Das Lied der Krähen - Leigh Bardugo - E-Book + Hörbuch

Das Lied der Krähen Hörbuch

Leigh Bardugo

4,8

Beschreibung

Sechs unberechenbare Außenseiter – eine unmögliche Mission Der Nr.-1-Bestseller aus den USA - Leigh Bardugos temporeiche Saga über den tollkühnsten Coup der Fantasy-Geschichte Ketterdam – pulsierende Hafenstadt, Handelsmetropole, Tummelplatz zwielichtiger Gestalten: Hier hat sich Kaz Brekker zur gerissenen und skrupellosen rechten Hand eines Bandenchefs hochgearbeitet. Als er eines Tages ein Jobangebot erhält, das ihm unermesslichen Reichtum bescheren würde, weiß Kaz zwei Dinge: Erstens wird dieses Geld den Tod seines Bruders rächen. Zweitens kann er den Job unmöglich allein erledigen … Mit fünf Gefährten, die höchst unterschiedliche Motive antreiben, macht Kaz sich auf in den Norden, um einen gefährlichen Magier aus dem bestgesicherten Gefängnis der Welt zu befreien. Die sechs Krähen sind professionell, clever, und Kaz fühlt sich jeder Herausforderung gewachsen – außer in Gegenwart der schönen Inej … »Faszinierend … Bardugos "Six of Crows" lässt die Leser im besten Sinn des Wortes mitfiebern. Dafür ist die Fantasy gemacht!« - The New York Times

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Zeit:16 Std. 41 min

Sprecher:Frank Stieren

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Leigh Bardugo

Das Lied der Krähen

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Michelle Gyo

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ketterdam – pulsierende Hafenstadt, Handelsmetropole, Tummelplatz zwielichtiger Gestalten: Hier hat sich Kaz Brekker zur gerissenen und skrupellosen rechten Hand eines Bandenchefs hochgearbeitet. Als er eines Tages ein Jobangebot erhält, das ihm unermesslichen Reichtum bescheren würde, weiß Kaz zwei Dinge: Erstens wird dieses Geld den Tod seines Bruders rächen. Zweitens kann er den Job unmöglich allein erledigen …

Mit fünf Gefährten, die höchst unterschiedliche Motive antreiben, macht Kaz sich auf in den Norden, um einen gefährlichen Magier aus dem bestgesicherten Gefängnis der Welt zu befreien. Die sechs Krähen sind professionell, clever, und Kaz fühlt sich jeder Herausforderung gewachsen – außer in Gegenwart der schönen Inej …

Inhaltsübersicht

WidmungDie GrishaKartenSchattengeschäfte1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. KapitelDiener und Druckmittel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. KapitelTief betrübt16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. KapitelDie Kunst zu fallen21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. KapitelEis vergibt nicht27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. KapitelEchte Diebe39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. KapitelDanksagungLeseprobe »Das Gold der Krähen«
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Für Kayte –

Geheimwaffe, unverhoffte Freundin

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Teil 1

Schattengeschäfte

1

Joost

Joost hatte zwei Probleme: den Mond und seinen Schnauzer.

Eigentlich sollte er seine Runde am Hoede-Haus machen, doch stattdessen drückte er sich seit fünfzehn Minuten an der südwestlichen Mauer des Gartens herum und versuchte, sich etwas Schlaues oder Romantisches auszudenken, das er Anya sagen könnte.

Wären Anyas Augen doch nur so blau wie das Meer oder so grün wie Smaragde. Stattdessen waren ihre Augen braun – so wunderhübsch, so verträumt … wie geschmolzene Schokolade? Wie das Fell eines Kaninchens?

»Erzähl ihr einfach, sie hat Haut wie Mondlicht«, hatte sein Freund Pieter gesagt. »Mädchen lieben das.«

Die perfekte Lösung, aber das Wetter in Ketterdam machte da nicht mit. Den ganzen Tag über hatte keine Brise vom Hafen herübergeweht, und ein milchig grauer Nebel hüllte die Kanäle und schiefen Gassen der Stadt in seinen Dunst. Selbst hier, zwischen den Herrenhäusern an der Geldstraat, hing der Geruch nach Fisch und Bilgenwasser schwer in der Luft, und der Qualm der Raffinerien von den äußeren Inseln beschmutzte den Nachthimmel mit seinem salzigen Schleier. Der Vollmond wirkte weniger wie ein Juwel denn wie eine gelbliche Blase, die aufgeschnitten gehörte.

Vielleicht könnte er Anya ein Kompliment für ihr Lachen machen? Nur dass er ihr Lachen noch nie gehört hatte. Er war nicht besonders gut im Witzeerzählen.

Joost musterte sein Spiegelbild in den Glasscheiben der Flügeltüren, die vom Haus in den Seitengarten führten. Seine Mutter hatte recht. Selbst in seiner neuen Uniform sah er immer noch aus wie ein Baby. Behutsam fuhr er sich mit den Fingern über die Oberlippe. Wenn doch wenigstens sein Schnauzer wachsen würde. Er fühlte sich schon ganz eindeutig dichter an als gestern.

Seit weniger als sechs Wochen war er bei der Stadtwacht, und es war nicht annähernd so aufregend, wie er es sich erhofft hatte. Er hatte geglaubt, er würde Diebe im Barrel jagen oder durch die Häfen patrouillieren und so die Fracht, die dort gelöscht wurde, als Erster zu sehen bekommen. Aber seit dem Mordanschlag auf diesen Botschafter im Rathaus hatte der Kaufmannsrat über die Sicherheit geklagt, und wo war er jetzt deshalb? Dazu verdonnert, immer im Kreis um das Haus von einem glücklichen Krämer zu rennen. Immerhin war es nicht irgendein Krämer. Ratsherr Hoede war in der Regierung von Ketterdam so hochgestellt, wie ein Mann es nur sein konnte. Die Sorte Mann, die Karrieren machen könnte.

Joost richtete den Sitz seines Mantels und Gewehrs, dann tätschelte er den Knüppel, der an seiner Hüfte hing. Vielleicht fand Hoede ja Gefallen an ihm. Scharfsichtig und schnell mit dem Knüppel, würde er sagen. Der Bursche verdient eine Beförderung.

»Wachtmeister Joost van Poel«, flüsterte er und kostete den Klang der Worte aus. »Hauptmann Joost van Poel.«

»Glotz dich nicht so blöd selbst an.«

Joost fuhr herum, und seine Wangen wurden heiß, als Henk und Rutger in den Garten schlenderten. Beide waren älter, größer und breitschultriger als Joost, und sie waren Hauswachen, persönliche Diener von Ratsherr Hoede. Das bedeutete, sie trugen seine blassgrüne Tracht, schicke Gewehre aus Nowij Sem, und sie sorgten dafür, dass Joost nie vergaß, dass er ein einfacher Infanterist von der Stadtwache war.

»Das bisschen Flaum da zu hätscheln lässt ihn auch nicht schneller wachsen«, sagte Rutger und lachte laut auf.

Joost bemühte sich, einen Rest Würde zu bewahren. »Ich muss meine Runde beenden.«

Rutger stieß Henk mit dem Ellbogen an. »Das heißt, er steckt wieder die Nase in die Werkstatt der Grisha, um sein Mädchen zu sehen.«

»O Anya, kannst du nicht deine Grisha-Magie anwenden, um meinen Bart wachsen zu lassen?«, höhnte Henk.

Joost drehte sich auf dem Absatz um, mit brennenden Wangen, und marschierte an der Ostseite des Hauses davon. Sie zogen ihn auf, seit er hier angekommen war. Wenn Anya nicht gewesen wäre, hätte er seinen Hauptmann wahrscheinlich schon um eine Versetzung gebeten. Er und Anya redeten nur während seiner Runden ein paar Worte, aber das war jedes Mal der Höhepunkt seiner Nacht.

Und er musste zugeben, er mochte Hoedes Haus, von den wenigen Blicken ausgehend, die er durch die Fenster erhascht hatte. Hoede besaß eines der prächtigsten Herrenhäuser an der Geldstraat – Böden mit schimmernden Fliesen aus schwarzem und weißem Stein, glänzende dunkle Holzwände, die von mundgeblasenen Kronleuchtern aus Glas beleuchtet wurden. Sie schwebten wie Quallen unter den Kassettendecken. Manchmal tat Joost so, als sei es sein Haus – als wäre er der reiche Krämer, der einen kurzen Spaziergang durch seinen wunderschönen Garten machte.

Bevor er um die Ecke bog, holte Joost tief Luft. Anya, deine Augen sind so braun wie … Rinde? Ihm würde schon was einfallen. Spontan war er sowieso besser.

Es überraschte ihn, dass die mit Sichtfenstern versehenen Flügeltüren der Grisha-Werkstatt offen standen, denn mehr noch als die handbemalten blauen Kacheln in der Küche oder die mit Töpfen voller Tulpen beladenen Kaminsimse war diese Werkstatt Zeugnis für Hoedes Reichtum. Indenturen mit Grisha waren nicht billig, und Hoede hielt sich sogar drei.

Aber Yuri saß nicht an dem langen Arbeitstisch, und auch Anya war nirgends zu sehen. Nur Retwenko fläzte sich in seiner nachtblauen Robe auf einem Sessel, die Augen geschlossen und ein aufgeklapptes Buch auf der Brust.

Joost verharrte in der Tür, dann räusperte er sich. »Diese Türen sollten bei Nacht geschlossen und verriegelt sein.«

»Im Haus ist es wie in einem Ofen.« Retwenko dehnte die Worte und sprach mit geschlossenen Augen, sein Akzent aus Ravka schwer und grollend. »Sag Hoede, ich nicht schwitzen, ich schließe Türen.«

Retwenko war ein Stürmer, älter als die anderen Grisha, das Haar durchzogen von Silber. Es gab Gerüchte, dass er im Bürgerkrieg für die Verliererseite von Ravka gekämpft hatte und nach den Kämpfen nach Kerch geflohen war.

»Gern gebe ich deine Beschwerde an Ratsherrn Hoede weiter«, log Joost. Das Haus war immer überheizt, als wäre Hoede dazu verpflichtet, Kohle zu verbrennen, aber Joost wäre sicher nicht derjenige, der das erwähnen würde. »Bis dahin …«

»Hast du irgendwas von Yuri gehört?«, unterbrach ihn Retwenko und sah ihn dabei endlich unter schweren Lidern hervor an.

Joost blickte besorgt zu den Schalen mit roten Trauben und den Haufen weinroten Samts auf dem Arbeitstisch. Yuri hatte daran gearbeitet, Vorhänge für Mistress Hoede mit der Farbe der Früchte zu färben, aber vor ein paar Tagen war er schwer erkrankt, und Joost hatte ihn seither nicht gesehen. Staub hatte sich auf dem Samt niedergelassen, und die Trauben verdarben.

»Ich habe nichts gehört.«

»Natürlich hörst du nicht. Zu beschäftigt, in dummer purpur Uniform herumstolzieren.«

Was war an seiner Uniform denn falsch? Und warum musste Retwenko überhaupt hier sein? Er war Hoedes persönlicher Stürmer und reiste häufig mit der wertvollsten Fracht des Händlers, um gute Winde zu garantieren, die die Schiffe schnell und sicher in den Hafen brachten. Warum konnte er nicht auf See sein?

»Ich glaube, Yuri könnte in Quarantäne sein.«

»So hilfsbereit«, sagte Retwenko höhnisch. »Du kannst aufhören, Hals wie hoffnungsfrohe Gans zu drehen«, fügte er hinzu. »Anya ist weg.«

Joost spürte, wie seine Wangen erneut warm wurden. »Wo ist sie?«, fragte er und versuchte, Respekt einflößend zu klingen. »Sie sollte nach Anbruch der Dunkelheit drinnen sein.«

»Vor einer Stunde Hoede hat sie genommen. Genauso wie in Nacht, als er Yuri genommen hat.«

»Was meinst du damit: ›als er Yuri genommen hat‹? Yuri ist krank geworden.«

»Hoede holt Yuri, Yuri kommt krank zurück. Zwei Tage später, Yuri verschwindet endgültig. Jetzt Anya.«

Endgültig?

»Vielleicht gab es einen Notfall. Wenn jemand geheilt werden musste …«

»Zuerst Yuri, jetzt Anya. Ich werde der Nächste sein, und niemand wird es mitbekommen, nur der arme kleine Offizier Joost. Geh jetzt.«

»Wenn Ratsherr Hoede …«

Retwenko hob den Arm, und ein Windstoß schob Joost rückwärts. Joost bemühte sich, stehen zu bleiben, und hielt sich am Türrahmen fest.

»Ich sagte jetzt.« Retwenko vollführte mit der Hand einen Kreis in der Luft, und die Tür schlug zu. Joost ließ gerade noch rechtzeitig los, damit seine Finger nicht eingeklemmt wurden, dann stürzte er in den Garten.

Er sprang gleich wieder auf, wischte Dreck von seiner Uniform, und Scham wand sich in seinem Magen. Eine Glasscheibe hatte einen Riss bekommen. Und durch den Riss sah er das Grinsen des Stürmers.

»Das widerspricht deinem Vertrag«, sagte Joost und zeigte dabei auf das kaputte Glas. Er verabscheute es, wie winzig und kleinlich seine Stimme dabei klang.

Retwenko wedelte mit der Hand, und die Türen zitterten in den Angeln. Unwillkürlich machte Joost einen Schritt zurück.

»Geh und dreh deine Runden, kleiner Wachhund«, rief Retwenko.

»Das lief ja gut«, höhnte Rutger, der an der Gartenmauer lehnte.

Wie lange stand er schon da? »Hast du nichts Besseres zu tun, als mir nachzulaufen?«, fragte Joost.

»Alle Wachen sollen sich im Bootshaus melden. Sogar du. Oder bist du zu beschäftigt, neue Freunde zu gewinnen?«

»Ich habe ihn gebeten, die Tür zu schließen.«

Rutger schüttelte den Kopf. »Du bittest nicht. Du befiehlst. Sie sind Diener. Keine Gäste.«

Joost lief neben Rutger her, und seine Eingeweide rumorten noch immer wegen der Erniedrigung. Das Schlimmste war, dass Rutger recht hatte. Retwenko stand es nicht an, so mit ihm zu reden. Aber was sollte Joost machen? Selbst wenn er den Mut hätte, sich auf einen Streit mit einem Stürmer einzulassen, so wäre das, als würde er mit einer wertvollen Vase raufen. Die Grisha waren nicht bloß Diener, sie waren der wertvolle Besitz Hoedes.

Was hatte Retwenko damit gemeint, dass Yuri und Anya weggebracht worden waren? Hatte er Anya gedeckt? Grisha-Knechte wurden aus gutem Grund am Haus gehalten. Wenn sie schutzlos durch die Straßen liefen, konnten sie von einem Sklavenhändler aufgegriffen werden und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Vielleicht trifft sie sich mit jemandem, mutmaßte Joost, und ihm wurde ganz elend.

Grelles Licht und rege Betriebsamkeit unterbrachen seine Gedanken, als sie beim Bootshaus ankamen, das unten am Kanal lag. Über das Wasser hinweg sah er weitere herrschaftliche Krämerhäuser, hoch und schlank, deren schmucke Giebel sich als dunkle Silhouetten gegen den Nachthimmel abhoben, ihre Gärten und Bootshäuser waren erhellt von leuchtenden Laternen.

Ein paar Wochen zuvor hatte man Joost gesagt, dass Hoedes Bootshaus saniert würde und er es deshalb von seinen Runden streichen sollte. Aber als er und Rutger jetzt eintraten, sah er weder Farbe noch Gerüste. Die Gondeln und Ruder waren an die Wände geschoben worden. Die anderen Hauswachen in seegrünen Trachten waren da, und Joost erkannte zwei Angehörige der Stadtwacht in Purpur. Der Raum war fast vollständig von einer riesigen Kiste ausgefüllt – eine Art frei stehende Zelle, die aussah, als sei sie aus verstärktem Stahl gebaut. Die Nähte starrten vor Nieten, und in eine der Wände war ein riesiges Fenster eingelassen. Das Glas wellte sich, und Joost konnte dahinter ein Mädchen erkennen, das an einem Tisch saß und seine roten Seidenkleider eng um sich zog. Hinter ihr stand ein Posten der Stadtwacht stramm.

Anya, erkannte Joost mit Schrecken. Ihre braunen Augen waren groß, und sie blickten ängstlich umher, ihre Haut war blass. Der kleine Junge, der ihr gegenübersaß, wirkte doppelt so verängstigt. Sein Haar war vom Schlaf zerwühlt, und seine Beine baumelten vom Stuhl und traten nervös in der Luft herum.

»Wozu all die Wachen?«, fragte Joost. Es mussten sich mehr als zehn von ihnen in dem Bootshaus drängen. Auch Ratsherr Hoede war da, zusammen mit einem anderen Kaufmann, den Joost nicht kannte. Beide trugen das Schwarz der Krämer. Als Joost sah, dass sie mit dem Hauptmann der Stadtwacht sprachen, richtete er sich auf. Er hoffte, dass er den Gartendreck von seiner Uniform bekommen hatte. »Was ist hier los?«

Rutger zuckte mit den Schultern. »Wen interessiert’s? Ist mal was anderes.«

Joost sah wieder durch das Glas. Anya starrte ihm entgegen, ihr Blick ziellos. Als er das erste Mal am Hoede-Haus gewesen war, hatte sie eine Prellung an seiner Wange geheilt. Es war nichts gewesen, die gelbgrünen Überbleibsel einer Wunde, die er während der Übungen abbekommen hatte, aber offensichtlich hatte Hoede sie gesehen, und er schätzte es nicht, wenn seine Wachen wie Schläger aussahen. Joost war zur Werkstatt der Grisha geschickt worden, und Anya hatte ihn geheißen, sich in einen hellen Fleck Spätwintersonne zu setzen. Ihre kühlen Finger hatten über seine Haut gestrichen, und obwohl das Jucken schrecklich gewesen war, waren kaum ein paar Sekunden vergangen, bis es aussah, als hätte es die Prellung nie gegeben.

Als Joost ihr gedankt hatte, lächelte Anya, und Joost war hoffnungslos verloren. Er wusste, dass es sinnlos war. Selbst wenn sie Interesse an ihm hätte, so hätte er es sich nie leisten können, ihren Vertrag bei Hoede auszulösen, und sie würde auch nie heiraten – es sei denn, Hoede verordnete es. Doch das hatte ihn nicht davon abgehalten, öfter vorbeizugehen und Hallo zu sagen oder ihr kleine Geschenke zu bringen. Am besten hatte ihr die Karte von Kerch gefallen, eine wunderliche Zeichnung ihres Inselstaats, umgeben von Meerjungfrauen, die in der Wahren See schwammen, und Schiffen, die von dickwangigen Männern vorangeblasen wurden, die den Wind darstellten. Es war ein billiges Andenken, wie sie die Touristen am Ost-Stave kauften, aber es schien ihr zu gefallen.

Er wagte es, die Hand zu heben, um ihr zu winken. Anya rührte sich nicht.

»Sie kann dich nicht sehen, du Trottel«, sagte Rutger und lachte. »Das Glas ist von der anderen Seite verspiegelt.«

Joosts Wangen röteten sich. »Und woher soll ich das wissen?«

»Mach die Augen auf und pass halt ein Mal auf.«

Erst Yuri, jetzt Anya. »Warum brauchen sie einen Grisha-Heiler? Ist der Junge verletzt?«

»Der sieht gesund aus, finde ich.«

Der Hauptmann und Hoede schienen sich auf etwas zu einigen.

Durch das Glas beobachtete Joost, wie Hoede die Zelle betrat und dem Jungen aufmunternd auf die Schulter klopfte. Die Zelle musste Lüftungsschlitze haben, denn er hörte, wie Hoede sagte: »Sei ein mutiger Junge, für dich sind ein paar Kruge drin.« Dann packte er Anya mit seiner altersfleckigen Hand unterm Kinn. Sie erstarrte, und Joosts Magen zog sich zusammen. Hoede schüttelte Anyas Kopf leicht. »Tu, wie dir geheißen, dann ist das hier bald vorbei, ja?«

Sie lächelte leicht und gezwungen. »Natürlich, Onkel.«

Hoede flüsterte der Wache hinter Anya ein paar Worte zu, dann ging er hinaus. Die Tür schloss sich mit einem lauten Klirren, und Hoede befestigte ein schweres Schloss daran.

Hoede und der andere Kaufmann stellten sich fast genau vor Joost und Rutger.

Der Kaufmann, den Joost nicht kannte, sagte: »Seid Ihr sicher, dass das weise ist? Dieses Mädchen ist ein Korporalki. Nach dem, was Eurem Fabrikator passiert ist …«

»Wenn es Retwenko wäre, würde ich mir Sorgen machen. Aber Anya hat ein liebliches Wesen. Sie ist eine Heilerin. Sie neigt nicht zu Gewalt.«

»Und Ihr habt die Dosis verringert?«

»Ja, aber wir haben uns darauf geeinigt, dass mich der Rat entschädigt, falls wir die gleichen Ergebnisse erzielen wie mit dem Fabrikator? Man kann nicht erwarten, dass ich die Ausgaben trage.«

Als der Händler nickte, gab Hoede dem Hauptmann ein Zeichen. »Fahrt fort.«

Die gleichen Ergebnisse wie mit dem Fabrikator. Retwenko behauptete, dass Yuri verschwunden war. Hatte er das damit gemeint?

»Wachtmeister«, sagte der Hauptmann, »seid Ihr bereit?«

Die Wache in der Zelle antwortete: »Ja, Sir.« Dann zog er ein Messer.

Joost schluckte.

»Erster Test«, sagte der Hauptmann.

Die Wache beugte sich vor und befahl dem Jungen, die Ärmel hochzukrempeln. Der Junge gehorchte und streckte seinen Arm aus, den Daumen der anderen Hand schob er sich in den Mund. Dafür bist du zu alt, dachte Joost. Aber der Junge musste große Angst haben. Joost hatte mit einem aus einer Socke gemachten Bären geschlafen, bis er fast vierzehn war, und dafür hatten ihn seine älteren Brüder gnadenlos aufgezogen.

»Das wird nur ein bisschen piksen«, sagte der Wachmann.

Der Junge behielt den Daumen im Mund und nickte, seine Augen waren groß.

»Das ist wirklich nicht notwendig …«, setzte Anya an.

»Ruhe bitte«, sagte Hoede.

Der Wächter tätschelte den Jungen kurz, dann schlitzte er einen grellroten Riss quer über dessen Unterarm. Der Junge fing sofort an zu weinen.

Anya versuchte, von ihrem Stuhl aufzustehen, aber die Wache legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie zurück.

»Es ist in Ordnung, Wachtmeister«, sagte Hoede. »Sie soll ihn heilen.«

Anya beugte sich vor und nahm sanft die Hand des Jungen. »Ssssch«, sagte sie leise. »Lass mich dir helfen.«

»Wird es wehtun?«, fragte der Junge und schluckte.

Sie lächelte. »Kein bisschen. Nur ein kleines Jucken. Versuch einfach stillzuhalten, ja?«

Joost merkte, wie er sich weiter vorbeugte. Er hatte noch nie wirklich gesehen, wie Anya jemanden heilte.

Anya zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und wischte damit das Blut weg. Dann strichen ihre Finger vorsichtig über die Wunde des Jungen. Verblüfft sah Joost, wie sich die Haut langsam neu zu bilden und dann zu schließen schien.

Ein paar Minuten später grinste der Junge und streckte seinen Arm aus. Er war etwas rot, ansonsten aber glatt und gesund. »War das Magie?«

Anya tippte ihm auf die Nase. »So in etwa. Die gleiche Magie, die dein eigener Körper anwendet, wenn man ihn mit etwas Zeit und einem Verband unterstützt.«

Der Junge wirkte fast enttäuscht.

»Gut, gut«, sagte Hoede ungeduldig. »Und jetzt das Parem.«

Joost runzelte die Stirn. Das Wort hatte er noch nie gehört.

Der Hauptmann gab der Wache ein Zeichen. »Zweite Sequenz.«

»Streck deinen Arm aus«, sagte der Hauptmann zu dem Jungen.

Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich mag den Teil nicht.«

»Los.«

Die Unterlippe des Jungen zitterte, aber er tat es. Die Wache ritzte ihn erneut. Dann legte er einen kleinen Umschlag aus Wachspapier vor Anya auf den Tisch.

»Schluck den Inhalt des Päckchens«, wies Hoede Anya an.

»Was ist das?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»Das ist für dich nicht von Belang.«

»Was ist das?«, wiederholte sie.

»Es wird dich nicht umbringen. Wir werden dich bitten, ein paar einfache Aufgaben zu vollbringen, damit wir die Wirkung der Droge beurteilen können. Der Hauptmann sorgt dafür, dass du nur tust, was du sollst, und nicht mehr, verstanden?«

Sie biss die Zähne zusammen und nickte.

»Niemand wird dir wehtun«, sagte Hoede. »Aber denk daran, wenn du der Wache wehtust, gibt es für dich keinen Weg aus der Zelle heraus. Die Türen sind von außen verschlossen.«

»Was ist das für ein Zeug?«, flüsterte Joost.

»Keine Ahnung«, sagte Rutger.

»Was weißt du überhaupt?«, murmelte er.

»Genug, um die Klappe zu halten.«

Joost warf ihm einen bösen Blick zu.

Mit zitternden Händen nahm Anya den kleinen Umschlag und öffnete ihn.

»Nur zu«, sagte Hoede.

Sie legte den Kopf in den Nacken und schluckte das Pulver. Kurz saß sie da, abwartend, die Lippen zusammengepresst.

»Ist das nur Jurda?«, fragte sie voller Hoffnung.

Joost hoffte das ebenfalls. Jurda war nicht schlimm, ein Stimulans, das jeder in der Stadtwacht kaute, um während der späten Schichten wach zu bleiben.

»Nach was schmeckt es?«, fragte Hoede.

»Wie Jurda, nur süßer, es …«

Da holte Anya tief Luft. Ihre Hände umklammerten die Tischplatte, und ihre Pupillen wurden so groß, dass ihre Augen fast schwarz wirkten. »Ooooh«, seufzte sie. Es klang fast wie ein Schnurren.

Die Wache verstärkte den Griff um ihre Schulter.

»Wie fühlst du dich?«

Sie blickte in den Spiegel und lächelte. Ihre Zunge spitzte zwischen ihren weißen Zähnen hervor, sie war jetzt rostfarben. Joost wurde plötzlich kalt.

»Genauso wie bei dem Fabrikator«, murmelte der Händler.

»Heile den Jungen«, befahl Hoede.

Sie wedelte mit der Hand durch die Luft, eine Geste, die fast herablassend wirkte, und der Schnitt am Arm des Jungen schloss sich sofort. Das Blut hob sich kurz in roten Tropfen von seiner Haut, dann verschwand es. Die Haut war glatt und sauber, jede Spur von Blut oder Rötung war weg. Der Junge strahlte. »Das war auf jeden Fall Magie.«

»Es fühlt sich an wie Magie«, sagte Anya mit dem gleichen unheimlichen Lächeln.

»Sie hat ihn nicht berührt«, bemerkte der Hauptmann staunend.

»Anya«, sagte Hoede. »Hör mir gut zu. »Wir werden jetzt der Wache sagen, dass sie den nächsten Test durchführen soll.«

»Mmm«, summte Anya.

»Wachtmeister«, sagte Hoede. »Schneidet dem Jungen den Daumen ab.«

Der Junge heulte und schrie und begann wieder zu weinen. Er schob seine Hände unter die Beine, um sie zu schützen.

Ich sollte dem ein Ende bereiten, dachte Joost. Ich sollte eine Möglichkeit finden, sie zu beschützen, sie beide. Aber was dann? Er war ein Niemand, neu in der Stadtwacht, neu in diesem Haus. Außerdem will ich meine Arbeit behalten, stellte er mit einem Anflug von Scham fest.

Anya lächelte kaum und legte den Kopf in den Nacken, sodass sie den Wachtmeister ansah. »Schießt auf das Glas.«

»Was hat sie gesagt?«, fragte der Kaufmann.

»Wachtmeister!«, blaffte der Hauptmann.

»Schießt auf das Glas«, wiederholte Anya.

Das Gesicht der Wache wurde schlaff. Er legte den Kopf schief, als lausche er auf eine Melodie, die aus weiter Ferne zu ihm drang, dann hob er sein Gewehr und zielte auf das Beobachtungsfenster.

»Runter!«, schrie jemand.

Joost warf sich zu Boden und schlug die Arme über den Kopf, als schnelles Gewehrfeuer seine Ohren erfüllte und Glasstücke auf seine Hände und seinen Rücken herabregneten. Seine Gedanken kreischten panisch auf. Sein Gehirn versuchte es zu leugnen, aber er wusste, was er gerade gesehen hatte. Anya hatte dem Wachtmeister befohlen, auf das Glas zu schießen. Sie hatte ihn gezwungen, es zu tun. Aber das konnte nicht sein. Korporalki waren auf den menschlichen Körper spezialisiert. Sie konnten das Herz zum Stillstand bringen, die Atmung verlangsamen, Knochen brechen. Sie konnten nicht in deinen Kopf eindringen.

Kurz herrschte Stille. Dann war Joost auf den Beinen, wie alle anderen auch, packte sein Gewehr. Hoede und der Hauptmann schrien durcheinander.

»Überwältigt sie!«

»Erschießt sie!«

»Wisst Ihr, wie viel sie wert ist?«, rief Hoede. »Jemand soll sie fesseln! Nicht schießen!«

Anya hob die Hände, die roten Ärmel weit ausgebreitet. »Wartet«, sagte sie.

Joosts Furcht verschwand. Er wusste, dass er gerade noch Angst gehabt hatte, aber die war nun weit weg. Jetzt war er erfüllt von Erwartung. Er wusste nicht, was kommen würde oder wann, nur dass es kommen würde und dass es von außerordentlicher Wichtigkeit war – dass er bereit war, es zu empfangen. Es mochte gut oder schlecht sein. Es war ihm egal. Sein Herz war frei von Sorgen und Wünschen. Er sehnte sich nach nichts, wollte nichts, sein Geist war ruhig, die Atmung regelmäßig. Er brauchte nur zu warten.

Er sah, wie sich Anya erhob und den kleinen Jungen packte. Er hörte, wie sie ihm mit sanfter Stimme etwas vorsang, ein Wiegenlied aus Ravka.

»Öffnet die Tür und kommt herein, Hoede«, sagte sie.

Joost hörte die Worte, verstand sie, vergaß sie.

Hoede ging zu der Tür und schob den Bolzen beiseite. Er betrat die Stahlzelle.

»Tu, was man dir sagt, dann ist es bald vorbei, ja?«, murmelte Anya mit einem Lächeln.

Ihre Augen waren schwarz und abgrundtief. Ihre Haut leuchtete, schimmerte, glühte weiß. Ein Gedanke flatterte durch Joosts Kopf – wunderschön wie der Mond.

Anya verlagerte das Gewicht des Jungen auf ihrem Arm. »Sieh nicht hin«, flüsterte sie dicht an seinem Haar. »Und jetzt«, sagte sie an Hoede gewandt, »nehmt das Messer.«

2

Inej

Kaz Brekker brauchte keinen Grund für etwas. Diese Worte waren es, die man sich auf den Straßen von Ketterdam zuflüsterte, in den Tavernen und Kaffeehäusern, in den dunklen und verschwitzten Gassen des Vergnügungsbezirks, der als der Barrel bekannt war.

Der Junge, den man Dirtyhands nannte, brauchte keinen Grund, genauso wenig, wie er eine Erlaubnis benötigte – um hier ein Bein zu brechen, da eine Allianz zu lösen oder dort das Schicksal eines Mannes mit dem Aufdecken einer Karte zu wenden.

Natürlich lagen sie falsch, dachte Inej, als sie die schwarzen Wasser des Beurskanals auf einer Brücke querte, auf den verlassen daliegenden Stadtplatz zu, der sich vor der Börse befand. Jeder Gewaltakt war durchdacht und jeder Gefallen mit ausreichend Fäden versehen, dass man damit ein Marionettentheater hätte aufführen können. Kaz hatte immer seine Gründe. Inej war sich nur nicht immer sicher, ob es gute waren. Vor allem heute Nacht.

Inej berührte nacheinander ihre Messer und sagte dabei stumm ihre Namen auf, so wie sie es immer tat, wenn sie Ärger befürchtete. Das war einerseits nützlich, diente jedoch auch zu ihrer Beruhigung. Die Klingen waren ihre Begleiter. Sie wusste gern, dass sie bereit waren für das, was auch immer die Nacht bringen würde.

Sie erblickte Kaz und die anderen, die sich nahe dem großen Steinbogen versammelt hatten, der den östlichen Eingang zur Börse darstellte. Drei Wörter waren in den Stein graviert: Enjent, Voorhent, Almhent. Industrie, Integrität, Prosperität.

Sie hielt sich dicht an den verschlossenen Ladenfronten, die den Platz säumten, und mied die hellen Flecken flackernden Gaslichts der Straßenlampen. Während sie sich ihnen näherte, musterte sie die Truppe, die Kaz begleitete: Dirix, Rotty, Muzzen und Keeg, Anika und Pim sowie die auserwählten Sekundanten für die bevorstehende nächtliche Zusammenkunft, Jesper und Big Bolliger. Sie rempelten einander an und schubsten sich herum, lachten, stampften mit den Füßen auf gegen die Kälte, die überraschend über die Stadt hereingebrochen war: der letzte Seufzer des Winters, bevor der Frühling wirklich begann. Es waren Schläger und Draufgänger, ausgewählt unter den jüngeren Mitgliedern der Dregs, denen Kaz am meisten vertraute. Inej bemerkte das Aufblitzen von Messerklingen, die in Gürteln steckten, Bleirohre, beschwerte Ketten, Axtgriffe, gespickt mit rostigen Nägeln, und hier und da das ölige Glänzen eines Pistolenlaufs. Sie glitt leise in ihre Reihen und suchte die Schatten nahe der Börse nach Spionen der Black Tips ab.

»Drei Schiffe!«, sagte Jesper gerade. »Von den Shu geschickt. Lagen einfach im Ersten Hafen, die Kanonen bereit, rote Flaggen gehisst und bis an die Segel mit Gold beladen.«

Big Bolliger stieß einen leisen Pfiff aus. »Hätte ich gern gesehen.«

»Hätte ich gern gestohlen«, entgegnete Jesper. »Die Hälfte des Kaufmannsrats war da unten, ist rumgeflattert und hat rumgequäkt und versucht zu entscheiden, was zu tun ist.«

»Wollen die denn nicht, dass die Shu ihre Schulden bezahlen?«, fragte Big Bolliger.

Kaz schüttelte den Kopf, und sein dunkles Haar schimmerte im Lampenlicht. Er bestand ganz aus geraden Linien und scharfen Ecken – kantiger Kiefer, schlanker Körperbau, und ein Wollmantel spannte sich eng um seine Schultern. »Ja und nein«, sagte er mit seiner steinsalzrauen Stimme. »Es ist immer gut, wenn ein Land in deiner Schuld steht. Sorgt für freundlichere Verhandlungen.«

»Vielleicht haben die Shu die Schnauze voll davon, freundlich zu sein«, sagte Jesper. »Sie hätten nicht den ganzen Schatz auf einen Schlag schicken müssen. Denkst du, sie haben den Handelsbotschafter abgestochen?«

Kaz’ Blick fand Inej mit untrüglicher Sicherheit in der Meute. Jeder in Ketterdam redete seit Wochen über die Ermordung des Botschafters. Es hatte fast die Beziehungen zwischen Kerch und Semeni zerstört und den Kaufmannsrat in einen Tumult gestürzt. Die Semeni beschuldigten die Kerch. Die Kerch verdächtigten die Shu. Kaz war es egal, wer verantwortlich war; der Mord faszinierte ihn, weil er nicht herausfand, wie man ihn ausgeführt hatte. In einem der geschäftigsten Flure der Stadthalle, unter den Nasen von mehr als einem Dutzend Regierungsbeamten, hatte der Botschafter der Semeni einen Waschraum betreten. Niemand sonst war hineingegangen oder herausgekommen, aber als sein Berater ein paar Minuten später an die Tür klopfte, bekam er keine Antwort. Und als sie die Tür eintraten, fanden sie den Botschafter mit dem Gesicht auf den weißen Fliesen liegend, ein Messer im Rücken, und die Wasserhähne liefen noch.

Kaz hatte Inej ausgeschickt, um die Räumlichkeiten nach Dienstschluss auszukundschaften. Der Waschraum hatte keinen weiteren Eingang, keine Fenster oder Lüftungsschächte, und selbst Inej hatte das Kunststück nicht vollbracht, sich durch die Rohre zu quetschen. Und doch war der Botschafter aus Semeni tot. Kaz hasste Rätsel, die er nicht lösen konnte, und er und Inej legten sich Hunderte Theorien zurecht, um den Mord zu erklären – keine war zufriedenstellend. Doch heute Nacht brannte ihnen Dringlicheres unter den Nägeln.

Sie sah, wie er Jesper und Big Bolliger bedeutete, ihre Waffen abzulegen. Die Gesetze der Straße verlangten, dass bei einem Parley jedem Leutnant zwei Fußsoldaten sekundierten und dass sie alle unbewaffnet waren. Parley. Das Wort fühlte sich falsch an – merkwürdig formell, eine Antiquität. Was auch immer das Gesetz der Straße verfügte, heute Nacht lag Gewalt in der Luft.

»Los, gebt die Waffen her«, sagte Dirix zu Jesper.

Mit einem tiefen Seufzer löste Jesper die Waffengurte von seinen Hüften. Sie musste zugeben, ohne sie sah er nicht mehr ganz wie er selbst aus. Der Scharfschütze aus Semeni war langgliedrig, braunhäutig und immer in Bewegung. Er drückte die Lippen auf die perlmuttenen Griffe seiner wertvollen Revolver und gab jedem einen betrübten Kuss.

»Pass gut auf meine Babys auf«, sagte Jesper und gab sie Dirix. »Wenn ich nur einen einzigen Kratzer oder eine Kerbe sehe, buchstabiere ich Bitte vergib mir mit Kugeln auf deiner Brust.«

»Die Munition würdest du nicht vergeuden.«

»Und er wäre tot, bevor du auch nur Bitte geschafft hättest«, sagte Big Bolliger, der ein Beil, ein Klappmesser und seine bevorzugte Waffe – eine dicke Kette, die mit einem großen Schloss beschwert war – in Rottys Hände gab.

Jesper verdrehte die Augen. »Es geht darum, ein Zeichen zu setzen. Was bringt ein Kerl, auf dessen Brust Bitte steht?«

»Kompromiss«, sagte Kaz. »Tschuldige bringt auch das gewünschte Ergebnis und verbraucht weniger Kugeln.«

Dirix lachte auf, aber Inej bemerkte, dass er Jespers Revolver sehr vorsichtig hielt.

»Was ist damit?«, fragte Jesper und deutete auf Kaz’ Spazierstock.

Kaz’ Lachen klang tief und humorlos. »Wer würde einem armen Krüppel seine Krücke verwehren?«

»Wenn du der Krüppel bist? Jedermann mit Verstand.«

»Dann ist es ja gut, dass wir Geels treffen.« Kaz zog eine Uhr aus der Westentasche. »Es ist fast Mitternacht.«

Inej wandte sich um und blickte zur Börse hinüber. Sie war kaum mehr als ein großer rechteckiger Hof, der von Lagerhäusern und Schifffahrtsgebäuden umgeben war. Tagsüber schlug hier das Herz Ketterdams, in dem es nur so vor reichen Krämern wimmelte, die Anteile an den Waren kauften und verkauften, die in den Häfen der Stadt gelöscht wurden. Jetzt war es fast Schlag zwölf, und die Börse lag verlassen da, bis auf die Wachen, die auf dem Gelände und auf den Dächern patrouillierten. Man hatte sie bestochen, damit sie während des Parley wegsahen.

Die Börse war einer der wenigen Teile der Stadt, der während der endlosen Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Banden von Ketterdam nicht aufgeteilt und besetzt worden war. Sie stellte neutralen Boden dar. Und doch wirkte er nicht neutral, fand Inej. Es war mehr wie das Schweigen des Waldes, kurz bevor sich die Schlinge zuzog und der Hase anfing zu kreischen. Es wirkte wie eine Falle.

»Das ist ein Fehler«, sagte sie.

Big Bolliger zuckte zusammen; er hatte nicht bemerkt, dass sie da stand. Inej hörte das Raunen, als die Dregs ihren Namen flüsterten, den sie ihr gegeben hatten – das Phantom. »Geels hat etwas vor.«

»Natürlich hat er das«, sagte Kaz. Seine Stimme klang rau, kratzte wie Stein, der gegen Stein scheuerte.

Inej fragte sich immer, ob er schon als kleiner Junge so geklungen hatte. Falls er jemals ein kleiner Junge gewesen war.

»Warum sind wir dann heute Abend hier?«

»Weil Per Haskell das so handhaben will.«

Alter Mann, alte Sitten, dachte Inej, doch sie sprach es nicht aus und vermutete, dass die restliche Bande es ebenso hielt.

»Wegen ihm werden wir alle sterben«, sagte sie.

Jesper streckte seine langen Arme über den Kopf und grinste, die Zähne weiß vor der dunklen Haut. Sein Gewehr musste er noch abgeben, er trug es auf dem Rücken, sodass seine Silhouette jetzt wie die eines unbeholfenen, langgliedrigen Vogels wirkte. »Statistisch gesehen wird er wohl nur für den Tod von ein paar von uns verantwortlich sein.«

»Darüber macht man keine Witze«, antwortete sie. Der Blick, den Kaz ihr zuwarf, war amüsiert. Sie wusste, wie sie sich anhörte – streng, kleinlich, wie eine alte Schrulle, die düstere Prophezeiungen von ihrer Vordertreppe herab verkündete. Sie mochte es selbst nicht, aber sie wusste auch, dass sie recht hatte. Und außerdem mussten alte Frauen über ein gewisses Wissen verfügen, oder sie lebten nicht lange genug, um Falten zu bekommen und auf ihrer Treppe zu stehen und herumzuschreien.

»Jesper macht keine Witze, Inej«, sagte Kaz. »Er schätzt nur unsere Chancen ein.«

Big Bolliger ließ seine großen Knöchel knacken. »Nun, auf mich warten Lagerbier und eine Pfanne mit Eiern im Kooperom, ich kann also nicht derjenige sein, der heute Nacht stirbt.«

»Lust auf eine Wette?«, fragte Jesper.

»Ich werde keine Wette auf meinen eigenen Tod abschließen.«

Kaz setzte seinen Hut auf den Kopf und strich mit seinen behandschuhten Fingern in einem raschen Salut über die Krempe. »Warum nicht, Bolliger? Wir machen das jeden Tag.«

Er hatte recht. Inejs Schulden bei Per Haskell bedeuteten, dass sie jedes Mal ihr Leben aufs Spiel setzte, wenn sie einen neuen Job oder einen Auftrag annahm, jedes Mal, wenn sie ihr Zimmer im Verhau verließ. In dieser Nacht war es nicht anders.

Als die Glocken der Tauschkirche anfingen zu läuten, tippte Kaz mit dem Spazierstock auf die Pflastersteine. Die Truppe wurde still. Die Zeit des Redens war vorüber. »Geels ist nicht gerissen, aber er ist klug genug, um Ärger zu machen«, sagte Kaz. »Egal, was ihr hört, ihr stürzt euch nicht ins Gewühl, es sei denn, ich gebe den Befehl. Seid wachsam.« Dann nickte er Inej kurz zu. »Und bleib im Verborgenen.«

»Keine Trauer«, sagte Jesper und warf Rotty sein Gewehr zu.

»Keine Gräber«, murmelten die anderen als Antwort. Unter ihnen bedeutete das so viel wie Viel Glück.

Bevor Inej mit den Schatten verschmelzen konnte, tippte Kaz ihr mit dem Rabenkopf, der den Griff seines Stocks zierte, auf den Arm. »Behalte die Wachen auf dem Dach im Auge. Geels hat sie vielleicht gekauft.«

»Dann …«, setzte Inej an, aber Kaz war schon weg.

Inej hob frustriert die Hände. Sie hatte hundert Fragen, aber wie immer umklammerte Kaz die Antworten mit seinem Würgegriff.

Sie lief auf die Mauer der Börse zu, die dem Kanal zugewandt war. Nur die Leutnants und ihre Begleiter durften während des Parley hinein. Aber für den Fall, dass die Black Tips auf üble Ideen kamen, würde der Rest der Dregs vor dem Osttor mit gezückten Waffen warten. Sie wusste, dass Geels eine Mannschaft schwer bewaffneter Black Tips am westlichen Eingang positioniert hatte.

Inej würde sich ihren eigenen Weg hinein suchen. Die Regeln des Fair Play zwischen den Banden stammten aus der Zeit von Per Haskell. Darüber hinaus war sie das Phantom – das einzige Gesetz, das für sie galt, war das der Schwerkraft, und an manchen Tagen setzte sie selbst das außer Kraft.

Die untere Etage der Börse war fensterlosen Warenhäusern vorbehalten, also suchte sich Inej eine Regenrinne, an der sie hinaufkletterte. Etwas ließ sie zögern, bevor sie die Hände darumlegte. Sie zog ein Knochenlicht aus der Tasche und schüttelte es, sodass ein blassgrüner Schimmer auf das Rohr fiel. Ein Ölfilm glänzte darauf. Sie lief weiter an der Mauer entlang, suchte nach einer anderen Möglichkeit und fand einen Steinsims, auf dem eine Statue der drei fliegenden Fische von Kerch stand. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und tastete vorsichtig über den Sims. Er war mit Glas bedeckt. Ich werde erwartet, dachte sie mit grimmiger Zufriedenheit.

Sie hatte sich den Dregs vor weniger als zwei Jahren angeschlossen, nur wenige Tage nach ihrem fünfzehnten Geburtstag. Damals war es eine Frage des Überlebens gewesen, aber jetzt erfüllte es sie mit Genugtuung, dass sie in so kurzer Zeit zu jemandem geworden war, gegen den man Vorsichtsmaßnahmen traf. Und doch – falls die Black Tips dachten, solche Kindereien würden das Phantom von seinem Ziel abbringen, dann lagen sie falsch.

Sie holte zwei Stachel zum Klettern aus den Taschen ihrer Steppweste und klemmte erst den einen, dann den anderen zwischen die Ziegelsteine der Mauer. Dann zog sie sich hoch, und ihre Füße fanden jeden kleinsten Halt und jede Rille im Stein. Als Kind hatte sie gelernt, auf dem Hochseil zu laufen, jedoch barfuß. Die Straßen von Ketterdam waren zu kalt und nass dafür. Nach ein paar bösen Stürzen hatte sie einen Fabrikator, der heimlich von einem Ginladen an der Wijnstraat aus arbeitete, dafür bezahlt, ihr ein paar Lederschuhe zu machen, die mit genoppten Gummisohlen versehen waren. Sie passten wie angegossen an ihre Füße und gaben ihr auf jedem Untergrund sicheren Halt.

Im zweiten Stockwerk zog sie sich auf einen Vorsprung, der gerade breit genug war, um sich darauf zu kauern.

Kaz hatte sein Bestes gegeben, um sie zu unterrichten, aber sie war nicht ganz so geschickt im Einbrechen wie er, und so brauchte es ein paar Anläufe, bis sie das Schloss überlistet hatte. Endlich hörte sie ein befriedigendes Klick, und das Fenster öffnete sich in ein verlassenes Arbeitszimmer, dessen Wände bedeckt waren mit Karten, auf denen jemand Handelsrouten markiert hatte. Außerdem gab es Kreidetafeln, die Aktienkurse und die Namen von Schiffen auflisteten. Sie schlüpfte hinein, verschloss den Riegel wieder und schlich vorsichtig zwischen den leeren Schreibtischen hindurch, auf denen ordentliche Stapel mit Bestellungen und Stücklisten lagen.

Sie lief zu einer schmalen Doppeltür und gelangte auf einen Balkon, der den Blick über den Innenhof der Börse freigab. Jedes Schiffsbüro hatte einen. Von hier oben kündigten Rufer neue Unternehmungen und die Ankunft von Waren an, oder sie hissten die schwarze Flagge, die anzeigte, dass ein Schiff auf See verschollen war, mitsamt der Fracht. Auf dem Parkett der Börse brach dann jedes Mal hektisches Treiben aus, Läufer verbreiteten die Nachricht in der Stadt, und der Preis für Güter, Terminwaren und Anteile an auslaufenden Unternehmungen stieg oder fiel. Doch heute Nacht herrschte Schweigen.

Eine Brise wehte vom Hafen herüber, brachte den Duft nach Meer mit sich und zerzauste ihr die Haare, die sich aus dem geflochtenen Knoten in Inejs Nacken gelöst hatten. Unten im Hof sah sie das Flackern von Lampenlicht und hörte das dumpfe Geräusch, das Kaz’ Stock auf den Steinen machte, während er und seine beiden Sekundanten darüberliefen. Auf der gegenüberliegenden Seite erkannte sie weitere Laternen, die auf sie zuhielten. Die Black Tips waren gekommen.

Inej zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Sie stieg auf die Brüstung und sprang lautlos auf den benachbarten Balkon und dann auf den nächsten, um Kaz und den anderen so nah wie nur möglich über den Hof zu folgen. Sein dunkler Mantel flatterte leicht in der salzigen Brise, sein Hinken war in dieser Nacht deutlicher sichtbar, so wie immer, wenn es kalt wurde. Sie hörte, wie Jesper lebhaft schwatzte und Big Bolligers tiefes, rumpelndes Glucksen.

Als sie sich der anderen Seite näherte, sah Inej, dass Geels Elzinger und Oomen als Begleitung gewählt hatte – genau wie vermutet. Inej kannte die Stärken und Schwächen von jedem Mitglied der Black Tips, ganz zu schweigen von den Harley-Pointern, den Liddies, den Razorgulls, den Dime-Lions und jeder anderen Bande, die sich auf den Straßen von Ketterdam tummelte. Es war ihre Aufgabe zu wissen, dass Geels Elzinger traute, seit sie sich gemeinsam durch die Ränge hochgearbeitet hatten, und weil Elzinger gebaut war wie ein Berg – fast sieben Fuß groß, dick bepackt mit Muskeln, das breite, eingedrückte Gesicht tief auf dem Nacken, der so dick war wie ein Brückenpfeiler.

Plötzlich war sie froh, dass Big Bolliger Kaz begleitete. Dass Kaz Jesper als Sekundanten ausgewählt hatte, war keine Überraschung. Zappelig, wie Jesper war, mit oder ohne seine Revolver, war er am besten im Kampf aufgehoben, und sie wusste, dass er alles für Kaz tat. Als Kaz auf Big Bolliger bestanden hatte, war sie weniger überzeugt gewesen. Big Bol war ein Rausschmeißer im Krähenklub, er schien wie gemacht dafür, Betrunkene und Taugenichtse rauszuwerfen, war aber zu schwerfällig auf den Füßen, um in einem Gerangel von großem Nutzen zu sein. Und doch war er wenigstens groß genug, um Elzinger in die Augen blicken zu können.

Inej mochte nicht zu sehr über Geels’ zweiten Sekundanten nachdenken. Oomen machte sie nervös. Er war körperlich nicht so einschüchternd wie Elzinger. Um genau zu sein, sah Oomen wie eine Vogelscheuche aus – nicht hager, aber so, als sei sein Körper unter der Kleidung falsch zusammengesetzt. Man sagte, dass er einmal einem Mann mit bloßen Händen den Schädel eingedrückt hatte. Danach habe er sich die Hände am Hemd abgewischt und einfach weitergetrunken.

Inej versuchte, ihre Unruhe zu besänftigen, und lauschte auf Geels und Kaz, die unten im Hof plauderten, während die Sekundanten die Gegenseite abtasteten, um sicherzugehen, dass niemand Waffen trug.

»Unartig«, sagte Jesper, als er ein winziges Messer aus Elzingers Ärmel hervorzog und es über den Hof warf.

»Sauber«, erklärte Big Bolliger, der mit Geels fertig war und bei Oomen weitermachte.

Kaz und Geels diskutierten über das Wetter und den Verdacht, dass der Kooperom verwässerte Drinks servierte, jetzt, da die Miete erhöht worden war … Sie schlichen um den wahren Grund für die Zusammenkunft herum. In der Theorie würden sie ein bisschen reden, Entschuldigungen austauschen, sich darauf einigen, dass die Grenzen des Fünften Hafens geachtet würden, und dann gingen alle zusammen etwas trinken – zumindest hatte Per Haskell das so vorgesehen.

Aber was weiß Per Haskell schon?, dachte Inej, während sie nach den Wachen Ausschau hielt, die auf den Dächern patrouillierten. Sie versuchte, ihre Gestalten in der Dunkelheit zu erkennen. Haskell führte die Dregs an, aber heutzutage zog er es vor, in seinem behaglichen Zimmer zu sitzen, lauwarmes Lager zu trinken, Modellschiffe zu bauen und jedem, der zuhörte, lange Geschichten über seine Heldentaten zu erzählen. Er schien zu denken, dass Revierkriege genauso beigelegt wurden wie einst: ein kurzes Handgemenge und dann ein freundlicher Handschlag. Aber jeder ihrer Sinne sagte Inej, dass es nicht so laufen würde. Ihr Vater hätte gesagt: Die Schatten gehen heute Nacht ihren eigenen Geschäften nach. Etwas Schlimmes würde hier passieren.

Kaz stand da, die behandschuhten Hände ruhten auf dem geschnitzten Krähenkopf seines Stocks. Er wirkte vollkommen entspannt, sein schmales Gesicht wurde von der Krempe seines Huts verborgen. Die meisten Gangmitglieder im Barrel liebten es protzig: bunte Westen, Taschenuhren, die mit falschen Edelsteinen gespickt waren, Hosen mit jedem nur erdenklichen Aufdruck und Muster. Kaz war eine Ausnahme – ein Bild der Zurückhaltung mit dunklen Westen, gewöhnlich geschnittenen Hosen und geraden Linien. Am Anfang hatte sie gedacht, es wäre eine Frage seines Geschmacks, aber bald hatte sie begriffen, dass er damit die Krämer hochnahm. Er mochte es, wie einer von ihnen auszusehen.

»Ich bin ein Geschäftsmann«, hatte er zu ihr gesagt. »Nicht mehr, nicht weniger.«

»Du bist ein Dieb, Kaz.«

»Habe ich das nicht gerade gesagt?«

Jetzt sah er aus wie ein Priester, der einer Gruppe Zirkusartisten eine Predigt halten wollte. Ein junger Priester, dachte sie, und das Unbehagen verstärkte sich. Kaz hatte Geels alt genannt und abgewrackt, aber so wirkte er heute Abend wirklich nicht. Der Leutnant der Black Tips hatte zwar Falten um die Augen und aufkeimende Hängewangen unter seinen Koteletten, aber er wirkte souverän, erfahren. Neben ihm sah Kaz aus wie … siebzehn.

»Bleiben wir ehrenhaft, ja? Wir wollen nur ein bisschen mehr abbekommen«, sagte Geels und tippte dabei auf die verspiegelten Knöpfe seiner leuchtend grünen Weste. »Es ist nicht anständig, dass ihr jeden spendablen Reisenden herausfiltert, der im Fünften Hafen von einem Vergnügungsboot steigt.«

»Der Fünfte Hafen gehört uns, Geels«, antwortete Kaz. »Die Dregs bekommen den ersten Schuss auf die Täubchen, die für ein bisschen Spaß herkommen.«

Geels schüttelte den Kopf. »Du bist jung, Brekker«, sagte er mit einem gönnerhaften Lachen. »Vielleicht verstehst du nicht, wie das läuft. Die Häfen gehören der Stadt, und wir haben genauso ein Recht auf sie wie jeder andere auch. Wir müssen alle unseren Lebensunterhalt verdienen.«

Technisch gesehen stimmte das. Aber der Fünfte Hafen war nutzlos gewesen und von der Stadt fast aufgegeben, als Kaz ihn übernommen hatte. Er hatte den Dreck ausschachten lassen, die Docks und den Kai ausbauen, und er hatte dafür Anleihen auf den Krähenklub nehmen müssen. Per Haskell hatte ihn ausgeschimpft und ihn einen Verrückten genannt wegen der Ausgaben, aber letztlich hatte er nachgegeben. Kaz zufolge waren die Worte des alten Mannes gewesen: »Erhäng dich am besten gleich mit den ganzen Tauen.« Aber das Unternehmen hatte sich in weniger als einem Jahr ausgezahlt. Jetzt bot der Fünfte Hafen Liegeplätze für Handelsschiffe sowie Boote aus aller Welt, mit Reisenden und Soldaten an Bord, die begierig darauf waren, Ketterdams Sehenswürdigkeiten zu bestaunen und die Freuden der Stadt zu kosten. Die Dregs hatten den ersten Schuss auf jeden davon, und sie lotsten sie – und ihre Beutel – in die Freudenhäuser, Tavernen und Spielhallen, die der Gang gehörten. Der Fünfte Hafen hatte den alten Mann sehr reich gemacht und den Stand der Dregs als die wahren Spieler im Barrel gefestigt, wie es nicht einmal dem Erfolg des Krähenklubs gelungen war. Aber der Erlös hatte ungewollte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Geels und die Black Tips hatten den Dregs das ganze Jahr über Ärger gemacht, sie waren unbefugt in den Fünften Hafen eingedrungen und hatten sich Täubchen geschnappt, die ihnen nicht zustanden.

»Der Fünfte Hafen gehört uns«, wiederholte Kaz. »Das steht nicht zur Debatte. Du beschneidest unseren Verkehr von den Docks, und du hast eine Schiffsladung Jurda abgefangen, die vor zwei Nächten hätte einlaufen sollen.«

»Keine Ahnung, von was du da redest.«

»Ich weiß, dass dir das leichtfällt, aber versuch nicht, mir dumm zu kommen, Geels.«

Geels trat einen Schritt vor. Jesper und Big Bolliger richteten sich höher auf.

»Hör auf, die Muskeln spielen zu lassen, Junge«, sagte Geels. »Wir alle wissen, dass dem alten Mann eine Auseinandersetzung zu sehr auf den Magen schlagen würde.«

Kaz’ Lachen war so trocken wie das Rascheln toter Blätter. »Aber ich sitze mit dir am Tisch, Geels, und ich bin nicht für eine Kostprobe hier. Du willst Krieg, ich sorge dafür, dass du deinen Teil schluckst.«

»Und was ist, wenn du nicht da bist, Brekker? Jeder weiß, dass du das Rückgrat von Haskells Laden bist – zerbricht man es, klappen die Dregs zusammen.«

Jesper schnaubte. »Magen, Rückgrat. Was kommt dann, die Milz?«

»Klappe«, knurrte Oomen. Die Regeln des Parley schrieben vor, dass nur die Leutnants sprechen durften, sobald die Verhandlungen begonnen hatten. Jesper formte mit seinen Lippen eine Entschuldigung und deutete mit einer Geste an, seinen Mund zu verschließen.

»Ich bin ziemlich sicher, dass du mir drohst, Geels«, sagte Kaz. »Aber ich möchte ganz sicher sein, bevor ich entscheide, was ich tun werde.«

»Bist ganz schön selbstsicher, oder nicht, Brekker?«

»Ich bin meiner selbst sicher und sonst nichts.«

Geels lachte auf und stieß Oomen mit dem Ellbogen an. »Hör dir nur dieses eingebildete Stück Scheiße an. Brekker, dir gehören diese Straßen nicht. Kinder wie du sind wie Flöhe. Ein neuer Haufen taucht alle paar Jahre auf und belästigt die Vorgesetzten, bis ein großer Hund beschließt, sich zu kratzen. Und lass dir gesagt sein, so langsam habe ich die Schnauze voll von dem Jucken.« Er kreuzte die Arme, und die Zufriedenheit strahlte förmlich von ihm ab. »Was wäre, wenn ich dir sage, dass gerade jetzt zwei Wachen ihre Gewehre auf euch gerichtet haben?«

Inejs Magen sank. Hatte Kaz das gemeint, als er gesagt hatte, dass Geels die Wachen gekauft haben könnte?

Kaz blickte kurz zum Dach hoch. »Die Stadtwacht anheuern, um deine Morde erledigen zu lassen? Ich würde sagen, das ist ein teures Unternehmen für eine Gang wie die Black Tips. Ich kann nicht glauben, dass eure Truhen das verkraften.«

Inej kletterte auf die Brüstung und schwang sich von dort auf das Dach. Wenn sie diese Nacht überlebten, dann würde sie Kaz umbringen.

Es waren immer zwei Posten von der Stadtwacht auf dem Dach der Börse positioniert. Ein paar Kruge von den Dregs und den Black Tips hatten dafür gesorgt, dass sie nicht eingreifen würden, ein ganz gewöhnliches Vorgehen. Aber Geels deutete da etwas ganz anderes an. Hatte er wirklich Leute von der Stadtwacht bestochen, damit sie für ihn die Scharfschützen machten? Falls das stimmte, standen die Chancen der Dregs, diese Nacht zu überleben, plötzlich auf Messers Schneide.

Wie die meisten Gebäude in Ketterdam hatte auch die Börse ein spitzgiebeliges Dach, damit der starke Regen abfloss. Deshalb patrouillierten die Wachen auf einem schmalen Steg, von dem aus man den Hof überblicken konnte. Inej benutzte ihn nicht. Man lief dort zwar leichter, war aber auch gut sichtbar. Stattdessen kletterte sie auf den rutschigen Dachziegeln bis zur Hälfte des Dachs hinauf und kroch von da an in einem gefährlichen Winkel vorwärts, während sie gleichzeitig die Wachen auf dem Steg im Auge behielt und die Konversation unten im Hof belauschte. Vielleicht bluffte Geels bloß. Oder vielleicht beugten sich in diesem Moment auch zwei Wachen über die Brüstung und hatten Kaz oder Jesper oder Big Bolliger im Visier.

»Hat einiger Anstrengungen bedurft«, gab Geels zu. »Im Moment sind wir ein kleiner Laden, und Stadtwachen sind nicht billig. Aber die Belohnung ist es wert.«

»Die bin ich?«

»Die bist du.«

»Ich fühle mich geschmeichelt.«

»Die Dregs halten ohne dich keine Woche durch.«

»Ich gebe ihnen einen Monat aus schierem Schwung heraus.«

Der Gedanke hallte laut durch Inejs Kopf. Wenn Kaz nicht mehr da wäre, würde ich bleiben? Oder würde ich mich meiner Schuld entziehen? Würde ich es darauf ankommen lassen und mich mit Per Haskells Vollstreckern anlegen? Wenn sie sich nicht schneller bewegte, könnte sie das glatt herausfinden.

»Eingebildete kleine Ratte.« Geels lachte. »Ich kann es gar nicht abwarten, dir diese Miene aus dem Gesicht zu prügeln.«

»Dann tu’s doch«, sagte Kaz.

Inej riskierte einen Blick hinunter. Seine Stimme hatte sich verändert, jeglicher Humor war daraus verschwunden.

»Soll ich ihnen sagen, dass sie dir eine Kugel in dein gutes Bein jagen sollen, Brekker?«

Wo sind die Wachen?, dachte Inej und kroch schneller voran. Sie hetzte über das steile Dach des Giebels. Die Börse erstreckte sich fast über einen ganzen Block. Der Bereich war zu groß, um ihn abzusichern.

»Hör auf zu reden, Geels. Sag ihnen, dass sie schießen sollen.«

»Kaz …«, sagte Jesper nervös.

»Los. Hab endlich die Eier in der Hose und gib ihnen den Befehl.«

Was für ein Spiel spielte Kaz da? Hatte er das erwartet? Hatte er einfach angenommen, dass Inej die Wachen schon früh genug finden würde?

Sie warf erneut einen Blick nach unten. Geels strahlte jetzt freudige Erwartung aus. Er holte tief Luft, streckte die Brust heraus. Inej geriet ins Wanken, und sie musste sich dazu zwingen, nicht einfach über die Kante des Dachs zu springen. Er wird es tun. Ich werde zusehen müssen, wie Kaz stirbt.

»Feuer!«, rief Geels.

Ein Schuss zerriss die Luft. Big Bolliger stieß einen Schrei aus und ging zu Boden.

»Verdammt!«, rief Jesper, ging neben Bolliger in die Knie und drückte die Hand auf die Schusswunde, während der große Mann stöhnte. »Du wertloser Fettsack!«, brüllte er Geels an. »Du hast gerade neutrales Gebiet verletzt.«

»Kann keiner sagen, dass ihr nicht zuerst geschossen habt«, gab Geels zurück. »Wer soll das schon wissen? Keiner von euch schafft es hier raus.«

Geels’ Stimme klang zu hoch. Er versuchte, die Fassung zu wahren, aber Inej hörte die Panik, die in seinen Worten pulsierte, das aufgeschreckte Flügelschlagen eines verängstigten Vogels. Warum? Nur einen Moment zuvor hatte er noch herumgepoltert.

Da sah Inej, dass sich Kaz noch immer nicht bewegt hatte. »Du siehst nicht gut aus, Geels.«

»Mir geht’s prima«, erwiderte er. Aber das stimmte nicht. Er sah blass und zittrig aus. Sein Blick huschte von links nach rechts, als suche er den im Schatten liegenden Steg auf dem Dach ab.

»Wirklich?«, fragte Kaz im Plauderton. »Läuft nicht so, wie du es geplant hattest, oder?«

»Kaz«, sagte Jesper. »Bolliger blutet schlimm …«

»Gut.« Kaz beachtete ihn nicht weiter.

»Kaz, er braucht einen Medik.«

Kaz warf dem verwundeten Mann kaum einen Blick zu. »Er braucht nur mit dem Jammern aufzuhören und soll froh sein, dass ich Holst nicht gesagt habe, dass er ihm einen Kopfschuss verpassen soll.«

Selbst vom Dach aus konnte Inej sehen, wie Geels zusammenzuckte.

»So heißt die Wache, oder nicht?«, fragte Kaz. »Willem Holst und Bert van Daal – die beiden Stadtwachen, die heute Abend Dienst haben. Für deren Bestechung du die Truhen der Black Tips geleert hast?«

Geels sagte nichts.

»Willem Holst«, sagte Kaz laut, und seine Stimme drang bis hoch zum Dach, »spielt fast genauso gern wie Jesper, deshalb hat dein Geld Anklang gefunden. Aber Holst hat viel größere Probleme – nennen wir sie Antriebe. Ich gehe nicht auf die Einzelheiten ein. Ein Geheimnis ist nicht wie eine Münze. Es behält seinen Wert nicht, wenn man es ausgibt. Du musst mir einfach vertrauen, wenn ich dir sage, dass dieses selbst dir den Magen umdrehen würde. Stimmt es nicht, Holst?«

Als Antwort ertönte ein weiterer Schuss. Er traf das Pflaster vor Geels’ Füßen. Geels stieß ein entsetztes Gemecker aus und stolperte rückwärts.

Diesmal gelang es Inej, die Herkunft des Mündungsfeuers zu bestimmen. Der Schuss kam von irgendwo nahe der Westseite des Gebäudes. Wenn Holst dort war, bedeutete das, dass der andere Wächter – Bert van Daal – auf der Ostseite stand. War es Kaz gelungen, auch ihn kaltzustellen? Oder zählte er auf sie? Sie rannte über die Giebel.

»Erschieß ihn einfach, Holst!«, blaffte Geels, und Verzweiflung kratzte an seiner Stimme. »Schieß ihm in den Kopf!«

Kaz schnaubte angeekelt auf. »Glaubst du wirklich, das Geheimnis würde mit mir sterben? Los, Holst«, rief er dann. »Jag mir eine Kugel in den Kopf. Die Boten rennen dann zu deiner Frau und zum Hauptmann deiner Wache, noch bevor ich am Boden aufkomme.«

Kein Schuss erklang.

»Wie?«, fragte Geels bitter. »Wie hast du überhaupt rausgefunden, wer heute Nacht Dienst hat? Ich habe tief ins Netz greifen müssen, um den Dienstplan in die Finger zu bekommen. Du kannst mich nicht überboten haben.«

»Sagen wir einfach, meine Währung hat mehr Macht.«

»Geld ist Geld.«

»Ich handle mit Informationen, Geels, Dinge, die Männer tun, wenn sie glauben, niemand sieht hin. Schande besitzt mehr Wert, als eine Münze jemals haben kann.«

Er machte eine Szene, das sah Inej, er verschaffte ihr Zeit, während sie über die Schieferziegel sprang.

»Machst du dir Gedanken über die zweite Wache? Den guten alten Bert van Daal?«, fragte Kaz. »Vielleicht ist er jetzt gerade da oben und fragt sich, was er tun soll. Mich erschießen? Holst erschießen? Oder vielleicht habe ich ihn auch in der Hand, und er macht sich bereit, ein Loch in deine Brust zu brennen, Geels.« Er neigte sich vor, als erzählten sie sich ein großes Geheimnis. »Warum erteilen wir Van Daal nicht den Befehl und finden es heraus?«

Geels öffnete und schloss den Mund wie ein Karpfen, dann blaffte er: »Van Daal!«

Gerade als Van Daal den Mund aufmachte, tauchte Inej hinter ihm auf und setzte ihm eine Klinge an die Kehle. Sie hatte kaum genug Zeit gehabt, seinen Schatten auszumachen und über die Ziegel nach unten zu rutschen. Bei allen Heiligen, Kaz kalkulierte gern knapp.

»Pst«, hauchte sie in Van Daals Ohr. Sie stach ihm ein kleines bisschen in die Seite, damit er die Spitze ihres zweiten Dolchs spürte, die gegen seine Niere drückte.

»Bitte«, stöhnte er. »Ich …«

»Ich mag es, wenn Männer betteln«, sagte sie. »Aber jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür.«

Sie sah, wie sich Geels’ Brust hektisch hob und senkte. »Van Daal!«, schrie er erneut. Als er sich Kaz wieder zuwandte, war seine Miene wutverzerrt. »Immer einen Schritt voraus, nicht wahr?«

»Geels, dir bin ich meilenweit voraus.«

Aber Geels lächelte nur – ein winziges Lächeln, angespannt und zufrieden. Das Lächeln eines Siegers, erkannte Inej, und Furcht breitete sich erneut in ihr aus.

»Das Rennen ist noch nicht vorbei.« Geels griff in seine Jacke und zog eine schwere, schwarze Pistole hervor.

»Endlich«, sagte Kaz. »Es geht los. Dann kann Jesper endlich aufhören, über Bolliger zu klagen wie ein heulendes Weib.«

Jesper starrte die Kanone fassungslos und wütend an. »Bolliger hat ihn abgetastet. Er … o Big Bol, du Idiot«, ächzte er.

Inej konnte nicht glauben, was sie da sah. Die Wache in ihren Armen stieß ein leises Quieken aus. Vor lauter Wut und Überraschung hatte sie ihn versehentlich fester gepackt. »Entspann dich«, sagte sie und lockerte ihren Griff. Aber bei allen Heiligen, am liebsten hätte sie ein Messer in irgendwas gesteckt. Big Bolliger hatte Geels abgetastet. Er hätte die Pistole niemals nicht bemerken können. Er hatte sie verraten.

Hatte Kaz deshalb darauf bestanden, Big Bolliger heute Nacht mitzunehmen – damit er offiziell die Bestätigung bekam, dass Bolliger zu den Black Tips übergelaufen war? Deshalb hatte er Holst die Kugel in Bolligers Bauch jagen lassen. Aber was nun? Jetzt wusste jeder, dass Big Bol ein Verräter war. Und auf Kaz’ Brust zielte noch immer eine Waffe.

Geels grinste. »Kaz Brekker, der große Entfesselungskünstler. Wie willst du dich aus der Sache hier rauswinden?«

»Ich nehme den gleichen Weg, den ich gekommen bin.« Kaz ignorierte die Pistole und wandte seine Aufmerksamkeit dem großen Mann zu, der auf dem Boden lag. »Weißt du, was dein Problem ist, Bolliger?« Er stieß mit seinem Stock gegen die Wunde in Big Bols Bauch. »Das war keine rhetorische Frage. Weißt du, was dein größtes Problem ist?«

Bolliger quäkte los. »Neeeeiiiin …«

»Rate wenigstens«, zischte Kaz.

Big Bol sagte nichts, er stieß nur ein weiteres zittriges Winseln aus.

»In Ordnung, ich sag es dir. Du bist faul. Ich weiß das. Jeder weiß das. Also habe ich mich gefragt, warum mein faulster Rausschmeißer zweimal pro Woche extra früh aufsteht, zwei Meilen extra bis zu Cillas Pfanne läuft, um dort zu frühstücken, vor allem da die Eier im Kooperom so viel besser sind. Big Bol wird zum Frühaufsteher, die Black Tips machen ihren Einfluss im Fünften Hafen geltend, und dann fangen sie unsere größte Jurda-Lieferung ab. Es war nicht schwer, da den Zusammenhang herzustellen.« Er seufzte und sagte dann an Geels gewandt: »Das passiert, wenn dumme Leute große Pläne machen, ja?«

»Spielt jetzt keine Rolle mehr, oder?«, gab Geels zurück. »Das wird hässlich, ich schieße aus direkter Nähe. Vielleicht bekommen deine Wachen mich oder meine Jungs, aber du wirst der Kugel nicht ausweichen.«

Kaz machte einen Schritt nach vorn, sodass der Lauf der Pistole gegen seine Brust drückte. »Keineswegs, Geels.«

»Du glaubst, ich würde nicht abdrücken?«

»Oh, ich glaube, du würdest das mit Freuden tun, mit einem Lied in deinem schwarzen Herzen. Aber du wirst es nicht tun. Nicht heute Nacht.«

Geels’ Finger zuckte am Abzug.

»Kaz«, sagte Jesper. »Dieses ganze ›Erschieß mich‹-Ding beunruhigt mich langsam.«

Oomen machte sich diesmal nicht die Mühe, Jesper abzumahnen. Ein Mann war am Boden. Neutrales Gebiet war verletzt worden. Der scharfe Geruch von Schießpulver umwaberte sie – und gleichzeitig hing die Frage in der Luft, unausgesprochen in der Stille, als warte der Sensenmann selbst auf eine Antwort: Wie viel Blut wird heute Nacht vergossen?

In der Ferne heulte eine Sirene.

»Burstraat neunzehn«, sagte Kaz.

Geels hatte unruhig getänzelt, aber jetzt wurde er sehr still.

»Das ist die Adresse von deinem Mädchen, nicht wahr, Geels?«

Geels schluckte. »Hab kein Mädchen.«

»O doch, das hast du«, sagte Kaz sanft. »Sie ist auch hübsch. Na, wenigstens hübsch genug für einen Saftsack wie dich. Wirkt nett. Du liebst sie, nicht wahr?«

Selbst vom Dach aus konnte Inej den Schweiß erkennen, der auf Geels’ wächsernem Gesicht glänzte.