Das leere Geschäft - Daniela Noitz - E-Book

Das leere Geschäft E-Book

Daniela Noitz

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Beschreibung

Lilith sitzt allein in ihrem großen Haus. Die Kinder sind ausgezogen. Ihr Mann hat sie verlassen. Sie beschließt einen Schlussstrich zu ziehen und neu zu beginnen. Ein leeres Geschäft dient als Ausgangspunkt, über dessen Eingang sie ein Schild hängt mit der Aufschrift: "Was brauchst Du wirklich?". Menschen finden sich ein und erzählen Geschichten, über das Leben und dessen Sinn. Fragwürdig wird, ob es Glück bedeutet, sich Dinge kaufen zu können. Es kristallisiert sich immer mehr heraus, dass gerade das, was man nicht kaufen kann, das Leben ausmacht. Eine Umarmung, ein Gespräch oder einfach ein Miteinander. Ein Plädoyer gegen die Vernichtung der Menschlichkeit durch den Konsumwahn und für ein gelungenes Miteinander. Auf 24 Etappen begleiten wir die Protagonisten auf dem Weg zu dieser Erkenntnis.

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INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG: AUF HERBERGSSUCHE

TAG 1: WURZELN

TAG 2: DIE UMARMUNG

TAG 3: VERGEBUNG

TAG 4: ZUHÖREN

TAG 5: ANNAHME

TAG 6: ICH HABE ZEIT FÜR DICH

TAG 7: JENSEITS DES SCHMERZES

TAG 8: MITEINANDER

TAG 9: DAS KÄSTCHEN

TAG 10: ZULASSEN

TAG 11: FÜREINANDER DA SEIN

TAG 12: EIN ORT ZU BLEIBEN

TAG 13: VORSTELLUNG UND ZUSAGE

TAG 14: HAB ACHT!

TAG 15: DU HAST DICH MIR VERTRAUT GEMACHT

TAG 16: IM FLACKERNDEN SCHEIN DER KERZE

TAG 17: BERÜHRE MEINE SEELE

TAG 18: DIE UNEINDEUTIGKEIT DES LEBENDIGEN

TAG 19: SEIFENBLASEN IM WIND

TAG 20: MIT OFFENEN AUGEN

TAG 21: WEIL ES SINN MACHT

TAG 22: ES BEGINNT BEI DIR

TAG 23: LIEBE ZU SEIN

TAG 24: STATION DU

WEITERE ADVENTKALENDERBÜCHER:

Einleitung: Auf Herbergssuche

Maria und Joseph fanden keinen Platz in der Herberge, so heißt es in der Weihnachtsgeschichte. Lilith hätte Platz genug für sie gehabt. Mehr als genug. Ein großes Haus nannte sie ihr Eigen, das nun nur mehr von ihr bewohnt wurde. Früher, war es anders gewesen, als die Kinder da waren und ihr Mann. Tatsächlich, er war noch immer ihr Mann, und noch immer großzügig. Vielleicht deshalb, weil ihm das Geld egal war, solange er in Ruhe mit seiner neuen Flamme leben konnte.

Viele Jahre hindurch hatten sie eine gute Ehe geführt. Aber was heißt schon gut? Lilith war zufrieden gewesen, mit ihrer Aufgabe für ihn und die Kinder da zu sein. Er hatte seine Karriere verfolgt und erfolgreich vorangetrieben. So erfolgreich, dass sie sich materiell jeden Wunsch erfüllen konnten. Sie schöpften aus dem Vollen. Im Gegenzug hielt sie ihm den Rücken frei und behelligte ihn niemals mit privaten Dingen. Immer hatte sie Zeit und ein offenes Ohr für ihn. Das war die Rollenverteilung. So klassisch sie sein mochte, so oft sie von anderen dafür belächelt wurde, sie fühlte sich wohl darinnen. War es nicht das, worauf es ankam? Sie genoss es, die Kinder aufwachsen zu sehen, sie auf ihrem Weg ins Leben zu begleiten, bis sie so weit waren, dass sie das Haus verlassen, um ohne ihre Mutter weiterzugehen. Das war schon längst geschehen. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Sie hatte vier Kinder, zwei Burschen und zwei Mädchen. Interessanterweise hatten gerade ihre Töchter ihre Lebensweise am meisten hinterfragt, sich beide für eine Karriere und gegen eine Familie entschieden, zumindest vorerst.

Nachdem die Kinder, und damit ein großer Teil ihrer Aufgaben, ausgezogen waren, begann Lilith wieder zu arbeiten, zumindest halbtags, denn das große Haus mit dem weitläufigen Garten bedurfte aufwendiger Pflege. Da war eine Halbtagsanstellung ideal. Und es war auch der Zeitpunkt, zu dem ihr Mann ihr in sachlichem Ton, wie sie es von ihm gewohnt war, mitteilte, dass er sie verließe und zu seiner Freundin zöge, einem Mädchen, halb so alt wie er und nicht viel älter als seine älteste Tochter. Lilith ließ ihn ziehen. Was sollte man auch einem alten Mann entgegensetzen, der der eigenen, vergangenen Jugend nachtrauert und davon noch ein wenig bei anderen abknabbern möchte? So viele gemeinsame Jahre, und dann war er einfach fortgewesen. Sie ließ ihn gehen, weil sie keine Wahl hatte. Auch wenn ihr das Herz schmerzte. Das gehörte dazu. Sie wusste damit umzugehen. Denn wer nicht auf die Liebe verzichten will, der darf auch den Schmerz nicht fürchten. Endlose Tage und Nächte voller Wut und Freude, Trauer und Glück, Verzweiflung und Hoffnung hatte sie hinter sich. Alles war in eins geflossen, und zeigte ihr nicht nur, dass sie lebte, sondern dass sie viel zu geben hatte.

Maria und Joseph hätten bei Lilith einen Platz gefunden. Leben wäre wieder im Haus gewesen, vor allem mit dem Neugeborenen. Jahrzehnte war es her, dass Lilith zum letzten Mal ein Neugeborenes umsorgen durfte. Sie spürte die Sehnsucht, die Sehnsucht für jemanden da sein zu können, so wie sie es während all dieser Zeit gewohnt war, aber da war niemand mehr. Doch sie wollte dabei nicht stehen bleiben. Man hat immer zwei Möglichkeiten. Entweder legt man die Hände in den Schoß und wartet ab, was passiert. Dann wird höchstwahrscheinlich gar nichts geschehen. Oder man geht hinaus und findet, was man sucht. Lilith hatte in ihrem ganzen Leben noch nie die Hände in den Schoß gelegt und abgewartet.

Versonnen stand sie an der Eingangstüre und blickte zurück auf ihr bisheriges Heim, das ihr lange Jahre Zuflucht, Heimat und Schutz war. Doch nun waren es nichts weiter als Wände um leere Räume. Natürlich waren Möbel darin, aber da war kein Leben mehr. In solch einem Haus konnte man nur mehr aufs Sterben warten. Und das hatte Lilith nicht vor, ganz im Gegenteil. Ein weiteres Mal wollte sie sich aufmachen und neu beginnen. Welche Zeit hätte sich besser eignen können, als die des Advents? Zeit der Ankunft – der Erwartung einer Ankunft. Auch sie würde ankommen, wo auch immer. Das Neue, das dort draußen irgendwo lag, und von dem sie noch nichts wusste, wartete darauf von ihr entdeckt zu werden.

Ein letzter prüfender Blick galt dem Inneren des Hauses. Lilith war darauf bedacht, alles ordentlich zu hinterlassen. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass dem wirklich so war, schloss sie sachte die Türe zu ihrem Haus und zu ihrem bisherigen Leben. Ebenso sorgfältig verfuhr sie mit dem Gartentor. Dann stand sie auf dem Gehsteig. Wohin sollte sie sich wenden?

„Rechts“, sagte Lilith ihre innere Stimme, und sie folgte dieser, sodass sie sich nach rechts wandte. Sie ließ ihre Beine gehen, wohin sie wollten. Zunächst kam sie flott voran, doch je weiter sie sich dem Stadtzentrum näherte, desto langsamer bewegte sie sich. Der Einkaufssturm vor Weihnachten war bereits in vollem Gange. So war sie immer öfter gezwungen anzuhalten, um den Weg für die Vorbeieilenden freizugeben.

Menschenmassen zwischen hell erleuchteten Schaufenstern. Alle hasteten. Alle drängten. Alle? Plötzlich verharrte sie. Mitten in diesem Trubel, und doch scheinbar weit weg, stand ein junges Pärchen, das sich einfach eng umschlungen hielt. Sie wurden immer wieder angerempelt, weil sie im Weg waren, ein Hindernis darstellten. Sie schienen es nicht zu bemerken. Nichts konnte sie in ihrer Zweisamkeit beirren. Zweisamkeit, die so guttat. Eine Umarmung, die Halt gab, in der aber auch immer ein wenig Verzweiflung wohnte. „Halt mich, damit ich nicht verloren gehe im Einerlei!“, sollte diese Umarmung sagen, auch wenn die Worte niemals ausgesprochen wurden. Lilith wusste es, nur allzu gut.

Ein Rempler in ihre Seite. Ein kurzer, stechender Schmerz, der die Aufmerksamkeit und den Blick von dem Pärchen weg- und zu einem kleinen Geschäft hinzog. Sie hatte es zunächst nicht bemerkt, da es – im Gegensatz zu den umliegenden – leer war. Nur die Glasregale in den Auslagen, die sich an zwei Seiten hinzogen, waren geblieben. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch mit vier Sesseln, spärlich erleuchtet von einer Leselampe. Sonst nichts. Magisch zog sie dieses Geschäft an. Früher waren hier Süßigkeiten verkauft worden, wie sie sich noch gut erinnerte, doch jetzt war es leer. So leer wie ihr Leben, das sie neu zu erfüllen gedachte. So gehörten Lilith und das leere Geschäft zusammen. Beide hatten sie ihre Geschichte, die sie in sich trugen, aber doch nicht mehr als Vergangenheit war.

„Zu verkaufen“, stand an der Türe, und darunter eine Telefonnummer. Wenige Stunden später war Lilith stolze Besitzerin eines leeren Geschäftes, das außer ihr offenbar niemand haben wollte. Es hatte auf sie gewartet. Noch am selben Abend zog sie in die Wohnung ein, die hinter dem Geschäft lag. Küche, Bad, Wohnzimmer, Schlafzimmer – mehr brauchte sie nicht, und über der Türe prangte von nun an ein Schild, auf dem man lesen konnte: „Was brauchst Du wirklich?“. Die Leselampe ließ sie brennen, auch als sie schlafen ging.

Tag 1: Wurzeln

Lilith machte gerade Tee, an diesem Morgen, der die Menschen mit einem klaren Himmel und Sonnenschein begrüßte, als die Glocke an der Türe erklang, die anzeigte, dass jemand das Geschäft betreten hatte. Da stand er also in der geöffneten Türe, unschlüssig, ob er wirklich eintreten sollte oder nicht. So blieb er in der Unentschlossenheit, während die kalte Luft von draußen sich nicht aufhalten ließ.

„Guten Morgen“, sagte Lilith, „Wollen Sie nicht hereinkommen?“

„Guten Morgen“, entgegnete der Unbekannte und zog, eher aus Gewohnheit als aus wirklicher Ambition, den Hut, „Ich wollte eigentlich nur wissen, was das zu bedeuten hat. ‚Was brauchst Du wirklich?’, mehr wollte ich nicht.“

„Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir, und wir trinken eine Tasse Tee miteinander“, schlug Lilith vor.

„Aber ich wollte doch nur, und ich muss auch gleich wieder weg, denke ich“, entgegnete der Mann. Lilith musterte ihn. Er war groß gewachsen, mit breiten Schultern, die sich ein wenig nach vorne neigten, als würde er sich zusammenziehen, als wollte er sich selbst zusammenhalten, als hätte er Angst sich zu verlieren. Seine braunen Augen wirkten jung und lebhaft, neugierig und warm, wenn er es zuließ. Jünger wirkten sie, als er wirklich war. Um die sechzig schätzte Lilith und das nicht nur wegen der grauen Haare. Es hat nicht viel zu sagen.

„Tatsächlich, wohin müssen Sie denn so eilig?“, fragte Lilith, während er nun doch die Türe schloss und nicht nur den angebotenen Stuhl, sondern auch eine Tasse Tee annahm.

„Ich weiß nicht, aber es gibt viel zu tun, und ich kann auf gar keinen Fall länger bleiben“, beharrte er.

„Mein Name ist Lilith“, stellte sich Lilith vor, „Und ich habe hier ein Geschäft, in dem man nichts kaufen, und doch sehr viel bekommen kann.“

„Ruben, sehr erfreut“, gab er zurück und reichte ihr die Hand,

„Und was kann man bekommen? Ich gebe zu, es verwirrt mich. Normalerweise geht man in ein Geschäft, sucht sich was aus, zahlt und geht. Dann ist dort eine Lücke. Sie wird aufgefüllt und alles beginnt wieder von vorne. Es ist egal. Es berührt nicht. Nur ein Geschäft. Und dann gibt man die Dinge, die, im Grunde genommen, nichts bedeuten an jemanden anderen weiter und nennt es Geschenk. Man schenkt Bedeutungslosigkeit. Es bleibt nichts haften. Es gibt nichts Halt. Es geht immer vorbei.“

„Aber was gibt dann Halt?“, fragte Lilith interessiert.

„Ich weiß es nicht“, gab er offen zu, „Vielleicht gibt es ihn gar nicht, und wir bilden es uns nur ein, weil es zu erschreckend wäre, sich etwas anderes einzugestehen.“

„Was wäre das?“, forschte Lilith weiter.

„Das wäre, dass es eben keinen Halt gibt, nichts, was uns davor bewahrt, wie ein loses Blatt im Wind über die Erde geweht zu werden, immer rastlos, immer namenlos, immer getrieben, bis der Wind vergeht und man niedersinkt, um zu verrotten“, entgegnete Ruben, und Lilith hatte den Eindruck, dass er die Schultern noch mehr einzog.

„Jeder von uns hat irgendwo einen Halt, hat Wurzeln, denn wir alle haben eine Herkunft, ein Woher“, entgegnete Lilith.

„Ja, vielleicht“, gab Ruben zögernd zu, „Aber wenn ich denn wirklich so etwas wie Wurzeln hatte, dann habe ich sie verloren, dann wurden sie irgendwann ausgerissen. Mein Woher gibt es nicht mehr. Es ist vergangen und vorbei. Alles hat mir das Leben genommen, was mich mit diesem Woher verbinden könnte. Alles ist weg. Was bleibt, ist Belanglosigkeit. Da gibt es nichts, was Halt bieten könnte oder was mich festigt.“

„Vielleicht sind die Menschen gegangen. Vielleicht ist die Erinnerung verblasst. Vielleicht sind die Bilder abhandengekommen, die Dich mit diesem Woher verbinden“, meinte Lilith, in einem wortlosen Einverständnis, auf das Du übergehend, „Aber das, was Dir dieses Woher mitgab, was Du in Dir trägst, das sind nicht Bilder, nicht Erinnerungen und auch nicht unbedingt die Menschen als sie selbst, sondern das ist das, was sich in Dir durch dieses Woher formte. Es ist die Sicht auf die Welt, das Erkennen des Wesentlichen und die Versicherung angenommen zu sein, angenommen als Du selbst.“

„Und wenn ich doch angenommen bin, warum haben sie mich dann verlassen, alle? Sie waren meine Wurzeln, und dann ist eine nach der anderen abgestorben“, entgegnete Ruben.

„Versuch, Deinen Blick darauf zu ändern. Nicht Menschen sind Wurzeln, sondern sie geben sie Dir. Die Menschen, die Dich annahmen, von der ersten Stunde an, so wie Du bist, sie schenkten Dir die Wurzeln. Es ist ihr Geschenk an Dich. Es ist etwas mit Bedeutung. Es enthebt Dich der Bedeutungslosigkeit“, erklärte Lilith. Und sie erkannte, dass Ruben es versuchte, sich vorzustellen, dass es eine Gabe war, sich vorzustellen, dass diese Gabe blieb, auch wenn die Menschen gingen. Sie nahmen ihr Geschenk nicht wieder mit. Warum auch immer es notwendig war, sich zu trennen, das Geschenk konnte nicht vergehen. Für einen Moment schloss er die Augen. Seine Schultern entspannten sich sichtlich. Seine Füße standen fest am Boden, als wäre er sich dessen Bedeutung gerade bewusst geworden.

„Es ist wahr“, sagte er schließlich, nachdem er die Augen wieder geöffnet hatte und Lilith ansah, „Sie sind da. Nicht sie selbst, aber all das Gemeinsam und das Erleben, und das, was das gemeinsame Erleben aus mir gemacht hat.“

„Dann ist es Zeit, sie gehen zu lassen“, fuhr Lilith fort.

„Was heißt das? Sie gehen zu lassen?“, fragte Ruben irritiert,

„Sie sind doch längst weg.“

„Nein, sind sie nicht, denn Du hältst sie fest und Du hältst Dich darin fest. Du bist getrieben immer weiter zu gehen, um sie zu finden. Doch ganz gleich, wen Du triffst, es sind niemals sie. Damit nimmst Du Dir die Möglichkeit, wirklich Abschied zu nehmen, und den Menschen, die Dir begegnen, die Möglichkeit, als sie selbst gesehen zu werden. Du suchst jemand anderen in ihnen und wirst immer enttäuscht werden. Deshalb musst Du auch immer gehen. Deshalb kannst Du nicht bleiben.“

„Ich tue den Menschen unrecht“, sagte Ruben leise.

„Du tust Dir unrecht, wenn Du nicht zulassen kannst“, erwiderte Lilith, „Es ist ein Verbrechen an Dir selbst, an Dir und an Deinem Leben.“

„Jetzt verstehe ich“, erklärte Ruben plötzlich.

„Was verstehst Du?“, fragte Lilith irritiert.

„Das Schild über Deiner Türe, ‚Was Du wirklich brauchst?’. Die Regale sind leer, und gerade deshalb voll mit den Dingen, die man wirklich braucht. Es liegt alles darin, wenn man es finden will. Jenseits der Bedeutungslosigkeit. Ein Geschenk. Eine Bedeutung. Du hast mir gezeigt, dass die Wurzeln, die ich nicht mehr spürte, da sind, dass ich Halt habe und feststehe. Darf ich noch eine Tasse Tee haben?“ Und zum ersten Mal lächelte er, ein schelmisches, jungenhaftes Lächeln, das ihr wohltat. Das ihm wohltat.

„Musst Du nicht mehr fort?“, fragte Lilith, während sie seinem Wunsch nachkam und seine Tasse neu füllte.

„Natürlich, aber nicht gleich. Ich kann noch ein wenig bleiben“, sagte er sanft.

Und in der Auslage fand sich alsbald ein Blumentopf mit einem Samen darin, tief versteckt im Dunkel der Erde. Wurzeln zu fassen, bevor das neue Leben sich auch außerhalb der Dunkelheit zeigen würde. Wurzeln zu fassen, die es der Pflanze möglich machten, sich dem Licht zuzuwenden.

Tag 2: Die Umarmung

Lautstark wurde die Türe aufgestoßen. Krachend fiel sie ins Schloss. Ruben und Lilith saßen bei einer Tasse Tee. Er war gegangen und wiedergekommen. Er blieb und er ging. Vielleicht ein wenig länger an diesem Tag. Es war gut, gehen zu können, denn sonst kann man nicht wiederkommen. Eine Vertrautheit zu genießen, die Kraft gibt, das Neue, das Unbekannte zu entdecken.

Erschrocken blickten beide auf. Das Mädchen, das da breitbeinig im Raum stand, sah ebenso wild aus, wie sie die Türe behandelt hatte. Die weiten Camouflage Hosen baumelten um ihre Beine. Die Kapuze des Sweaters hatte sie sich über den Kopf gezogen, sodass nur vereinzelt ein paar kurze Strähnen schwarzer Haare keck hervorlugten. Ihr Blick war unstet und die Lippen hatte sie fest zusammengepresst, als würden sich dahinter Worte stauen, denen sie auf gar keinen Fall erlauben konnte, herauszukommen. So wie sie wohl auch ihren Augen verbot die Tränen freizugeben, die sich dahinter seit langer Zeit gesammelt hatten.

„Hallo! Schön, dass Du da bist“, wandte sich Lilith an das Mädchen, „Setz Dich doch zu uns und trink eine Tasse Tee mit uns.“

„Gibt es nichts anderes?“, fragte sie schnoddrig, ohne den Gruß zu erwidern.

„Wie wäre es mit heißer Schokolade?“, schlug Lilith unbeirrt vor. Nur Ruben wirkte ein wenig irritiert. Dieses Mädchen schneite hier herein, grußlos, und dann stellte sie auch noch Forderungen. Absolut kein Benehmen. Das war es, was er dachte, so eindeutig, dass man meinte, es wäre auf seine Stirn geschrieben.

„Ich hatte zwar an etwas Härteres gedacht, aber wenn es nichts anderes gibt, dann halt das“, erklärte sie, merklich darum bemüht den schnoddrigen Tonfall beizubehalten. Es fiel ihr jedoch sichtlich schwerer.

„Möchtest Du ihn mit Schlagobers?“, fragte Lilith, als sie die dampfende Tasse vor dem Mädchen auf den Tisch stellte.

„Oh ja, bitte“, erklärte sie, „So haben wir ihn früher auch immer getrunken.“ Und während Lilith einen riesen Gupf Schlagobers auf ihren Kakao häufte, war das Wilde nicht nur aus den Augen verschwunden. Stattdessen kam ein Mädchen hervor, das sanft sein konnte und zugewandt und liebevoll. Ein Mädchen, das so voller Sehnsucht und Berührbarkeit war.

Aber die Sehnsucht, die unerfüllt bleibt, zieht sich in sich selbst zurück. Weil es weniger weh tut, sie zu leugnen, als sie immer wieder aufs Neue unerfüllt zu sehen. Die Berührbarkeit versteckt sich hinter Unantastbarkeit, wenn die Berührung ausbleibt.

„Und damit ihr es gleich wisst, ich brauche nichts und niemanden. Ich komme sehr gut alleine zurecht. Also bin ich hier eigentlich fehl am Platz“, erklärte sie. Lilith bemerkte, dass auch Ruben sich ihr zugewandt hatte, dass er bereit war, über ihr schlechtes Benehmen hinwegzusehen, denn er erkannte in ihr ein Mädchen ohne Halt. Ein Getriebener erkennt den anderen.