Die Nebel von Walhalla (Bd. 3) - Barbara Schinko - E-Book

Die Nebel von Walhalla (Bd. 3) E-Book

Barbara Schinko

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Beschreibung

Feeja steht unter großem Druck. Ihre Großmutter Hilde ist für einige Wochen auf Kur und hat ihr allein die Führung über das Team Valkyrie überlassen. Ausgerechnet jetzt: die Schleier zwischen den Welten werden immer dünner, die Gefahren aus der Unterwelt rücken näher – und dann droht dem Hof auch noch der Verkauf. Verlieren Feejas geliebte Stute Fantasy und die anderen Walkürenpferde jetzt ihr Zuhause? Feeja ist verzweifelt und findet unerwartet Trost bei einem mysteriösen Jungen. Doch kann sie ihrem Herz wirklich trauen oder öffnet sie mit ihrer neuen Freundschaft buchstäblich die Tore zur Unterwelt? Das packende Finale der magischen Trilogie.

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Seitenzahl: 282

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Barbara Schinko

Die Nebel von Walhalla

Feejas Pferdemagie

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eISBN: 978-3-649-67238-8

© 2023 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Barbara Schinko

Umschlagillustration: Tobias Goldschalt

Umschlaggestaltung: Frauke Maydorn

Lektorat: Sara Falke

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-64166-7

INHALT

PROLOG

IM NEBEL

EINE SCHLIMME NEUIGKEIT

AN DER FURT

EINE BEGEGNUNG

REITERHOF IN GEFAHR

MISSION »RETTET DEN SPEERHOF!«

WALKÜRENFELS

UNTER FEINDEN

YGGDRASIL

DER ORT ALLER TORE

DIE WABERLOHE

DIE GÖTTLICHEN FUNKEN

FEUER!

LUCKI

JENSEITS DER WABERLOHE

PROLOG

Fee hielt die Zügel locker und den Blick auf den Fluss gerichtet. Dank des Nebels erstreckte sich dessen Breite gefühlt ins Unendliche.

Jäh aber spürte sie, wie sich etwas veränderte. Dieselbe bedrückende Stille wie zuvor legte sich über das Ufer. Fantasy hob den Kopf. Sie schien ihr Sandspiel vergessen zu haben und stand aufrecht, stockstill bis auf das fast unmerkliche Zucken ihrer Ohren. Der Fink flatterte auf und verschwand.

Fee keuchte. Aus dem Nebel über dem Fluss galoppierte ein graues Pferd! Nicht das Helhest. Dieses hatte ganz eindeutig zwei gesunde Vorderbeine, die kraftvoll durch das Wasser pflügten. Eine lange Mähne flog um den zotteligen Kopf des Hengstes, sodass die Tropfen daraus spritzten.

Das Merkwürdigste aber: Auf seinem Rücken saß ein Junge. Er mochte ungefähr so alt sein wie Luca und er lenkte sein Pferd ohne Sattel und Zügel zuversichtlich aus dem Fluss. Wie konnte das sein? Wo kamen er und sein Hengst her?

Die Furt. Urplötzlich fiel Fee ein, wie die Leute im Dorf diesen Ort nannten. Eigentlich bezeichnete der Name eine seichte Stelle im Fluss, an der man gefahrlos das Wasser durchqueren konnte. Bloß war der Fluss an dieser Stelle mindestens so tief wie überall sonst. Und am anderen Ufer wartete eine steile, dicht bewachsene Böschung. Wenn es hier überhaupt je einen Übergang gegeben hatte, musste das vor langer, langer Zeit gewesen sein.

Oder, schoss es Fee nun durch den Sinn: Vielleicht begann an der Furt tatsächlich ein Weg – doch er führte nicht ans gegenüberliegende Ufer.

Der Junge lenkte seinen Grauen durchs seichter werdende Wasser. Er hatte ein schmales, blasses Gesicht und dunkle Haare, die wie Rabenfedern glänzten.

Fantasy stand nicht länger still, sondern stampfte mit einem Huf und trippelte dann seitwärts.

Und mit einem Mal bekam Fee Angst: Was würde passieren, wenn der Junge sie beide bemerkte?

IM NEBEL

Die Letzte beim Hof ist eine lahme Ente!«, tönte es hinter Feeja Gunnar. Das Wort »Ente« verklang bereits unter dem Donnern der Hufe.

Auf dem Pfad, der vom Waldrand in Richtung Speerhof führte, wandte sich Fee im Sattel um – und sah gerade noch, wie eine weiß-grau-silberne Schattengestalt aus dem nebeligen Wald erschien und an ihr vorbeifegte. Blitz, der superschnelle Apfelschimmel, und seine Reiterin Nell schienen im gestreckten Galopp zu einem einzigen verschwommenen Umriss zu verschmelzen.

Nells Cousine Alessa folgte ihnen mit ihrer kastanienbraunen Stute Courage. Ein gutes Stück weiter hinten kam Joel auf Maskerade herangetrabt. Er hatte es vorgezogen, nicht am Wettstreit teilzunehmen. Joels Rapphengst war eben kein Rennpferd und dasselbe galt für Fees Fuchsstute Fantasy. Ihre besonderen Fähigkeiten lagen woanders.

Nun ließ Fee die Zügel locker. Sogleich nutzte Fantasy die Gelegenheit: Im Gras am Wegesrand lag ein großer, ungewöhnlich geformter Stein. Der musste natürlich ausgiebig beschnuppert werden. Und – was war das? Ein schillernder Käfer? Wie sich der wohl anfühlte, wenn man ihn mit der Nase stupste? Die Fuchsstute war zwar viel älter als ihre Reiterin, aber trotzdem noch verspielt wie ein Fohlen.

»Wetten, Nell macht das Rennen?«, fragte Joel grinsend, als er Maskerade neben ihr zügelte.

Wer denn auch sonst? Fee rollte die Augen und erwiderte nichts. Querfeldein, wenn es eine Abkürzung über hohe Hindernisse gab, konnte Alessas Courage durchaus mit Blitz mithalten. Auf einer Galoppstrecke wie dieser stand das Ergebnis dagegen von vornherein fest. Trotzdem lehnte sich Joel gespannt im Sattel vor und starrte in die Richtung des vernebelten Hofes, als wollte er Nell dadurch zusätzlich anfeuern. »Könnte ein neuer Rekord werden«, behauptete er. »Wir hätten die Zeit stoppen soll… – ach, du Schande!«

Er klang so erschrocken, dass Fee den Kopf herumriss. Sie folgte Joels Blick zum Hof. Soeben trat eine schlaksige Gestalt mit einem Eimer in jeder Hand aus dem Stall.

Joel kniff die Augen zusammen. »Ich dachte, heute wären keine Reitschüler da.« Fragend sah er Fee an. »Ist das dein Bruder?«

Fee hatte bereits Fantasys Zügel wieder aufgenommen. Statt zu antworten, leitete sie ihre Stute in einen flotten Trab über. Hufgeklapper verriet, dass ihr Joel folgte. Doch ihre Aufmerksamkeit galt nicht mehr ihm, sondern der Szene weiter vorne. Nell und Alessa hatten die Person dort zum Glück schon bemerkt und ihre Pferde gezügelt. War das gerade noch rechtzeitig gewesen?

Oder hatte die unerwartete Beobachterin sie bei ihrem Rennen gesehen?

Am Putzplatz holte Fee die beiden ein. Keine Zeit, um ihnen wegen ihres Leichtsinns Vorwürfe zu machen! Viel wichtiger war erst mal Schadensbegrenzung.

»Hallo, Rieke!«, begrüßte sie die schlaksige junge Betriebshelferin, die vor dem Stall stand. Rieke war Mitte zwanzig und vertrat auf dem Speerhof zurzeit Oma Hilde, die wegen ihres Rückenleidens auf Reha war.

Nun wirkte sie verwirrt. Sie nickte Fee geistesabwesend zu und guckte mit gerunzelter Stirn rüber zu Nell und Alessa.

»Ist irgendwas nicht in Ordnung?« Fee gab sich Mühe, ahnungslos zu klingen, doch ihr Herz hämmerte heftig. Was hatte Rieke alles gesehen?

Erst nach langen Momenten ließ die Betriebshilfe einen ihrer Eimer los und massierte mit dem Zeigefinger der freien Hand ihren Nasenansatz.

»Muss wohl eine optische Täuschung gewesen sein. Auf einmal waren das Pferd und die Reiterin da«, mit dem Kinn ruckte sie in Nells und Blitz’ Richtung, »ganz verschwommen.« Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. »Wie haltet ihr das mit dem dauernden Nebel bloß aus?«, fragte sie in die Runde. »Da wird man ja total kirre! Bis deine Oma zurück ist, sehe ich wahrscheinlich Gespenster.«

Während sich Rieke nach dem Eimer bückte, stieß Fee den angehaltenen Atem aus und warf dabei einen raschen Blick zu den anderen. Nell und Alessa waren zwar Cousinen, ähnelten einander aber kein bisschen. Nur gerade zeigte sich haargenau der gleiche schuldbewusste Ausdruck auf ihren Gesichtern.

Dann richtete sich Rieke auf, und alle taten ihr Bestes, ernst und unschuldig dreinzugucken.

»Sind das die Freunde, die beim Abäppeln der Koppel mithelfen wollen?«, erkundigte sich die Betriebshelferin bei Fee.

»Ja.« Fee war heilfroh über den Themenwechsel und hoffte, Rieke würde die Sache mit dem verschwommenen Rennpferd so schnell wie möglich vergessen. »Alessa, Nell und Joel«, stellte sie ihr Team vor.

»Auch genannt: ›das Pferdeäpfel-Killerkommando‹«, behauptete Joel und schenkte Rieke sein bestes großspuriges Grinsen. Fee wusste zwar, dass das neueste Mitglied des Teams mehr als nur ein reicher Angeber war. Doch er spielte die Rolle ziemlich überzeugend.

Rieke schnaubte. Sie warf Joel einen zweifelnden Blick zu, der entweder ihm selbst oder seiner Sechshundert-Euro-Reitjacke der Marke TOPP-HORSE galt. »Na, dann passt mal auf, dass der Mist dort nicht eher euch killt«, erwiderte sie trocken und marschierte mit ihren beiden Eimern in Richtung der Koppeln davon.

Sobald sie im Nebel verschwand, erlosch Joels Grinsen. Fee saß ab. Die anderen folgten ihrem Beispiel.

»Das war …«, begann sie.

»… unglaublich leichtsinnig«, beendete Alessa kleinlaut ihren Satz. »Wissen wir.«

»Kommt nicht wieder vor«, ergänzte Nell. »Versprochen!«

Ihre beiden Pferde schienen das anders zu sehen. Blitz scharrte ungeduldig mit einem Vorderhuf, als wollte er am liebsten gleich wieder lospreschen. Und Courage tänzelte und warf herausfordernd ihre schwarze Mähne, während Alessa beschämt auf ihre Stiefelspitzen guckte.

Fees Ärger verrauchte. Wenn sie ganz ehrlich war, war die gefährliche Situation wahrscheinlich ihre eigene Schuld gewesen. Die anderen wohnten schließlich nicht hier. Woher hätten sie von Rieke wissen oder erst recht deren Arbeitszeiten kennen sollen?

Und bei den Pferden der Valkyries handelte es sich nun mal nicht um gewöhnliche Pferde. Blitz wollte rennen. Egal wann, egal wer zusah. Courage scheute vor keiner Herausforderung zurück. Sie und ihre Reiterinnen – oder in Joels Fall Reiter – ergänzten einander.

Und Oma Hilde hatte Fee zur Anführerin des neuen Teams Valkyrie ernannt, der geheimen Heldentruppe, von der Rieke und der Rest der Welt nichts erfahren durften. Das hieß aber auch: Jetzt, wo Oma Hilde fort war, trug Fee die Verantwortung dafür, das Geheimnis der Walküren und ihrer besonderen Pferde zu wahren.

In diesem Fall war es ja gerade noch mal gut gegangen.

Trotzdem wuchs Fees Anspannung mit jedem Moment, während sie und die anderen ihre Pferde abtrensten, absattelten und putzten. Normalerweise liebte sie das Valkyrie-Training. Wenn sie und Fantasy gemeinsam die Kräfte der Fuchsstute lenkten, fühlte sie sich danach immer freier und gelöster als sonst. Heute aber hatte die Begegnung mit Rieke das Gefühl gleich wieder zunichtegemacht. Dazu kam die viele Arbeit, die noch auf sie wartete. Ausreiten war für Fee in letzter Zeit ein immer seltenerer Luxus geworden. Und nachdem Oma Hilde nun wochenlang ausfiel …

Die anderen schienen von ihrer bedrückten Stimmung wenig zu spüren. Nell und Joel rieben einträchtig nebeneinander ihre beiden Hengste ab. Alessa war bereits mit Putzen fertig und guckte verträumt rüber zu dem Bauernhaus hinter dem Stall, in dem Fees Familie wohnte. Es war nicht schwer zu erraten, an wen sie dachte. Sie war seit einiger Zeit mit Fees älterem Bruder Luca zusammen und oft gab es für sie kein anderes Thema.

Unwillig scharrte Fantasy mit den Hufen. Am Putzstand still stehen zu müssen, gefiel ihr sowieso nicht. Und jetzt interessierte sich ihr Mensch auch noch für andere Menschen, statt sie zu umsorgen. Frechheit, so was! Fee musste das Putzen erst mal unterbrechen, ihr die Nase streicheln und die Ohren kraulen, damit sie einigermaßen besänftigt war.

Der anschließende gemeinsame Weg zur Koppel verbesserte Fees Laune auch nicht. Fast hätte Blitz, der ewige Drängler, Fantasy gerammt, weil Nell mehr auf Joel achtete als auf ihr Pferd. Diese beiden, dazu noch Alessa und Luca … Hin und wieder kam sich Fee vor wie im falschen Film. Nämlich einer Seifenoper, in der Pferde und Team Valkyrie nur noch die Nebenrolle spielten.

Beim Weidetor verabschiedete sie sich mit ein paar letzten Streicheleinheiten von Fantasy und bekam dafür einen sanften Stups mit der Nase ab. Für einen Moment fühlte Fee sich besser. Aber dann schloss sie hinter den Walkürenpferden das Tor, und der Anblick der riesigen Nachbarkoppel, die es heute noch abzuäppeln galt, entlockte ihr einen Seufzer.

Klar, sie konnten von Glück reden, dass die Genossenschaft ihnen Rieke geschickt hatte. Und dass die junge Betriebshilfe sogar samstags für ein paar Stunden herkam, obwohl sie dazu nicht verpflichtet gewesen wäre. Trotzdem blieb, seit Oma Hilde in Reha war, einfach viel Arbeit an Fee und ihrem Team hängen.

Die Karre fürs Abäppeln stand schon bereit. Keine normale Schubkarre, sondern eine große Hofkarre mit zwei Rädern, mit der man sich so manche lange Wegstrecke zwischen der Koppel und dem Misthaufen ersparte. Der Nachteil? Ständig versank eines der beiden Räder in einer Mulde. Nur mit vereinten Kräften bekamen sie das Ding überhaupt ans Ende der Weide. Fee schob, Nell und Joel halfen ihr jeweils auf einer Seite, das Rad wieder flottzumachen, und Alessa wachte über Schaufel, Harke und Rechen, damit die bei dem Geruckel nicht aus der Karre fielen.

Schritt für Schritt arbeiteten sie sich danach vom Ende der Weide zurück zum Tor. Nach der ersten halben Stunde richtete sich Fee auf und massierte ihren schmerzenden Rücken. Der Laubrechen für Kinder, den sie benutzte, war praktisch, sein Stiel aber einfach zu kurz.

Joel schlenderte auf sie zu und schleifte dabei seine Harke achtlos hinter sich her. »Hast du Nell gesehen?« Er grinste erwartungsvoll.

Was meinte er damit? Ob sich Nell klammheimlich aus dem Staub gemacht hätte? Quatsch, das passte gar nicht zu ihr. Wenn selbst Alessa, der ihre schicken Klamotten, ihre lackierten Fingernägel und ihr perfektes Styling doch über fast alles gingen, ohne zu meckern half, dann Nell erst recht.

Fee drehte sich um die eigene Achse, bis sie Alessas Cousine in einer Ecke der Koppel zwischen zwei Zäunen erspähte. Noch während sie hinguckte, schob sich bereits ein dünner, halb durchsichtiger Nebelschleier zwischen sie und Nell. Mit jedem Tag gesellte sich mehr echter Herbstnebel zu den weißen Schwaden, die Oma Hilde die »Schleier der Welt« nannte.

»Dahinten steht sie doch.«

Joel klang enttäuscht: »Du siehst sie also auch.« Er wandte sich Nell zu, die, wie Fee nun bemerkte, Alessas silbernen Umhängebeutel in einer Hand hielt. »Sie sieht dich auch!«, rief er quer über die Koppel.

»Warum hätte ich sie nicht sehen sollen?«, erkundigte sich Fee argwöhnisch.

Joel erwiderte bloß geheimnisvoll: »Ist ein Experiment.« Genervt schnaufte Fee und stapfte zu Nell rüber.

Kaum war sie dort, klemmte sich Nell den Beutel unter den Arm und hielt ihr wortlos beide Hände entgegen. Die linke steckte in dem fingerlosen Wollhandschuh mit der silbernen Rune, den ihr die drei Schwestern aus dem Haus am Waldrand geschenkt hatten. Den zweiten Handschuh hatte Nell beim Spionieren auf dem Höllhof verloren. Leider! Denn beide Handschuhe zusammen konnten ihre Trägerin unsichtbar machen. Nun aber sah Fee, dass Nell sich die gleiche Rune mit Silberstift auf ihren rechten Handrücken gemalt hatte.

»Joels Idee«, erklärte sie. »Wir wollten testen, ob ich mich so noch mal unsichtbar machen könnte.«

Alessa ließ ihre Kehrschaufel fallen und tänzelte neugierig näher. »Was habt ihr …?« Ein Quieken entfuhr ihr. »Ist das mein Make-up?« Empört entriss sie ihrer Cousine den Beutel, kramte fieberhaft darin und fuchtelte dann anklagend mit einem dünnen silbernen Röhrchen. »Du hast dir meinen Mascara auf die Hand geschmiert?«

»Ja«, gab Nell unbekümmert zu. »Aber nur den silbernen. Hast du nicht selbst gesagt, Pink wäre jetzt in und Silber für dich«, sie ahmte Alessas Stimme nach, »›so was von vorige Woche‹?«

Ihre Cousine funkelte sie an. Dann wandte sie sich so schwungvoll ab, dass sie mit dem Absatz eines Lederstiefels geradewegs in einem Pferdeapfel landete. Sie stieß einen angewiderten Laut aus und hüpfte auf einem Bein davon.

»Keine Panik!«, rief ihr Joel hinterher. »Ich wette, Luca findet dich auch ohne Mascara süß.«

»Wen finde ich süß?«, erkundigte sich eine interessierte Stimme von außerhalb des Zauns. Fees Bruder schlenderte herbei. Er ließ seine Sporttasche auf den Grasstreifen neben der Koppel fallen und stützte lässig beide Ellenbogen auf die oberste Stange, aber erst nachdem er sich versichert hatte, dass kein Pferd in der Nähe war.

»Sagt schon«, beharrte er. »Um wen ging es gerade?«

»Um Joleen«, ätzte Fee zunehmend genervt. Luca half nie mit, egal wie viel es zu tun gab. Seine Interessen drehten sich um Technik. Okay, er verwaltete die Website und den Social-Media-Auftritt des Speerhofs, hatte auch schon mal den Kaffeeautomaten im Reiterstübchen repariert … aber die gesamte Stall- und Weidearbeit überließ er nur zu gern Fee. Dabei wäre ihm kein Zacken aus der Krone gefallen, wenn er sich eine Harke oder einen Rechen geschnappt hätte!

Verständnislos erwiderte er nun ihren Blick. »Joleen ist ein Gaul, nehme ich an.«

»Ja!«, fauchte Fee. »Ein Pferd! Der schwarz-weiß gescheckte Arabermischling da drüben, wir haben sie seit mehr als sieben Jahren! Bist du dir sicher, dass du hier wohnst?«

Ihre schlechte Laune prallte an ihm ab. Sein Grinsen wurde höchstens noch breiter. »Warum so stinkig, Schwesterherz?«

»Weil ich dein Gesicht ätzend finde«, gab sie, ohne nachzudenken, zurück. Luca nahm ihr solche Bemerkungen nicht übel. Er war ja auch bloß ein Jahr älter und ein viel größerer Kindskopf als sie.

Alessa hingegen guckte ganz schockiert. Sie hätte Fees Bruder bestimmt weniger toll gefunden, wenn sie gewusst hätte, wie oft er seine verschwitzten Fußballdressen auf dem Badezimmerboden liegen ließ.

»Da wir von Pferden reden«, mischte sich Nell ein. Sie deutete an Luca vorbei zur Koppel gegenüber. Nahe dem hinteren Ende grasten zwei Schecken. »Die sind neu hier, oder? Wem gehören sie?«

»Uns«, antwortete Fee. Oma Hilde hatte den Kaufvertrag schon vor zwei Wochen unterschrieben, doch der Transport war erst früh am Morgen ihres Reha-Antritts gekommen. So hatte sie in letzter Minute noch eine lange Liste mit Anweisungen für Rieke, Fee und die bereits herbestellte Hufpflegerin zusammenschreiben müssen. »Es sind Tinker. Die beiden dort heißen Emmett und Enrico. Dann gibt es noch Emilio, der steht im Stall.«

»Schulpferde?«, erkundigte sich Joel.

Sofort schüttelte Luca den Kopf. »Die kann man nicht reiten.« Nicht zum ersten Mal fragte sich Fee, ob ihr Bruder wirklich so wenig von Pferden verstand, wie er gern tat. »Das eine hat so einen Rücken …«, mit der Hand deutete er ein U an.

»Einen Senkrücken«, verbesserte ihn Fee.

»Das zweite hat die Reh-Hufe …«

»›Hufrehe‹ heißt das.«

»Und das dritte wackelt mit dem Kopf, als wär’s der Schlagzeuger einer Metal-Band.« Grinsend demonstrierte Luca die Bewegung.

Seine rotblonden Locken flogen in alle Richtungen und Alessa drohte vor Verzückung ohnmächtig zu werden.

Nell öffnete den Mund, doch Joel war schneller: »Warum kauft Hilde drei Pferde, die man nicht reiten kann?«

Fee seufzte. »Weil ihr irgendjemand gesagt hat, dass sie sonst beim Schlachter landen.«

»Aber das ist doch gut, oder?«, warf Alessa verständnislos ein. »Wäre es besser, wenn sie geschlachtet werden?«

»Natürlich nicht! Bloß …« Fee verstummte. Die anderen stellten sich das so einfach vor. Sie kamen eben hauptsächlich zum Reiten. Und, ja, zum Helfen, wenn es darum ging, die Weide abzuäppeln oder die Sättel zu fetten und die Trensen zu putzen. Aber keiner von ihnen wusste, wie viel Geld so ein Pferdehof verschlang. Oma Hilde mochte ja ein riesengroßes Herz haben, doch das allein reichte nicht aus, um jedes alte, klapprige Pferd durchzufüttern.

»Wir haben hier eine Reitschule, keinen Gnadenhof«, kam ihr Luca unerwartet zu Hilfe. »Und es ist auch nicht das erste Mal. Wenn Oma Hilde so weitermacht, wird aus dem Speerhof noch ein Seniorenheim für Gäule.« Abrupt stieß er sich vom Zaun ab. »Ich muss zum Fußballtraining. Sehen wir uns morgen, Lessa?«

Alessa bestätigte es und guckte ihm verträumt nach, als er seine Tasche schulterte und davonschlenderte.

»Morgen?«, konnte sich Fee die Frage nicht verkneifen.

Alessa musste ihre schlechte Laune spüren. Sie wich Fees Blick aus und murmelte so schnell: »WirgeheninsKino«, dass der ganze Satz wie ein einziges Wort klang.

Auch das noch. »Und wer putzt mit mir die Sättel?«

»Na, der Rest von uns. Ich habe Zeit«, meldete sich Joel bereitwillig. Er lächelte Nell an. »Und du? Wir könnten sagen, es wäre ein Date.«

Nells Wangen röteten sich und sie krächzte bloß heiser: »Okay«, statt darauf irgendwas Sarkastisches zu erwidern. Fee unterdrückte ein Seufzen. Bei so viel Liebe in der Luft ließ sich unschwer erraten, wer morgen mal wieder das fünfte Rad am Wagen sein würde.

»Tut mir leid«, meldete sich Alessa zu Wort. »Nächstes Mal helfe ich mit. Versprochen!«

Frustriert wandte Fee sich ab. Ein Team heimlicher Heldinnen anzuführen war nervenaufreibend genug. Dazu noch der Hof, das leidige Tennistraining und »Freizeit« war für sie in letzter Zeit so etwas wie ein Fremdwort geworden. Jetzt hatten sie auch schon Anfang September. Bald würde die Schule wieder anfangen. Sollte heißen: zusätzlich jede Menge Hausaufgaben, Examen und vor allem Stress mit Ma, die von Fee am besten immer nur Einsen verlangte und bei einer Drei gleich tat, als würde sie demnächst von der Schule fliegen.

»Fee?«, hörte sie Alessa hinter sich rufen. Sie drehte sich nicht um, sondern marschierte weiter. Fantasy trabte auf der Nachbarkoppel herbei und wieherte leise, bis ihre Reiterin zum Zaun stapfte und ihr über die Nase strich. Für einen Moment lehnte Fee sich mit geschlossenen Augen an die Stangen, die sie trennten, und konzentrierte sich auf nichts als das Gefühl des Pferdekopfes unter ihrer Hand. Ihre Stute hatte einen sechsten Sinn dafür, wann immer sie sich mies fühlte. Fee kraulte sie an den Innenseiten der Ohren und fing an, ihr diese bis zu den Spitzen auszustreichen. Das liebte die Fuchsstute ganz besonders und sie ließ dabei normalerweise entspannt die Lauscher hängen. Heute aber wirkte sie nervöser, irgendwie wachsamer als sonst.

Es musste wohl an Fee liegen. Oder am Nebel. Während Fee über den Zaun guckte, verschluckten die grauen Schwaden dort ein Pferd nach dem anderen: Courage und Maskerade im hinteren Teil der Koppel zuerst, danach Blitz. Sie erschauderte. Fantasy machte den Hals lang und rieb tröstlich den Kopf an ihrer Jacke. Früher hatten Fee trübe, graue Tage wie dieser nie gestört. Doch das hatte sich geändert. In letzter Zeit war, wie Rieke bemerkt hatte, fast jeder Tag trüb und grau. Vor allem aber wusste Fee nun, was sich hinter dem Nebel verbarg.

Denn es gab nicht nur diese eine Welt der Menschen. Es gab auch die Götterwelt, aus der die ersten Walküren gekommen waren: Reiterinnen in Rüstungen und Helmen, mit Speeren in der Hand. Und es gab die Unterwelt mit all ihren Bedrohungen …

Normalerweise fiel es Fee schwer, sich so etwas wie andere Welten hinter den Schleiern vorzustellen. Fantasie war nicht gerade ihre Stärke. Das Verspielte überließ sie lieber ihrer Stute. Als sie aber jetzt in den Nebel starrte, glaubte auch sie fast zu sehen, wie schattenhafte Umrisse geduckt über die Weide schlichen …

Quatsch. Energisch schüttelte sie den Kopf. Das konnten nur die Pferde sein, wer denn sonst?

Fantasys Ohren zuckten. Sie wandte unvermittelt den Kopf. Im nächsten Moment ertönte ein lautes Knattern. Auch Fee drehte sich in die Richtung der Schotterstraße um. Etwas fegte durchs offene Gatter des Speerhofs und wurde vor der Koppel langsamer – schwenkte auf die andere Straßenseite, setzte ein paar Meter zurück und blieb endlich stehen. Die Rücklichter des Gefährts strahlten rot durch den Nebel. Für einen Herzschlag musste Fee an die Halbriesen Váli und Nari denken, die Alessa damals auf ihren Motorrädern verfolgt hatten.

Aber das hier war ein Quad mit vier Rädern, das Fee kannte. Sie tätschelte Fantasys Hals, löste sich dann von ihr und schritt auf das Weidetor zu. Die Fuchsstute folgte ihr auf der anderen Seite des Zauns wie ein Hund.

Der Fahrer des Quads grinste sie beide unter seinem knalligen orangen Helm an.

»Hallo, Georg.«

»Hallo, Nixe!«, erwiderte Georg fröhlich ihren Gruß. Er war der erwachsene Sohn des Elmbauern in der Gegend. Seit sie mit fünf Jahren angefangen hatte, ihren Namen Feeja als »Fee« abzukürzen, nannte er sie immer abwechselnd »Elfe«, »Hexe« oder »Nixe«.

»Opa und ich haben gerade euren lahmen Gaul gesehen.« Einladend klopfte er auf den Rücksitz des Quads. »Soll ich dich hinfahren, damit du ihn einfangen kannst?«

»Unseren lahmen Gaul?« Fee warf einen raschen Blick hinüber zu den Tinkern. Von den dreien lahmte nur Emilio und der stand im Stall – lag im Stall, um genau zu sein. Er konnte doch unmöglich ausgebüxt sein, oder?

Georgs Grinsen erlosch. »Opa hat gesagt, der Gaul würde bestimmt euch gehören.«

»Wie hat er ausgesehen?«

»Na, wie immer. Er hatte seine blaue Arbeitshose und dazu diese schreckliche alte Jacke mit den Flicken auf den Ellenbogen an …«, witzelte Georg. Mit gespieltem Staunen unterbrach er sich: »Ach, du meinst das Pferd?« Sogleich aber wurde er wieder ernst. »Ein Rappe. Glaube ich. Schwer zu sagen in all dem Nebel. Ziemlich mager – ich schwöre, ich konnte seine Rippen erkennen. Und er hinkte. Es sah ein bisschen so aus«, er unterbrach sich und schluckte, »als würde sein linkes Vorderbein vom Knie abwärts fehlen.«

Zwischen zwei Zaunstangen hindurch drückte Fantasy ihre Nase in Fees Kniekehle, sodass diese fast vornübergefallen wäre. Und mit einem Mal erschien das beschriebene Pferd klar und deutlich vor ihren Augen. Eine abgemagerte Schindmähre mit stumpfem, glanzlosem Schweif und traurig herabhängender Mähne.

Fees Hals fühlte sich an wie zugeschnürt. »Es … es hatte also nur drei Beine?«, krächzte sie mit plötzlich rauer Stimme.

Georg nickte. »Könnte ein Unfall mit einem Auto gewesen sein«, mutmaßte er. »Oder sogar ein Wolf. Opa hat gesagt: ›Das ist bestimmt mal wieder einer von Hildes Tierschutzfällen.‹« Er formte mit den Fingern Gänsefüßchen um die Worte und guckte Fee erwartungsvoll an.

»Uns gehört das Pferd nicht«, gelang ihr zu antworten, »aber ich glaube, ich weiß schon, wem.« Ohne sich umzudrehen, spürte sie, wie die anderen neugierig näher kamen. »Wo habt ihr es gesehen?«

Georg beschrieb ihr die Stelle in der Au nahe dem Fluss. Fee versprach, sich um die Sache zu kümmern. Dann verabschiedete er sich und bretterte davon. Sie sah ihm nach, wie er mit dem Quad durchs Hoftor sauste, ehe sie sich zu ihrem Team umwandte.

»Wem gehört es?«, platzte Joel heraus. »Ich kenne nämlich echt niemanden im Dorf, der ein Pferd mit drei Beinen hat. So was würde doch auffallen.«

»Und wenn es noch dazu nicht genug zu futtern kriegt …« Nell verstummte und tauschte bedeutsame Blicke mit ihrer Cousine.

»Glaubst du, es ist du-weißt-schon-wem abgehauen?«, beendete Alessa für sie den Satz.

Sie musste Knud Fünffinger meinen, den schmierigen Besitzer des Reitstalls Höllhof. Mit einem dumpfen Klirren lehnte Nell ihre Harke an den Zaun und guckte so finster drein, als wollte sie am liebsten gleich losreiten und das arme, dreibeinige Pferd vor ihm retten.

Fee schüttelte den Kopf. »Ein Pferd mit drei Beinen, dem der linke Vorderhuf fehlt?« Noch während sie sprach, kroch der Nebel ein Stück näher. Fast konnte man meinen, er wartete bloß darauf, sie und ihr Team zu verschlingen. »Das ist ein Helhest.«

Joel sog scharf die Luft ein, aber Alessa und Nell guckten bloß verwirrt drein.

»Ein Höllenpferd. Ein Wesen der Unterwelt.«

Erstaunt wandte sich Nell an Joel: »Du hast davon schon gehört?«

»Ich habe gedacht, das wäre nur so ein blöder Spruch meines Vaters.« Doch er war blass geworden. »Er sagt manchmal: ›Der humpelt wie ein Helhest‹, und ich habe ihn gefragt, was er meint. In seiner Version der Geschichte trottet ein Helhest nachts über Friedhöfe. Und wer dabei zuguckt, wird krank oder stirbt sogar.«

Oma Hilde hatte so etwas Ähnliches gesagt. Nicht das mit den Friedhöfen, aber auch bei ihrem Helhest handelte es sich um ein Geschöpf der Unterwelt, um ein böses Omen. Der Gedanke ließ Fee frösteln. Liebevoll schmiegte sich Fantasy auf der anderen Seite des Zauns an sie, und auch die übrigen Walkürenpferde trotteten durch den Nebel herbei, als suchten sie die Nähe ihrer Reiter. Mochte das Helhest nun Krankheit und Tod oder etwas ganz anderes ankündigen, eines stand fest: Dass es gerade an diesem Ort zu einer Zeit auftauchte, als die Schleier zwischen den Welten dünn geworden waren, konnte nichts Gutes bedeuten.

Wäre Oma Hilde bloß hier!

EINE SCHLIMME NEUIGKEIT

Es dämmerte noch nicht mal, als sie mit dem Abäppeln der großen Weide fertig waren. Doch der Nebel verwandelte den Tag frühzeitig in Abend. Die anderen holten ihre Räder, während Fee am Koppelzaun lehnte. Sie winkte ihrem Team zum Abschied. Erst als Joel schon weg war, Nell als Letzte hinter Alessa durchs Tor strampelte und die weißen Schwaden auch sie beide verschluckten, stieß sie sich vom Zaun ab. Fantasy schnaubte ihren Protest und haschte mit ihrer weichen Lippe nach Fees Haaren. Sanft, aber nachdrücklich schob Fee sie weg. »Ich muss gehen, tut mir leid. Habe jede Menge zu tun.«

Fantasy jedoch ließ sich nicht beirren. Sie musste spüren, dass ihre Reiterin nicht wirklich von ihr wegwollte, und nach kurzem Zögern gab Fee nach. »Na gut.« Eine Hand am Weidetor, kramte sie mit der anderen nach dem zusammengerollten Führstrick, den sie fast immer in der Tasche hatte. »Drehen wir eben eine kurze Runde.«

So lange konnten Emilios Medikamente wohl gerade noch warten.

Über die Schotterstraße führte sie Fantasy durchs offene Gatter. Dort hielt sie inne – blickte zunächst die Straße entlang, die nach links runter ins Dorf führte. Dann nach rechts zum Eingang des schmalen Pfades, der das Hofgelände bis zum Reitplatz umrunden würde. Fantasy musste inzwischen natürlich das neue Schild beschnuppern, welches neben dem frisch reparierten Gatter hing. »SPEERHOF FAMILIE GUNNAR« stand darauf. Das alte Schild hatten Fünffingers Reitschüler kaputt gemacht.

»Sieht doch hervorragend aus, meine Feeja, findest du nicht?«, hatte Oma Hilde zufrieden angemerkt und einen Arm um Fee geschlungen, während der Tischler aus dem Nachbardorf die neue Tafel für sie angebracht hatte. »Ein besonderes Schild für einen besonderen Ort.«

In Fee hatten widersprüchliche Gefühle miteinander gekämpft. Einerseits machte es sie immer ein bisschen stolz, wenn Oma Hilde sie wie eine Partnerin auf dem Hof behandelte. Andererseits hatte sie sich nicht zu fragen getraut, wie viel dieses Schild mit den großen, geschnitzten Buchstaben gekostet hatte. Tischlerarbeiten waren teuer. Luca hatte im Internet mehrere billige Angebote gefunden, aber davon hatte Oma Hilde absolut nichts hören wollen.

Nun wandte Fee sich nach rechts. Der Feldweg war zunächst so schmal, dass sie vorneweg und Fantasy am langen Strick hinter ihr gehen musste. Auf der einen Seite verlief der verwitterte Holzzaun einer Koppel, auf der anderen befand sich ein Wäldchen aus Holundersträuchern und wilden Kirschbäumen. Mit so vielen Brennnesseln dazwischen, dass Fee über ihre hohen Gummistiefel froh war.

Sie hatten die Koppel noch nicht ganz hinter sich gelassen, da hörte sie auf der Straße Motorengeräusch. Unwillkürlich blieb sie stehen und lauschte. War Georg mit dem Quad zurück? Nein, der Lärm klang eher nach einem Auto. Aber wer konnte das um diese Zeit sein? Die Straße endete am Hof, sodass sich kaum jemand zufällig hierher verirrte. Und während Oma Hildes Abwesenheit fielen alle Reitstunden aus.

Erst als Fantasy zu drängeln anfing, setzte Fee sich wieder in Bewegung. Doch ihre Aufmerksamkeit galt nun dem Motorenlärm, der plötzlich verklang. Fee hörte, wie eine Person aus dem Wagen stieg und die Autotür zuschlug. Wollte sich der Besucher nach Reitunterricht oder nach den Einstellpreisen erkundigen? Dann sollte Fee besser dabei sein. Rieke war okay, sie verstand was von Pferdewirtschaft, aber ihr lag der Hof eben doch nicht so sehr am Herzen wie Fee und Oma Hilde.

Sie blieb erneut stehen. Fantasy tat das Gleiche. Für ein paar Momente beobachtete die Stute mit zuckenden Ohren ein fliegendes Insekt, das sich auf einer Zaunstange niederließ. Dann wandte sie den Kopf und guckte Fee vorwurfsvoll an.

Diese seufzte. »Ich muss zurück. Aber morgen holen wir die gemeinsame Zeit nach, das verspreche ich dir. Ein langer Ausritt im Gelände. Wie klingt das?«

»Und ein Büschel Karotten!«, besagte Fantasys Schnauben. Sie machte den Hals lang und pustete Fee ihren warmen Atem ins Gesicht. Mit leichterem Herzen lenkte Fee sie herum.

Noch ehe sie zurück beim Tor waren, hörte sie erregte Stimmen. Die hellere war Riekes. Die andere gehörte einem Mann. Er klang aufgebracht: »Das hat ein Nachspiel! Wenn Sie nicht auf meinen Vorschlag eingehen, werden Sie es bereuen!«

Zwischen dem Weidezaun und den letzten Holundersträuchern blieb Fee stehen. Der Nebel war nun so dicht, dass sie erschrocken rückwärtstaumelte, als eine groß gewachsene, ganz in Grau gekleidete Gestalt wie aus dem Nichts vor ihr erschien. Für einen Moment erahnte sie das bartlose Gesicht und den kahlen Kopf des Mannes, bevor er mit langen, zornigen Schritten vom Gatter über die Schotterstraße eilte und aus ihrem Blickfeld verschwand. Eine Autotür knallte.

»Ihnen auch einen schönen Abend!«, rief Rieke spöttisch. Halblaut fügte sie hinzu: »Und Ihr Nachspiel können Sie sich in den Allerwertesten schieben.«

Der hagere Herr fuhr in einer Limousine davon, deren grauer Lack mit dem Nebel zu verschwimmen schien. Fantasy starrte ihm mit gestrecktem Hals und geweiteten Nüstern hinterher, als wollte sie die Witterung des Wagens aufnehmen. Ohne die roten Rücklichter wäre das Auto praktisch unsichtbar gewesen. Fee musste auf einmal an die rot glühenden Augen des Riesenwolfs Fenrir denken, der Alessa und Courage im nebligen Wald angegriffen hatte.

Sie gab sich einen Ruck und eilte zu Rieke. »Wer war das?«

»Ach, nur so ein Spinner«, erwiderte die Betriebshilfe abfällig. »Nennt sich Alfrick. Hat gefragt, ob er sich hier ein paar Pferde leihen könnte. Für einen Filmdreh, ha!« Das »Ha!« ließ keinen Zweifel daran, was sie von dieser Geschichte hielt.

»Du glaubst ihm nicht?«

Riekes Miene wurde geradezu mitleidig. »Nein, ich glaube ihm nicht«, erwiderte sie langsam in einem herablassenden Ton, der Fee ärgerte. »Und wenn ich dir einen Rat geben darf: Trau keinem Typen, der irgendwas von dir will – egal was –, weil er angeblich einen Film dreht. Oder weil er behauptet, dir einen Modelvertrag verschaffen zu können«, fügte sie düster hinzu. »Das sind die schlimmsten.«

Rieke war ziemlich hübsch, groß und schlank mit langen Haaren wie Rabenfedern und einem gebräunten Gesicht, und sie wusste vermutlich, wovon sie redete. Aber Fee hielt sich nun auch nicht gerade für ein naives Dummerchen. Außerdem hatte sie sowieso nie davon geträumt, Schauspielerin oder Model zu werden. Sie interessierte sich mehr dafür, was dieser Alfrick mit den Pferden wollte. »Was hast du ihm geantwortet?«

»Dass das ein Reiterhof ist, kein Ponyverleih«, erwiderte Rieke knapp. »Und er sich seine zotteligen Pferde woanders besorgen soll.«

»Er wollte zottelige Pferde?« Wie Fantasy.

»Ja. Für einen Film über die Wikinger.« Rieke schnaubte. »Quatsch mit Soße, wenn du mich fragst. Und ich möge ihn doch reinbitten, damit wir ganz zivilisiert über sein Angebot reden könnten«, ahmte sie den gestelzten Ton des Besuchers nach. Im nächsten Moment grinste sie Fee verschwörerisch an. »Ich habe gesagt: ›Sorry, wir sind hier nicht zivilisiert. Das ist der Speerhof, steht sogar auf dem Schild.‹« Sie wies mit dem Daumen darauf. »›Und wenn Sie nicht gleich verschwinden, hole ich mein Schwert und brate Ihnen eins über.‹«

Fee brauchte nicht viel Fantasie, um sich das vorzustellen. Rieke hätte bestimmt eine gute Walküre abgegeben! Auch wenn sie den Namen für einen Witz hielt und keine Ahnung hatte, warum der Hof so hieß.

Das Grinsen der Betriebshilfe erlosch, während sie mit einem Stiefel leicht gegen das Gatter trat. »Ich war wirklich unfreundlich zu ihm«, gab sie zu, »aber ich hatte bei der Sache einfach ein furchtbar schlechtes Gefühl, verstehst du? Hoffentlich nimmt mir deine Oma nicht übel, dass ich ihr diese Geschäftsidee vermasselt habe.«

»Bestimmt nicht«, tröstete Fee sie. Fantasy drängte sich näher, und Fee kraulte ihr mit gekrümmten Fingern den Mähnenkamm, was der Stute ein zufriedenes Prusten entlockte.

Rieke lachte. »Hat sie eben gesagt: ›Ich will ohnehin nicht zum Film‹?«

Vermutlich hatte das Prusten eher so was wie »Jetzt noch Karotten und der Moment wäre perfekt« geheißen. Mit Äpfeln oder Karotten lag man bei Fantasy selten falsch.

Doch bevor Fee irgendwas davon aussprechen konnte, wandte sich Rieke zum Gehen. »Ich mache dann mal im Büro weiter«, kündigte sie an und verzog die Lippen zu einer gequälten Grimasse.

»So schlimm?«, entschlüpfte es Fee.