oder sogar ins Krankenhaus? Wir müssten doch, auch ohne Grippeimpfung, längst immun gegen die Influenza sein! Die Erklärung dafür ist ganz einfach: Grippeviren benutzen die gleiche Strategie wie unser Immunsystem. Sie verändern jedes Jahr ihre molekularen Eigenschaften. Die Gedächtniszellen aus dem vorherigen Jahr versagen, denn die stets neu aussehenden Grippeerreger kennen sie noch nicht.

Wissenschaftler arbeiten deshalb mit Hochdruck an einer universellen Grippeimpfung. Dieser Impfstoff der Zukunft soll solche Strukturen auf dem Virus imitieren, die der Erreger nicht verändern kann, ohne seine Gefährlichkeit einzubüßen. Es wäre zu wünschen, dass sie damit bald Erfolg haben, denn die Grippe kann jederzeit eine furchtbare Pandemie auslösen. Die schlimmste bisher war die »Spanische Grippe« von 1918 und 1919. Sie kostete mindestens 20, wahrscheinlich aber eher 50 Millionen Menschen das Leben. Die Vereinigten Staaten verloren damals weitaus mehr Soldaten an die Influenza als durch die Kämpfe im Ersten Weltkrieg.

Die Kommandoebene der Immunverteidigung besteht aus einer anderen Art weißer Blutzellen, den T-Zellen. Die Immunologen kennen inzwischen eine Reihe verschiedener Offiziersränge bei T-Zellen. Wir wollen uns hier auf drei wichtige Vertreter beschränken: Die sogenannten T-Helferzellen und die regulatorischen T-Zellen starten, lenken und – ganz wichtig – beenden eine Attacke des Immunsystems. Das erklärt uns, warum eine Infektion mit HIV so gefährlich ist: Dieses Virus befällt und dezimiert ausgerechnet die T-Helferzellen, bis die Immunabwehr schließlich kollabiert. Dann bricht Aids aus – der Körper der infizierten Menschen ist dann fast ohne Schutz. Eine tödliche Situation, die Mediziner erst seit 1997 in den Griff bekommen können. Damals wurden die ersten wirksamen Medikamente gegen HIV eingeführt.

Die dritte Art von T-Zellen sind regelrechte Tötungsmaschinen, geborene Killer. Und so heißen sie auch in der Medizin: NK-Zellen (natural killer cells). Sie attackieren andere Zellen direkt, sozusagen im Nahkampf Mann gegen Mann. Sie verfügen über wirkliche Stichwaffen, das sind Proteine, mit denen sie feindliche Zellen regelrecht aufschlitzen und umbringen. NK-Zellen schickt unser Körper in den Kampf, um Krebszellen zu eliminieren oder solche Körperzellen, die von Viren bereits infiziert wurden und nun selbst zu Brutstätten neuer Viren geworden sind.

Man kann sich vorstellen, dass diese Militärmaschine aus B- und T-Zellen sehr präzise gelenkt werden muss, um keine oder möglichst wenige Kollateralschäden anzurichten. Die Kommunikation unserer Immunverteidigung besteht aus Dutzenden verschiedener Signalmoleküle, den Zytokinen. Sie werden ins Blut gepumpt und überbringen Botschaften von Zelltyp zu Zelltyp. Sie bilden ein vielfältig vernetztes Bündel von Steuerungsinstrumenten, die das Immunsystem in eine Offensive gegen Eindringlinge jagen und die nach gewonnener Schlacht den Rückzug der alarmierten Blutzellen einleiten. Ohne die Zytokine kann die Attacke der Immunverteidigung nicht starten, aber auch nicht beendet werden. Gerät dieses fein gesponnene Netz ernsthaft aus dem Gleichgewicht, ist Gefahr im Verzug. Vermutlich entstehen Autoimmunkrankheiten wie Multiple Sklerose oder Rheuma auf diese Weise. Akute Lebensgefahr besteht aber, wenn das Immunsystem etwa bei einer Blutvergiftung vollständig überreagiert und große Mengen Zytokine unkontrolliert ins Blut pumpt. Mediziner sprechen dann von einem Zytokinsturm. Das eigene Immunsystem greift sämtliche Organe an und kann einen Menschen innerhalb von wenigen Stunden töten. Im März 2006 kam es bei einem Medikamententest zu solchen Fällen. Das Mittel hatte unerwartet eine Sicherung der Immunabwehr kurzgeschlossen. Sechs der Probanden erlitten daraufhin einen Zytokinsturm und überlebten nur knapp. Einer lag drei Wochen lang im Koma.

Manchmal aber bringt ein plötzlicher Aufstand der Immunverteidigung ein medizinisches Wunder zustande. Dann eröffnet sie doch noch den Kampf gegen den Tumor bereits todkranker Krebspatienten. Es kann passieren, dass die Ärzte nach wenigen Tagen im Körper eines zuvor von Metastasen zerfressenen Patienten keinen einzigen Krebsherd mehr finden. Mediziner nennen das eine Spontanremission, eine Art »Wunderheilung«. Alles bösartige Wachstum wurde unter den Angriffen der Blutzellen komplett vernichtet. Das sind extrem seltene Ausnahmefälle. Aber sie zeigen: In unserem Blut stecken sehr mächtige Kräfte.

Die Allesfresser: Makrophagen

Die Beseitigung der »Leichen« nach der geglückten Abwehrschlacht ist Aufgabe der Makrophagen. Diese Zellen umschließen ihre Beute, lösen sie mithilfe von Enzymen auf und verdauen sie gänzlich. Makrophagen verschlingen auch feindliche Zellen und Fremdkörper, die unsere Immunverteidigung mit speziellen Eiweißen markiert hat. Auch diese Immunzellen können Schaden im Körper anrichten. Fehlgesteuerte Makrophagen scheinen eine wichtige Rolle bei degenerativen Krankheiten zu besitzen und werden deshalb besonders gründlich erforscht.

Erste Hilfe: Blutplättchen

Niemand macht sich wirkliche Sorgen, wenn man sich mit dem Küchenmesser ordentlich geschnitten hat. Denn wir wissen: In ein paar Minuten hört die Blutung auf, und dann tut es nur noch ein wenig weh. Das ist aber überhaupt nicht selbstverständlich. Nur weil in unserem Blut eine besondere Art weißer Blutzellen für solche Notfälle bereitsteht, sterben wir nicht sofort an einer Verletzung. Ohne die Blutplättchen würden wir ganz einfach verbluten. Stattdessen eilen diese Spezialisten herbei, sammeln sich in der Wunde und verkleben miteinander. So bilden sie den Blutpfropf als ersten Wundverschluss. Die Ärzte nennen das den Thrombus, daher heißen die Blutplättchen Thrombozyten. Erst dann leiten die Plättchen die eigentliche Wundheilung ein. Sie aktivieren einen der Eiweißfaktoren im Blut. Dieses Protein setzt dann eine ganze Kaskade anderer Eiweiße nach und nach in Aktion, die gemeinsam das Blut in der Wunde gerinnen lassen. Sie ist dann fest verschlossen, und die Reparatur der Wunde durch neu gebildete Zellen in der Haut kann beginnen.

Die Bluterkrankheit, die früher oft adlige Familien heimsuchte, entsteht durch Defekte in den Genen für diese Gerinnungsfaktoren. Fehlt dadurch ein Baustein der Kaskade, stoppt die Blutung nicht. Wenn das blaue Blut mancher Familien der Hocharistokratie etwas Besonderes hatte, dann war es die Neigung zum Verbluten. Die »Krankheit der Könige« grassierte in der Zarenfamilie, bei den Habsburgern, im britischen Königshaus und bei anderen europäischen Adelsgeschlechtern. Die Inzucht über Generationen in diesen Familien führte dazu, dass etliche ihrer Mitglieder an der Bluterkrankheit litten, weil sie die verantwortlichen Genfehler von beiden – oft miteinander verwandten – Eltern geerbt hatten. Natürlich kann das auch geschehen, wenn die Eltern nicht miteinander verwandt sind. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass beide den ursächlichen Gendefekt tragen, ist dann viel geringer.

Wir haben nun einen ersten Eindruck davon gewonnen, wie vielfältig, wie eng vernetzt das Leben in unserem Blut tatsächlich ist. Und natürlich war das erst ein oberflächlicher Überblick. Unser Blut birgt Stoff für sehr viele faszinierende Erzählungen. Heute aber entdecken Forscher den wahren Schatz in unserem Blut. Und der ist in jedem Menschen gleich groß – ob bei schwangeren Frauen, Kranken oder Gesunden, alten oder jungen Menschen. Dieser Schatz enthält ein Geheimnis, das unser Leben in Zukunft verändern und prägen wird.

Wir müssen uns an dieser Stelle einen sehr wichtigen Unterschied klarmachen. Blut enthält, wie wir bereits gesehen haben, sehr viele Zellen. Alle weißen Blutkörperchen besitzen in ihrem Inneren ihre eigene Erbsubstanz (die roten Blutkörperchen verlieren ihren Zellkern mit den Erbmolekülen während der Entwicklung). Wenn in der Öffentlichkeit bislang von Gentests die Rede ist, so sind stets DNA-Analysen dieser Leukozyten-DNA gemeint. Wenn zum Beispiel der Verdacht besteht, ein Kind könnte die Erbkrankheit Mukoviszidose geerbt haben, können herkömmliche Gentests an isolierter DNA aus Schleimhautzellen im Speichel oder eben an Lymphozyten aus einer Blutprobe für eine Diagnose verwendet werden.

Doch es existiert noch ein Stoff in dem roten Saft, der durch den Körper zirkuliert. Wissenschaftler haben schon vor fast 70 Jahren bemerkt, dass es ihn dort gibt. Aber sie konnten ihn nicht untersuchen, die dafür nötigen Techniken waren zu dieser Zeit noch nicht erfunden. Diese damals noch sehr rätselhafte Substanz besteht ebenfalls aus DNA, aus den Erbmolekülen unseres Körpers.

Und dass es sie im Blut gibt, zeigt uns etwas: Obwohl wir normalerweise nichts davon bemerken, gibt es in unserem Körper ein ständiges Werden und Vergehen. Ständig sterben in seinen Geweben und Organen verbrauchte Zellen ab und werden durch neue ersetzt. Was aber passiert mit den toten Zellen?

Sie werden aufgefressen. Die Makrophagen, die wir bereits kennengelernt haben, verschlingen nämlich nicht nur von Viren befallene und abgetötete Zellen, auch die eines natürlichen Todes gestorbenen werden von ihnen entsorgt. In ihrem Inneren zerlegen sie die Zellkörper. Dabei wird auch der Zellkern aufgelöst, in dem sich in allen unseren Körperzellen die Erbmoleküle befinden. Es ist nicht bekannt, warum, aber die Makrophagen verdauen die DNA der toten Zellen nicht vollständig, sondern zerschneiden sie mithilfe spezieller Enzyme und geben sie wieder von sich. So gelangen die Erbmoleküle aller toten Zellen unseres Körpers schließlich ins Blut. Die DNA ist dann also nicht innerhalb der Zellkerne versteckt, sondern schwimmt gelöst in der Blutflüssigkeit. Wissenschaftler sprechen deshalb von »zellfreier DNA« (cell-free DNA, cfDNA). Die Menge schwankt von Mensch zu Mensch, aber ein einziger Milliliter Blut enthält die DNA von einigen Tausend toten Körperzellen. Die DNA, wir werden im Folgenden von Blut-DNA sprechen, ist also so etwas wie ein Livestream sehr vieler Vorgänge in unserem Körper.

In den Blutzellen einer Schwangeren kann man nicht entdecken, ob ihr ungeborenes Kind gesund ist. Doch die in ihrem Blut schwimmende DNA aus der Plazenta stammt eben vom Fötus; sie zeigt, ob er gesund ist. Zellfreie DNA im Blut spiegelt auch jede Krankheit genau wider, die mit dem Untergang von Zellen verbunden ist. Wächst ein Tumor, so sterben gleichzeitig auch Krebszellen. Den Blutzellen des Patienten sieht man die Krankheit nicht an, aber die zirkulierende DNA in seinem Blut spricht Bände. Sie lässt uns direkt in das verborgene Leben des menschlichen Körpers blicken, denn die DNA, der Quellcode des Lebens, ist letztlich immer der steuernde Faktor.

Unser Blut spricht also. Es hält viele Botschaften für uns bereit, sie stecken im Code der Erbmoleküle aus den toten Zellen unseres Körpers. Und wir lernen gerade, seine Lektionen zu verstehen. Damit uns das gelingt, mussten wir als Erstes natürlich seine Sprache verstehen, die verschlüsselten Geninformationen der Blut-DNA. Im folgenden Kapitel werden wir der faszinierenden Odyssee der Wissenschaftler folgen, die den Code unserer Erbmoleküle knackten, um schließlich alle unsere Gene lesen zu können.

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3 Wie wir lernten, unsere Gene zu lesen

Ein Denkmal für Marjolein

»Ich bin ja noch nicht einmal tot«, sagt Marjolein Kriek. »Und ich habe auch gar nichts Besonderes geleistet.« Die niederländische Medizinerin war erst 35 Jahre alt, als ihre Heimatstadt Nijmegen ein Denkmal für sie errichtete. 2008 wurde es enthüllt, es steht auf dem Campus der Universität. »Marjolein Kriek, Klinische Genetikerin« ist in den weißen Sockel der Statue eingemeißelt.

Das ganze Verdienst der Genfachfrau bestand zunächst darin, etwas Speichel auf einem Wattestäbchen herzugeben. Doch damit hatte Marjolein Kriek ordentlich Mut bewiesen, dazu Wissbegierde und Pioniergeist. Denn sie unterschrieb eine Erklärung, ein Einverständnis: Sie würde die öffentlichste Frau der Welt werden. Die Blaupause ihres Körpers, sämtliche Gene, die sie von ihren Eltern geerbt und an ihre Kinder weitergegeben hat, sollten allgemein einsehbar sein. Krieks gesamtes Erbgut würde dafür dekodiert und in einer offenen Datenbank gespeichert werden.

Man fütterte einen der damals modernsten Laborroboter mit den Erbmolekülen aus den Schleimhautzellen in ihrem Speichel. Davon gab es zu dieser Zeit nur zwei in ganz Europa, der andere stand in einem Max-Planck-Institut in Berlin. Als die Maschine die Arbeit beendet hatte, war die Niederländerin weltweit der vierte Mensch und die erste Frau, deren gesamtes Erbgut entziffert wurde. Es war außerdem das erste europäische Genom, das je gelesen wurde. Und alle können es sich nun ansehen.

Warum hatte man ausgerechnet sie gefragt, ob sie ihre Gene hergeben würde? »Der Grund war mein Name«, sagt sie. Kriek arbeitete damals in der benachbarten Stadt Leiden an ihrer Doktorarbeit. Ihr Forschungsinstitut, das Center for Medical Systems Biology, hatte gerade diese fabelhafte Maschine für die Genomentzifferung bekommen, einen der ersten Next-Generation-Sequencer. Und Gert-Jan van Ommen, der Direktor, wollte ihn natürlich ausprobieren. Kurz zuvor hatten Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten noch etwa eine Million Dollar investiert, um das Erbgut des berühmten Nobelpreisträgers Jim Watson zu entschlüsseln. Watson hatte 1953 zusammen mit Francis Crick postuliert, dass die Struktur des Erbmoleküls DNA eine doppelte Helix darstellt (die beiden Forscher benötigten für eine der wichtigsten Entdeckungen der modernen Naturwissenschaften damals nur eine einzige Seite im Fachmagazin Nature). »Mein Name spricht sich auf Englisch so aus wie der von Francis Crick«, erzählt die Medizinerin später bei einem Treffen. Und dass ihre Kollegen gesagt hätten: Die Amerikaner hätten Watson gemacht, dann machen wir nun Crick! »Also wählten sie mich, damit die Nobelpreisträger vereint würden. Meine beiden Chefs haben sich das in einer Kneipe bei ein paar Drinks ausgedacht. Ich war nicht einmal dabei.«

Aber sie machte mit. Das sei gar keine so einfache Entscheidung gewesen. Kriek war mit dem ersten ihrer beiden Kinder schwanger. »Und heute liegt die Hälfte ihrer Gene im Schaufenster.« Also alle Erbinformationen, die sie ihren ungeborenen Kindern weitergeben würde. Die Medizinerin sprach erst mit ihrer Familie. Sie musste auch einverstanden sein. Wer seine Gene preisgibt, entblößt auch die der Familie: Kinder, Eltern, Geschwister. Und setzt sie der Gefahr aus, Dinge zu erfahren, die Angst machen, die man vielleicht lieber nicht gewusst hätte. Denn die Auskünfte aus dem Erbgut können bedrohlich sein: Veranlagungen für Krankheiten, für Krebs, Alzheimer, für Herzinfarkte und andere Malaisen. Das will gut überlegt sein.

Jim Watson zum Beispiel hatte ebenfalls zugestimmt, dass seine Erbinformationen veröffentlicht werden dürfen, mit einer Ausnahme: Die Gendaten zu seinem Alzheimer-Risiko ließ er schwärzen. Auch Kriek hat fast alles offenbart. »Ich glaube an Wissen«, sagt sie, »nicht an Ignoranz.« Und tatsächlich erfuhr sie auch, welche Erbkrankheiten sie an ihre Nachkommen hätte vererben können, etwa eine erbliche Form der Taubheit. Krieks Kinder wären in Gefahr gewesen, ohne Gehör geboren zu werden, falls ihr Mann ebenfalls Träger dieses Genfehlers gewesen wäre.

Was damals nur wenige ahnten: Marjolein Krieks Mut sollte einen gewaltigen Erkenntnissprung bei der Erkundung der menschlichen Erbanlagen einläuten.