Die Pianobar - Daniela Noitz - E-Book

Die Pianobar E-Book

Daniela Noitz

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Beschreibung

Die Pianobar, Ort der Erinnerung, des Lebens, aber auch des Schmerzes und der Trennung. Anna findet ein Buch, ein handgeschriebenes Buch, in dem Ilse ihre Lebensgeschichte erzählt. Nachdem sie es gelesen haben, machen sie sich auf die Suche nach dem Partner von Ilse. Vielleicht kommt eine Versöhnung zustande, 20 Jahre danach.

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Inhaltsverzeichnis

PROLOG

EINE LEBENSGESCHICHTE

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EPILOG

WEITERE WERKE DER AUTORIN:

Prolog

Mein Name ist Anna Marx. Ich bin im Marketing beschäftigt, doch nur als Überbrückung und weil es mir der einzig mögliche Platz schien meine Kreativität auszuleben. Doch meine eigentliche Leidenschaft sind die Bücher, oder besser gesagt, jede Art von Texten. So weit ich zurückdenken kann, sehe ich mich immer nur lesend. Irgendwann begann ich meine eigenen Texte zu verfassen, weil mir das Geschriebene, das ich vorfand, zu wenig war. Es war nicht mehr das, was ich suchte. Meine Leidenschaft ließ nicht nach. Sie wurde nur präzisier. Ich war es immer und werde immer davon überzeugt sein, dass Bücher etwas bewirken in unserem Leben. Zu Anfang erweiterten sie meinen Horizont, indem ich Geschichten durchlebte, die nicht meine waren, niemals meine sein konnten, und doch durfte ich sie miterleben, über Zeiten und Weiten hinweg, eintauchen in fremde Welten und Gedanken, mein eigenes Leben für ein paar Stunden hinter mir lassend.

Ich wurde älter, wie das die Zeit eben so mit sich bringt, und manchmal zweifelte ich an der Sinnhaftigkeit meiner Leidenschaft, doch dann fand ich dieses Buch, das mir meinen Glauben mit einem Schlag wiederschenkte, meinen Glauben an die Schicksalhaftigkeit von Büchern. Ich hatte es gefunden, weil es für mich bestimmt war, und zwar genau an diesem Tag, genau zu dieser Stunde. Irgendwer hatte es selbst gefunden oder vielleicht war es auch der Trödler, hatte es zwischen all die anderen Bücher gestellt, als wäre es wie alle anderen. Er hat es sich wohl nicht allzu genau angesehen, denn hätte er es getan, dann hätte er sofort festgestellt, dass es ganz und gar nicht so war wie alle anderen. Zunächst einmal war es mit der Hand geschrieben, aber auch kunstvoll in Leder gebunden. Aber vielleicht hatte auch das so sein sollen, diese Missachtung.

Wer weiß wie viele Menschen es schon vor mir in Händen gehalten hatten, wie viele Menschen es nicht in ihrem Wert erkannt hatten. Aber wohl, auch sie konnten es nicht, denn es war für mich bestimmt oder zumindest für jemanden, der sich davon ansprechen ließ, den es zum Handeln anregte. Es war dazu ausersehen in meine Hände zu fallen, auf dass ich es lese und entsprechend auf das Gelesene reagiere. Natürlich kann man immer noch sagen, bloßer Zufall.

Es gibt Menschen, die halten alles bloß für Zufall. Und wenn man ihnen hunderte Beispiele bringt. Dann sagen sie immer noch, es seien doch nur Einzelfälle. Natürlich sind sie das, sonst wäre es ja auch nichts Besonderes. Sie sind allerdings sogar mehr als bloß Einzelfälle, sie sind einzigartig, jedes in seiner Art. Und wenn ich von einem Haus träume, einem Haus, das ganz anders aussieht als alle anderen, und wenn ich dieses Haus auch noch finde, sofort weiß, ich kenne es nicht nur aus meinem Traum, nein, ich war schon einmal hier, vor meiner Zeit, dann schütteln sie bloß den Kopf und nennen es Humbug.

Manche jedoch, die wissen worum es geht, und die wissen, dass es etwas Verbindendes gibt über Zeiten und Welten hinweg, etwas, in das wir eingesponnen sind, mit dem wir verknüpft sind. Die verstehen, dass mir das Buch ein Auftrag war, den ich gemeinsam mit meinem besten Freund, Karl Bonai, seines Zeichens Controller und nebenbei virtuoser Pianist, zu erfüllen gedachte.

Auch er gehörte zunächst zu denen, die sich skeptisch gezeigt hätten, doch er blieb trotz allem an meiner Seite und ließ sich ein, trotz aller Bedenken und Vorbehalte. Schlussendlich musste er zugeben, dass es doch manchmal so sein könnte, wie ich mir in meinem literaturzersetzten Gehirn zusammenreime. Zumindest dieses eine Mal müsste er eingestehen, dass ich recht hatte. Was aber noch lange nicht bedeuten soll, dass er nun bereit sei, solche Phänomene uneingeschränkt und ohne jede weitere Vorbehalte anzuerkennen, sondern nur, und die Betonung liegt auf nur, in diesem einen, einzigen spezifischen Fall tatsächlich so sein hätte können. Oder es könnte auch trotzdem Zufall sein und es hat sich alles andere aus unserer mentalen Arbeit ergeben. Aber letztlich spielt das auch keine Rolle.

Denn es ist wie das ist, sagt die Liebe, und auch das Leben schert sich grundsätzlich einen Dreck um unsere, im Vergleich zu diesem, vernachlässigbaren geistigen Leistungen. Aber das Buch ließ uns eine Aufgabe zukommen – welche das war und wie wir sie erfüllten, das könnt ihr hier nachlesen.

Eine Lebensgeschichte

Niemals war es anders gewesen. Niemals würde es anders sein. So zumindest dachte ich es mir, als es noch war wie es war. Natürlich gab es ein Leben davor, ein Leben voller Entbehrungen und Rückschläge, doch wir haben niemals aufgehört an unseren Traum zu glauben, niemals aufgehört daran zu arbeiten, und wenn es gar zu schlimm kam, wenn es mal wieder so weit war, dass wir nicht wussten womit wir unsere Miete bezahlen sollten oder auch nur das Essen, dann waren wir uns gegenseitig Stütze und Halt.

„Vielleicht sollte ich doch eine Arbeit suchen, eine, die zumindest das Überleben ermöglicht”, sagte ich zu Dir, aber Du winktest ab.

„Jetzt willst Du aufgeben, jetzt, wo wir so nahe davor sind es doch noch zu schaffen?”, fragtest Du, und auch wenn ich nicht wusste wovor wir nahe standen, so ließ ich mich doch jedes Mal berühren von Deinen Worten und anstacheln.

„So viele Jahre, nein, das darf nicht umsonst gewesen sein!”, sagte ich mit Überzeugung.

„Ich habe es übrigens geschafft und uns für heute Abend einen Auftritt organisiert”, erklärtest Du mir ernst, „Heute Abend wird es passieren, und Du wirst nie wieder frieren müssen!”

Wie oft hatte ich das schon gehört, und doch, ich glaubte Dir, weil ich Dir glauben wollte, aber auch weil ich an uns glaubte, an Dich und mich. Wenn man das Gefühl auf der Bühne zu stehen und umjubelt zu werden, einmal gekostet hat, dann will man es nie wieder missen. Es ist wie eine Sucht, der man sich nicht mehr zu entziehen vermag. Natürlich war die Begeisterung nicht immer groß und unser Publikum war es noch seltener, aber das tat unserem Engagement keinen Abbruch. Denn eigentlich spielten wir für uns selbst.

Du bist am Klavier gesessen. Ich stand auf der Bühne. Verlegen sah ich ins Publikum, und dann ging mein Blick zu Dir, in dem so viel Wärme und Zuversicht lag. Und was ich tat, was ich erzählte, ich tat und erzählte es für Dich, und für niemanden sonst. In Deinem Blick fühlte ich mich wie die größte Künstlerin, die je gelebt hatte.

„Und wo soll dieser Auftritt stattfinden?”, fragte ich endlich.

„Moment, ich habe es mir aufgeschrieben”, entgegnetest Du, und kramtest in Deinen Taschen nach dem Zettel, bis Du ihn endlich gefunden hattest, „In der Pianobar in der Vorstadt.”

„Habe ich noch nie davon gehört”, gab ich offen zu, „Aber das heißt nichts. Ich freue mich auf jeden Fall darauf. Ich bin so lange nicht mehr auf der Bühne gestanden, und wenn ich nicht auf der Bühne stehe, dann fühle ich mich leer und innerlich tot, aber Du wirst sehen, heute Abend ist es soweit.”

Und ich versuchte mir die Hände an dem kleinen Kachelofen zu erwärmen. Lange würden wir nicht mehr heizen können.

* * *

„Hallo Anna“, risst Du mich aus meinen Gedanken. Erschrocken ließ ich das Buch fallen, „Also Dich darf man mit einem Buch nicht unbeaufsichtigt lassen. Sitzt da im Café, bist gedanklich völlig weggetreten. Dich könnte man ausrauben, und Du würdest es noch nicht einmal merken.“

„Hallo Karl“, antwortete ich kurz, „Aber wenn es mich doch so fesselt. Stell Dir vor – kannst Du Dich bitte endlich niedersetzen, das macht mich nervös – also, Du weißt ja, ich stöbre so gerne beim Trödler, im Besonderen bei den Büchern, und das habe ich heute gefunden.“

Triumphierend sah ich Dich an.

„Du hast also unter all den Büchern tatsächlich auch ein einzelnes Buch entdeckt. Das ist doch wirklich faszinierend“, entgegnetest Du sarkastisch.

„Ja, ich meine, nein, ich meine – Du bringst mich so durcheinander“, erwiderte ich entschieden, „Es ist ja nicht irgendein Buch, sondern ein Tagebuch. Deshalb war ich auch so vertieft, weil es so mühsam zu lesen ist. Es wurde von einer Frau geschrieben. Sie hieß eigentlich Ilse, Ilse Frei, und war oder ist – das weiß ich nicht so genau - Künstlerin, Kleinkunst, Kabarett, literarische Vorträge und so was, und sie arbeitete zusammen mit einem Musiker, einem Pianisten, der Hans hieß, Hans Voller.

Miteinander traten sie immer wieder auf, doch offenbar lebten sie lange Zeit mit der Hand in den Mund, doch dann stand der große Durchbruch bevor, also sie dachten es zumindest.“

„Mit einem Wort, so ein richtig schönes, romantisches Aschenputtelmärchen. Zuerst, kein Engagement, es regnet beim Dach herein, sie hungern und frieren, und gerade als alles zu spät zu sein scheint, dann passiert es. Ein klassisches Hollywood-Drama, mit viel Seufzen, aber vor allem mit einem herrlichen Happy End. Die Protagonisten heiraten und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, erklärtest Du, gewohnt zynisch.

„Woher willst Du wissen, dass es passierte? Das habe ich doch mit keinem Wort gesagt“, wandte ich ein.

„Na dann sag halt schon, und spann mich nicht unnötig auf die Folter, ist es passiert?“, fragtest Du stirnrunzelnd.

„Was weiß denn ich. Das war doch die Stelle wo ich von Dir unterbrochen wurde“, entgegnete ich ernst, „Aber Du wirst es erfahren.“

Und so las ich Dir vor.

* * *

Pünktlich um halb acht trafen wir bei der Pianobar ein. Wir waren zu Fuß gegangen, weil wir uns die Karte für die Straßenbahn nicht leisten konnten, von einem Taxi ganz zu schweigen.

„Es ist doch ein wunderschöner Abend“, gab ich zu bedenken, „Und es macht mir gar nichts aus an solch einem Abend zu Fuß zu gehen.“

Doch ich wusste genau, dass Du mir nicht glaubtest, weil Du es mir ansahst, dass ich durchgefroren war, denn es war Dezember und der Wind peitschte unablässig durch die Straßen, wirbelte den Schnee auf und fegte ihn ins Gesicht. Dennoch widersprachst Du mir nicht.

„Na, dann lass uns mal reingehen und unser Bestes geben“, fordertest Du mich auf, während Du mir galant die Türe öffnetest.

Diese führte in einen Vorraum, in dem die Garderobe untergebracht war. Eine dicke Frau mit dicken Brillengläsern und einem freundlichen, runden Gesicht saß in einer Ecke und strickte. Kopfschüttelnd sah sie uns an. War es denn wirklich so offensichtlich, dass wir keine Gäste waren?

„Sie sind ja völlig durchgefroren, Kindchen“, wandte sie sich an mich, „Seid Ihr vielleicht die neuen Künstler?“

„Nun ja, zumindest für diesen Abend“, gab ich unumwunden zu.

„Gut, dann geht bitte da hinein“, erklärte sie, und wies mit ihrer kleinen, feisten Hand auf eine Türe, die neben der Garderobe im Dunklen lag, „Und das nächste Mal nehmt bitte den Lieferanteneingang. Der Chef mag es gar nicht, wenn das Personal durch den Haupteingang kommt.“

Im selben Moment wurde die Türe aufgerissen, die offenbar zur Bar führte und ein großer, herrisch wirkender Mann trat ein. Seine Züge waren hart und undurchdringlich, sein Haar schlohweiß, was ihn beträchtlich älter erschienen ließ, als er es in Wirklichkeit wohl war.

„Guten Abend“, sagte er kurz, und man merkte wie sehr er um Fassung rang, „Nie wieder möchte ich es erleben, dass Sie diesen Eingang benutzen. Der ist für zahlende Gäste und nicht für Personal.“ Seine derbe Stimme passte zu seinem zerfurchten Gesicht.

„Es wird nicht mehr vorkommen“, sagtest Du schnell, um mich dann in die Richtung der Türe zu bugsieren, die uns die Frau an der Garderobe gewiesen hatte, und ich kämpfte innerlich mit der Vorfreude auf die Bar, in die ich einen kleinen Einblick erhaschen konnte und dem Gefühl nicht erwünscht zu sein.

„Meinst Du, wir können sie überzeugen?“, fragte ich Dich verunsichert, und als ich Dich ansah, fand ich nicht den geringsten Zweifel.

„Ganz bestimmt werden wir das. Du darfst Dich nur nicht verunsichern lassen“, versuchtest Du mich zu ermutigen.

Die Furcht und die Zweifel und die Unsicherheit, all das würde sofort verflogen sein, sobald ich auf der Bühne wäre, ich wusste es. Zehn Minuten später hörten wir die Ansage, die uns galt. Wir verließen den Raum, der für das Personal bestimmt war und traten in die Bar. Sie war gut besucht. Sämtliche Tische waren besetzt, und etliche Menschen standen an der Bar, andere wiederum tanzten. Ein grässliches Durcheinander der verschiedensten Parfüms schlug mir entgegen, doch ich versuchte es zu ignorieren, und mich nur auf das eine zu konzentrieren, unseren Auftritt. Während Du am Piano Platz nahmst, suchte ich mir einen Platz in der Nähe, wo ich sowohl Dich im Auge hatte, als auch von den meisten der Gäste gut gesehen werden konnte. Wie oft hatte ich Dich schon beneidet um diesen festen Platz am Piano. Er war so unumstößlich, doch ich hatte so etwas nicht, musste mich in jedem Raum erst neu einfinden. Noch einmal sah ich zu Dir, holte mir Kraft aus Deinem Blick – und ich spürte wie ich mein Lächeln wiederfand, als Du begannst unsere Titelmelodie zu spielen.

* * *

„Meinst Du, gibt es diese Bar noch?“, fragte ich unvermittelt.

„Keine Ahnung. Wer weiß, ob das Ganze überhaupt in unserer Stadt spielt. Es könnte doch von weiß Gott wo herkommen“, entgegnetest Du unwirsch, „Aber kannst Du jetzt bitte weiterlesen.“

„Hab ich Dich leicht neugierig gemacht?“, entgegnete ich grinsend.

„Nicht besonders, aber wissen will ich es jetzt doch, bloß der Vollständigkeit halber“, erklärtest Du.

„Ja klar, der Herr Controller muss immer alles vollständig haben, das ist alles“, gab ich zurück um dann doch weiterzulesen, weil ich es auch unbedingt wissen wollte. Aber warum nur konntest Du das nicht zugeben.

* * *

Du spieltest unsere Titelmelodie, quasi unser Erkennungsmerkmal, das wir uns ganz am Anfang unserer Zusammenarbeit zurechtgelegt hatten, und das nun am Anfang eines jeden Programmes stand.

„Weißt Du“, sagte ich damals zu Dir, „Wenn wir einmal berühmt sind, dann werden alle sofort aufmerksam, wenn sie diese Melodie hören. Was heißt die Melodie, wenn sie die ersten Takte hören.“

„Du bist so herrlich optimistisch“, entgegnetest Du, „Aber so soll es auch sein, denn wer soll schließlich an uns glauben, wenn nicht wir.“

Mittlerweile waren fünf Jahre vergangen, und dieses Ziel hatten wir noch nicht erreicht.

Eigentlich hatten wir noch gar nichts erreicht, aber unsere Zuversicht hatten wir dennoch nicht verloren. Du spieltest also unsere Erkennungsmelodie, und während ich mich von den sanften Tönen tragen ließ, merkte ich, dass die Menschen nicht aufmerksam wurden.

Ungeniert und ungerührt plauderten sie weiter miteinander. Vielleicht hielten der eine oder andere inne, aber die Mehrzahl schien völlig unbeeindruckt. Ich spürte wie mein Mut sank.

Sollte es wieder ein Reinfall sein? Wieder ein vergebener Abend? Doch dann, wieder der Blick zu Dir, und ich wusste, wusste wieder alles, woran wir glaubten und wovon wir uns all die Jahre tragen ließen, und als die letzten Töne verklungen waren, und ich anhob meinen ersten Text zu rezitieren, da verschwand die Welt um mich und die Menschen, und ganz gleich wie oft ich es schon erzählt hatte, es war wieder als wäre es das erste Mal. Es war mir, als wäre es mir noch nie so gut gelungen mich in meinen Text zu finden, ihn nicht nur in Worten, sondern in der Lebendigkeit des Augenblicks zu erschaffen. Die Worte rissen mich mit sich wie ein Strudel, und in meinem Ausdruck, in meinen Gesten lebten die Gefühle und das Ungesagte zwischen den Worten, so dass es ankommen konnte.

Und als ich endete, die letzten Worte des ersten Textes fliegen ließ, ihnen noch einen Moment wehmütig hinterherblickend, da erst kehrte ich in die Gegenwart zurück. Es war mucksmäuschenstill im Raum. Die Gespräche waren verstummt. Wie lange schon? ich vermochte es nicht zu sagen, doch wir hatten es geschafft, hatten die Aufmerksamkeit für uns gewonnen. Knappe zwei Stunden, so lange unser Programm andauerte, hielt diese an, um in einem tosenden Applaus zu enden.

„Wir haben es gewusst. Immer schon haben wir es gewusst“, dachte ich mir, als wir uns verbeugten, und obwohl ich diese Überzeugung in mir getragen hatte, war ich überwältigt und glücklich. Seit diesem Abend mussten wir nie wieder frieren oder bangen ob wir am nächsten Tag was zu essen haben würden. Alles, was ich mir je erträumt hatte, hatte sich erfüllt, mit einem Schlag.

* * *

„Das sollten wir auch machen“, sagte ich unvermittelt, die Lektüre abermals unterbrechend.

„Was sollten wir auch machen?“, fragtest Du irritiert.

„Wir werden die Pianobar suchen und in Ilses und Hans Fußstapfen treten“, erklärte ich, als wäre es ein unumstößlicher Entschluss.

„Du ich bin Controller und kein Künstler, falls Du das vergessen hast“, erwidertest Du stirnrunzelnd, als hätte ich Dir vorgeschlagen etwas Unvernünftiges zu tun.

„Als wenn ich das vergessen könnte – und ich arbeite im Marketing. Ja und? Willst Du jetzt bis 70 nichts anderes mehr machen? Willst Du wirklich behaupten, dass immer alles so bleiben muss wie es ist?“

„Natürlich nicht, und ja, als Hobby ist es ja recht nett, aber ich weiß nicht, professionell ist doch ganz anders“, meintest Du unsicher.

„Dann denk an die letzte Weihnachtsfeier, da ist es doch auch gut angekommen“, gab ich zu bedenken.

„Dennoch, es ist etwas anderes. An einen Profi werden ganz andere Ansprüche gestellt“, wandtest Du ein, „Und dann musst Du einmal ein passendes Lokal finden.“

„Werde ich, mach Dir keine Sorgen, und dann machen wir das gemeinsam. Abgemacht?“,

fragte ich, und Du nahmst meinen Vorschlag an, wie jemand, der überzeugt davon war, dass es sowieso nicht so weit kommen würde. Und ich fuhr fort vorzulesen.

* * *

Vielleicht erscheinen meine Wünsche anderen als klein und unbedeutend, doch für mich bedeutete deren Erfüllung den Himmel auf Erden. Es kann aber auch sein, dass mich das Leben bescheiden machte. Zurückgeworfen zu sein in eine Situation, in der man nicht einmal das Nötigste zum Leben hat, das macht einen wohl zwangsläufig bescheiden. Manche werden darüber größenwahnsinnig, und sie werden niemals satt. So viel sie auch erreichen, immer muss es noch mehr sein. Allerdings – und das geschieht wie gesagt weniger zwangsläufig – blieb ich es auch.

Die zwei Stunden, die wir von nun an jede Woche auf der Bühne standen, diese zwei Stunden waren für mich immer die glücklichsten meines Lebens. Natürlich, mir machte es auch Spaß die Texte zu erstellen, die festen Probetermine und der Austausch mit Dir, aber all das war unbedeutend gegenüber unserem Wirken auf der Bühne.

Es ist schwer das zu beschreiben, so zu beschreiben, dass es jemand zu fassen vermag, der es noch nie erlebt hat und vielleicht auch gar nicht erleben will. Ich kann auch gar nicht so genau sagen woran es wirklich lag.

Am Anfang standen meine Texte. Ich erstellte sie mit der ganzen Intensität meines Seins. Mein Leben, mein Erleben, mein Erfahren und mein Erträumen flossen darin ein. Es war nicht abzutrennen von mir. Ganz und gar lebte ich darin. Das war es wohl auch, was sie so authentisch machte, war es, was die Menschen so fesselte. Zumindest wurde es mir in den unzähligen Gesprächen, die ich mit Menschen aus dem Publikum führen durfte, vermittelt. Wenn ich über Trauer schrieb, so war ich Trauer – und sie steckte an. So wie das Lachen, die Angst, aber auch die Freude. Es war lebendig, jedes Mal aufs Neue. Und dann hatte ich solch einen Text im Kopf, denn ich lernte sie für die Bühne.

Ein neuer Text. In der Probe konnte ich noch so überzeugt davon sein, die wahre Bewährungsprobe war die Bühne. Erst, wenn er dem Publikum das vermittelte, was er vermitteln sollte, erst dann war er gelungen. Und bis sich dies erwies, bis zu diesem Moment bangte ich, jedes Mal aufs Neue. Natürlich wurde ich routinierter mit den Jahren, doch etwas änderte sich nie.

Der Moment, in dem die Erkennungsmelodie erklang, die Gespräche verstummten, und wir die gesamte Aufmerksamkeit erhielten. Zu Anfang zitterte ich noch ein wenig, doch kurz darauf flog ich auf und weg in meinem Text, und ich war in meiner eigenen Welt, war darin und nahm nichts anderes mehr wahr. Erst, wenn ich verstummte, der Applaus anhob, dann landete ich wieder, sanft und unverletzt. Der Himmel war für mich auf die Erde gekommen.

Miteinander waren wir ein Duo, das bald über die Grenzen der Vorstadt hinweg berühmt war, so dass es schwer wurde Karten zu erhalten. Doch kein Glück hält für immer. Es wäre auch zu schön gewesen.

* * *

„Ich kann das so gut nachvollziehen“, sagte ich unvermittelt, das Buch sinken lassend.

„Das finde ich ja toll, dass Du das kannst“, erklärtest Du, unüberhörbar verärgert, „Aber musst Du gerade hier aufhören zu lesen, hier wo es spannend wird?“

„Warum wird es gerade hier spannend? Weil das Glück unterbrochen wird?“, fragte ich postwendend, und ohne meine Geringschätzung zu verbergen.

„Glück ist langweilig, zumindest auf die Dauer und in einem literarischem Werk“, erwidertest Du mir, und obwohl ich wusste, dass Du recht hattest, beschloss ich auf meinem Standpunkt zu verbleiben, vorerst einmal.