Der Wind so frei - Barbara Schinko - E-Book

Der Wind so frei E-Book

Barbara Schinko

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Beschreibung

Ein Mädchen, das Gänse hütet Eine wunderbare Gabe Drei Tropfen Blut Von klein auf verfügt Aoife über eine besondere Fähigkeit: Sie kann dem Wind befehlen. Gemeinsam mit ihren Adoptiveltern und deren Gänsen lebt sie arm, aber glücklich in Connemara. Als ihr Kindheitsfreund Kevin nach Jahren dorthin zurückkehrt und sie um Hilfe bittet, wird Aoifes Leben völlig durcheinandergewirbelt. Gelingt es ihr, das Geheimnis ihrer Herkunft zu lüften? Ist die junge Burgherrin Fionnuala tatsächlich ihre Schwester? Vor allem aber: Welchen Plan verbirgt Kevin vor ihr? In „Der Wind so frei“ spinnt Barbara Schinko, die Autorin von „Das Meer so tief“, das Märchen von der Gänsemagd vor dem Hintergrund des heutigen Irland weiter. In einer romantischen Geschichte um erste Liebe, Freundschaft, Fremdsein und Verbundenheit setzt nun die Prinzessin alles daran, ihren Platz im Leben zu finden.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

1

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5

6

Epilog

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Impressum

[…] und in dem Feld setzte sie sich wieder auf die Wiese und fing an ihr Haar auszukämmen, und Kürdchen lief und wollte darnach greifen, da sprach sie schnell:

weh’! weh’! Windchen,

nimm dem Kürdchen sein Hütchen

und laß’n sich mit jagen,

bis ich mich geflochten und geschnatzt

und wieder aufgesatzt.

da wehte der Wind und wehte ihm das Hütchen vom Kopf weit weg, daß es nachzulaufen hatte, und als es wieder kam, hatte sie längst ihr Haar zurecht und es konnte keins davon erwischen, und sie hüteten die Gänse bis es Abend wurde.

(aus: Brüder Grimm, Die Gänsemagd in: Kinder- und Hausmärchen Band 2, 1. Auflage 1815)

1

Aoife hörte das aufgeregte Schnattern ihrer Gänse, noch ehe sie die graubraune Wolke am Himmel sah. Ein Dutzend Wildgänse zog mit gestreckten Hälsen über sie hinweg. Unverdrossen schlugen die mächtigen Flügel der Gans an der Spitze des Vs, deren Begleiter in ihrem Windschatten segelten. Aoife winkte, und ihre Gänse entboten den wilden Brüdern und Schwestern den Reisegruß; schon aber ließ die Vogelschar den Streifen Weideland nahe der Klippe hinter sich und hielt auf das Meer zu, auf Inis Bó Finne, Inis Airc und die anderen Inseln vor der Küste Connemaras.

Aoifes Gänse blieben zurück. Die meisten taten sich schon wieder am Gras und Klee gütlich, zwei oder drei badeten im Teich. Die alte Gans hatte einen Wurm erbeutet und verteidigte diesen besonderen Leckerbissen gegen das Jungvolk, um ihn dann rasch und triumphierend hinunterzuschlingen. „Man kann die Schönheit der Landschaft nicht essen“, hieß es unter den menschlichen Bewohnern des kargen Küstenstreifens, doch Aoifes Gänse sahen das anders. Und nicht nur das Gras, der Klee, die krabbelnden und kriechenden Bewohner der Wiese dienten ihnen als Nahrung. Ein paar besonders Vorwitzige schielten hinüber zum schmalen Kartoffelacker und dem ebenso kleinen Haferfeld dahinter, das Aoifes ältlicher Nachbar Pádraic noch immer, wie es Tradition war, mit Seetang düngte.

Aoife drohte ihnen mit ihren leuchtend gelben und pinken Textmarkern. „Ihr Gierhälse wartet gefälligst bis zum Herbst!“ Erst nach der Ernte ließ Pádraic zu, dass sich die Gänse an den liegen gebliebenen Kartoffeln satt fraßen. Zum Dank verschlangen sie jeden Kartoffelkäfer mitsamt seinen Larven.

Sobald sich Aoife versichert hatte, dass keines der Felder in ernster Gefahr war, wandte sie sich wieder ihrem eBook-Reader zu. Sie überflog eine Seite, notierte sich auf dem Collegeblock einen Satz und unterstrich darin das Wort „Gänse“. In den vergangenen Jahrhunderten hatten viele Iren aufgrund von Missernten oder Kriegen ihre heimatliche Insel verlassen. Die irischen Söldner, deren Tapferkeit in ganz Europa gerühmt worden war, hatten den Spitznamen „Wildgänse“ getragen.

Schon aber schweifte Aoifes Blick wieder von den Buchstaben ab und über die schroffen, zerklüfteten Felsen und das Meer, das an einem sonnigen Augusttag wie heute strahlend blau erschien. Sie konnte sich keinen anderen Platz zum Leben vorstellen als diesen. Vor ein paar Monaten, als sie mit gerade siebzehn Jahren für ihr Abschlussexamen gebüffelt hatte, hatten ihre Eltern sie gefragt, was sie denn nun nach der Schule tun wollte.

„Wenn du in Galway studieren möchtest–“, hatte Mam begonnen und mit Da einen bedeutsamen Blick getauscht. „Du weißt, wir sind nicht reich, aber wir könnten das Geld auftreiben. Wir wollen für dich nur das Beste.“

Aoife hatte den Kopf eingezogen, auf den Boden gestarrt und gemurmelt: „Galway ist zum Pendeln zu weit.“

„Ich höre, es gibt dort Studentenheime“, hatte Mam mit einem Lächeln in der Stimme erwidert. „Oder in Dublin–“

„Cork“, hatte Da eingeworfen.“Waterford. Maynooth. Limerick.“ Eine Pause. „Wenn du möchtest.“

„Ich könnte die Gänse nicht zurücklassen.“ Das war natürlich ein Vorwand oder besser gesagt bloß ein Teil der Wahrheit gewesen. Sie wollte nicht weg von hier. Von ihren Gänsen, der kargen Heide, Mams selbstgenähten Kleidern und den Frühstückswürstchen, die Da samstags für die ganze Familie briet. Von ihrem Dorf, in dem jeder sie kannte. Mit ihrer Schulklasse hatte sie ein paar Tage in Galway verbracht, das Stadtmuseum und die beeindruckende Kathedrale besichtigt, in einem dreistöckigen Pub bei der Übertragung eines Fußballspiels mitgefiebert und zwei Nächte in der Jugendherberge geschlafen, auf einer Mauer nahe der Flussmündung Fish & Chips gegessen und den Schiffen zugesehen. Galway war eine nette Stadt für einen Besuch, doch Aoife hätte sich nicht vorstellen können, dort zu leben.

Zugleich verstand sie natürlich die Sorge ihrer Eltern. Kinder mussten genauso wie junge Gänse das Nest verlassen, sie mussten studieren oder sonst eine Ausbildung machen und ihren Weg finden. Und doch … Es gab Männer und Frauen, Jungs und Mädchen im Dorf, die nie wegzogen, die eine Nachbarin oder einen Nachbarn heirateten und ein Haus gleich neben dem ihrer Eltern bauten. Nicht etwa dass Aoife vorhatte, einen ihrer Nachbarn zu heiraten! Pádraics Haare waren längst so weiß wie Gänsefedern und der Älteste von Bébhinns drei Kindern war erst sieben. Trotzdem: Ihr Platz befand sich hier. Nach einigem Hin und Her hatte sie sich mit den Eltern darauf geeinigt, dass sie erst mal Onlinekurse belegen und diese hier auf der Weide bei ihren Gänsen abschließen dürfte. Vielleicht würde sie später ein Semester oder zwei an einem auswärtigen College studieren. Vielleicht.

Das Universitätsjahr begann erst im September, doch Aoife nutzte die Ruhe und Stille hier oben, um schon ein wenig vorzuarbeiten. Die einzige Straße der Gegend, jene zum Leuchtturm, führte in fast zwei Kilometern Entfernung vorbei und dank der ausschließlich irischen Beschilderungen verirrte sich auch kaum je ein Tourist hierher. Von ihrem Platz auf einer niedrigen Steinmauer sah Aoife die Gänse und das Meer, die zerklüfteten Felsen der Klippe und eines Inselchens, das außer Vögeln nie jemand besiedelt hatte. Alles, was sie hörte, waren das Säuseln des Windes und das Schnattern der Gänse. Nach einer Weile bekam sie Hunger. Sie kramte aus ihrem Umhängebeutel einen Apfel, aß ihn und warf den Butzen zielsicher der alten Gans zu.

Schließlich war es Zeit zu gehen. Aoife nahm ihren Stock und trieb die Gänse zurück auf den Pfad, der zwischen Steinmauern zum Farmhaus führte. Auf dem Weg begegneten sie Pádraic bei seinem täglichen Spaziergang. Sie trieb ihre Schar im Gänsemarsch an ihm vorbei; er zog den Grashalm, auf dem er kaute, aus dem Mund und lüpfte vor ihr seine karierte Kappe, die er trug, seit sich Aoife erinnern konnte.

„Dia dhuit, gé beag“, krächzte er. Gé Beag, „das Gänschen“, so nannten die Leute im Dorf sie liebevoll. Die Gänsemagd. Das Mädchen mit den Gänsen.

„Dia is Muire dhuit“, „Gott und Maria mit dir“, antwortete Aoife, wie es Brauch war. Die Gänse watschelten an Pádraic vorbei. Schon sah Aoife vor sich das Tor des Farmgeländes, und daneben an der Steinmauer lehnte eine fremde und zugleich merkwürdig vertraute Gestalt.

Konnte es sein? Aoife erstarrte. Mit aller Gewalt verdrängte sie die Hoffnung, die in ihr aufflackern wollte. Es war bestimmt nur einer ihrer Schulkameraden aus dem Dorf … Trotzdem klebte ihr Blick wie Pech an dem Jungen, der dort auf sie zu warten schien. „Dia dhuit!“, rief er, als sie näherkam, und der Klang seiner Stimme vertrieb jeden Zweifel.

Kev! Er war es wirklich.

Sie flog geradezu die letzten Schritte. „Wenn das nicht die Leitgans ist“, begrüßte Kev sie grinsend.

Aoife hörte sich automatisch entgegnen: „Das ist ein Mythos, Gänse haben kein Leittier“, doch ihr Herz jubelte darüber, dass Kev hier war, nach zehn Jahren wirklich und wahrhaftig hier. Er war in die Höhe geschossen, genau wie es ihm Mam immer prophezeit hatte. Nun überragte er Aoife um einen halben Kopf, der einst kleine, semmelblonde Junge, der ihr und den Gänsen unermüdlich nachgelaufen war und der ebenso unermüdlich versucht hatte, an Aoifes langen, roten Zöpfen zu ziehen. Seine Haare waren nur ein bisschen dunkler als damals, seine Augen noch immer blau wie das Meer.

Ihre Blicke trafen sich. Aoifes Herz schlug wie Gänseflügel. „Du siehst gut aus“, merkte Kev an und ergänzte im selben Atemzug: „Ich schätze, nur mehr der eine Zopf macht es für die Jungs zu einer größeren Herausforderung, ihn zu haschen.“

Mit sieben hatte er sie geneckt, ihre Frisur sähe aus wie die geflochtene Mähne eines Connemara-Showponys. Aoifes Retourkutsche hatte gelautet, mit seinen Haaren so strohblond wie reifer Gerste sollte er besser aufpassen, dass sie ihm die Gänse nicht vom Kopf fressen würden. Sie und Kev waren unzertrennlich gewesen, bis seine Familie von einem Tag auf den anderen weggezogen war.

Nie zuvor oder danach hatte Aoife jemanden so sehr vermisst! Mam und Da hatten sich redlich bemüht, sie aufzuheitern. Sie hatten sogar angeboten, mit ihr nach Dublin zu fahren, und hatten Kev für die Ferien auf die Farm eingeladen – doch seine Eltern hatten alle Versuche, den Kontakt aufrecht zu erhalten, abgeblockt. Irgendwann hatte Aoife die Hoffnung aufgegeben, ihren besten Freund je wieder zu sehen. Und nun stand er hier an genau jenem Ort, an dem er so oft auf sie gewartet hatte, einen Fuß auf Pádraics Land und einen auf dem Land von Aoifes Eltern.

Die Gänse umringten sie beide. Die alte Gans senkte neugierig den Kopf nach Kevs Jeans und Sneakers und er sprang rückwärts, brachte ein Stück Mauer zwischen sich und den weißen Kopf mit dem orangen Schnabel.

Aoifes Herz hämmerte bis hinauf in ihre Kehle. „K-kommst du mit?“, stieß sie hervor. Sie musste sich beherrschen, um nicht die Hand auszustrecken, an seiner roten Windjacke zu zupfen, die offen hing, und mit einer Fingerspitze die Brust seines engen, weißen „I LOVE DUBLIN“-T-Shirts zu berühren, unter dem sich ein ziemlich beeindruckendes Sixpack abzuzeichnen begann; Kevs plötzlich so breite Schultern, seine Andeutung eines blonden Stoppelbarts zu berühren und sich davon zu überzeugen, dass er real war, nicht bloß ein Trugbild aus einem Traum. „Ich wette, Mam und Da würden sich riesig freuen, dich zu sehen.“

Kev zögerte. Mit einem geradezu entschuldigenden Blick in die Richtung des Farmhauses entgegnete er: „Ich wollte eigentlich ungestört mit dir reden.“ Er sah rasch auf seine Armbanduhr. „Es ist schon fast fünf. Darf ich dich irgendwo zum Tee einladen?“

Sie zum Tee einladen? Das klang geradezu nach einer Verabredung! Aoife lugte verstohlen an sich runter und wünschte sich plötzlich sehr, sie trüge nicht ausgerechnet die alten, verwaschenen Jeansshorts und dazu eine ebenso alte weiße Bluse mit kurzen Ärmeln und ein wenig dunkelblauer Stickerei am Kragen.

Kev musste etwas von dem erraten, was in ihr vorging. „Du siehst aus wie das Gänschen, an das ich mich erinnere“, versicherte er ihr, um sie gleich darauf zu necken: „Aber wenn du dich unbedingt fein machen willst, warte ich gern auch zwei Stunden mit knurrendem Magen.“ Aoife streckte ihm die Zunge raus. Er lachte und ihre Sorgen verschwanden, als hätte sie der Wind davongetragen.

Sie trieb die Gänse in ihre Koppel. Kev begleitete sie, als wäre das selbstverständlich, doch er hielt sich ein gutes Stück abseits der Schar.

„Hast du Angst um deine semmelblonden Haare?“, zog Aoife ihn auf.

„Deine Gänse haben mich nie gemocht“, erinnerte Kev sie und behielt dabei argwöhnisch die alte Gans im Auge.

Aoife widersprach: „Sie haben Rover nie gemocht.“ Rover war ein irischer Setter gewesen, der Hund von Kevs Eltern oder vielmehr der Hund der ganzen Familie. Hin und wieder hatte ihn Kev mit auf die Weide genommen.

„Und mich genauso wenig“, beharrte Kev. „Weißt du denn nicht mehr – Goosey?“ Sein Blick schweifte über die Schar, als müsste der Kopf des alten Gänserichs dort irgendwo aufblitzen. „Einmal hat er mich sogar ins Bein gezwickt!“

„Nur weil du mich an den Haaren gezogen hattest!“

„Wer, ich? Undenkbar.“ Grinsend schob er sich nun doch näher an sie heran und haschte nach einer roten Strähne, die der Wind aus ihrem Zopf gelöst hatte.

Aoife wich aus. Blitzschnell formte sie aus Daumen und Fingern der rechten Hand einen Schnabel und zischte dazu wie eine zornige Gans, woraufhin Kev mit gespieltem Erschrecken seinen Arm zurückriss.

Er lachte. „Wie ich sehe, ist sein Geist hier noch immer lebendig. Guter alter Goosey O'Goosling.“ Der Name war natürlich seine Idee gewesen. „Was ist aus ihm geworden?“

„Er ist eines natürlichen Todes gestorben.“ Nachdem Kev damals so plötzlich aus ihrem Leben verschwunden war, hatten es weder Aoife noch ihre Eltern übers Herz gebracht, den von ihm benannten Gänserich zu schlachten.

Aoife öffnete die Koppel und ließ die Gänse ein. Ein paar von ihnen eilten gleich gierig zum Futtertrog, die anderen zur Wasserstelle.

„Genau wie Rover. Er und Dublin sind nie richtige Freunde geworden“, vertraute ihr Kev an. Er wandte sich ihr zu. Seine Miene war ernst, doch seine Augen funkelten schalkhaft. „Glaubst du, die große Hundewiese und die große Gänseweide im Himmel sind ein und dasselbe?“

„Kann gut sein“, musste Aoife zugeben. Mit ziemlicher Sicherheit wäre Rovers Version des Paradieses eine, in der er Aoifes Gänse jagen konnte. Und Goosey hatte das Knurren und Bellen des Setters stets als Herausforderung betrachtet. Aoife überzeugte sich, dass die Koppel gut versperrt war. Ihre Umhängetasche aus Jeansstoff ließ sie neben dem Stall zu Boden gleiten und steckte nur die paar Geldscheine, die darin waren, heimlich in die Tasche ihrer Shorts. Kev hatte zwar von einer Einladung gesprochen, aber sicher war sicher …

Als sie sich aufrichtete, erspähte sie hinter dem Küchenfenster des Farmhauses etwa fünfzig Meter entfernt eine zierliche, schwarzhaarige Gestalt. „Mam!“

Der Wind trug den Ruf davon. Schon öffnete Aoifes Mutter das Fenster. Aoife wies auf den Pfad, der zum Leuchtturm führte. Ihre Mutter schien die Botschaft zu verstehen und nickte, ehe sie das Fenster wieder schloss.

Gemeinsam mit Kev machte sich Aoife auf den Weg. Die Farm war das letzte dauerhaft bewohnte Gebäude des Dorfes, dahinter kamen nur mehr das verlassene Kapitänshaus und der Leuchtturm. Ein Stück landeinwärts verlief eine Schotterstraße, Aoife aber führte Kev auf den vertrauten Pfad, der hinter dem Stall begann und sich durch die Heide schlängelte; durch hohes Wollgras, das im Wind wogte, über rosa und violett blühendes Heidekraut und niedrige, mit Ginster und wilden Rosen überwucherte Steinmauern. Ab und zu gesellte sich zu den Blumen und Sträuchern ein knorriger Weißdorn. Die alten Bäume mit ihren verwachsenen Stämmen und struppigen Kronen hatten Aoife schon immer an Hexer und Hexen erinnert. Sie und Kev hatten ihnen einst Namen gegeben und sich all die gruseligen Abenteuer ausgemalt, die sie nachts wohl erlebten, wenn kein Mensch mehr des Weges kam und sie sich daher frei und ungestört über die Heide und das Moor bewegen konnten.

Der Wind, der hier allgegenwärtig blies, bauschte Kevs Jacke. Er strich um sie beide wie ein alter Hund oder ein alter Gänserich und Aoife fragte sich, ob er Kev erkannte. Sie waren oft hier gewandert – nur sie beide. Kev hatte jede freie Minute bei ihr auf der Farm verbracht und jede Gelegenheit genutzt, um seinen strengen Eltern und seinen beiden Brüdern zu entkommen. Als ihn Goosey damals ins Bein gezwickt hatte, hatte er bloß gelacht und Aoifes erschrockene Entschuldigungen mit einem leichten „Glaub mir, kleine Brüder sind an sehr viel Schlimmeres gewöhnt“ abgewehrt.

Abrupt blieb Kev stehen. Sie tat es ihm gleich und sah ihn fragend an. Kev erwiderte ihren Blick und lächelte. Der Wind sang ihr ins Ohr, sie spürte seine Berührung an jedem Härchen auf ihren nackten Armen. Es war ein wohliges, vertrautes Gefühl.

„Was ist–?“, begann sie.

„Ich hatte vergessen, wie windig es hier die ganze Zeit ist“, gestand ihr Kev. „Und wie wenig das euch Leuten ausmacht.“

Aoife wusste genau, wen er mit „euch Leuten“ meinte. Heimlich befahl sie dem Wind, Kevs Haare zu zerzausen. Sofort schoss seine rechte Hand in die Höhe, wie um nach einer davonfliegenden Baseballkappe zu haschen, obwohl er diesmal keine trug. Der komisch-empörte Blick, den er Aoife zuwarf, ließ ihr Herz hüpfen. Für ein paar Atemzüge fühlte sich alles genauso an wie früher, als wären die letzten zehn Jahre zur Gänze aus ihrem Leben gelöscht.

Sie gingen weiter. „Wo lockst du mich hin?“, brach Kev nach wenigen Schritten wieder das Schweigen. „Zum Kapitänshaus? Oder zum Leuchtturm? Als ich gesagt habe, ich lade dich zum Tee ein, habe ich eigentlich nicht an Salzwasser und dazu ein paar rohe, selbst gefischte Heringe gedacht.“

„Du wirst dich wundern“, versprach ihm Aoife geheimnisvoll, doch sie sagte nicht mehr als das. Ihr Blick folgte Kevs. Zu ihrer Rechten lag an einem der westlichsten Zipfel der zerklüfteten Landzunge das alte Kapitänshaus. Es thronte über einer steilen Klippe. Ein ebenso steiler, geradezu halsbrecherischer Pfad führte hinab in eine kleine, geschützte Bucht. Dort hatte, hieß es, das Boot geankert, mit dem der Kapitän jeden Tag hinaus aufs Meer gefahren war in der Hoffnung, die Nixe wiederzufinden, die ihm beim Untergang seines Schiffs das Leben gerettet hatte. Ob er sie gefunden hatte, wusste niemand, doch er war von einer dieser Ausfahrten nicht zurückgekehrt. Nun pfiff und sang bloß noch der Wind in den Ruinen seines Hauses, so wie er in dem alten Leuchtturm gepfiffen und gesungen hatte, an den sich Kev erinnern musste. „Du warst lange fort“, fügte Aoife hinzu. „Vertrau mir einfach.“

„Immer“, erwiderte Kev leichthin. Der Wind riss ihm das Wort von den Lippen und ließ es über die Heide tanzen, immer immer immer. Aoife spürte, wie ihr eine verräterische Hitze in die Wangen stieg. Rasch wandte sie sich der nordwestlichsten Klippe zu. Von dort kommend mischte sich bereits ein Geruch nach Salz und Seetang in den Brombeer- und Preiselbeerduft der Heide.

Erst an ihrem Ziel, dem Leuchtturm, angelangt, trafen sie wieder auf die Straße. Tatsächlich parkte vor dem alten Gebäude ein Auto.

---ENDE DER LESEPROBE---