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Von Kreuzrittern, Minnesang und einem herzlosen Verrat
1190. Auf dem dritten Kreuzzug rettet die heilkundige Franziska von Hellenau das Leben des Markgrafen von Baden. Als sie zehn Jahre später aus dem Heiligen Land in die Heimat zurückkehrt, richten die Söhne des Kreuzritters gerade ein großes Turnier aus. Auch der Vogelhändler Wigbert ist angereist. Er hat seltenes Gefieder im Gepäck und hofft darauf, mit den reichen Gästen gute Geschäfte zu machen. Minnesänger Walther von der Vogelweide hat als Gesandter des Königs jedoch anderes mit ihm im Sinn: Wigbert soll helfen, einen gefährlichen Spion zu entlarven. Zusammen mit Franziska stellen sie sich lebensgefährlichen Ränken und einem undurchsichtigen Machtkampf entgegen. Es geht um nicht weniger als den Sturz des Königs ...
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Seitenzahl: 439
Veröffentlichungsjahr: 2025
Personenverzeichnis
1 Der Wanderfalke
2 Der Mönchsgeier
3 Die Amsel
4 Das Sprenkelhuhn
5 Der Waldrapp
6 Der Stieglitz
7 Der Schwan
8 Der Bienenfresser
9 Der Silberreiher
10 Der Papagei
11 Der Ortolan
12 Die Goldammer
13 Der Spatz
14 Der Waldkauz
15 Die Blaumeise
16 Das Rotkehlchen
17 Der Wiedehopf
18 Die Wüstengrasmücke
19 Die Elster
20 Der Kolkrabe
21 Der Eichelhäher
22 Der Kuckuck
23 Die Nachtigall
24 Die Taube
25 Die Eule
26 Der Star
27 Die Lerche
28 Der Phönix
29 Der Donnervogel
30 Der Eisvogel
31 Die Krähe
Epilog
Nachwort
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Von Kreuzrittern, Minnesang und einem herzlosen Verrat
1190. Auf dem dritten Kreuzzug rettet die heilkundige Franziska von Hellenau das Leben des Markgrafen von Baden. Als sie zehn Jahre später aus dem Heiligen Land in die Heimat zurückkehrt, richten die Söhne des Kreuzritters gerade ein großes Turnier aus. Auch der Vogelhändler Wigbert ist angereist. Er hat seltenes Gefieder im Gepäck und hofft darauf, mit den reichen Gästen gute Geschäfte zu machen. Minnesänger Walther von der Vogelweide hat als Gesandter des Königs jedoch anderes mit ihm im Sinn: Wigbert soll helfen, einen gefährlichen Spion zu entlarven. Zusammen mit Franziska stellen sie sich lebensgefährlichen Ränken und einem undurchsichtigen Machtkampf entgegen. Es geht um nicht weniger als den Sturz des Königs …
Ralf H. Dorweiler
Das Lied des Vogelhändlers
Historischer Roman
Die * vor den Namen verweisen auf historische Persönlichkeiten.
Wigbert, der Vogler
Almut, sein Mündel
*Walther von der Vogelweide, Sänger, Dichter und Gesandter König Philipps von Schwaben
Robert, Anführer der Fußreisigen seines Begleittrupps
Adam, junger, sehr großer Fußreisiger
Ludolf, Fußreisiger
Thomas, königlicher Falkner
Rupert, Falkner der Markgrafen
Mechthild, seine junge Frau
Paul, sein Gehilfe
Hartmut von Grieben, Truchsess der Markgrafen
*Hermann IV. von Baden, Markgraf (1190 auf dem Kreuzzug verstorben)
Filomena, seine zweite Frau und Witwe, Stiefmutter seiner drei Söhne
*Hermann V., Markgraf von Baden, sein ältester Sohn
*Heinrich von Baden, sein zweitältester Sohn, Herr der Burg Hachberg
*Agnes von Urach, dessen Frau, Herrin der Burg Hachberg
*Friedrich von Baden, jüngster Sohn von Hermann IV.
Sibelius von Veltheim, fast blinder Mönch
Hilbert, oberster Mineur der Silbermine
Josef von Ückern, Subprior des Klosters Tennenbach
*Agnes von Staufen, Pfalzgräfin bei Rhein, Gemahlin von *Heinrich V. von Braunschweig, Pfalzgraf bei Rhein, dem Bruder von Gegenkönig Otto von Braunschweig
*Irmengard bei Rhein, ihre Tochter
*Albert II., Graf von Egisheim und Dagsburg
*Gertrud, seine Frau
*Heinrich von Egisheim, ältester Sohn
*Wilhelm von Egisheim, Heinrichs jüngerer Bruder
*Egino IV., Graf von Urach, Vater von Agnes von Urach, der Frau von Heinrich von Baden und somit Herrin von Burg Hachberg
*Agnes von Zähringen, seine Frau und Schwester von *Berthold von Zähringen
*Egino, ihr Sohn
Franziska von Hellenau, Mündel ihres Onkels Alwin Herr von Hellenau
Ewald von Baldenstein, Ritter
Rochus, Bader
Nonnen aus dem Kloster der Hildegard von Bingen:
Ignazia (die älteste und Anführerin)
Roswitha
Elvira
Mariagunde
Sigard
Elisabeta
Ida
Nicolaus von Steckum, Priester aus Hildesheim
Ricardus di Salantis, Medicus des *Kaisers Friedrich Barbarossa
*Hermann IV., Markgraf von Baden und Verona
Rupert, sein Falkner und Freund
Ahmed, Hirte
Sa-id und Fatma, ein Paar in Akkon
*Meister Sibrand, Leiter des Spitals der Brüder vom Deutschen Haus Sankt Mariens in Jerusalem in Akkon
*Burchard, Kämmerer Friedrichs von Schwaben und einer der Oberen der Hospitalbruderschaft
*Kaplan Konrad, einer der Oberen der Hospitalbruderschaft
*Heinrich Walpot, erster Hochmeister des Deutschen Ordens
Serban, Händler, alter Christ aus Antiochia
»Und Gott sprach: Es wimmle das Wasser von lebendigem Getier, und Vögel sollen fliegen auf Erden unter der Feste des Himmels.«
1. Buch Mose, Kapitel 1, Vers 20
Auf dem Weg zur Burg Hachberg im Schwarzwald, Donnerstag, 11.Mai im Jahr des Herrn 1200, zwei Tage vor Beginn des großen Turniers
Wigbert zog sich mit beiden Händen hoch und drückte sich mit dem linken Bein ab. Ein reißender Schmerz schoss ihm durch das Innere des Knies.
»Zum Teufel!«, fluchte der Vogelhändler viel zu laut. Sofort presste er die Lippen aufeinander. Er fand mit dem freien Fuß einen sicheren Halt und konnte das Bein endlich entlasten. Langsam ging das Ziehen in ein mahlendes Pulsieren über. Nach einem Stoßgebet klang es bis auf eine Erinnerung ab.
Vom Lager aus hatte der Aufstieg so einfach ausgesehen. Doch auf dem letzten Abschnitt bis zur Spalte im Fels waren die Vorsprünge rar gesät. Wigbert blickte in die Tiefe. Kein Zweifel: Ein falscher Griff, und er würde sich beim Aufprall am Fuß der Steilwand das Genick und alle Knochen brechen. Trotzdem kam eine Umkehr mit leeren Händen nicht infrage.
Ein wütendgreller Schrei zerriss die Ruhe. Wigbert blickte vier Klafter über sich in das von gelber Haut umrahmte schwarze Auge eines Wanderfalken. Das alarmierte Muttertier stieß sich in dem Moment seitlich aus der Felsspalte, breitete die mächtigen Flügel aus und schoss lautlos in den Himmel.
Die Zeit des Anpirschens war vorüber. Fieberhaft kletterte Wigbert weiter. Vorsprung für Vorsprung, so schnell es seine Kraft zuließ und die Vorsicht es gemahnte. Die Schmerzen im Knie hielten sich in Grenzen. Er sah das Weibchen über ihm aufgeregt enge Kreise ziehen und wusste, dass es überlegte, wie es sein Gelege vor dem großen Räuber schützen konnte. Offenbar kam es zu einem Entschluss. Plötzlich hörte er den gellenden Schrei des Vogels fast direkt hinter sich. Er zuckte zusammen und verspürte den Sog, den die Flügel erzeugten, so nahe war das Muttertier ihm gekommen.
»Hau ab!«, rief Wigbert laut, um den Vogel einzuschüchtern. Vor ihm lag nur noch ein Klafter, den es zu erklimmen galt! Und hier oben gab es endlich mehr Halt. Er blickte sich nach dem Falken um. Er fand ihn wieder kreisend über sich.
»Bleib mir bloß vom Leib!«, knurrte Wigbert und wedelte mit der gerade freien Hand.
Mit jedem Stück, das er höher gelangte, hörte er das bettelnde Fiepen der Küken im Gelege lauter. Er packte über den Rand der Spalte und zog sich hoch.
Zwei Falkenjungen reckten ihm hungrig die hellen Schnäbel mit rosafarbenen Zungen entgegen. Aufgrund des weißen Dunenkleids und der Größe schätzte Wigbert die Küken auf zwei Wochen. Mit der Rechten zog er den flach geformten Weidenkorb vor sich, der ihm an einem Band seitlich über die Schulter hing. Er öffnete den Deckel, packte eines der kostbaren Küken und setzte es sorgsam in den mit Stoffresten und Gänsedaunen ausgepolsterten Korb. Dann griff er nach dem zweiten Vogel, hielt aber in der Bewegung inne. Für Wanderfalken war es schon zu spät im Jahr, um noch eine Nachbrut aufzuziehen. Wigbert entschloss sich kurzerhand, ihnen das letzte Küken im Nest zu lassen, zumal ihn ein weiterer Schrei des Muttertiers aufschreckte, dem leiser eine entfernte Antwort folgte. Das Männchen kehrte zurück!
Mit der Schnalle sicherte er hastig den Deckel des Korbs und ertastete mit dem Fuß unter sich den nächsten Halt. Der erwies sich als trügerisch: Wigbert glitt auf frischem Vogeldreck aus. Geistesgegenwärtig krallte er die linke Hand in die Kante der Felsspalte und griff mit der rechten nach. Keinen Moment zu früh, denn schon baumelten seine Beine über dem Abgrund, und sein ganzes Gewicht zerrte an seinen Armen. Zum Teufel! Sein Herz raste, und die Finger verkrampften sich. Verbissen trat er in alle Richtungen gegen die Felswand und suchte nach Halt. Er spürte verzweifelt, wie seine rechte Hand zu rutschen drohte. Auf einmal verlangsamte sich die Welt um ihn herum, als versuche er, durch brusthohes Wasser zu rennen. Eine Fliege flog ruhig vor seinen panisch aufgerissenen Augen vorbei, der sanfte Wind zerzauste sein graues Haar, das Küken im Korb setzte ein gedehnt klingendes, verschrecktes Fiepen ab. Er hielt sich nur noch mit den Fingerspitzen der rechten Hand. Es wäre eine Erlösung, die Kante einfach loszulassen. Aber was würde dann aus Almut? Wigbert verstärkte seinen Griff, doch sein Gewicht zog ihn unnachgiebig in die Tiefe, und die Hand rutschte weiter über den mit Vogelkot und Federn verdreckten Stein. Die Fliege verschwand außer Sicht. Ein Fuß traf beim Austreten gegen etwas Hartes. Wigbert war alles recht, um den Zug auf seinen Fingern zu vermindern. Er drückte den Fuß auf und fand festen Halt.
Er presste den Oberkörper an den Fels und harrte für ein paar Augenblicke dort mit klopfendem Herzen aus. Der Herr wollte ihm wohl doch noch etwas Zeit auf dieser Welt gönnen. Wigbert lockerte die Finger, atmete kurz durch und setzte dann den Abstieg fort.
Aus den Augenwinkeln machte er das heranschießende Wanderfalkenmännchen aus und hörte erneut einen aufgeregten Schrei über sich. Er tastete vorsichtig nach einem weiteren sicheren Halt und kletterte das nächste Stück hinab. Die beiden Wanderfalken begegneten sich in der Luft über ihm. Offenbar erkannten sie, dass der Räuber sich vom Nest entfernte. Als Wigbert weit genug hinabgeklettert war und somit keine direkte Gefahr mehr darstellte, wagte das Muttertier, in die Spalte einzufliegen. Ihrem Schrei hörte er die Verzweiflung über den Verlust des einen Kükens an, aber auch die Erleichterung, dass das andere noch da war.
Kurze Zeit später erreichte er einen Absatz, der breit genug war, um sich stehend darauf ausruhen zu können. Seine Hände zitterten von der Anstrengung, ein Knöchel blutete leicht, und das Knie pochte – aber er hatte es geschafft. Sogar der Korb mit seinem fiependen Inhalt hing noch an seiner Seite.
Wigbert lehnte sich mit dem Rücken gegen die Felswand, schüttelte die Arme aus und konzentrierte sich darauf, seinen Atem zu beruhigen. In dem Moment nahm er einen auf ihn zustürzenden Schatten wahr. Instinktiv zog er den Kopf ein. Nicht schnell genug. Er spürte eine messerscharfe Kralle über seine Kopfhaut fahren, dann war der männliche Falke schon wieder weg.
Er ertastete eine warme Feuchtigkeit im Haar. Ein Blick auf die Finger gab ihm Gewissheit. Es war Blut, doch die Wunde schmerzte kaum. Schnell stieg Wigbert weiter ab, um die Wanderfalken nicht zu einem neuerlichen Angriff zu ermutigen. Aber die schienen sich damit zufriedenzugeben, den Menschen endgültig in die Flucht getrieben zu haben. Dennoch zog das Männchen wachsam über ihm seine Kreise.
Wigbert stellte zu seiner Erleichterung fest, dass die Blutung schwach und die Wunde nur ein Kratzer war. Er hatte Glück gehabt. Wäre er nicht so geistesgegenwärtig ausgewichen, hätten die Verletzungen deutlich ernster ausfallen können. Die leichten Schmerzen, die nun einsetzten, waren ein kleiner und nur gerechter Preis dafür, dass er ein Küken aus dem Nest geraubt hatte. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Hemds die schweißnasse Stirn trocken. Sein Puls ging immer noch viel zu schnell. Mit seinen vierzig Lebensjahren wurde Wigbert langsam zu alt für solche Wagnisse. Das bewies auch der Schmerz im Knie, der seit dem Winter bereits zum wiederholten Male wie aus dem Nichts aufgetaucht war.
Er stieß einen herzenstiefen Seufzer aus und ließ den Blick über den Wald und das Land schweifen. Wie Wollgrasbüschel zogen die Wolken über den hellblauen Himmel des Schwarzwalds. Darunter erstreckte sich ein Teppich aus tausend Grüntönen, der die Täler und Höhen sanft und weich bedeckte. Voraus im Süden vereinigten sich die Rauchfahnen eines Dorfes zu einem Dunst, der in dem unbestimmten Horizont aufging. Im Osten erahnte er die fernen Zinnen von Burg Hachberg, wohin er unterwegs war. Auch dort erkannte er hellen Qualm, der mit dem Wind in der Luft verging.
Die Spur von Rauch, die ihm jetzt in die Nase drang, stammte nicht von der Burg, sondern vom Fuß der Steilwand, wo Almut ein bescheidenes Lagerfeuer auf der Lichtung in Gang gebracht hatte. Die Kleine sah herauf. Wigbert erwiderte ihr Winken und gab ihr ein Zeichen, dass sein Unterfangen von Erfolg gekrönt war. Als Antwort winkte sie erneut.
Neben dem Mädchen zupfte ihr Esel Kräuter vom Waldrand. Sogar von hier oben sah das Grautier erbärmlich aus. Es war etwa so alt wie Wigbert selbst, nahezu blind, und hatte den Unfall vor ein paar Tagen im Fluss nur knapp überlebt, als es voll beladen ausgerutscht und in die Fluten gestürzt war. Einige von Wigberts seltensten und wertvollsten Vögeln waren dabei ums Leben gekommen. Bei der Erinnerung daran verdrehte er die Augen. Auch deshalb hatte er diesen Aufstieg auf sich nehmen müssen. Was war ein Vogelhändler auf einem festlichen Turnier, wenn er keine Vögel zu verkaufen hatte? Fehl am Platze! Der junge Falke würde ihm aber sicher genug einbringen, um Almut ein neues Kleid und sich einen kräftigen Esel zu kaufen.
Eine Lichtspiegelung aus dem Osten zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Schon war sie wieder verschwunden, doch Wigbert machte ihre Herkunft in einem Stück des Waldes aus, wo sich der Weg auf ihr Lager zuschlängelte. Konzentriert suchte er das Gebiet ab und wünschte sich, seine Augen wären noch so scharf wie in Jugendtagen. Durch ein Loch im Blätterdach spiegelte ihm erneut ein Lichtstrahl entgegen, gefolgt von einer Bewegung, die nur ein Wagen sein konnte. Hier, auf diesem Pfad? Zum Teufel! Wer immer das sein mochte, er kam auf ihr Lager zu. Wigbert setzte voller Eile den Abstieg fort und gab Almut das Zeichen für fragwürdige Gesellschaft. Das führte bei ihr zu hektischer Betriebsamkeit. Während er weiter hinabstieg, band sie den Esel fest, stellte die Vogelkäfige in Deckung und nahm den Säckel mit Wigberts letzten Münzen an sich.
Kurz darauf empfing sein Mündel ihn mit besorgtem Blick. Wie immer sprach sie kein Wort, zwitscherte aber freundlich wie ein Rotkehlchen. Sie nahm den Korb entgegen, spähte hinein und nickte Wigbert anerkennend zu. Sie machte eine Kaubewegung.
»Ja, es hat Hunger!«, sagte er. »Aber jetzt musst du dich erst verstecken.«
Sie pfiff den aufsteigenden Ton, der in ihrer Welt eine Frage markierte.
»Ich weiß es nicht, aber es kommt ein Wagen.«
Als Antwort tippte sie mit dem Zeigefinger in kreisender Bewegung an ihren Kopf, auf dem die dunklen Locken wippten.
»Ich weiß. Wer hier mit dem Wagen fährt, muss dumm sein. Aber das heißt nicht, dass sie nicht gefährlich sein können. Also los!«
»Der Geier ist von kalter Natur und kennt die Fertigkeiten der Vögel und der Landtiere und ist unter den anderen Vögeln wie ein Prophet.«
Hildegard von Bingen, Physika
Zehn Jahre zuvor, Kleinasien, Montag, 30.April im Jahre des Herrn 1190
»Also los!«, gebot der nörglerische Kerl, kaum dass das abschließende »Amen« des Mönchs vom heißen Wind davongetragen worden war. Ewald von Baldenstein und seine Gefolgsleute verließen die Begräbnisstätte als Erste wieder in Richtung des Tals. Franziska stand derweil wie zur Salzsäule erstarrt am westlichsten der drei Steinhaufen und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
Der ihnen seit Tagen aus Südosten entgegenwehende Wind trug so viel Sandstaub mit sich, dass die glühende Sonne nur wie ein heller Schemen zu erkennen war. Die mit ausgeblichenen Bannern markierten Lager der Kreuzritter wirkten im Staub alle gleichförmig und beigegrau. Sie füllten das weite Tal in Kleinasien und zogen sich von Horizont zu Horizont. Schwere Wagen waren zur Nachtrast eng zusammengestellt worden. In jedem der Kreise brannten in der Mitte große Feuer. Hunderte kleinere wurden um sie herum in Gang gesetzt. Berittene Boten eilten von einem zum anderen Lager, die einfachen Kämpfer zu Fuß richteten ihre Nachtstätten ein und bereiteten ihr Essen zu. Halbzahme Hunde bettelten um Reste. Die nach dem anstrengenden Tag müden Zugtiere stritten sich derweil in notdürftig errichteten Gattern um die kargen braunen Grasbüschel, die zwischen den Steinen hervorragten, und soffen Wasser aus Ledereimern. Weit voraus im Südosten glaubte Franziska, vor einem Band aus Bäumen die Banner Kaiser Friedrich Barbarossas auszumachen, dem ihr Onkel Alwin Herr von Hellenau Treue bis zum Tod geschworen hatte.
Seinen Schwur hatte er gehalten – und seinen letzten Atemzug nach Tagen des Hustens heute früh in Form eines rasselnden Keuchens von sich gegeben. Jetzt lag sein Leichnam notdürftig unter den allgegenwärtigen Steinen, die zwei angeheuerte Helfer über ihm aufgehäuft hatten. Ein schlichtes Holzkreuz ragte etwas schief daraus hervor.
»Der Verlust Eures Herrn Vaters tut mir sehr leid für Euch, Fräulein«, hörte sie eine warme Stimme mit angenehmem Klang. Sie gehörte dem Ritter, der mit seinen drei Begleitern das östliche Grab errichtet hatte. Während seine Gehilfen sich unterhielten, trat er an Franziskas Seite.
»Habt Dank, edler Ritter, für Eure tröstenden Worte. Dass er mein Onkel war und nicht mein Vater, mildert die Trauer nicht.«
»Ah, Euer Onkel. Verzeiht. Was ist ihm geschehen?« Seine Frage klang wirklich interessiert.
»Die Schwindsucht hat ihn geschwächt und der Staub ihn dahingerafft«, gab Franziska zurück und bemühte sich, nicht gleich wieder loszuweinen.
In den braunen Augen des Ritters glaubte sie, wahres Mitleid zu lesen. Er war so viel älter als sie, dass er ihr Vater hätte sein können. Graue Strähnen mischten sich unter sein ursprünglich dunkles Haar. Sein Bart war gepflegter als die der meisten Männer auf dem Kreuzzug. Wie sein Gefolge trug er ein kostbares Lederwams über dem kräftigen Oberkörper. Als Einziger hatte er ein Schwert umgeschnallt, das in einer kunstvoll gestalteten Scheide steckte.
»Auch Ihr habt einen treuen Begleiter verloren«, bemerkte sie mit einem Blick auf den dritten Steinhaufen, um den seine Kameraden standen.
Er nickte. »Ein junger Mann, der bei den Schlachtrössern half. Wir hatten ihn erst vor einer Woche aufgenommen.«
Wer so sprach, musste ein Edelmann von Rang und Namen sein. Dass ein hochgestellter Herr höchstpersönlich half, das Grab eines Stallburschen aufzuhäufen, fand Franziska umso erstaunlicher.
Ihre angeheuerten Helfer traten an sie heran. Franziska verstand nicht, was sie sagten, aber die Kerle nickten zufrieden über den Lohn, den sie ihnen überreichte. Nach einer Verbeugung begaben auch sie sich auf den Rückweg ins Tal.
»Diese Männer gehörten nicht zum Tross Eures Onkels?«, fragte der Ritter.
»Habt Ihr je von denen von Hellenau gehört, Herr?«, erwiderte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Ein unbedeutendes Geschlecht aus dem Norden des Reichs. Mein Onkel hat sein Rittergut verkauft, um an des Kaisers Seite kämpfen zu können. Diener, einen Knappen oder sonstige Begleiter konnte er sich keine leisten.«
»Aber seine Nichte war bei ihm«, sagte der Mann lächelnd.
Franziska seufzte. »Ja. Und die weiß nun nicht, wie es für sie ganz allein auf der Welt weitergehen soll. Jetzt muss ich erst einmal den Weg zurück in die Heimat schaffen.«
Der Mönch wollte nun offenbar auch aufbrechen. Franziskas Gesprächspartner reichte ihm eine Goldmünze, was zu einer überschwänglichen Dankesrede auf Italienisch führte. Als der Ordensmann sich an die junge Frau wandte, ermahnte der Ritter ihn: »Ihr habt bereits einen Lohn erhalten, ehrwürdiger Bruder, der mir mehr als angemessen erscheint.«
Der Mönch wirkte enttäuscht, verkniff sich aber alle Widerworte. Er verbeugte sich stattdessen und folgte den Helfern auf den Weg ins Tal.
»Ich kann Eure Hilfe nicht annehmen«, sagte Franziska, doch der Mann winkte ab.
»Haltet Euer Geld zusammen. Ihr werdet es für den Heimweg brauchen.«
»Hermann, es ist an der Zeit zu gehen«, sagte einer seiner Begleiter. Er war Ende zwanzig, breit gebaut und hochgewachsen mit einer Adlernase und scharfen Augen, die Franziska aufmerksam musterten. Seine Haut war tief gebräunt.
»Ich komme, Rupert«, antwortete der Ritter, und fuhr an Franziska gewandt fort: »Der Herrgott möge seine schützende Hand über Euer Haupt halten auf Eurer Reise. Möchtet Ihr Euch uns auf dem Weg zurück ins Lager anschließen?«
Die Sonne stand tief, und ihre roten Strahlen kamen immer weniger gegen den Staub an. Franziska zögerte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. »Habt Dank, Herr, für Eure Hilfe und das Angebot. Ich möchte jedoch noch etwas bleiben.«
»Wartet nur nicht zu lange!«, warnte er freundlich. »Die Dunkelheit schleicht sich in diesen Gefilden förmlich an und bricht dann plötzlicher herein, als man es für möglich hält.«
Franziska schaute dem Ritter und seinen Begleitern nach, bis sie hinter einem Felsvorsprung verschwanden. Zuhinterst ging der Mann, den der Ritter Rupert genannt hatte. Dieser drehte sich noch einmal zu ihr um und hob eine Hand zum Abschied. Franziska nickte nur kurz, dann bückte sie sich zu Boden und hob einen der grauen Steine auf. Sie sah ihn mit tränennassen Augen an und packte ihn an die Stelle auf dem Grab, wo sich das Herz ihres Onkels befinden musste.
Seit dem Tod ihrer Eltern vor zehn Jahren hatte der verwitwete Alwin von Hellenau sich um Franziska gekümmert wie um das eigene Kind, das ihm nicht vergönnt gewesen war. Sie hatte ihn lieb gewonnen, und als er den folgenschweren Beschluss gefasst hatte, seinem Kaiser ins Heilige Land zu folgen, hatte sie darauf bestanden, ihn zu begleiten. Sonst wäre ihr nur der Weg ins Kloster geblieben – oder dem Werben eines Nachbarn nachzugeben, einem Freiherrn, dessen rüdes Verhalten Franziska vom ersten Tag an abgestoßen hatte.
Die Reise ins Heilige Land hatte für den Onkel unter keinem guten Stern gestanden. Zwei der teuren Pferde waren bald verendet, das letzte Ross hatte Franziska verkauft, um seine Behandlung bei einem Bader und den ihn begleitenden Nonnen begleichen zu können. Mit dem Erlös von Schwert und Rüstung hatte sie die Helfer bezahlt und gerade noch genug Geld übrig, um sich einer Gruppe von anderen Rückkehrern anzuschließen. Falls sie den Heimweg überhaupt überstand, würde sie spätestens bei ihrer Ankunft mittellos sein.
»Ach, Onkel Alwin! Warum hast du mich nur allein gelassen?«, fragte Franziska leise und spürte, wie ihr neue Tränen in die Augen schossen. Ihre brechende Stimme klang so kläglich, dass sie schluchzen musste. Hoffnungslos und erschöpft sank sie an seinem Grab zu Boden.
Ein Rauschen, ein Rascheln und das Geräusch scharfer Klauen auf heißem Gestein zerrten sie aus ihren Erinnerungen. Ein riesiger Vogel war nur wenige Klafter hinter ihr auf dem steinigen Hang gelandet und betrachtete sie lauernd aus tiefschwarzen Augen zwischen einem gebogenen, messerscharfen Schnabel. Franziska wurde bewusst, dass sie schon einige Zeit hier regungslos kauerte. Sie sprang auf. Die Bewegung seiner vermeintlichen Beute ließ den Geier einen Satz zurückmachen, bevor er sich mit ausgebreiteten Schwingen abstieß und sich schwerfällig über Franziskas Kopf in die Dämmerung erhob.
Franziska wusste nicht, wie lange sie an der letzten Ruhestätte des Onkels gekniet hatte. Die Sonne ging bereits unter, und die Begegnung mit dem Mönchsgeier machte ihr deutlich, dass sie die Nacht besser nicht allein an den Gräbern verbringen sollte. Hinter jedem knorrigen Busch konnte ein Bär lauern. Es waren auch schon Wolfsrudel gesehen worden. Franziska blickte hinunter ins Tal. Bergauf hatten sie mit den Leichen mehr als eine Stunde gebraucht. Um den Weg ins Lager zu schaffen, musste sie schleunigst aufbrechen. Sie legte ihre Hand auf einen der Steine auf dem Grab ihres Onkels, schloss die Augen und atmete tief ein.
»Ich muss gehen, Onkel!«, flüsterte sie. Dann brach sie auf. Mit jedem Schritt wuchs das Schuldgefühl, ihn hier allein zurückzulassen. Es wurde so stark, dass Franziska sich an der ersten Biegung noch einmal für einen letzten Blick auf das Grab umdrehte und winkte. Dann lief sie los.
Der Ritter bei den Gräbern hatte recht behalten mit seiner Warnung vor der schnellen Dämmerung. Als Franziska außer Atem die ersten Ausläufer der Lager erreichte, war es fast vollkommen dunkel. Die staubige Luft hielt sogar das Mondlicht ab. Sie irrte zwischen den Zelten und Wagen hindurch und fand schließlich den Lagerplatz, wo sie für die Zeit der Beerdigung ihr knappes Hab und Gut zurückgelassen hatte und sich etwas Ruhe und Sicherheit für die Nacht erhoffte.
Ihr Onkel Alwin und Ewald von Baldenstein hatten sich auf der Reise kennengelernt. Etwa im gleichen Alter und von ähnlichem Stand hatten sie sich gut verstanden und ein paarmal zusammen getrunken. Irgendwann hatten sie beschlossen, nebeneinander zu lagern.
»Wo warst du denn so lange?«, fragte Ewald eher aufgebracht als besorgt. »Ich hab schon gedacht, dass wir morgen nur noch Knochen von dir finden.«
Franziska roch an seinem Atem, dass er getrunken hatte. Er wies auf die Reste eines undefinierbaren Abendessens. Er und seine beiden Knappen – die jungen Brüder waren vierzehn und sechzehn Jahre alt – hatten den Topf achtlos auf den Boden gestellt, sodass sich mittlerweile Ameisen daran gütlich taten. Franziska lehnte ab. Sie hatte ohnehin keinen Appetit. Mürrisch schickte Ewald die Knaben zu Bett und zog sich ein paar Minuten später laut gähnend in sein Zelt zurück. Franziska blieb am Feuer. Sie betete um göttlichen Beistand und breitete ihre Decke aus. Als sie sich seufzend darauf niederließ, stürzte die Hoffnungslosigkeit ihres Daseins erneut auf sie ein wie eine Steinlawine. Schluchzend versuchte sie, sich zu beruhigen.
»Deine Heulerei bringt deinen Onkel auch nicht zurück. Hör auf damit!«, kam aus dem Zelt des Ritters. »Wer soll denn da schlafen?«
»Verzeiht, Herr«, brachte sie mit zittriger Stimme hervor.
Als Antwort gab es ein Grumpfen, dann das Geräusch eines Korkens, der aus einem Weinbeutel gezogen wurde. Ewald rülpste ausgiebig. Zu ihrem Entsetzen hörte sie, dass er die Zeltbahn zurückschlug, und setzte sich schnell auf. Der Mann war nur mit einem dünnen schmutzigen Hemd bekleidet, das die haarigen Beine ab der Mitte der Oberschenkel unbedeckt ließ. Die Wangen über seinem Bart waren gerötet. Er atmete wie ein Hund, der Witterung aufgenommen hat.
»Ich werde jetzt ruhig sein!«, sagte sie kleinlaut und bat: »Geht nur zurück in Euer Zelt.«
»Gleich«, erwiderte Ewald von Baldenstein und schritt langsam zum Feuer. Er schaute auf sie hinab, grinste und ließ sich schließlich neben ihr auf der Decke nieder. Er stank nach saurem Schweiß und noch mehr Wein.
»Ich wollte dir sagen, wie leid es mir für dich tut«, raunte er.
Franziska gefiel die Nähe zu dem Mann ganz und gar nicht. Sie versuchte, unauffällig ein Stück abzurücken.
»Du armes, junges Ding«, sagte er mit bedauerndem Tonfall. Er drehte sich weiter zu ihr. »Was wirst du jetzt tun, kleine Franziska?«
Es war ihr unheimlich, dass der Ritter so knapp bekleidet neben ihr saß. Sie wollte ihn schnell loswerden und zuckte darum statt einer Antwort schweigend mit den Schultern.
»Du bist ein recht hübsches Kind«, murmelte er ihr mit gedämpfter Stimme ins Ohr. »Weißt du das?«
Franziska rückte jetzt deutlich von ihm ab und wollte aufstehen, aber er packte grob ihr zartes Handgelenk und hielt sie so am Boden.
»Lasst mich sofort los!«, forderte sie und versuchte, sich zu befreien.
In seinen Augen blitzte etwas auf. Seine Hand drückte einen Moment noch fester zu. »Schon gut, schon gut«, sagte er dann und gab sie frei. Franziska sprang auf. Obwohl er getrunken hatte, war er genauso schnell auf den Füßen wie sie.
»Lasst mich in Gottes Namen in Frieden!«, verlangte sie außer sich vor Angst.
»Benimm dich gefälligst in meinem Lager!«, knurrte er zurück. Seine Hand schnellte vor und bekam ihr Haar zu fassen. Die starken Finger vergruben sich darin, und er zerrte sie schmerzhaft an sich heran. Sie schrie laut auf. Sofort erstickte seine andere Hand auf ihrem Mund den Schrei.
»Und ihr beiden schlaft, verdammt noch mal!« Dieser Befehl galt den Knappen, die beunruhigt aus ihrem Zelt blickten. Franziska sah sie flehend an, aber erntete nur ein bedauerndes Kopfschütteln, bevor die Köpfe sich hinter die Stoffbahn zurückzogen.
»Du könntest es so gut bei mir haben«, flüsterte Ewald ihr lüstern ins Ohr und drückte seinen Unterleib an sie. Durch das Hemd spürte sie seine Erregung.
Sie presste einen Laut unter seiner Hand hervor.
»Was ist denn da los?«, drang eine Stimme von einem benachbarten Lagerplatz durch die Dunkelheit.
»Kümmer’ dich um deinen eigenen Dreck!«, spie Ewald in die Nacht, lockerte aber den Griff und ließ Franziska endlich los. Sie sprang zurück und umrundete das Feuer, um Abstand zwischen sich und den Mann zu bringen.
»Ich bin kein Tier«, sagte er. Mit einem Wink auf den Eingang seines Zeltes fügte er hinzu: »Na los, stell dich nicht so an!«
»Niemals! Geht zum Teufel!«, schleuderte sie ihm entgegen.
Einen Moment fürchtete Franziska, er würde sich erneut auf sie stürzen, doch er zuckte nur mit den Schultern.
»Dann eben nicht«, knurrte er. »Aber morgen früh will ich dich hier nicht mehr sehen!«
»Ahi, nun kommt die schöne Zeit
Mit kleiner Vögelein Gesang,
Die Linde grünet weit und breit,
Vergangen ist der Winter lang.«
Dietmar von Aist, Im Lenz
Im Schwarzwald, Donnerstag, 11.Mai im Jahr des Herrn 1200, zwei Tage vor Beginn des großen Turniers auf Burg Hachberg
Aus den Tiefen des Waldes drang der grelle Warnruf eines Eichelhähers. Kurz darauf erklang ganz in der Nähe aus einem Baum der markante Pfiff einer Amsel, der eine Annäherung vom Boden aus verkündete.
Almut stellte den Korb mit dem Küken vorsichtig bei den voll besetzten Transportkäfigen ab, aus denen buntes Geträller und Gezwitscher zu hören war. Einer der beiden grünen Papageien gab ein schrilles Krächzen von sich. Das Mädchen kam mit Wigberts Voglerstab zurück, einem fast zwei Schritt langen Wanderstock mit der zum Haken gebogenen Eisenspitze an einem Ende. Die Warnrufe der Wildvögel wurden eindringlicher und übertrugen die Unruhe auf die Artgenossen in den Käfigen, die jetzt von Stange zu Stange sprangen oder gegen die Gitterstäbe aus Holz oder dickem Draht flatterten. Schließlich vernahm Wigbert das Klappern eines Wagens und den noch ein Stück entfernten Ruf eines Mannes: »Passt doch auf!«
Wigbert schickte ein Stoßgebet zum Himmel. »Herr, lass es keine Räuber sein!« Innerlich bereitete er sich dennoch darauf vor, im Notfall seinen Voglerstab als Waffe einzusetzen, um sein Mündel, die Vögel und sein eigenes Leben zu verteidigen.
Er gab Almut das Zeichen, sich zu verstecken. Obwohl sie in den letzten Monaten ein ganzes Stück gewachsen war, sodass ihr Kleid kurz war und spannte, war die Zehnjährige doch immer noch klein und zierlich genug, sich hinter einem der größeren Felsbrocken zu verbergen. Kaum befand sie sich in Deckung, da vernahm Wigbert die Geräusche der sich nähernden Gruppe deutlich lauter. Ein Pferd schnaubte angestrengt, schwere eisenbeschlagene Holzräder knirschten. Dazwischen glaubte er, Gesang zu vernehmen.
»Wer kommt da?«, rief er in den Wald und versuchte, breitbeinig stehend, möglichst selbstsicher zu wirken.
»Vorsicht! Bereit!« Es war dieselbe Stimme, die er eben schon gehört hatte, nur klangen die Befehle soldatisch und alarmiert. Einen Moment später trat ein groß gewachsener Mann aus dem Dunkel des Waldes an den Rand der Lichtung, ein uniformierter Fußreisiger mit einem Kettenhemd über der Tunika. Der Soldat mochte etwa in Wigberts Alter sein. Ein grauer Bart zierte das sonnengebräunte Gesicht mit markantem Kinn. Ihm fehlte ein Nasenflügel. Es sah aus, als habe man ihm das Stück Knorpel im Kampf abgeschlagen.
Der Neuankömmling verschaffte sich einen schnellen Überblick, bevor er, ohne zu zögern, auf Wigbert zuschritt. Zwei jüngere Soldaten flankierten ihn mit gezogenen Schwertern und Schilden, einer von ihnen war ein Koloss von Mann.
Gegen diese Übermacht konnte Wigbert nichts ausrichten. Er senkte seinen Voglerstab.
Dann wurde er sich der Farben auf den Schilden bewusst. Gemeine Räuber waren das jedenfalls nicht! Ein schwarzer Adler mit rotem Schnabel und Fängen auf gelbem Grund. Es sah aus wie … Wigbert setzte den Voglerstab ab.
»Leg das Ding ganz weg, Mann. Wir sind im Auftrag deines Königs Philipp unterwegs«, bestätigte der Anführer seine Vermutung.
Die beiden Bewaffneten beobachteten seine Reaktion wachsam. Wigbert musste einsehen, dass ihm keine andere Wahl blieb, als das Werkzeug wie befohlen zur Seite zu legen und sich ergeben auf ein Knie niederzulassen. Er senkte den Kopf.
»Befinden sich hier noch weitere Männer außer dir?«, fragte der Anführer streng.
Wigbert zögerte einen Moment, sagte dann aber: »Nein, Herr, ich bin der einzige Mann.« Das war nicht gelogen. Almuts Anwesenheit hatte er damit nur verschwiegen. Auch wenn es sich wirklich um königliche Soldaten handelte, bedeutete das nicht, dass sie keine Gefahr für das Mädchen und ihn darstellen konnten.
Aus dem Wald trat nun ein vierter Fußreisiger, der das Pferd auf die Lichtung führte. Das schwere Warmblut hatte weißen Schaum vor dem Maul. Der Wagen mit Holzaufbau und Planendach, den es über den schmalen, unebenen Weg zog, war viel zu breit und ließ Äste brechen, die in den Weg hineinreichten. Hinten angebunden lief ein Schlachtross, neben dem zwei weitere Männer schritten. Einer war gewöhnlich gekleidet, der andere trug eine bodenlange blaue Tunika mit goldfarbenen Borten. Dass dieser ein Herr von hohem Stand sein musste, erkannte Wigbert an dem langen strohblonden Haar, das unter einer gelb-schwarzen Mütze hervorquoll wie Wasser aus einem Quellstein. Eine schmuckvolle Stofftasche mit drei Schnallen hing ihm seitlich über die schmale Schulter.
»Ludolf, Adam, sichern!«
Die beiden Soldaten eilten los, um die Lichtung zu untersuchen.
»Aufstehen!«, befahl derweil ihr Anführer. Wigbert kam dem nach, während der blonde Edelmann zu ihnen stieß. Kühle blaue Augen musterten ihn.
»Sieh an, ein Vogelfänger, wenn mich nicht alles täuscht«, sagte der Mann mit seidiger Stimme. Obwohl er gleich groß wie Wigbert war, klangen seine Worte etwas von oben herab, was auch an dem fremden Singsang seiner Mundart liegen mochte. Wigbert hatte so ein Deutsch noch nie gehört.
»Ihr täuscht Euch nicht, edler Herr. Man nennt mich Wigbert, den Vogler«, stellte er sich vor und senkte ergeben den Kopf. »Ich fange und handele … He! Lasst den Korb stehen!«
Wigbert sah, wie der Koloss den Behälter mit dem Falkenküken anhob. Der Soldat hielt nur einen Moment inne, dann machte er sich an der Schnalle zu schaffen.
»Nicht! Es ist nur ein Küken darin«, rief er.
»Das wollen wir doch mal sehen«, sagte der Edelmann und schritt an Wigbert vorbei. Als der Vogelhändler Anstalten machte, ihm zuvorzukommen, packte der Anführer mit der angeschnittenen Nase ihn am Kragen und stieß ihn unsanft zu Boden.
»Du wartest hier!«, befahl er und löste nun sein eigenes Schwert vom Gürtel.
Wigbert musste einsehen, dass ihm nichts übrig blieb, als am Boden auszuharren. Wenn sie ihm den jungen Falken abnahmen, waren die ganzen Strapazen umsonst gewesen! Wie zur Mahnung begann der Kratzer auf seinem Kopf zu pochen.
Der Edelmann nahm den Korb von dem Riesen entgegen und sah hinein.
»Es ist wirklich ein junger Wanderfalke«, stieß er überrascht aus, als er den Deckel abgenommen hatte. Er drehte sich zu Wigbert. »Ein wertvoller Besitz für ein solch einfaches Lager«, sagte er. Dann zeigte er auf die anderen Vögel, die in ihren Käfigen saßen. »Aber ich sehe noch mehr Tiere und darunter auch exotisches Geflügel.«
Wigbert wunderte sich, dass der Mann sich so gut auskannte. Nicht jeder würde einen jungen Falken gleich bestimmen können.
»Das Tier ist gerade erst dem Ei entschlüpft«, sagte Wigbert beschwichtigend.
In dem Moment schoss Almut hervor. Der Anführer sah sie zuerst und rief ein lautes »Da!« Der große Soldat erschrak und versuchte, sie zu ergreifen, war aber zu langsam für das flinke Kind. Almut duckte sich unter seinem Griff weg und stieß einen Angriffspfiff aus, bevor sie dem Edelmann den Korb aus der Hand riss und sich in Richtung Waldrand aus dem Staub machte.
»Lass es, Almut!«, rief Wigbert ihr zu, doch sie hörte nicht auf ihn, sondern fauchte wie eine Wildkatze den zweiten Soldaten an, der sich ihr in den Weg stellte. Ihr Versuch, auch an ihm vorbeizukommen, scheiterte an seiner schnellen Reaktion. Er bekam Almut an einer Schulter zu packen und hielt das wütend um sich tretende Mädchen fest.
Nur die blanke Klinge vor ihm ließ Wigbert Einhalt gewähren, aufzuspringen und ihr zu Hilfe zu eilen.
»Sie ist nur ein Kind!«, brüllte er. »Tut ihr nichts!«
Almut drückte den Korb beschützend an ihre Brust.
»Wir wollen dein Küken nicht, Mädchen«, sagte der Edelmann beschwichtigend. »Adam, lass sie los. Soll sie ruhig in den Wald laufen!«
Der Soldat löste seinen Griff nur zu gern, hatte er doch ein paar Tritte abbekommen. Almut sprang aus seiner Reichweite, besann sich dann und rannte nicht in den Wald, sondern kam mit dem Korb auf Wigbert zugelaufen.
Mit einem Wink und einem Blick gab er ihr zu verstehen, dass sie keine Angst haben solle. Almut pfiff wieder den Frageton.
»Ja, er ist sich sicher«, antwortete der Edelmann an seiner statt.
»Ihr kennt die Voglersprache?«, fragte Wigbert verwirrt.
»Sag es jetzt freiheraus!« Der Blonde überging die Frage mit einiger Schärfe in der Stimme. »Erwarten uns hier noch weitere Überraschungen?«
»Nein, Herr«, gab Wigbert zurück. »Wir sind allein. Bitte tut uns nichts!«
Spätestens als der Edle dem Anführer befahl, sein Schwert wegzustecken und ihn aufstehen zu lassen, war klar, wer hier wirklich das Sagen hatte.
Almut presste weiterhin den Korb mit dem fiependen Falken an sich, und Wigbert legte beschützend einen Arm um ihre Schulter.
»Es scheint, als wären wir uns einfach auf dem falschen Fuß begegnet, Vogelhändler«, sagte der Edelmann von oben herab. »Wir haben weder im Sinn, euch zu töten, noch euch zu schaden. Und dieses hungrige Federknäuel brauchen wir bei Gott nicht.« Er verfiel in ein selbstgefälliges Lachen, das der Anführer der Soldaten aufnahm.
»Was wollt Ihr dann?«, fragte Wigbert. Langsam war er verärgert über diese Neuankömmlinge. Ihm taten alle Knochen weh, und er musste sich mit Almut um die Vögel und den Falken kümmern. Stattdessen hielten diese Fremden sie zum Narren.
»Wir sind auf dem Weg zur Burg Hachberg der Markgrafen von Baden«, erklärte der Edelmann. »Dort wird ein großes Fest samt Turnierkampf ausgerichtet.«
Wigbert stutzte. Er wusste, dass einige hochgestellte Familien zum Turnier erwartet wurden. Dass auch eine Delegation König Philipps den Markgrafen die Ehre gab, war außergewöhnlich.
»Die Richtung zur Burg Hachberg stimmt, Herr, aber mit Eurem Wagen werdet Ihr auf den vor Euch liegenden Wegen nicht fahren können. Ich fürchte, Ihr müsst umkehren bis zu einer Kreuzung an einer großen, knorrigen Eiche. Dort haltet Ihr Euch rechts, bis Ihr auf die Straße nach Emmendingen trefft.«
»Siehst du, Robert!«, sagte der Edelmann mit Genugtuung in der Stimme zu dem Anführer der Fußreisigen. »Wir hätten den Abzweig doch nicht nehmen sollen.«
Während der Blonde und der Kommandant bei ihnen standen, prüften die beiden Untergebenen die Umgebung. Der vierte Soldat kümmerte sich um die Pferde, nur von dem Begleiter des Edelmanns war nichts zu sehen.
»Werden wir den Weg heute noch schaffen?«, fragte er den Vogelhändler.
Wigbert schüttelte den Kopf. »Nicht einmal im Laufe des morgigen Tages, zumindest nicht mit dem Wagen.«
»Wie meinst du das?«
»Wenn Ihr umkehrt, braucht ihr mit dem Wagen ewig bis zur Straße zurück.«
»Aber ich werde morgen auf der Burg erwartet!«, sagte der Edelmann vorwurfsvoll, als sei es Wigberts Schuld, dass er sich verspäten könnte.
»Das werdet Ihr nur schaffen, wenn Ihr den direkten Weg nehmt«, erklärte der Vogelhändler. »Da das Fest und der Markt auch mein Ziel sind, könnten wir morgen gemeinsam reisen, Herr.«
Almut verdrehte die Augen und gab einen unwilligen Pfiff von sich.
»Dann müssten wir den Wagen zurücklassen«, gab der Anführer der Reisigen zu bedenken.
»Oder uns trennen«, gab der Edelmann mit einer arroganten Geste zurück.
Der Begleiter des Blonden, den Wigbert eben gesucht hatte, stieg nun über einen Tritt aus dem rückseitigen Inneren des Wagens. Er hatte sich eine lederne Armstulpe und einen Falknerhandschuh angelegt, auf dem er ein Tier trug, das zu sehen Wigbert den Atem raubte. Schneeweißes Gefieder mit gleichmäßig verteilten schwarzen Sprenkeln bedeckten den größten Falken, den er je in seinem Leben gesehen hatte – und auch den wertvollsten, wie er sofort erkannte. Über dem Kopf des Gerfalken aus dem hohen Norden war eine lederne und mit Federwerk geschmückte Kappe gestülpt. Ohne etwas zu sehen, verharrte das Tier ruhig. Aber es spürte auf dem Arm seines Herrn die Sonne und die leichte Brise im Gefieder. Und vermutlich witterte es auch die rohen Fleischstücke, die in der umgehängten Falknertasche darauf warteten, in seinem Schnabel zu verschwinden. Das Tier schüttelte kurz die Schwingen aus und reckte sich, bevor es die Flügel wieder anlegte. Jetzt verstand Wigbert, wieso der Blonde so abschätzig von seinem Wanderfalken gesprochen hatte! Das Küken mochte einen Esel wert sein, der Gerfalke eine Grafschaft! Und wer solch eine kostbare Gabe im Auftrag des Königs mit sich führt, muss selbst eine äußerst hochstehende Persönlichkeit sein, ging es Wigbert durch den Kopf.
»Darf ich fragen, wen König Philipp von Schwaben ausgesandt hat, um solch ein Geschenk zu überbringen, das nicht mit Gold aufgewogen werden kann?«, fragte er.
»Du hast recht, Vogelhändler Wigbert. Wir haben uns dir noch gar nicht vorgestellt«, antwortete der Edelmann. »Robert und seine Männer.« Er wies auf den Anführer und die Soldaten, die sich nun alle um die Pferde kümmerten. »Thomas, einer der königlichen Falkner.« Seine Hand zeigte auf den Mann, der dem jetzt von der Kappe befreiten Gerfalken einen blutigen Fleischfetzen hinhielt. Das Tier verschlang das Fleisch in einem Stück. »Und ich wurde von König Philipp als Mann des Wortes und der Musik ausgesandt. Mein Name ist Walther. Man nennt mich auch den von der Vogelweide. Du hast sicher schon von mir gehört.« Er schwenkte selbstgefällig die Hand durch die Luft.
»Oh«, sagte Wigbert und tat mächtig beeindruckt, ohne dem Kerl eine wirkliche Antwort zu geben. Von einem Walther von der Vogelweide hatte er noch nie gehört.
»Hattest du mich denn nicht geschaffen und mich unterschieden von den Tieren des Feldes und den Vögeln des Himmels? Du hattest mich weiser gemacht, aber ich wanderte in Finsternis und auf schlüpfrigem Pfade.«
Aurelius Augustinus, Bekenntnisse
Kleinasien, Dienstag, 1.Mai im Jahre des Herrn 1190
Eine Berührung an der Schulter riss Franziska aus dem Schlaf. Sofort ergriff Panik von ihr Besitz. »Lasst mich los, Mann!«, rief sie, und wälzte sich schnell zur Seite.
»Psst, nur die Ruhe«, wisperte eine weibliche Stimme beschwichtigend.
Franziska atmete erleichtert auf. Im Licht der frühen Dämmerung erkannte sie über sich eine Frau im Ordenshabit. Langsam kehrte ihre Erinnerung zurück. Die Benediktinerinnen hatten ihren Onkel die letzten beiden Tage vor seinem Tod gepflegt. Und gestern Nacht hatten sie ihr nach der Flucht aus dem Lager des Ritters Ewald von Baldenstein Obdach gewährt.
»Es ist Zeit aufzustehen, mein Kind«, fügte die Nonne hinzu.
»Ja, ehrwürdige Schwester …« Franziska überlegte einen Moment, dann fiel ihr der Name ein. »… Ignazia. Sofort.«
Ignazia war die älteste der sieben Ordensschwestern des berühmten Klosters aus Bingen, die sich mit auf den Kreuzzug begeben hatten. Ein großes Muttermal prangte auf der Wange ihres faltigen Gesichts, das von der einst weißen Nonnenhaube eingerahmt wurde. Der Stoff war schmutzig grau geworden in den Wochen, die sie im Reich der seldschukischen Türken durch Staub und Hitze wanderten. Die Nonne wandte sich um und folgte mit leicht hinkendem Gang ihren Schwestern, die sich etwas abseits des Krankenlagers versammelten. Ignazia wirkte dabei ebenso müde und erschöpft, wie Franziska sich fühlte, als sie schlaftrunken den Wagen des Baders betrachtete. Der Arzt, der die Nacht stets im Inneren verbrachte, hatte in den letzten Tagen ihren Onkel behandelt – bis zu dessen Tod. Der Gedanke, dass Alwin von Hellenau, der einzige Bruder ihrer längst verstorbenen Mutter, am Hang dieses Berges unter einem Haufen kalter Steine lag, schmerzte sie. Noch schlimmer war die Gewissheit, dass sie ihn hier zurücklassen musste, wenn der Kreuzzug sich an diesem Tag wieder in Bewegung setzte.
Franziska taumelte hinter den Wagen des Baders, um sich neben einem dornigen Busch zu erleichtern. Bei ihrer Rückkehr begann der leise Psalmengesang der Nonnen, die Laudes, das Stundengebet zum Tagesbeginn. Eine Schwester sang einen Vers vor, die anderen setzten ihn gemeinsam fort. Wieder und wieder erklangen ihre hellen Stimmen und brachten mit den ersten, über den Himmel tastenden Sonnenstrahlen Licht in den neuen Tag.
»Herr, sei der Seele meines Onkels gnädig und lass ihn eingehen in dein Reich!«, betete Franziska flüsternd vor sich hin. Sie erinnerte sich grob, dass er in ihrem Traum aufgetaucht war. Aber sosehr sie sich bemühte, eine Erinnerung zu fassen zu bekommen, scheiterte sie doch kläglich. Vor Trauer und Wut stiegen ihr die Tränen in die Augen. Um sich abzulenken, warf sie einen Blick auf das Lager des Baders, das auf der einen Seite von dem Wagen, auf der anderen von niedrigen, windschiefen Bäumen begrenzt war, an denen die Mulis und Maulesel angebunden standen. Die wenigen grünen Blätter hatten sie schon abgezupft. Um das mittig angeordnete, fast heruntergebrannte Feuer waren die sechs Kranken so auf Decken gebettet, dass man zwischen ihnen hindurchgehen konnte. Franziska bewegte sich zu einem kleinen Holzstapel und legte ein paar dürre Zweige und einen Ast nach. Durch die neue Nahrung loderten die Flammen sogleich wieder auf.
»Helfen!«, drang eine kaum vernehmbare Stimme von der Seite an ihr Ohr. Sie stammte von einem der Kranken mit einem mit getrocknetem Blut dunkel eingefärbten Verband um den Kopf. Mühevoll machte er mit der rechten Hand auf sich aufmerksam, die kraftlos wieder zu Boden sank.
Franziska wandte sich Hilfe suchend zu den Schwestern um, doch die widmeten sich weiter inbrünstig ihrem gesungenen Gebet. Zögernd trat sie näher. Unterhalb des Verbands war das Gesicht eines mittelalten Mannes zu erkennen. Aus den geweiteten Augen sprach Angst. Der von einem stoppeligen Bart umrahmte Mund stand nur einen Spalt weit offen. Röchelnd drang ein Wort zwischen den spröden Lippen hindurch: »Helfen!« Ein inniges Flehen lag in seinem Blick.
»Ich bin keine der Schwestern«, erklärte Franziska bedauernd. Sie fühlte sich noch schlechter, als sich ein schweres, rasselndes Seufzen aus der Brust des Mannes löste. Leid und Schmerz steckten darin. Die trockenen Lippen zitterten.
»Habt Ihr Durst?«
Die Antwort stand in seinen Augen. Franziska eilte zum nahen Wasserfass, tauchte die Kelle ein und ging damit zurück. Für einen Moment dachte sie, er sei während ihrer kurzen Abwesenheit gestorben, doch dann bemerkte sie, dass sein Brustkorb sich fast unmerklich hob und senkte. Sie kniete sich hin und befeuchtete dem Mann zuerst mit einem Finger die Lippen. Nach und nach flößte sie ihm ein paar Schlucke ein. Das meiste rann vorbei. Das Trinken schien ihm sehr schwerzufallen.
Franziska nahm seine zitternde Hand. Wie einem kleinen Kind flüsterte sie ihm zu: »Es wird wieder gut.«
Ihre Worte zeigten Wirkung. Das Zittern, das eben noch den Körper des Mannes durchlaufen hatte, beruhigte sich langsam, als sie sich anblickten. Franziska verspürte den Drang, dem Leidenden etwas zu sagen, doch sie fand keine Worte. Darum begann sie zu beten: »Pater noster, qui es in caelis …«
»Sancti …«, hauchte der Kranke den Beginn des zweiten Verses des Vaterunsers, war aber zu schwach, um fortzufahren.
»Sanctificetur nomen tuum«, sagte Franziska und drückte seine Hand fester. Nach einem tiefen Stöhnen wurde der Mann ganz ruhig. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Dein Reich komme, Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden«, betete sie weiter. Er schloss die Augen.
Als sie den letzten Vers des Gebets ausgesprochen hatte – »… und erlöse uns von dem Bösen!«, – durchfuhr ein kaum spürbares Zucken den Leib des Mannes. Seine Hand drückte ihre fest, dann schwand die Kraft, zuerst langsam, dann plötzlich und endgültig. Im Hintergrund vereinigten sich die ausklingenden Töne des Psalmengesangs der Schwestern mit dem anbrechenden Tag.
Franziska verharrte eine Minute wie gelähmt. »Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit …«
»Amen«, erklang eine ernste, tiefe Männerstimme hinter ihr. Franziska erschrak und drehte sich um. Der Bader war herangekommen und beobachtete sie. Das schüttere Haar des sehnigen Mannes, der kaum größer war als sie, wuchs nur noch am Hinterkopf und war weiß wie frisch gefallener Schnee. Die Haut der Glatze begann, faltig zu werden. Mit aufmerksamen, blauen Augen musterte er Franziska mit strengem Blick. Er beugte sich zu dem Toten und schloss ihm die Lider, indem er leicht darüberstrich.
»Was tust du hier?«, fragte er scharf, als er sich wieder aufgerichtet hatte.
Franziska fürchtete, dass er sie für den Tod des Mannes verantwortlich machte. »Ich … ich habe nur …«, stammelte sie.
»… das ist die Nichte des Herrn von Hellenau, der gestern verstorben ist.« Schwester Ignazia, die vom Gebet zurückkehrte, war an ihre Seite getreten. »Ich habe ihr erlaubt, die Nacht bei uns zu verbringen.«
»In meinem Lager? Mich fragt wohl keiner mehr!«
»Sie kam in der Nacht und ist ganz allein, Rochus.«
Der Bader musterte Franziska von oben bis unten. Dann schnaubte er und zuckte mit den Schultern.
»Sie kann heute also noch bleiben?«, fragte die alte Nonne.
»Das muss ich mir überlegen«, erwiderte er. »Jetzt kümmert euch erst einmal um den Toten!« Er wandte sich um und ging zurück zu seinem Wagen.
»Mein Gott! Schon wieder einer?« Ignazia stöhnte bei dem Blick zu dem Toten auf. Sie wurde erst jetzt gewahr, dass der Mann sich nicht mehr regte.
Franziska nickte betreten. Die Nonne schnappte nach Luft und schlug ein Kreuz.
Eine knappe Stunde später setzte der Tross des Kreuzzugs sich stockend in Bewegung, und der Bader und seine Begleitung reihten sich ein. Zuvorderst fuhr der von zwei Mulis gezogene Wagen. Das Klappern der Hufe, das Reiben der eisenbeschlagenen Räder über den Steinweg, das Knarren der Achsen und bei größeren Unebenheiten ein Klirren von aneinanderschlagenden Tiegeln im Inneren des Fahrzeugs bildeten den klanglichen Hintergrund des reisenden Spitals. Dazu kam das Gegacker der Sprenkelhühner, die in zwölf an der Wagenwand befestigten Käfigen als lebendiger Proviant mitgeführt wurden. Eine alte, freundliche Schwester – alle nannten sie Elvira – sammelte die Eier ein und versorgte die Hennen und den Hahn mit Wasser und einer Handvoll Körner.
Dem Wagen folgten die Kranken mit den Nonnen. Zwei der Patienten konnten mithilfe von Krücken auf eigenen Beinen laufen. Die drei übrigen waren zu schwach, und lagen auf zusammengezimmerten Bohlenbrettern, die drei Maulesel hinter sich herzogen. Den Schluss bildete die jüngste der Schwestern, die zwei schwer beladene Maulesel an Stricken führte und mit ständigen Befehlen zum Weitergehen bewegen musste. Auf dem Rücken des einen Tieres befand sich ein Gestell, auf dem die Zelte der Nonnen, ihre Decken und Wechselkleidung, Verbandsmaterial und die Pfannen und Töpfe des Lagers angeschnallt waren. Das andere trug auf jeder Seite ein Wasserfass und den Proviant, der gerade vornehmlich aus ein paar Säcken Hirse bestand. Dazu etwas Holz für das nächste Feuer.
Die Sonne stand schon hoch, als die junge Schwester Franziska zu sich rief und sie bat, die Maulesel kurz zu übernehmen. Sie verschwand hinter einen Busch und erledigte ihr Geschäft. Dann kam sie ihnen nachgelaufen.
»Danke!«, sagte sie, als sie den Rückstand wieder aufgeholt hatte. »Das war dringend! Ich bin Ida.«
Franziska lächelte und gab Ida einen Führstrick zurück. Den des Proviantesels behielt sie.
»Es tut mir leid, dass du deinen Onkel verloren hast«, begann die junge Nonne. Die buschigen, dunkelbraunen Brauen tanzten über ihren schmalen Augen.
»Danke«, sagte Franziska. »Ich kann es immer noch nicht begreifen, dass er nicht mehr da sein soll.«
»Er ist jetzt an einem besseren Ort, wo es keine Anstrengung gibt und kein Leid.«
»Das zu wissen, macht es trotzdem nicht leichter für mich«, sagte Franziska.
»Es ist stets schwer für die, die im Diesseits zurückbleiben, aber bleib’ stark in deinem Glauben, dann wird der Herr dir helfen.«
Sie gingen schweigend weiter.
»Hast du noch Verwandte in der Heimat?«, fragte Ida nach ein paar Minuten.
Franziska schüttelte den Kopf. »Ich hatte nur noch den Onkel. Jetzt bin ich ganz allein auf der Welt.«
»Du kannst als Frau immer in einem Kloster Zuflucht, Lebenssinn und eine Heimat finden«, schlug die junge Nonne vor.
»Ich bin mittellos und nur von niederem Rang. Berühmte Klöster wie das eure nehmen doch hauptsächlich Frauen aus vermögenden Familien auf, wenn ich es recht weiß.«
»Weil so viele Frauen in das Kloster unserer großen Mutter Hildegard wollen. Wir haben weit weniger Platz als Bewerberinnen. Aber es bleiben Hunderte kleinerer Orden.«
Als Franziska nicht antwortete, ergänzte die Nonne: »Oder du findest einen Mann. So hübsch, wie du bist, dürfte es dir nicht allzu schwerfallen, dir einen zu angeln.«
Franziska sah empört zu der Gleichaltrigen. Als sie ihr verstohlenes Grinsen bemerkte, musste sie ebenfalls lächeln. »Um mich werben vornehmlich alte Witwer. Wenn überhaupt.«
Ida musste lachen. Franziska fiel in das Lachen ein, obwohl ihr so kurz nach dem Tod des Onkels gar nicht danach war. Aber es tat gut, sich einen Moment unbeschwert zu fühlen, als spaziere sie mit einer Freundin über eine Sommerwiese.
Franziska war schon den ganzen Vormittag über aufgefallen, dass andere Teile des Kreuzzugs sie überholten. Durch die Langsamkeit der Kranken fielen der Bader und die Nonnen zurück. Jetzt hielten die anderen zur Mittagsrast an. Der Bader allerdings machte keine Anstalten, zur Seite zu fahren, sondern trieb die beiden Mulis einfach weiter. Ohne ein Wort des Protests folgten die Nonnen ihm.
»Machen wir keine Rast?«, fragte Franziska.
»Der Bader und wir haben vom Marschall des Kreuzzugs einen festen Platz im vorderen Zehnten des Trosses zugewiesen bekommen. Diesen einzubehalten, bringt Rochus das Geld ein, das er braucht, um Proviant zu kaufen. Wenn wir zu weit zurückfallen, gibt es nur Ermahnungen statt Geld.«
»Sollen wir deshalb etwa die ganze Mittagszeit durchwandern?«
»Nicht die ganze«, beruhigte Ida sie. »Aber unsere Pausen sind kurz. Wir hetzen immer unserem angewiesenen Platz im Tross hinterher. Dafür haben wir die Maulesel. Die sind stark und ausdauernd wie wir. Wir stehen früher auf als alle, gönnen uns kaum eine Pause und gehen als Letzte schlafen. Wer außer Nonnen tut das gern? Sei froh, dass du das bald nicht mehr machen musst.«
»Und wenn ich doch noch etwas länger bei euch bleiben möchte?«, fragte Franziska aus einer plötzlichen Eingebung heraus.
Ida überlegte und schien zu einem Schluss zu kommen. Sie antwortete: »Frag’ Schwester Ignazia, was sie davon hält. Vielleicht kann sie ein gutes Wort für dich beim Bader einlegen. Aber ob er dich will, weiß der Herr. Rochus ist kein einfacher Mensch.«
