Das Meer so tief - Barbara Schinko - E-Book

Das Meer so tief E-Book

Barbara Schinko

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Beschreibung

Eine falsche Prinzessin Ein riskantes Spiel Ein Rätsel, das den Tod bringt Die Studentin Deirdre wollte bloß ihrer nervigen, verwöhnten Mitbewohnerin eins auswischen, indem sie zu einem Date deren neues Kleid trug. Wer konnte ahnen, dass sie in einem Herrenhaus an der Küste landen würde, und das mit jeder Menge Verrückter, die alle glauben, sie wolle sich hier einen Prinzen angeln? Um nicht ertappt zu werden, fügt sich Deirdre in ihre Rolle. Bald fliegen zwischen ihr und dem sogenannten „Prinzen“ Murrough nicht nur die Fetzen, sondern auch die Funken. Doch für wen spioniert der geheimnisvolle John Fallada? Viel zu spät erkennt Deirdre die Gefahr, in der sie schwebt ... „Die Gänsemagd“ im heutigen Irland: In ihrer spannenden Geschichte über Rebellion, vertauschte Identitäten und ein Spiel, das tödlicher Ernst wird, erzählt Barbara Schinko, wie es der Magd ergeht, die in die Kleider der Prinzessin schlüpft.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

1

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5

6

7

Epilog

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Impressum

Da […] empfand sie heißen Durst und rief ihrer Kammerjungfer: steig ab und schöpfe mir mit meinem Becher, den du aufzuheben hast, Wasser aus dem Bach, ich möchte gern einmal trinken.

„Ei, wenn ihr Durst habt, sprach die Kammerjungfer, so steigt selber ab, legt euch an’s Wasser und trinkt, ich mag eure Magd nicht seyn!“

(aus: Brüder Grimm, Die Gänsemagd in: Kinder- und Hausmärchen Band 2, 1. Auflage 1815)

1

„Warten Sie!“

Was jetzt? Noch ein Bettler, Spendensammler oder Tourist, der sich verlaufen hatte? Wer auch immer es diesmal sein mochte, Deirdre blieb nicht stehen. Ein Unglück jagte heute das nächste. Sie hatte die Schnauze voll! Als wären der abgebrochene Absatz eines ihrer besten Pumps und der Verlust ihres Teilzeitjobs nicht schlimm genug gewesen, hatte sie beim Durchqueren des St-Stephen's-Green-Parks auch noch ein Regenguss überrascht. Soviel dazu, dem Wetterbericht zu vertrauen und ausnahmsweise ihren Schirm zu Hause zu lassen. Als gelernte Dublinerin hätte sie es besser wissen sollen.

Durchnässt bis auf die Haut, den Absatz eines beigen Pumps in der Hand, humpelte sie nun die Reihe georgianischer Backsteinhäuser mit ihren hohen, schmalen Fenstern entlang. Sie erreichte ihr Ziel, eine hellblau gestrichene Haustür zwischen zwei roten, und fummelte gerade mit dem Schlüssel im Schloss, als es hinter ihr wieder tönte: „Warten Sie, Ma'am!“

„Ma'am?“ Empört wirbelte Deirdre herum. Klar wusste sie, dass der brave Dutt, in den sie ihre mahagonifarbene Lockenmähne gezwungen hatte, sie älter machte. Auch der Tweedrock und die graue Bluse dazu wirkten reichlich verknöchert, das war schließlich der Sinn der Sache. Aber trotzdem … „Ich bin noch nicht mal zwanzig!“

Ihr Verfolger starrte sie ratlos an.

Nach einem langen Moment des Schweigens versuchte er es erneut: „Miss?“

Ein Blick in sein Gesicht mit den rehbraunen Augen und den ebenmäßigen, blendend weißen Zähnen genügte für Deirdre. Kein Zweifel, bei dem jungen Mann handelte es sich um genau die Art von Beute, die ihre Mitbewohnerin Dianaimh – gesprochen „Djee-uh-niv“ oder auch „Ihre königliche Hoheit“ – wie Fliegen in ihrem Netz fing.

Das hilflose Opfer von Dianaimhs Begierde fuhr fort: „Ich wollte bloß–“

„Nein!“, fauchte Deirdre, bevor er weitersprechen konnte. „Ich weiß nicht, ob sie heute da ist. Ich weiß nicht, warum sie nicht zurückruft, und ich weiß nicht, wie ihr Terminkalender für die nächsten paar Wochen aussieht, weil ich nämlich nicht ihre verdammte Sekretärin bin!“

Er wich einen Schritt zurück. Von ihrem Ausbruch scheinbar völlig überrumpelt hielt er ihr einen Kleidersack hin. „… Okay? Ich habe Ihre Lieferung hier, Miss.“

O Mann. Der Regenguss musste ihr wohl das Gehirn durchweicht haben. Erst jetzt erkannte Deirdre den jungen Manager der Kleiderreinigung ein paar Straßen weiter. Die soweit sie wusste auch keine Hauszustellungen machte, aber für Dianaimh galten natürlich andere Gesetze als für den Rest der Welt.

Sie riss dem Mann den Kleidersack aus der Hand, murmelte etwas, das mit viel gutem Willen als Entschuldigung durchgehen mochte, und hastete ins Haus. Ein Windstoß knallte die Tür hinter ihr zu, so dass die Glasscheiben des halbrunden Oberlichts klirrten. Deirdre jonglierte mit ihrem Schlüssel, dem abgebrochenen Absatz und dem Kleidersack und schaffte es irgendwie, die erste Wohnungstür rechts im Flur zu öffnen.

Völlig ausgelaugt warf sie Schlüssel und Absatz in das Kristallglasschälchen auf dem Schuhschrank, das als Ablage diente, streifte ihre ruinierten Pumps ab und stolperte in Strümpfen in die Küche. Dort hängte sie den Kleidersack erst mal an den Griff des Gefrierfachs über dem Kühlschrank und plumpste erschöpft auf einen der drei Stühle.

Maureen, die beim Herd stand, musterte sie spöttisch. „Du machst ja ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.“

„Sehr witzig.“ Deirdres Bluse klebte an der Stuhllehne. Ihr Rock war klatschnass, und die Feuchtigkeit drang allmählich durch ihr Höschen.

Maureen schien etwas hinzufügen zu wollen, vermutlich: „Du wirst dir in diesen Klamotten noch den Tod holen“ oder sonst irgendwas Mütterliches in der Art, doch sie klappte den Mund wieder zu und verkniff sich jede weitere Bemerkung.

Gerade das verlieh Deirdre die Kraft, sich zu erheben. Maureen war nun mal nicht ihre Mum. Sie, Deirdre, war neunzehn, studierte hunderte Kilometer von daheim entfernt an einem Dubliner College und hatte ihr Leben im Griff. So wenig es im Moment auch danach aussehen musste.

Also wankte sie in ihr Kämmerchen nebenan und zog sich um. Die nasse Bluse kam auf den Kleiderbügel, der vom Lampenschirm baumelte. Der Tweedrock durfte über der Lehne des Drehstuhls vor dem Schreibtisch trocknen. Eine Notlösung, denn Platz für einen Wäscheständer gab es nicht. Deirdres Zimmer war der kleinste Raum der Wohnung, sogar kleiner als das Bad. Sie und Maureen pflegten Witze darüber zu reißen, dass in ihm bestimmt früher ein Dutzend Dienstboten von Dianaimhs Familie wie Sardinen übereinander gehaust hatten. Dianaimh selbst verfügte natürlich über ein gigantisches Schlafzimmer mit einem ebenso gigantischen privaten Bad im ersten Stock.

In Leggings, Wollsocken und ihrem kuscheligen, wenn auch schon reichlich verwaschenen College-Sweater trottete Deirdre zurück in die Küche. Ein intensiver Geruch nach Fisch und gerösteten Zwiebeln entströmte nun Maureens Pfanne. Wenn das frisch gereinigte Kleid den annähme, würde Dianaimh ihre beiden Mitbewohnerinnen garantiert ermorden, aber das war Deirdre in diesem Moment ziemlich egal. Sie sank auf den Stuhl.

Maureen bedachte sie mit einem mitleidigen Blick. „Alles okay?“

Deirdres Nicken und ihr Lächeln waren purer antrainierter Reflex, ein Souvenir aus ihrem Teilzeitjob in der Boutique. Sie riss sich gerade noch zusammen, bevor sie auch noch „Danke, alles bestens“ murmeln konnte.

„Ich bin gefeuert worden“, gestand sie Maureen stattdessen.

„Autsch.“ Maureen schnitt eine Grimasse.

Fast wünschte sich Deirdre, ihre Mitbewohnerin wäre bei dem ganzen Theater dabei gewesen. Als Mrs Burke, die ältliche Besitzerin der Schal- und Handtaschenboutique, sie „für ein kurzes Gespräch“ in ihr Büro beordert hatte, hatte sie jedenfalls auf bessere Neuigkeiten gehofft – vielleicht sogar auf die seit Ewigkeiten im Raum stehende Aufstockung ihrer Zehnstundenwoche auf zwölf oder fünfzehn Stunden. Angefangen hatte das Gespräch ja auch ganz okay. Die Chefin hatte ihr sogar Tee in einer der guten Tassen serviert, die sie normalerweise nur für die Kundinnen bereithielt. Und ihr dann höflich, aber bestimmt mitgeteilt, sie könne Deirdre leider nicht länger beschäftigen. Deirdre wäre schlicht und einfach zu jung. Man bräuchte jemanden im Verkaufsraum, mit dem sich die wohlhabende, zumeist betagte Kundschaft besser identifizierte.

Jemand „königlicheren“, hatte Mrs Burke allen Ernstes gesagt und Deirdre über den Rand ihrer Tasse angelächelt. „Sie, meine liebe Miss Bowman, haben zwar das Aussehen, aber noch nicht ganz das Auftreten dafür.“

Um ein Haar hätte Deirdre sie angefaucht, sie solle doch selbst mal ausprobieren, wie königlich ihr Auftreten bei einem Lohn von nicht mal zehn Euro die Stunde noch wäre. Sie hätte es vermutlich tun sollen, ein Gefühlsausbruch wie dieser hätte die Sache auch nicht mehr schlimmer gemacht. Hatte sich ernsthaft eine der alten Schnepfen über ihre Jugend beschwert? Die meisten Kundinnen mochten Deirdre. Es gab sogar Damen, die morgens regelmäßig nur mal rasch in den Laden kamen, um sich von Deirdre ihre Schals binden zu lassen. Deirdre war die verdammte Königin des Schalbindens!

Maureen zog die Pfanne vom Herd. „Hast du Hunger?“, fragte sie beiläufig, woraus Deirdre schloss, dass sie ziemlich erbärmlich aussehen musste. Maureen verteidigte ihr selbst gekochtes Essen normalerweise wie ein Pitbull seinen leckeren, stinkenden Hundeknochen.

Sie schüttelte den Kopf. Trotzdem holte Maureen ohne noch mal zu fragen einen zweiten Teller aus dem Schrank. Wenigstens bot sie einer Vegetarierin nichts von ihrem Lachs an, sondern stellte nur eine Portion Reis und Gemüse vor Deirdre hin und drückte ihr eine Gabel in die Hand. „Da. Iss.“

Trübsinnig spießte Deirdre eine Erbse auf. Sie hatte sich erst vorhin zum Lunch ein Tofusandwich aus der Feinkostabteilung im Supermarkt und dazu einen frisch gepressten Orangensaft gegönnt. Acht Euro, von denen sie sich nun wünschte, sie gespart zu haben.

Maureen setzte sich zu ihr. „Willst du hören, wie Ihre königliche Hoheit vor ein paar Tagen mal wieder den Vogel abgeschossen hat?“

Sie deutete Deirdres resigniertes Schweigen einfach als Ermutigung und redete weiter: „Am Dienstag, du warst noch in der Uni, habe ich mir ein Fischfilet gebraten.“ Sie wies auf ihren Teller. „Und mir dabei ein bisschen Fett aufs T-Shirt gespritzt, also bin ich gegangen und habe mich umgezogen. Nach gerade mal fünf Minuten bin ich zurückgekommen. Sitzt doch glatt Ihre königliche Hoheit beim Tisch und futtert meinen Lachs!

Und ich: ‚Klaust du gerade mein Essen?‘

Und sie guckt mich an und fragt: ‚Äh, wieso, wolltest du denn was davon?‘“ Maureen war echt gut darin, Dianaimhs verträumte, stets ein bisschen abwesend klingende Stimme nachzuahmen.

„Ich meine, ernsthaft?“, schloss sie. „Als hätte ich den Lachs für sie gekauft und gebraten! Als wäre ich ihre verdammte Köchin!“

Deirdre raffte sich immerhin dazu auf, einzuwerfen: „Wenigstens glaubt sie nicht, du wärst ihr Zimmermädchen! Ich musste gestern wegen der Ratenzahlung für die Stromrechnung zu ihr rauf. Da saß sie auf der Couch, und am Boden, gerade vor ihren Füßen, lag einer ihrer BHs. Und sie“, Deirdre wedelte hochmütig mit einer blassen Hand. „‚Ach, sei ein Schatz, heb das für mich auf und tu es in die Wäschetonne.‘ Sie hätte sich bloß danach bücken müssen!“

Maureen schien diese Anekdote nicht im Geringsten zu überraschen.

„Und ich noch süffisant: ‚Schmeckt dir mein Lachs?‘“, erzählte sie weiter. „Und sie darauf allen Ernstes: ‚Du hast ihn akzeptabel zubereitet, aber das Filet ist leider von minderer Qualität.‘ Und dann befiehlt sie mir glatt, ich solle nächstes Mal lieber zum Fischmarkt draußen in Dalkey fahren. Die spinnt doch!“

„Tut sie“, stimmte Deirdre von ganzem Herzen zu. Zumindest seit sie selbst eingezogen war und vermutlich schon weitaus länger führte Maureen mit Dianaihm einen ständigen Kleinkrieg um ihr Essen. Auch Deirdre blieb nicht verschont. Ihr einziger Trost bestand darin, dass Dianaimh vegetarische Gerichte wie die Pest hasste und somit wenigstens Deirdres Tofu niemals anrührte.

Leider traf das nicht auf den Rest ihrer Küchenvorräte zu. Der einzige kleine kulinarische Luxus, den sich Deirdre in ihrem Studentenleben leistete, war das himmlische Gewürz aus einem arabischen Laden nahe der Boutique. Es kostete unverschämt viel, mehr als zehn Euro das Döschen, und sie tat ihr Möglichstes, um damit lange auszukommen. Dianaimh dagegen? Schüttete Deirdres mühsam aufgesparte Körnchen großzügig über ihre Trüffel-Pasta, beschwerte sich dann über den „komischen“ Geschmack und ließ die Portion fast unberührt stehen.

Maureen ließ das Besteck sinken und musterte sie abwägend. „Was wirst du jetzt tun? Um an Kohle zu kommen, meine ich.“

„Weiß nicht.“ Deirdre hatte keine hochtrabenden Pläne – nicht so wie Maureen, die neben ihrer Gastronomie-Ausbildung abends kellnerte, fast jedes Wochenende irgendwo als Barkeeperin arbeitete und noch dazu ehrenamtlich in einer Suppenküche aushalf, um so viele Tipps und Tricks wie sie nur konnte für ihr späteres eigenes Restaurant aufzuschnappen. Für sie als Journalismus-Studentin standen die Aussichten auf ein bezahltes Praktikum ungefähr gleich hoch wie die auf einen Lotteriegewinn, und auch die Hoffnung, sich das Studium mit einem fachspezifischen Nebenjob zu finanzieren, hatte sie längst aufgegeben. Mrs Burkes Boutique lag schlicht und einfach in bequemer Gehweite der Wohnung. Und es war angenehmer gewesen, reiche Damen zu bedienen, die sie „mein Liebes“ nannten, und den gelegentlichen Spinner, der ihre Wange getätschelt hatte, als beim Kellnern in irgendeinem Studentenpub mit Bier überschüttet zu werden.

Maureen wies auf den Kleidersack. „Bring ihr doch das rauf und frag sie dabei gleich, ob sie dich als ihr Zimmermädchen anstellt. Wenn sie dich ohnehin schon dafür hält, kann sie dich auch bezahlen.“

Deirdre schnaubte. „Ganz ehrlich? Lieber verhungere ich auf der Straße.“

Noch während sie sprach, fiel ihr plötzlich wieder ein, was der Manager der Kleiderreinigung gesagt hatte: „Ich habe Ihre Lieferung hier, Miss.“ Ihre Lieferung. Sie hatte vorhin nicht groß darüber nachgedacht, aber er musste sie für Dianaimh gehalten haben. Kein Wunder, sie sahen einander ja auch verblüffend ähnlich, fast wie Schwestern. Auf den ersten Blick war der einzige Unterschied zwischen ihnen beiden das dunklere Mahagonirot von Deirdres verglichen mit dem hellen Erdbeerblond von Dianaimhs Haaren.

Sehr zu Dianaimhs Missfallen! Gleich am Tag, nachdem Deirdre hier eingezogen war, hatte ihr Dianaimh eine Liste mit Maßnahmen in die Hand gedrückt, um jegliche Verwechslungsgefahr zu verringern. Ganz oben hatte gestanden, Deirdre müsse ihren Kindheitsspitznamen „Dee“ ablegen, weil dieser allzu sehr nach Dianaimhs eigenem „Djee“ klang. Punkt zwei: Deirdre sollte ihre Locken noch dunkler, am besten gleich braun oder schwarz färben. Bisher hatte sie sich mit dem Hinweis auf chronischen Geldmangel erfolgreich vor dem Friseurbesuch gedrückt. Auch dank Maureens Hilfe; ihre schlaue Mitbewohnerin hatte Dianaimh listig darauf hingewiesen, es wäre doch wohl peinlich, wenn sich Deirdre die Haare selbst färben und die Nachbarn ihre verpfuschte Frisur dann für Dianaimhs halten würden.

Ohnehin hätte Deirdre liebend gern gewusst, was die Nachbarn glaubten: dass Dianaimh derzeit ein Doppelleben führte, heute die erdbeerblonde Tochter aus gutem Hause und dann morgen wieder die am Hungertuch nagende Journalismusstudentin spielte?

Die Holztreppe draußen knarzte. Maureen verzog das Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen. Was nur eines bedeuten konnte, und tatsächlich – schon im nächsten Moment schlenderte Dianaimh in die Küche. Sie war in eines ihrer legeren Outfits gekleidet: beige Yoga-Leggings, ein cremeweiß schimmerndes Satintop und goldene Ballerinas. Alles zusammen hatte vermutlich mehr gekostet, als Deirdres Monatsmiete betrug, und da waren die Diamantohrstecker oder der echte Goldschmuck um Hals und Arme noch längst nicht inbegriffen.

Nur mit viel Mühe bezwang Deirdre ihre Eifersucht, was Dianaimhs Luxusleben anging. „Da drüben hängt ein Kleid von dir“, stieß sie hervor.

Dianaimhs Blick schweifte zu dem Kleidersack. Dann zurück zu Deirdre. „Trag es mir nachher rauf“, befahl sie und schlenderte zu einem der Schränke, öffnete ihn und schloss ihn wieder, als hätte sie sich nur versichern wollen, ob irgendein diensteifriger Hauself seit gestern Nachmittag das Knabberzeug darin nachgefüllt hatte. O ja, Deirdre wusste genau, auf wessen Konto die fehlenden Kräcker-Packungen gingen!

Maureen wandte sich ihr zu. „Kannst du das glauben?“, besagte der Ausdruck auf ihrem Gesicht.

Auf dem Weg zurück zur Tür blieb Dianaimh stehen. „Wann bekomme ich die achtzig Euro für die Stromrate?“ Ein vorwurfsvoller Unterton schwang in ihrer Stimme mit.

Gute Frage. Vor allem angesichts von Deirdres heutiger Pechsträhne. Sollte sie Dianaimh bitten, ihr Aufschub zu gewähren? Womöglich würde diese dafür Zinsen verlangen, und zwar zweifellos mehr als jede Bank.

Während Deirdre noch mit sich rang, antwortete Maureen schon an ihrer Stelle: „Deirdre ist heute gefeuert worden. Und was willst du mit achtzig Euro? Pfeif doch drauf. Kauf dir einfach mal ein Paar Strümpfe weniger und schon hast du das Geld wieder drinnen. “

Dianaimh hob eine Braue. Ganz sicher wog Deirdres ruhiger Schlaf für sie nicht annähernd so schwer wie ein weiteres Paar Strümpfe für ihren überquellenden Schrank. Von ihr so etwas wie Mitleid zu erwarten war zwecklos, und Deirdre schluckte ihren Stolz. „Gib mir bis nächste Woche“, bat sie. „Ich beschaffe das Geld, okay?“ Irgendwie.

Für einen langen Moment starrte Dianaimh sie einfach nur an, als wäre ihr völlig schleierhaft, warum Deirdre die achtzig Euro nicht gleich hier und jetzt aus der Luft herbeihexen könne. Dann zuckte sie die Schultern und schlenderte so verträumt, wie sie gekommen war, aus der Küche.

Als sie weg war, stieß Maureen einen tiefen, genervten Seufzer aus. Deirdres Blick fiel auf den Kleidersack, der noch immer an seinem Platz hing. Und sie stellte sich bildlich vor, wie sie zur Schublade trat, sich eines von Maureens Küchenmessern schnappte und damit auf das wasserdichte Material einhackte, bis dessen Inhalt – der zweifellos sehr viel mehr als achtzig Euro gekostet hatte – in Fetzen hing. Statt jedoch ihre Fantasie in die Tat umzusetzen, trat sie wie an unsichtbaren Schnüren gezogen zum Kleidersack und öffnete dessen Reißverschluss.

Ein cremefarbenes Seidenkleid mit dezenter Goldstickerei an den Ärmeln kam zum Vorschein. Es musste brandneu sein – Deirdre konnte sich nicht erinnern, ihre Mitbewohnerin je darin gesehen zu haben. Wohl aber hätte sie geschworen, dass sie selbst noch vor drei oder vier Tagen an genau diesem Teil im Schaufenster einer exklusiven Boutique nahe der Grafton Street vorbeigelaufen war.

„Los, zieh es an“, drängte Maureen sie. Ein gefährliches Glitzern erschien in ihren Augen. „Ihr beide habt doch dieselbe Größe. Ich style dich, und dann hast du wenigstens ein paar geile Bewerbungsfotos für deinen nächsten Job.

---ENDE DER LESEPROBE---