Die Nebel von Walhalla (Bd. 2) - Barbara Schinko - E-Book

Die Nebel von Walhalla (Bd. 2) E-Book

Barbara Schinko

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Beschreibung

Alessa, Nell und Feeja sind begeisterte Reiterinnen – und sie hüten ein ganz besonderes Geheimnis: Ihre Pferde stammen aus der Welt der nordischen Götter Nell fühlt sich frei wie der Wind, sobald sie mit Blitz unterwegs ist. Sie liebt ihren sagenhaft schnellen Apfelschimmel – auch wenn sie es sonst lieber gemütlich angehen lässt. Doch bei dem Abenteuer, das ihnen nun bevorsteht, darf Nell nicht länger zögern: Ein Hengst, der seine Gestalt wandeln kann, wird auf einem düsteren Hof in der Nähe gefangen gehalten. Sollte die Magie dieses Pferdes in die falschen Hände geraten, drohen die schützenden Nebel zwischen Menschen-, Götter- und Unterwelt endgültig zu reißen. Das können allein Nell und ihre Freundinnen vom Team Valkyrie verhindern!

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Seitenzahl: 269

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eISBN 978-3-649-64639-6

© 2023 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch

auszugsweise

Text: Barbara Schinko

Umschlagillustration: Tobias Goldschalt

Umschlaggestaltung: Frauke Maydorn

Lektorat: Sara Falke

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 9783-649-64165-0.

INHALT

PROLOG

EINE NEUE MISSION?

DER HÖLLHOF

MISSION »RETTET MASKERADE!«

AUFGESESSEN, VALKYRIES!

WALKÜRENPFERD SUCHT …

EIN UNERWARTETES GESCHENK

FEINDE AUF DEM HOF

WO IST NELL?

EIN RITT IM NEBEL

NELL, DIE SPIONIN

DIE UNTERWELT

IM LABYRINTH

HELS HALLE

PROLOG

»Sei still!«, flüsterte Nell und presste selbst die Lippen zusammen. Für ein paar Momente lauschte sie mit hämmerndem Herzen – und lenkte Blitz dann zur Seite, tiefer ins Feld, bis die Maisblätter und Kolben an ihrem Bein, an Blitz’ Bauch und Sattel streiften. Sie duckte sich über den Hals des Apfelschimmels und machte sich so klein wie möglich. Hoffte, dass Blitz’ grau-weiß geflecktes Fell mit dem Nebel verschwimmen würde.

Die Reiter donnerten an ihnen vorbei!

Aber Nell hatte noch nicht einmal aufgeatmet, da ertönte ein »Halt!«. Eines der Wolfspferde wieherte empört.

Das Hufgeräusch kam wieder näher. Und ein Schauder lief durch Nell, als erst ein und dann ein zweiter zotteliger Kopf in der schmalen Aussparung zwischen den Maisfeldern erschien. Die Reiter mochten sie und Blitz zwar nicht sehen, aber die Wolfspferde witterten sie – witterten ihre Beute.

Sich vor ihnen zu verstecken, begriff Nell, war unmöglich. Es gab nur eines, was sie und Blitz tun konnten …

Der Apfelschimmel wartete nicht auf ihre Entscheidung. Er kehrte den Verfolgern das Hinterteil zu. Mit einem Satz, der Nell fast aus dem Sattel geworfen hätte, sprang er vorwärts und galoppierte los.

Immer schneller stürmte er über den gewundenen Pfad, vorbei an hohem Mais und dann Weizen und wieder Mais. Der Boden war feucht und lehmig, uneben und schlüpfrig; hier hatten sich Traktorspuren tief in die Erde gegraben, dort lag ein großer Stein mitten im Weg. All das sah Nell nur im Vorbeifegen.

Über den Hals ihres Pferdes geduckt, vertraute sie auf Blitz’ Trittsicherheit, seinen Fluchtinstinkt und darauf, dass er das tun würde, worin er unschlagbar war: rennen.

EINE NEUE MISSION?

Meine pferdeverrückte Tochter!‹«, las Nell Arbinger laut vor und grinste über Mams Anrede. »›Ich freue mich, dass es dir auf dem neuen Reiterhof so gut gefällt und du auch gleich Freunde gefunden hast.‹«

Sie sah vom Handy auf. »Damit bist du gemeint«, informierte sie Blitz, ihren Apfelschimmel, der auf der anderen Seite des Koppelzauns stand und seinen zotteligen Kopf zwischen den Stangen durchsteckte. Er machte die Oberlippe lang und versuchte, ihr Handy wie ein Leckerli zu haschen.

Das wäre ein perfekter Schnappschuss gewesen. Doch um ihn zu knipsen, hätte Nell neben dem Handy noch ihre Kamera gebraucht. Und schon war der Moment wieder vorbei.

»Willst du meiner Mam Hallo sagen?« Sie hielt das Handy auf Armeslänge von sich weg und schoss ein paar Selfies von sich und ihrem geliebten Pferd vor dem Hintergrund der nebeligen Koppel. Dann klickte sie sich durch die Fotos. Mist, mal wieder zu langsam gewesen! Drei der Bilder waren verschwommen. Auf dem vierten hatte Blitz den Kopf so weit in die andere Richtung gedreht, dass man zwischen den Zaunstangen bloß noch seinen Hals und seine Mähne sah.

Nun guckte er sie wieder an und schlackerte mit den Ohren. »Keine Paparazzi, bitte!«, hieß das wohl.

Seufzend ließ Nell das Handy sinken. Sie kannte Mams Nachricht ohnehin längst in- und auswendig. Trotzdem tat es gut, sich ihre Worte immer wieder mal durchzulesen. Die liebevollen Zeilen waren schließlich das Einzige, was sie derzeit von ihrer Mutter hatte.

O Mann. Wie dramatisch klang das denn? Sogleich schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Man konnte meinen, hier stünde ihre Cousine Alessa! Dabei sagten alle immer, dass Nell die Unaufgeregte von ihnen beiden wäre. Die Ruhe in Person, pflegte Onkel Johan es auszudrücken. Und Mam befand sich ja auch nicht im Krankenhaus, im Gefängnis oder gar auf der Flucht. Sie trampte bloß als Naturfotografin durch Skandinavien und tat dabei ihr Bestes, mit ihrer Tochter in Kontakt zu bleiben. Auch wenn sie ab und zu kein Internet hatte, nicht mal genügend Strom für das Aufladen aller ihrer Kamera-Akkus. Schon im Oktober würde sie zurück nach Deutschland fliegen und, falls kein neuer Auftrag für irgendein Reisemagazin dazwischenkäme, bis Weihnachten bleiben. Es war jetzt Ende August. Die paar Wochen hältst du wohl durch, ermahnte sich Nell streng.

Sie streichelte Blitz’ grau gefleckten Hals, kraulte seine Mähne und lachte, als ihr der Apfelschimmel dafür ins Gesicht prustete. Was für ein Glück, dass es ihn gab! Und die Geschwister Feeja und Luca Gunnar und deren jung gebliebene Oma Hilde, die Besitzerin des Speerhofs.

Und natürlich Alessa. Okay, ihre Cousine zählte als Freundin nicht wirklich. Sie war mehr so was wie eine Schwester, vor allem seit Nell bei Tante Inga und Onkel Johan, Alessas Eltern, wohnte. Trotzdem: Alessa und Nell verstanden sich oft blind. Und sie teilten sich sogar das große Geheimnis in ihrem Leben. Ein Geheimnis, von dem weder Nells Mam noch sonst jemand erfahren durfte: Team Valkyrie.

Gedankenverloren ließ Nell ihren Blick über die Koppel schweifen. Der Augusthimmel war bedeckt, die Sonne bloß ein schwacher Schimmer hinter dichten Wolken. Vom Ende der Wiese stiegen dunstige, weiße Schwaden auf, sodass Nell nicht mal sehen konnte, ob dort gerade ein Pferd stand. Die alten Leute aus dem Dorf mochten ja denken, die Herbstnebel kämen in diesem Jahr eben früher. Doch die Valkyries wussten es besser.

Diese weißen Schwaden, die wie ein dünner Spitzenvorhang in der Luft hingen, waren die Schleier der Welt. Denn es gab mehr Welten als nur jene der Menschen: Es gab die Götterwelt, aus der die allerersten Walküren und ihre Pferde gekommen waren. Und die Unterwelt mit ihren Monstern. Die Nebelschleier bildeten die Grenze zwischen ihnen.

Eine Grenze, die dünn und durchlässig geworden war. Nells Blick blieb am Unterstand nahe dem hinteren Weidezaun hängen. Lauerte dort neben der Tränke ein zum Sprung geducktes Tier?

Sie blinzelte und der Umriss verschwand. Es musste wohl doch bloß ein Schatten gewesen sein und nicht etwa Fenrir, der Wolf, so groß wie ein Pferd, dem Alessa im Wald begegnet war.

Apropos Alessa. Wo steckte sie nur? Bald würde die Reitstunde anfangen. Nell guckte aufs Handy. Dabei fiel ihr schlagartig ein, dass der Unterricht heute eine halbe Stunde früher begann als sonst. Na toll! Und sie stand sich hier die Beine in den Bauch, während Lessa und Fee bestimmt längst ihre Pferde geholt hatten und mit Putzen, Satteln und Aufzäumen fertig waren.

Mit einem resignierten Seufzer öffnete Nell das Weidetor. Blitz mochte ja das schnellste Rennpferd der Welt sein. Bloß änderte das leider nichts daran, dass er und sie immer als Allerletzte zur Reitstunde aufkreuzten.

»Wo warst du?«, zischte Alessa auch prompt zu ihr rüber, kaum dass Nell mit Blitz am Halfterstrick den Putzstand vor dem Stall erreichte. Alessas kastanienbraune Stute Courage schüttelte zur Begrüßung ihre pechschwarze Mähne.

»Bei der Koppel«, raunte Nell zurück. »Habe komplett die Zeit vergessen, sorry.« Sie band Blitz an.

Auf der anderen Seite drehte Fees Fuchsstute Fantasy sich so weit herum, wie ihr eigener Strick es zuließ, und beschnupperte ihren Weidegefährten Blitz neugierig. Fee rollte die Augen in ihre oder wohl eher in Nells Richtung, ehe sie den Sattel auf den Rücken ihres Pferdes hob.

Neben Fantasy standen der braune Wallach Saturn und der hübsche und temperamentvolle Arabermischling Joleen, von Hilde liebevoll »unser Wüstenprinzesschen« genannt. Ben aus dem Dorf und seine Schwester, die Nell nur vom Sehen kannte, machten die beiden für den Unterricht fertig. Gerade half Ben seiner Schwester mit Joleens Sattel. Nell hinkte mal wieder hinterher. Aber daran war sie gewöhnt.

Sie bückte sich nach der Putzkiste, die jemand – Fee? – netterweise schon für sie aus der Sattelkammer geholt hatte, und entnahm ihr den knallig pinken Gummistriegel. Mit kreisenden Bewegungen bürstete und massierte sie Blitz an den stark bemuskelten Stellen seines Körpers. Hals, Schulter, Rücken, Hinterhand, dazwischen den Striegel auf dem Boden ausklopfen. Der Apfelschimmel ließ entspannt die Ohren hängen, als sie zur Wurzelbürste griff, damit den verklebten Schlamm von seinen Beinen entfernte und diese auch gleich sorgfältig nach Zecken absuchte.

Dann die Kardätsche. Nell konzentriert sich besonders auf Gurt- und Sattellage, jedes Körnchen Schmutz dort konnte scheuern. Geschafft! Jetzt noch die Hufe auskratzen. Die anderen hatten ihre Vorbereitungen längst beendet. Nell hörte sie miteinander flüstern, doch sie ließ sich Zeit. Hilde war noch nicht mal hier.

Kaum fasste Nell diesen Gedanken, hetzte die Reitlehrerin über den Hof auf sie zu. »Seid ihr fertig?« Sie klang gestresst, ein wenig atemlos, und rieb sich mit gequälter Miene den Rücken.

»Ja, klar!« – »Sind wir.« – »Und ob!«, tönte es von mehreren Seiten.

Eine Jungenstimme ergänzte: »Alle bis auf Nell. Die macht Überstunden.« Nell konnte das Grinsen hinter den Worten förmlich hören.

Sie setzte Blitz’ linken Vorderhuf behutsam auf den Boden und richtete sich dann erst auf. Am letzten Putzstand wartete geduldig Havanna, die braune Hannoveraner Stute, neben ihrem Reitschüler. Von ihm sah Nell nur den Rücken, doch das genügte. Sogar an diesem trüben Tag leuchtete Joel Hofrichters blonder Schopf wie eine Haflingermähne.

Er musste ihren Blick spüren, denn er wandte sich um. »Brauchst du Hilfe?«, fragte er, grinste und zeigte ihr dabei seine blendend weißen Zähne. Den Reithelm lässig unter den Arm geklemmt, schlenderte er näher. Wahrscheinlich kam er gerade vom Friseur. Seine Haare wirken noch heller als sonst und waren an den Seiten frisch ausrasiert, die Stirnfransen dagegen mit Spray oder Gel hochgestellt.

»Du hast noch nicht mal deine Ausrüstung draußen. Und so ein Sattel ist ganz schön schwer. Wenn du mich nett bittest, helfe ich dir gerne, ihn zu trag…«

Er unterbrach sich und sprang rückwärts, als sich Fee zwischen ihm und Nell durchdrängte. Sie hatte Blitz’ Sattel in den Armen, setzte ihn auf dem Sattelbock des Putzstands ab und hängte das Zaumzeug an den Trensenhalter – alles, ohne ein Wort zu sagen oder Joel auch nur einen Blick zu schenken.

Bens Schwester kicherte. »Sieht aus, als wärst du ausgebootet worden«, ätzte Ben. »War wohl nichts mit Den-großen-Macker-Spielen.«

Joels Wangen färbten sich pink. Beleidigt wandte er sich ab und stapfte zu seinem Pferd zurück.

»Ist doch kein Ding«, wehrte Fee ab, als sich Nell bei ihr bedankte. »Ich bin fertig, und warum sollte der Rest von uns bloß doof rumstehen, wenn du Hilfe brauchst?«

Hilde warf ein: »Feeja, gehst du bitte schon mal mit der Gruppe auf den Platz? Nell und ich kommen nach.«

»Klar, Oma Hilde.« Fee griff nach Fantasys Zügeln. Und das, dachte Nell, war der Unterschied zwischen ihrer Anführerin und Joel: Fee sah, was zu tun war, und tat es. Joel sah es auch, doch er quasselte bloß darüber, dass er ja helfen könnte, wenn ihm danach wäre. Angeber!

Die anderen schlossen sich Fee an und führten ihre Pferde zum Platz. Joel war der Letzte.

»Joel, Helm!«, ermahnte ihn Hilde streng.

Verdutzt fuhr er herum. Erst dann schien er sich zu erinnern, dass er seine vorgeschriebene Kopfbedeckung noch unter dem Arm trug. Seine Wangen liefen umso röter an. Er rammte sich den Helm geradezu aufs Haar und schloss mit Fingern, die vor Aufregung zitterten, den Kinnriemen.

Blitz schnaubte belustigt. »Finde ich auch«, stimmte Nell zu und guckte Joel nach, als der sich beeilte, mit Havanna zu Fees Gruppe aufzuschließen. »Ein Reiterhof ist kein Laufsteg. Das weiß sogar Alessa. Glaubt er echt, wir wären hier, um seine neue Frisur zu bewundern?«

Hilde räusperte sich, und ihr wurde klar, dass sie mal wieder trödelte. »Tut mir leid«, versicherte sie ihrer Reitlehrerin – ebenso ihrem Pferd, das bereits ungeduldig mit den Hufen scharrte. Sie verstaute den Hufkratzer, hob den Sattel samt der Decke vom Bock und nahm sich wie immer vor, beim nächsten Mal früher zur Reitstunde zu kommen.

Hilde überzeugte sich, dass der Sattelgurt fest genug gezogen war. Dann eilte auch sie rüber zum Platz. Nell blieb zurück.

Sollte sie gleich aufsitzen? Warum nicht? Sie war groß und kräftig und Blitz gerade klein genug, damit sie ohne jede Hilfe in den Sattel kam.

Und kaum saß sie oben, verflog ihre Trägheit, ihr »Mach mal langsam«-Gefühl. Bei den Pferden der Walküren handelte es sich eben um keine gewöhnlichen Pferde! Wenn Nell die Ruhe in Person war, war Blitz die Unruhe. Seine Ungeduld und sein Eifer stürmten auf sie ein.

Der Apfelschimmel wollte nur eines: Er wollte rennen.

Unwillig riss er am Zügel, als ihn Nell zum Platz lenkte. Der Platz war groß, aber nicht groß genug. Die perfekten Galoppierstrecken lagen woanders. Zum Beispiel auf dem Reitweg, der gleich hinter dem Bauernhaus begann. Einmal im gestreckten Galopp zur alten Linde und sie könnten zurück sein, bevor Hilde oder sonst jemand merken würde, dass sie fehlten!

Was natürlich nicht infrage kam. Erstens haben wir Reitstunde, ermahnte Nell ihr Pferd. Zweitens bist du noch nicht mal aufgewärmt. Und drittens durften Joel und die anderen Schüler aus dem Dorf nichts von der unglaublichen Schnelligkeit des Apfelschimmels erfahren.

Ein andermal, versprach sie Blitz daher und verstärkte ihre Hilfen, bis er zum Platz ging. Hilde erwartete sie schon. Ob sie ihnen beiden wohl an den Gesichtern ablas, wie gerne Blitz abgehauen wäre? Insgeheim war Nell stolz, dass ihr gelungen war, ihn zu bändigen. So sollte es im Team Valkyrie auch sein: Reiterinnen und Pferde ergänzten sich mit ihren Stärken und halfen einander über ihre Schwächen hinweg. Die ängstliche Alessa wurde auf Courages Rücken mutig – und hielt zugleich den Übermut ihrer Stute im Zaum. Und die nüchterne, pflichtbewusste Fee lenkte mit ihrer Konzentration Fantasys Neugier und Verspieltheit. Im Gegenzug half ihr Fantasy, kraft ihrer Gedanken die Umgebung zu verändern.

Jetzt aber ließ Hilde sich nicht anmerken, ob sie Nells Leistung bemerkt hatte. Sie befahl ihr bloß, sich und ihr Pferd nach ein paar Aufwärmrunden in der Abteilung zwischen Alessa und Joel einzureihen.

Joel zügelte Havanna mit leichter Hand und grinste selbstzufrieden. Die Hannoveraner Stute überragte Blitz um ein gutes Stück, sodass er von ihrem Rücken auf Nell herabsehen konnte.

»Angeber«, murmelte sie. Nur weil sein Pferd erstens riesig und zweitens so geduldig wie ein Engel war, machte ihn das weder größer als Nell noch zu einem besseren Reiter.

Im leichten Trab ritten sie ein paar Figuren. Blitz ging brav und eifrig eine Pferdelänge hinter Courage. Bei ihm waren kein Treiben und kaum Spannung auf dem Zügel nötig. Nells Gedanken schweiften ab. Was Mam wohl gerade knipste? Die letzten Bilder hatte sie Nell von den Lofoten geschickt, einer Inselkette im Nordmeer. Rote Holzhäuser mit schwarzen Dächern, Leuchttürme, Strände und Dünengras, das im Wind wogte. Und – extra für Nell – eine Ponyherde bei Sonnenuntergang in einem kargen Gelände, das nach Moor aussah. Sie hatte erzählt, es gäbe auch Pinguintaucher, Fischadler, zottelige Hochlandrinder mit mächtigen Hörnern und natürlich Wale. Und ein Wikingermuseum. Und dass man die Lofoten die »Inseln der Götter« nannte. Liebend gern hätte Nell sie gefragt, ob dort Nebelschleier wären, hinter denen manchmal eine andere Welt hervorblitzte.

Vielleicht würde Mam sie ja mal mitnehmen. Später. Nach der Schule. Versprochen hatte sie es. Fotografin zu werden war nämlich auch Nells Traum – das oder was mit Pferden, am besten beides. Pferdefotografin. Pferde-Actionfotografin. Das Festhalten der coolsten Bewegungsmomente bei Galopprennen oder Turnieren hätte ihr schon gefallen. Bloß hieß es bei so was nicht trödeln, sondern genau dann auf den Auslöser drücken, wenn der Galopper über die Ziellinie fegte oder ein Springer mit der Hinterhand die Stange runterriss. Dafür wäre sie vermutlich zu langsam. Obwohl sie sich gerade gar nicht langsam fühlte. Aber das lag an Blitz …

Hilde rief ihren Namen. Was denn nun? Nell hatte nicht mal die Schultern hängen lassen! Ach, ein neues Kommando. Sie sollten paarweise nebeneinander reiten. Zuerst Fee und Bens Schwester Rosi, dann Ben und Alessa und zuletzt …

Mit einem blendend weißen Grinsen lenkte Joel seine Stute neben Blitz.

Das gefiel dem Apfelschimmel ganz und gar nicht! In der Abteilung zu reiten war für ihn okay, aber sobald ein anderes Pferd zu ihm aufschloss, musste er diesem unbedingt beweisen, wer der Schnellste war. Er fing an zu drängeln und galoppierte sogar kurz an, bevor ihn Nell wieder in den Trab überleiten konnte.

»Hat deiner heute eine Rakete im Hintern?«, witzelte eine vertraute Stimme neben ihr.

Nell wandte den Kopf. Joel lachte sie an, als sollte sie ihm zu seinem unglaublich genialen Scherz gratulieren. Sie knipste einen gedanklichen Schnappschuss von ihm. Die blonden Stirnfransen unter seinem Helm leuchteten und am Kragen seiner Reitjacke blitzte es neongrün. Marke TOPP-HORSE, was denn sonst? Nicht dass Nell sich für Klamotten interessiert hätte – Hauptsache, ihre waren praktisch und bequem. Sie kannte diese Marke nur, weil die Angeberclique in ihrer alten Reitschule gnadenlos über jeden hergezogen hatte, der sich so was nicht leisten konnte. Oder wollte. Nell verstand echt nicht, warum irgendjemand sechshundert Euro für eine Reitjacke ausgab, bloß damit die dann am Kragen einen neongelben oder -grünen Streifen hatte.

Joel ließ nicht locker: »Glaubst du, Hilde erlaubt uns nachher, ein Wettrennen zu machen?«

»Mein Pferd ist schneller als deines.« Wie um ihre Worte zu bekräftigen, versuchte Blitz erneut anzugaloppieren.

»Vielleicht.« Als Nell wieder zu Joel rübersah, musterte er sie nachdenklich. »Aber ein guter Reiter kann aus jedem Pferd noch was rausholen.« Das war ihm wohl entschlüpft. Seine Wangen färbten sich pink. »Nicht etwa dass ich finde, du reitest schlecht!«, ergänzte er rasch. »Nur …«

Nur eben nicht so gut wie du?, entgegnete sie insgeheim. Typisch Joel! Er dachte wohl, niemand auf der Welt könnte irgendwas besser als er. Und wenn es nur ums Zähneputzen ging.

»Du würdest verlieren«, warnte sie ihn und ließ Blitz ein wenig die Zügel, damit er an Havanna vorbeiziehen konnte. Hilde mochte sie dafür tadeln. Aber wenigstens wäre sie Joel erst mal los.

»Ich bin ein Hofrichter«, rief er ihr halblaut nach. »Wir verlieren nie!«

Der Rest der Stunde erwies sich als Katastrophe. Nell brauchte für gewöhnlich ihre ganze Ruhe und Gelassenheit, um ihr draufgängerisches Pferd im Zaum zu halten. Bloß hatte sie diese Ruhe heute nicht.

Wäre nur Valkyrie-Training gewesen! Dann hätte Blitz mit ihr im Renngalopp um den Platz fegen können, bis Nell wieder gewusst hätte, wie sich Lichtgeschwindigkeit anfühlte. Stattdessen wurde sie andauernd von Hilde ermahnt, ihn gegen seinen Willen in den Trab überzuleiten. Was den Apfelschimmel natürlich tierisch nervte.

Völlig k. o. verließ sie den Platz. Als Joel zu ihr aufschloss und von oben herab auf sie herunterlächelte, warf sie ihm einen giftigen Blick zu.

»Du guckst ja drein, als wollte jemand dein Pferd klauen. Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Ja. Lass mich in Ruhe!«

Sein Gesichtsausdruck verwandelte sich in eine undurchschaubare Maske. Das Lächeln von vorhin war wie ausgelöscht. Nell konnte absolut nicht mehr erkennen, was er dachte.

»Wie du meinst«, erwiderte er kühl und lenkte Havanna an ihr vorbei. Nell knipste einen gedanklichen Schnappschuss seiner Rückenansicht und fragte sich, was das eben gewesen sein sollte. Joel hatte in der Reitstunde alles richtig gemacht und Hilde hatte seinen Sitz über den grünen Klee gelobt. Da brauchte ihn doch nicht zu wundern, dass Nell frustriert war.

»Guck nicht hin«, raunte ihr Fee zu, als Nell am Putzstand zwischen ihr und Alessa gerade damit begonnen hatte, Blitz’ linken Hinterhuf auszukratzen. »Er starrt dich an.«

»Wer?« Nell säuberte erst mal den Huf, ließ ihn sinken und streichelte Blitz’ Bein zum Dank für seine Geduld. »Sag schon, wer?«

Alessa auf ihrer anderen Seite gluckste. »Na, wer wohl? Edelweiß natürlich.«

Edelweiß? Verdutzt wandte Nell den Kopf, doch Hildes Nervensäge von einem Haflinger war nirgendwo zu sehen.

Sie lehnte sich weit vorwärts – und begegnete Joels Blick. Es war komisch: Sobald sie einander anguckten, liefen seine Wangen pink an, und Nell hatte es plötzlich eilig, sich hinter Blitz zu verstecken.

»Warum ›Edelweiß‹?«, zischte sie in Alessas Richtung.

»So nennen ihn alle im Dorf, wusstest du das nicht?«, erwiderte diesmal Fee. »Ich schätze, wegen der Haare.«

»Oder weil er nervt«, fügte Alessa hinzu und bückte sich, um mit der Wurzelbürste über Courages Beine zu streichen, was ihre Stute sichtlich genoss.

Nell öffnete den Mund. Und klappte ihn zu. Warum auch immer war sie drauf und dran gewesen, Joel zu verteidigen. Klar nervte seine Überheblichkeit. Aber wenigstens konnte er reiten.

Was ihn natürlich nicht sympathischer machte. In ihrer alten Reitschule war Seline die beste Springerin und zugleich die Oberzicke gewesen. Vor allem die ängstliche Alessa hatte unter ihr gelitten. Seline hatte sie wegen ihrer lila Reitjacke als »Pflaume« und »Violessa« verspottet und ständig mit dem Finger auf sie gezeigt. Und jetzt fand ausgerechnet Alessa es witzig, dass die Kids aus dem Dorf Joel »Edelweiß« nannten. Nur weil er zu viel Zeit damit verbrachte, seine blonden Haare zu stylen!

Andererseits: War Nell nicht gerade vorhin selbst zu dem Schluss gekommen, dass Joel nervte?

Neben ihr stampfte Blitz auf und verlagerte unruhig sein Gewicht. Nell wandte ihre Aufmerksamkeit wieder seiner Hinterhand zu. Es gab wirklich wichtigere Dinge, über die sie nachdenken konnte, als ausgerechnet Joel.

»Er guckt noch immer«, flüsterte ihr Alessa zu. Sie hielt die Wurzelbürste in der Hand, putzte aber nicht mehr, sondern spähte zwischen Courages Beinen hindurch. Die Stute, die ihre Streicheleinheiten vermisste, schlug ungeduldig mit dem Schweif.

»Wahrscheinlich denkt er, dass ich nicht so gut putze wie er.«

Schweigen folgte Nells Worten. Sie setzte Blitz’ rechten Hinterhuf ab und kraulte ihn. Dann warf sie einen Blick rüber zu Alessa, die ihrerseits dreinsah, als hielte sie Nell für bescheuert.

»Was ist?«

»So guckt er nicht«, sagte Alessa mit großer Bestimmtheit.

»Wie dann?«

»Na, so«, mischte sich Fee ein. Sie seufzte tief und sehnsuchtsvoll und bemühte sich um eine verzückte, schwärmerische Miene.

Alessa kicherte. Es war auch wirklich komisch, diesen Ausdruck auf Fees sonst so nüchternem Gesicht zu sehen. Aber das konnte sie nicht ernst meinen, oder? Joel war ganz bestimmt nicht in Nell verknallt!

»Warum nicht?«, erwiderte Fee. Erst da bemerkte Nell, dass sie ihren Einwand laut ausgesprochen hatte.

Sie griff zur Wurzelbürste. Erstens war Joel nun mal Joel. Er schwärmte für niemanden außer sich selbst. Oder falls doch, dann garantiert nicht für Nell! Alessa war die Hübsche von ihnen, die zierliche Tänzerin mit dem Puppengesicht. Nell hatte den kräftigen Körperbau ihrer Mutter geerbt. Sie trug ihre mausbraunen Haare lieber kurz, weil das praktischer war – und genauso hielt sie es mit ihren Klamotten. Wenn jemand sie damit nicht hübsch genug fand – na und? Sie verschwendete ihre Energie doch nicht darauf, irgendwelchen Jungs zu gefallen.

Wie zum Beweis schlenderte ein solcher Junge pfeifend über den Hof. Alessa errötete. Sie warf die Wurzelbürste in die Putzkiste und kramte in Windeseile ihren kleinen Make-up-Spiegel aus der Tasche der Reithose, die natürlich nagelneu war – schick silbergrau mit Kunstlederbesatz an den Schenkeln. Dabei hatte ihr Tante Inga erst früher in diesem Jahr die beige mit den orangen Taschen gekauft. Nun nahm Nells Cousine hastig den Reithelm ab. Sie löste ihre schwarze Mähne aus dem Pferdeschwanz, schüttelte sie aus und strich sich ein paar sorgfältig ausgewählte Strähnchen hinters Ohr; das Ganze mit Courage als einer Art lebendem Vorhang, während die Schritte und das Pfeifen näher kamen.

»Hallo, Gaul. Wärst du so nett, mir zu sagen, wo deine Reiterin … – Hi, da bist du ja!« Ein schlaksiger Junge mit roten Locken und einem T-Shirt, auf dessen Brust der Controller einer Spielkonsole und die Worte »GAME ON« gedruckt waren, umrundete Courage und blieb stehen.

Luca Gunnar, Fees Bruder, lächelte Alessa an. Der Techniknerd verwaltete die Website des Speerhofs und interessierte sich null für »Gäule«, wie er sie nannte. Sehr wohl aber für die Reiterinnen.

Oder jedenfalls für eine Reiterin.

Einladend wedelte er mit seinem Handy. »Ich habe was echt Schräges gefunden, magst du gucken?«

Alessa eilte zu ihm – vorbei an Courage, die den Kopf schüttelte und schnaubte. Blitz haschte mit der Oberlippe nach Nells Jackenkragen. »Keine Angst«, beruhigte sie ihn. »Ich bleibe. Für mich bist du der einzige Junge, der zählt.«

Sein Prusten klang in etwa so wie: »Das will ich hoffen!«

Hinter ihr fragte Ben: »Würdest du ausnahmsweise unsere Pferde auf die Koppel bringen, Hilde? Wir müssen nämlich los. Unsere Eltern warten mit dem Essen.«

»Habt ihr schon gefegt?«, erwiderte die Reitlehrerin. Bens Schwester bejahte es.

»Die Pferde nehme ich, aber bringt bitte rasch noch das Sattelzeug zurück. Wir haben hier leider keine Heinzelmännchen, die das für uns tun.«

Jemand lachte leise. Es klang wie Joel. Neugierig lehnte sich Nell an Blitz vorbei. Sie sah Ben mit finsterer Miene in Richtung Stall marschieren. Er trug Saturns Sattel in beiden Armen und darauf die Trense. Rosi folgte ihm mit Joleens Ausrüstung. Sie war so klein und zierlich wie Alessa, und Nell wunderte sich ein bisschen, dass Joel bei ihr keine Bemerkung darüber fallen ließ, wie schwer doch so ein Sattel sei.

Bis die Geschwister zurückkamen, hatte sich Hilde schon mit den Pferden auf den Weg zur Koppel gemacht. Kurz vor seinem Fahrrad, das an der Mauer des Reiterstübchens lehnte, hielt Ben inne.

»Was glotzt du, Edelweiß?«, fragte er barsch. »Musst du nicht heim? Willst du hier Wurzeln schlagen?«

Joel guckte drein, als hätte ihn der andere Junge bei irgendwas ertappt, doch er fasste sich schnell. »Ich warte auf Hilde. Falls du nichts dagegen hast«, ergänzte er und schenkte Ben ein überhebliches Lächeln. Diesmal konnte es ihm Nell nicht mal verdenken. Warum hatte Ben ihn so angeblafft? Zu trödeln war kein Verbrechen.

»Ich wette, bei dem zu Hause gibt’s sowieso nichts zu futtern«, lästerte Ben an seine Schwester gewandt. »Außer Schrauben und Nägeln.« Sie kicherte.

Nell wusste, dass Joels Familie mehrere große Baumärkte besaß. Trotzdem fand sie den Witz reichlich blöd und hätte selbst nicht gelacht.

Joels Miene wurde erneut zu einer undurchschaubaren Maske, und Nell begriff, dass Ben mit seiner Bemerkung irgendwie ins Schwarze getroffen haben musste. Gab es bei den Hofrichters tatsächlich nichts zu essen? Schwer zu glauben. Aber was dann …?

Während sie sich darüber den Kopf zerbrach, vollführte Joel eine lässige Handbewegung. »Ich habe keinen Stress«, erwiderte er. »Wenn ich das Mittagessen verpasse, macht mir der Koch jederzeit gerne was extra.«

Kopfschüttelnd wandte sich Nell ab. Na klar kam Joel aus einem Haushalt mit Angestellten. Und na klar musste er das erwähnen, obwohl ihn keiner gefragt hatte. Angeber.

Ben sah aus, als wollte er weiterätzen, doch Rosi zog ihn weg. Nell trug Blitz’ Sattel und Zaumzeug in den Stall. Dann schnappte sie sich ihre Putzkiste und mit der freien Hand auch gleich Alessas, weil ihre Cousine sich gebannt über Lucas Handy beugte und garantiert keine zehn Pferde sie von dort wegbringen würden. Neuerdings verzierte sie all ihre Notizbücher mit vielen silbernen Herzchen und einem geschwungenen Schriftzug: »Lessa+Luca«.

In diesem Augenblick keuchte Alessa verblüfft.

»Da! Hast du das gesehen?« Aufgeregt tippte Luca auf das Display seines Handys. »Das meine ich!«

»Was meinst du?«, warf Fee ein, die inzwischen noch mal den Putzplatz fegte.

Alessa hob den Kopf. Und sagte langsam: »Da hat ein Pferd die Farbe gewechselt.«

Belustigt wandte sich Fee an Luca: »Wenn du einen Tipp willst, Bruderherz – nicht alle Mädchen interessieren sich so wie du für animierten Schrott.«

Alessa schüttelte entschieden den Kopf. »Das war ein echtes Pferd bei einer echten Pferdeschau oder Parade. – Zeig es mir noch mal«, bat sie Luca und lehnte dabei scheinbar ganz unbewusst den Kopf an seine Schulter. Luca hatte natürlich nichts dagegen.

Nell rollte die Augen und ging.

Als sie ohne die Putzkisten zurückkam, beugten sich Alessa und Luca noch immer über das Handy. So weit nichts Ungewöhnliches. Aber Fee hatte zu fegen aufgehört und stand nun bei ihnen. Sie warf Nell einen bedeutsamen Blick zu und diese verspürte plötzlich ein leichtes Prickeln im Bauch. Gab es etwas zu sehen, das die Valkyries betraf? Immerhin war die Spur zu den Pferdedieben damals auch von Luca gekommen.

»Worum geht’s hier?«, fragte eine vertraute, überhebliche Stimme.

Luca sah auf. Er wirkte über Joels Frage verwundert, erwiderte aber freundlich: »Du kannst gerne gucken.«

Joel ließ sich das nicht zweimal sagen. Neugierig eilte er hin, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte so, über Lucas Schulter zu spähen. Nell trat neben ihn. Zu ihrer heimlichen Freude war sie im direkten Vergleich ein oder zwei Zentimeter größer als er. Das Video lief schon: eine verwackelte Handyaufnahme aus einer Halle, in der eine Hengstschau stattfand. Die Hengste trugen weiße Nummernschilder an ihren Halftern oder Zaumzeugen. Gerade trabte ein Rappe mit einer Dreißig durch die Bahn.

Und wurde für den Bruchteil einer Sekunde zu einem kastanienbraunen Pferd mit schwarzer Mähne wie Alessas Courage.

Joel riss verblüfft die Augen auf. »Wie haben sie das hingekriegt?«

»Geil, oder?« Luca grinste, tippte dann aufs Display. »Die Kommentare hier behaupten, es läge an der Hallenbeleuchtung, aber das ist Quatsch. Ich habe es mir gestern Abend Frame für Frame noch mal angeguckt. Das Einzige, was die Farbe verändert, ist der Gaul. Kann man im Video natürlich faken«, gab er zu, »bloß finde ich es dafür wieder zu unspektakulär.« Fordernd blickte er in die Runde. »Ich meine, wenn sich einer schon die Mühe macht, warum nicht gleich ein blaues Pferd oder ein grünes? Die Hälfte von denen, die kommentiert haben, hat den Farbwechsel nicht mal bemerkt!« Er spitzte die Lippen. »Und die hier«, abwesend scrollte er weiter und deutete auf eine und danach eine zweite Wortmeldung, »behaupten sogar, sie wären dort gewesen und das Ganze wäre live passiert. Also, wie das einer geschafft haben soll, weiß ich echt nicht …«

Er unterbrach sich. Nell folgte seinem Blick zu Hilde. Die Reitlehrerin war von der Koppel zurück, stemmte die Hände in die Hüften und musterte vorwurfsvoll ihre versammelten Schüler. An seinem Putzstand machte Blitz den Hals lang, als wollte er am liebsten selbst auf Lucas Handy mitgucken. Courage stampfte, Havanna knabberte am Anbindestrick und Fantasy versuchte gerade, mit den Zähnen einen Striegel aus Joels vergessener Putzkiste zu ziehen.

»Sorry. War meine Schuld«, versicherte Luca seiner Oma unbefangen, während die anderen beschämt zurück zu ihren Pferden eilten. »Ich wollte Alessa unbedingt diese Kreuzung aus Pferd und Chamäleon zeigen.«

Hilde sog scharf die Luft ein. »Erklär mir das bitte.« Ihre Stimme klang seltsam rau und heiser.

»Das Video ist von irgend so ’nem Event, nennt sich Hengsttage«, begann Luca und hielt seiner Oma das Handy hin.

Nell band Blitz los, doch sie beobachtete dabei verstohlen Hilde und sah daher, wie deren Augen groß wurden.

Im nächsten Moment hörte sie neben sich ein unecht klingendes Husten. Sie guckte rüber zu Fee. Das ältere Mädchen nickte stumm, ballte dann noch immer schweigend die rechte Hand zur Faust und legte sie auf die Brust über ihrem Herzen. Ein geheimer Gruß der Valkyries, den ihnen Hilde beigebracht hatte.

Das Prickeln in Nells Bauch wurde stärker. Ganz klar, es ging um eine Mission! Auf der anderen Seite trippelte Alessa nervös von einem Bein aufs andere. Courage stupste sie mit der Nase an. Nells Cousine lehnte sich an sie und schlang die Arme um ihr Pferd, wie um sich von diesem Mut zu holen.

»Aha. Na wenn das alles ist«, drang Hildes raue Stimme zu ihnen rüber. Sie räusperte sich ein paar Mal und fuhr in einem normaleren Ton fort: »Und übrigens dachte ich, du hättest deinem Vater versprochen, mit ihm heute den Keller auszuräumen?«

Gequält verzog Luca das Gesicht, doch er steckte sein Handy weg. »Bis morgen?«, wandte er sich hoffnungsvoll an Alessa. »Falls ich nicht komme, ruf bitte die Polizei. Sie soll nachgucken, ob ich im Keller gefangen gehalten werde und dort zwischen den Einmachgläsern verschimmle.« Er grinste sie an.

Während er in Richtung des Bauernhauses schlenderte, in dem die Gunnars wohnten, wandte sich Hilde forsch an Joel: »Und wir sehen uns nächste Woche. Jetzt aber Abmarsch. Deine Eltern warten sicher schon.«

»Ich muss noch das Putzzeug sortieren und in die Sattelkammer bringen.«

»Lass es hier.«

Joel schien protestieren zu wollen. Doch letztendlich warf er Nell bloß einen langen Blick zu, bevor er zu seinem Fahrrad trottete.

Hilde wartete, bis er außer Hörweite war. Erst dann sprach sie wieder: »Ihr habt alle das Video gesehen?« Sie wartete das mehrfache Nicken ab. »Gut. Dann bringt die Pferde auf die Koppel und wir treffen uns gleich, ihr wisst schon wo.« Mit diesen Worten griff sie sich Joels Putzkiste und marschierte auf den Stall zu.

DER HÖLLHOF